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Mit großer Befriedigung beobachtete Andy Dalziel aus einem Fenster im oberen Stock die Ankunft von Shirley Novellos Konvoi an der Polizeistation von Danby.
»So was mag ich, Wieldy«, sagte er. »’n bißchen Protz. Wie das Einrollen der Alliierten ’44 in Paris. Wir sollten Blumen werfen. Sie haben nicht zufällig ’ne vereinzelte Mohnblume oder Lilie in der Tasche, hm?«
Wield, der einfach nur erleichtert war, daß Novello nicht mit Blinklicht und Sirene anrückte, sagte: »Wie wollen Sie vorgehen, Sir?«
»Warten wir erst mal ab, ob sie Anwälte wollen«, erwiderte Dalziel.
»Ein Pflichtverteidiger hält sich für den Notfall bereit. Und ich wette, Turnbull wird wieder nach Hoddle schreien.«
»Dieser Nervensäge. Obwohl es fast ein Vergnügen sein wird, ihn wiederzusehen. Ich bezweifle, daß er Turnbull dieses Mal raushauen kann.«
Wield runzelte ob dieser Selbstsicherheit abergläubisch die Stirn. Er hatte das Gefühl, daß sie noch einen langen Weg vor sich hatten, um aus dem Dickicht zu gelangen.
Die australische Polizei hatte bislang noch nichts Brauchbares über die Familie Slater geschickt. Der Mythos, daß die moderne Technologie das Verschwinden eines Menschen in der zivilisierten Welt beinahe unmöglich machte, gehörte zu den Dingen, die bei der Polizei täglich durchbrochen wurden. Manche Menschen tauchten unter, auch ohne sich groß anzustrengen, um ihre Spuren zu verwischen, und die unergründlichen Wasser der Gesellschaft schlossen sich ohne jedes verräterische Kräuseln über ihren Köpfen. Alles, was sie bisher hatten, war die Nachricht, daß ein B. Slater, australischer Staatsbürger, vor zehn Tagen in Heathrow gelandet war.
Novello brauchte etwas Zeit, um ihre Gefangenen im Keller einzubuchten, dann kam sie hoch für ihren Bericht.
Dalziel begrüßte sie mit strahlendem Lächeln.
»Gut gemacht, Schätzchen. Ich hab ja immer gesagt, daß Sie nicht nur ’n hübsches Gesicht haben, wobei ich ja nix gegen hübsche Gesichter habe, wenn man an die häßlichen Schnarchköpfe denkt, mit denen ich arbeiten muß.«
Novello vermied es, Wield anzusehen. Eines mußte sie Dalziel lassen: als Boß war er fair. Er war jedem gegenüber ziemlich unverschämt.
»Also, was war los, Ivor? Erzählen Sie«, fuhr der Dicke fort.
Sie lieferte ihren geprobten Bericht ab, knapp und präzise, und erntete von Wield ein anerkennendes Nicken.
»Großartig«, sagte Dalziel und rieb sich voller Vorfreude auf die anstehenden Verhöre die Hände. »Die schreien bestimmt schon nach ihren Anwälten, oder?«
Sie taten es nicht.
Turnbull hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ich glaub, ich werd’s diesmal alleine versuchen.«
Und Slater/Lightfoot hatte gesagt: »Was zum Henker soll ich mit einem Scheißanwalt? Holen Sie einfach den Mistkerl, der für diesen Scheißhaufen verantwortlich ist, ja?«
Novello überbrachte dies wortgetreu.
»Und da ist noch etwas«, fügte sie hinzu, da sie sah, daß Dalziels Gesichtsausdruck etwas von seinem vorherigen verrückten Glanz verlor, und sich dachte, daß schlechte Nachrichten am besten als große Ladung verschüttet werden sollten. »Slater gab an, er heißt Barney, nicht Benny. So steht’s auch in seinem Paß. Barnaby Slater.«
Sie wartete darauf, versichert zu bekommen, daß dies nichts bedeute, doch an Dalziels Gesicht sah sie, daß es mehr bedeutete, als sie wußte.
»Der jüngere Bruder«, sagte Wield. »Der bei seiner Mam geblieben war. Er hieß Barnabas. Benjamin und Barnabas. Ich dachte mir immer, daß die alte Dame die Namen ausgesucht hatte. So wie es sich anhörte, war Marion nicht besonders religiös.«
»Na gut, Benny kommt nicht unter seinem eigenen Namen zurück. Und?« meinte Dalziel. »Nimmt sich den Paß seines Bruders. Vielleicht mußte er das. Vielleicht ist ihm nie eingefallen, seinen Namen zu ändern.«
Er klang wenig überzeugt.
»Also. Gehen wir’s an. Ivor, Sie kommen auch mit. Reden Sie nicht dazwischen, aber haben Sie auch keine Angst, was zu sagen, wenn’s Ihnen notwendig erscheint.«
Diesmal wurde sie also nicht fallengelassen, nachdem sie die Drecksarbeit erledigt hatte, dachte Novello. Toll!
Es sei denn, Dalziel wollte einfach einen Sündenbock parat haben, falls die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Und das taten sie vom allerersten Augenblick an nicht.
Slater sah ohne sichtbares Wiedererkennen von Wield zu Dalziel und sagte: »Himmel, was soll das denn? Werden Sie sich auf meinen Schoß setzen, während der da mich zu Tode erschreckt?«
»Ein Witzbold«, sagte Dalziel. »Ich lache gern.«
»Ach ja? Und wer zum Henker sind Sie, Kumpel?«
»Ich? Ich bin der Mistkerl, der für diesen Scheißhaufen verantwortlich ist«, entgegnete Dalziel. »Aber das weißt du doch ganz genau, oder, Benny? Wir kennen uns doch.«
Slater sah ihn verständnislos an. Dann sagte er: »Wie haben Sie mich grade genannt?«
»Benny. Ehemals Benjamin Lightfoot.«
Da grinste Slater von einem Ohr zum anderen.
»Ich heiße Barney. Sie denken, ich bin Benny? Ist es das, worum die ganze Sache hier geht? Himmel, was für eine Riesenpanne!«
Wenn er nur spielte, spielte er wirklich gut. Doch Wield, der das Gesicht des Mannes genau beobachtete, war fast sicher, daß er nicht spielte. Der Kerl sah dem Foto von Benny, das er selbst zusammengeschustert hatte, zwar sehr ähnlich, aber im ganzen gab es zu viele Unterschiede.
Dabei ging es weniger um äußerliche Merkmale, sondern eher um den Gesichtsausdruck, das Flackern in den Augen, das Zucken um die Mundwinkel, das lauernde Neigen des Kopfes auf eine Seite, Kleinigkeiten wie diese. Na gut, Menschen konnten sich in fünfzehn Jahren sehr verändern, aber Wield konnte sich keinesfalls vorstellen, daß der verklemmte, scheue und einzelgängerische Junge von damals sich in diesen selbstsicheren, aggressiven und souveränen Mann verwandelt hatte, ebensowenig, wie er sich vorstellen konnte (und das gestand er sich hier zum erstenmal selbst ein), daß Benny Lightfoot genügend Grips gehabt hatte, sicher außer Landes zu gelangen. Nicht einmal mit fünfzigtausend Pfund. Der erste einigermaßen gewiefte Mensch, den er getroffen hätte, hätte ihm das Geld abgenommen!
Wield fragte: »Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen, Mr. Slater?«
»Bevor Ma mit uns nach Australien ging. Wir sind im Tal gewesen, um Granny Lightfoot zu besuchen. Ma meinte, er könnte immer noch mitkommen, wenn er wollte, aber er schüttelte nur den Kopf und klammerte sich an der alten Dame fest, als würde ihn jemand wegzerren wollen.«
Dalziel stöhnte laut auf, sagte aber nichts.
»Hatten Sie weiter Kontakt? Briefe oder so?« wollte Wield wissen.
»Nee. Mal ’ne Weihnachtskarte war das höchste. Wir sind ’ne ziemlich schreibfaule Familie. Bis auf Grannys Briefe, als Benny den Ärger hatte, und das waren auch nur zwei.«
»Wußten Sie von den vermißten Mädchen aus Dendale?«
»Hab mal was gehört. Hab nicht so drauf geachtet. Hatte selber genug Ärger am Hals. Kurz nachdem wir in Australien angekommen waren, fing die Scheiße an. Jack, also Jack Slater, mein Stiefvater, entpuppte sich als der Falsche. Er hat keine krummen Dinger gedreht – jedenfalls nichts, was man gemerkt hätte. Aber schon bald hielt er sich nur noch an Pferde, Schnaps und Flittchen. Ich ging von der Schule, so früh ich konnte, viel früher, als gut für mich war, soviel ist sicher. Jemand mußte ja Geld verdienen. Denn Ma versuchte, mit Jack mitzuhalten, zumindest, was den Schnaps anging. Sie hatte nur nicht seine Konstitution. Als Jack sie schließlich verließ, war sie schon ganz schön krank davon. Das war wohl die Zeit, als die Briefe kamen.«
»Die Briefe von Ihrer Großmutter, Mrs. Lightfoot?«
»Genau. Hören Sie, wenn ich Ihnen das alles erzähle, lassen Sie mich doch hier raus, oder?«
Diese Worte richtete er an Dalziel.
Das Äffchen mochte die Ansprache halten, dachte Novello, aber Slater wußte genau, wer an der Orgel drehte.
»Allmählich denke ich, je eher ich Ihren Allerwertesten sehe, um so besser«, erwiderte Dalziel aufrichtig. »Aber ich kann Ihr Gesicht bestimmt noch so lange ertragen, bis Sie uns alle Fragen beantwortet haben.«
»Sie brauchen mich nicht mit Ihrem Charme zu überschütten, Kumpel«, meinte Slater. »Also gut. Die Briefe. Ich hab nicht weiter drauf geachtet – erst Jahre später, als ich nach dem Tod meiner Ma ihre Sachen aufräumte. Im ersten stand, das alte Mädchen hätte eine neue Adresse bei einer Verwandten in Sheffield, und wenn wir was von Benny hörten, sollten wir’s ihr sagen. Im zweiten stand, daß sie wieder umgezogen war, in dieses Pflegeheim, ›Wark House‹, und sie fragte wieder nach Benny. Das war’s.«
»Hat Ihre Mutter zurückgeschrieben?« fragte Wield.
»Wie soll ich das wissen?« fragte Slater zurück. »Könnte sein aber wie ich schon sagte, die meiste Zeit war sie nicht besonders bei Bewußtsein. Hat manchmal über Granny Lightfoot geredet und sie wohl ganz schön gehaßt. Aber ich glaube, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ma erzählte immer, daß sie ’ne ordentliche alte Frau war mit genug Grips zwischen ihren Ohren, und wenn einer aus der Familie mal zu’n bißchen Kohle käme, dann sie.«
»Hat sie sich denn keine Sorgen um Benny gemacht?« hörte Novello sich fragen.
Slater zuckte mit den Schultern und meinte: »Wer weiß? Sie hat nicht viel von ihm geredet, und wenn, dann nur, daß er sich seine Suppe selbst eingebrockt hätte und sie nun auch auslöffeln könnte. Ich glaube, sie war echt sauer, daß er lieber bei seiner Großmutter bleiben wollte als bei ihr.«
»Aber er war ihr Sohn, ihr Erstgeborener«, beharrte Novello.
»Ach ja? Das machte es ja nur noch schlimmer. Manchmal, wenn sie vom Saufen ganz rührselig war, sagte sie, sie würde Benny gern sehn, bevor sie stirbt. Dann kam sie wieder drüber weg und sagte, er hätte inzwischen wahrscheinlich die Kohle vom alten Mädchen geerbt und würde in Saus und Braus leben, also warum zum Henker sollte sie sich Sorgen um ihn machen, wenn er nicht mal an sie denkt.«
Wield blickte über seine Schulter zu Novello, um zu sehen, ob sie noch etwas zu sagen hätte. Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Also, nachdem Ihre Mutter gestorben war, dachten Sie, Sie könnten mal nach England kommen und nachsehen, ob die alte Dame tatsächlich reich war und Sie nicht etwas aus ihr herauspressen können. War es so?« fragte der Sergeant.
»Nein«, sagte Slater, von der provozierenden Fragestellung unbeeindruckt. »Ma ist gestorben, und auf einmal war ich frei und konnte tun und lassen, was mir gefiel, mein Geld ganz für mich allein haben, und ich dachte, die einzigen Verwandten, die ich hab auf der Welt, sind im alten England, also warum nicht hinfahren und mal sehen, was es zu sehen gibt?«
»Und dann sind Sie schnurstracks zum ›Wark House‹ gefahren!« sagte Wield anklagend.
»Aber nein, Kumpel. Ich bin am Montag gelandet und erst mal nach London zu ’nem Kumpel von ’nem Kumpel zum Übernachten. Der hatte dann diesen alten Campingbus, den er mir für ’n paar Scheine geliehen hat. Ist viel billiger als Hotels, und ich bin nun mal ’n Naturbursche. Dann bin ich Richtung Norden gefahren und hab mir die Landschaft angeguckt. Freitag morgen kam ich nach Yorkshire und dachte, es kann ja nicht schaden, die alte Granny Lightfoot zu besuchen. Schön, daß sie noch am Leben war. Allerdings war sie ziemlich gebrechlich. Und durcheinander. Dachte, ich wär Benny. Ich hab versucht, ihr das auszureden, aber dann sagte sie was, das mir echt in den Ohren geklingelt hat, und ich hab’s nicht weiter versucht. Irgendwas, daß sie immer gewußt hätte, daß ich das Geld gefunden und mich damit in Sicherheit gebracht hätte.«
»Ich dachte, Geld interessiert Sie nicht«, sagte Wield.
»Das hab ich nicht gesagt, Kumpel. Ich sagte, das war nicht der Grund, warum ich hergekommen bin. Aber ich wollte auch nicht weggucken, wenn’s so aussieht, als ob es da ein bißchen Knete für mich gibt. Vor allem, als sie andeutete, daß es fünfzigtausend in bar sind, die sie in einer Blechdose unter dem Dachgesims verstaut hatte, wo sie, wie Benny wußte, immer alle Wertsachen aufbewahrte. Also würde er wohl da nachgeguckt haben, als sie ins Krankenhaus kam.«
»Und sie war überzeugt, daß Benny das Geld bekommen hatte?« meinte Wield.
»Ja, genau das hat sie sich gedacht, als er dann verschwand. Und jetzt, wo sie sicher war, daß er es wirklich gekriegt hat – weil sie mich ja nun gesehen hatte und dachte, ich wär Benny –, da meinte sie, jetzt könnte sie in Frieden sterben. Da hab ich dann wieder versucht, die Sache klarzustellen, und gesagt, daß sie jetzt noch nicht sterben müßte, in Frieden oder wie auch immer, weil ich doch Barney wär und nicht Benny, aber sie war inzwischen gar nicht mehr ganz bei sich, und ich merkte, daß sie’s nicht kapierte. Da bin ich gegangen. Hören Sie, kein Grund, mich so böse anzustarren. Ich will ihr ja erzählen, wer ich wirklich bin. Auf dem Rückweg werd ich wieder bei ihr vorbeifahren und hoffe, daß sie dann ein bißchen fitter ist.«
Er sah Wield und die anderen herausfordernd an, aber dann merkte er, daß in ihren Gesichtern nicht nur Mißbilligung zu lesen war.
»Was ist?« fragte er.
»Schlechte Neuigkeiten«, sagte Dalziel. »Oder auch gute, je nachdem, wie Sie’s sehen wollen. Nach Ihrem Besuch ist sie in Frieden gestorben. Gestern nacht.«
»Ach, Mist, Sie verarschen mich doch, oder? Nein, tun Sie nicht, hm? Mist. Ich hatte wirklich gehofft …«
Er wirkte ehrlich geknickt.
Novello wartete darauf, daß jemand eine Pause vorschlug, doch Dalziel sagte nur: »Keine Bange, Bursche. Zur Beerdigung schaffen Sie’s noch. Und jetzt ist ja auch Geld da, damit’s ’ne schöne Beerdigung wird. Je eher wir die Sache klären, um so eher können Sie sich drum kümmern. Also machen wir weiter, oder? Machen Sie einfach da weiter, wo Sie ›Wark House‹ verlassen haben.«
Die Andeutung, daß er Slater freilasse, sobald er ihnen alles erzählt hatte, war schon beinahe Erpressung, dachte Novello. Nicht, daß das irgendeine Bedeutung hatte. Sie war überzeugt, daß sie den Großteil seiner Geschichte an seiner Stelle hätte erzählen können.
»Ich bin weiter nach Norden, weil ich da ja hinwollte«, fuhr er also fort. »Aber die ganze Zeit hab ich nachgedacht, wie man das so tut, wenn man Auto fährt. Und ich dachte mir, was wäre, wenn Benny das Geld wirklich genommen und sich verkrümelt hätte – warum hatte er sich dann nie bei Granny gemeldet? Ich meine, er hat sie doch mehr geliebt als alles andere in der Welt, oder? Also, was ist mit ihm passiert? Und noch wichtiger: Ist es ihm passiert, bevor oder nachdem er sich das Geld geholt hatte?«
»Sie fragten sich also, ob die Dose immer noch da wäre, wo Agnes sie versteckt hatte, oben unterm Dach von Neb Cottage«, sagte Dalziel.
»Genau. Das war zwar noch ’ne ganze Ecke weiter, aber ich hatte ja nichts Bestimmtes vor. Nur, als ich dann nach Dendale kam, mußte ich feststellen, daß es gar kein Neb Cottage mehr gibt. Ich bin ein bißchen rumgelaufen, aber es war schon so lange her, daß ich da war, daß ich nicht mal sicher sein konnte, ob ich den richtigen Steinhaufen erwischt hatte! Inzwischen hatte mich aber der Ehrgeiz gepackt. Wenn es das Geld noch gab, und Benny nicht mehr, dann hatte ich genauso ein Recht darauf wie jeder andere, oder? Also bin ich in die Bibliothek. Die Dame dort war wirklich sehr hilfsbereit. Ich konnte in den alten Zeitungen alles lesen, was damals im Tal passiert ist. Und dann hat sie mir auch dieses Buch gezeigt, mit den Vorher-Nachher-Landkarten, die ich fotokopieren ließ.«
»Moment mal«, unterbrach Wield, gewissenhaft wie immer. »Lassen Sie uns die genaue Zeit festhalten. Wann sind Sie in Dendale angekommen?«
»Samstag morgen. Hab mir einen Stellplatz an diesem Hof gesucht und bin dann ins Tal gewandert und hab mich umgesehen. Als ich merkte, daß ich so nicht weiterkam, bin ich in die Stadt gefahren. In der Bibliothek war ich, bis sie zugemacht hat, und das war zufällig die Zeit, wo die Kneipen aufmachten, also hab ich noch ’n paar Bier getrunken und was gegessen und bin dann zurück ins Tal. Am Sonntag bin ich in aller Herrgottsfrühe aufgestanden. Diesmal war ich schlauer und bin erst den Neb raufgekraxelt und hab mir die Sache von oben angesehen. Als ich dann sicher war, daß ich die Überreste von Neb Cottage richtig erkannt hatte, bin ich wieder runter und hab angefangen zu buddeln.«
»Warten Sie mal eben«, sagte Dalziel. »Sie sind oben auf dem Grat gewesen. Haben Sie da nur auf die eine Seite runtergeguckt? Nach Dendale? Nicht auch nach Danby, hm?«
»Was? Hey, Sie wollen mir doch nicht immer noch die Sache mit dem vermißten Mädchen anhängen, oder? Hören Sie bloß auf. So wie die Zeitungen das schreiben, rennen Sie alle rum wie die aufgescheuchten Hühner und zeigen mit dem Finger auf den armen Benny, den seit fünfzehn Jahren niemand mehr gesehen hat. Wenn Sie jetzt denken, Sie könnten sich ebensogut an den Bruder halten, werden Sie ganz schön Ärger kriegen!«
Pascoe hätte an diesem Punkt wohl darauf hingewiesen, daß aufgescheuchte Hühner keine Finger haben, dachte Novello.
Dalziel blickte nur sehnsüchtig zum Tonband hinüber, als versuchte er, es durch bloße Willenskraft auszuschalten, um sich Slater richtig zur Brust nehmen zu können.
Doch er sagte freundlich: »Nicht das vermißte Mädchen. Das tote Mädchen, Mr. Slater. Reden Sie einfach weiter. Bitte.«
»Ja. Sicher. Tut mir leid. Sie müssen Ihre Arbeit tun. Ich hoffe wirklich, daß Sie den Mistkerl kriegen«, sagte Slater. »Nein, ich glaube nicht, daß ich auf Danby runtergeguckt habe. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, den Ort ausfindig zu machen, wo die fünfzigtausend liegen, wissen Sie noch? Als ich sicher war, die Überreste von Neb Cottage entdeckt zu haben, bin ich runter.«
»Sie meinen, Sie sind zum Paß zurück und dann wieder den Leichenpfad runtergegangen?« fragte Wield.
»Nee. Ich bin direkt runter. Eigentlich verrückt, das ist nämlich ganz schön steil. Ich bin kopfüber runtergefallen und hätte mir beinahe den Knöchel verstaucht. Schließlich landete ich in dieser Schlucht vom White Mare’s Tail. Da ging’s ein bißchen leichter, obwohl ich das bestimmt nicht versucht hätte, wenn der Wasserfall nicht von der Hitze ausgetrocknet gewesen wäre.«
»Und haben Sie sonst jemanden gesehen?«
»Im Tal unten? Erst mal lange Zeit niemanden. Ach, doch, da war jemand oben am Grat, glaube ich. Ich hab noch mal zurückgeguckt und jemanden am Paß gesehen, wo der Leichenpfad vorbeigeht. Aber er war weit weg, und der Grat hatte gerade eine Senke, da hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Aber später, da waren Leute im Tal?« fragte Wield.
»Ja, sicher. Wanderer, Familien, die Picknick hielten, alle möglichen Leute, die zwischen den Resten vom alten Dorf herumwanderten, das durch die Dürrezeit wieder zum Vorschein kam. Ich wollte keine Zuschauer haben, aber ich hatte sowieso schon die Schnauze voll von der Sache. Ich hatte mit den Händen gegraben und nichts gefunden. Da waren riesige Steinblöcke, für die ich ’ne Brechstange gebraucht hätte oder ’ne Spitzhacke, um sie hochzuheben. Also gab ich mir den restlichen Tag frei, spendierte mir ’n paar Runden und hoffte auf ’n bißchen menschliche Nähe.«
»Und? Erfolg gehabt?« erkundigte sich Dalziel.
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich am nächsten Morgen in meinem Bus aufwachte, die Unterhose falschrum und ’nen Geschmack im Mund wie ein Schweinetrog. Als ich endlich aufhören konnte, mich zu schütteln, dachte ich nur, bloß weg hier. Aber um Mittag rum, als ich ’n paar Liter Tee intus hatte und mir allmählich vorstellen konnte, feste Nahrung zu mir zu nehmen, ohne gleich alles wieder auszuspucken, ging’s mir etwas besser. Also bin ich was essen gefahren, und danach kaufte ich ’ne Spitzhacke und ’ne Brechstange. Ich wartete mit der Arbeit bis zum frühen Abend, wo ich das Tal wieder für mich hätte. Es war beinahe stockdunkel, als ich aufgab. Da wußte ich dann sicher, daß das Geld bestimmt nicht mehr da war.«
»Aber Sie wollten immer noch nicht glauben, daß Benny sich das Geld geholt hatte?« fragte Wield.
»Zuerst schon«, antwortete Slater. »Dann dachte ich, ihr Clowns wart doch hinter ihm her, oder? Also wäre der Ort, den Sie Tag und Nacht bewacht hätten, Neb Cottage gewesen, weil er da ja am ehesten hingegangen wäre. Wenn er also dagewesen wäre, hätten Sie ihn geschnappt. Und da Sie das nicht haben, ist er vielleicht nie wieder hingekommen.«
»Vielleicht doch«, meinte Novello. »Vielleicht war er gerade auf der Suche nach dem Geld, als er Betsy Allgood angriff.«
»Könnte sein«, sagte Dalziel. »Er hatte wohl ’ne schlechte Nacht. Also haben Sie sich gefragt, wer sonst das Geld genommen haben könnte.«
»Genau«, sagte Slater. »Zuerst dachte ich, es wäre einer von euch Bullen gewesen. Sie waren ja schließlich vor Ort, stimmt’s? Und fünfzigtausend in gebrauchten Scheinen ist eine verdammt große Versuchung, selbst für so tugendhafte Leute wie Sie.«
Er lächelte Novello an, wie um sie von dieser Bezichtigung auszuschließen. Sie erwiderte sein Lächeln nicht.
»Doch als Sie diesen dummen Gedanken verworfen hatten«, fuhr Dalziel freundlich fort, »gaben Sie immer noch nicht auf. Einmal Yorkie, immer Yorkie, hab ich recht? Und Sie sind zu der netten Dame aus der Bibliothek zurückgekehrt.«
»Genau«, grinste Slater. »Ich wollte einfach nicht fahren, ehe ich nicht ganz sicher war, daß ich nichts übersehen hatte. Und diesmal sah ich mir das Foto von dem Bulldozer noch mal genauer an, der die alte Hütte eingerissen hat.«
Alle konnten sich jetzt denken, worauf Novello bereits einige Zeit zuvor gekommen war, aber es mußte für die Tonbandaufnahme ausgesprochen werden.
Slater hatte den Namen auf dem Bulldozer erkannt, in den Firmenverzeichnissen nachgesehen und entdeckt, daß Tommy Tiplake vor einigen Jahren von Geordie Turnbull mit derselben Adresse abgelöst worden war. Und er erinnerte sich, tags zuvor in der Zeitung gelesen zu haben, daß derselbe Geordie Turnbull der Polizei bei ihren Nachforschungen behilflich gewesen war, genau wie vor fünfzehn Jahren.
»Zufall? Vielleicht ja«, sagte er. »Zu dem Zeitpunkt hätte ich Ihnen fast die Wahrheit gesagt und war schon auf dem Weg zum Präsidium gewesen, aber dann dachte ich, Teufel auch, bei all dem Zeug über Benny in der Zeitung würden Sie vielleicht an was ganz anderem interessiert sein, wenn der Bruder sich meldet, als an meinen Überlegungen. Also fuhr ich nach Bixford, setzte mich ins Pub und plauderte mit den Dorfbewohnern. Alle redeten nur von Turnbull, und bald hatte ich genug gehört, um mich zu wundern, wie ein einfacher Bulldozerfahrer wie er plötzlich genug Kohle hatte, um seinem Boß die Firma abzukaufen. Ich dachte, es könnte nicht schaden, mal kurz mit Geordie zu reden.«
»Reden?« meinte Dalziel. »Wenn Sie das mit jedem armen Kerl machen, mit dem Sie reden wollen, dann will ich nicht wissen, wie die aussehn, mit denen Sie knutschen wollen.«
»Es gab ein Mißverständnis«, entgegnete Slater. »Aber schon bald waren wir auf derselben Wellenlänge. Ich muß sagen, alle Achtung! Als er merkte, woher der Wind weht, stellte er sich nicht quer, sondern kooperierte bereitwillig. Meinte, das hätte ihn schon seit Jahren gequält, aber er hätte der Versuchung einfach nicht widerstehen können, als er über das alte Häuschen fuhr und die Blechdose da liegen sah, aus der die Riesen rausquollen. Ich kann nicht sagen, daß ich es ihm vorwerfe. Hätte wahrscheinlich dasselbe gemacht.«
»Ich habe den Eindruck, Mr. Slater, Sie haben dasselbe gemacht«, sagte Wield.
»Das Geld, meinen Sie? Hören Sie, Kumpel, ich habe das Geld vollkommen rechtmäßig bekommen. Fragen Sie Turnbull. Wie ich schon sagte, als er erst mal mitkriegte, wer ich war, war er freiwillig mit allem einverstanden. Wollte sein schlechtes Gewissen loswerden. Und trotzdem ist er nicht schlecht dabei weggekommen, unser Geordie. Vor fünfzehn Jahren waren fünfzigtausend noch ’n Riesenbatzen. Jetzt ist es ’ne Abzahlungsrate für einen von seinen großen Baggern. Ich sagte, beschaffen Sie mir das Geld, heute und in bar, und ich vergesse die fünfzehn Jahre Zinsen, auf die ich Anrecht hätte. Er war einverstanden. Wenn er was anderes sagt, ist er ein Lügner. Warum zum Henker er allerdings die Polizei einschalten mußte, verstehe ich nicht. Er ist der einzige, der ein Verbrechen begangen hat, nicht ich.«
»Erpressung ist ein Verbrechen«, sagte Dalziel. »Wucher ist ein Verbrechen. Und kommen Sie mir nicht mit Ihrer Känguruh-Scheiße von wegen, das Geld gehört Ihnen. Es war Ihre Großmutter, die beraubt wurde, nicht Sie. Wenn überhaupt, ist es ihr verdammtes Geld, sonst niemandes.«
»Ja, und deshalb wollte ich ja zu ihr hin, schnurstracks nach ›Wark House‹, um es ihr zurückzugeben«, sagte Slater.
Er sah sie mit großen Augen an, was entweder treuselige Ehrlichkeit bedeuten konnte oder ein selbstzufriedenes Beweisen-Sie-doch-das-Gegenteil.
Novello sagte ruhig: »Das ist schön zu hören, Mr. Slater. Und auch das Sozialamt, das die letzten Jahre über alle Kosten Ihrer Großmutter im ›Wark House‹ übernommen hat, wird sich darüber freuen. Sehen Sie, da wurde das Geld unserer Steuerzahler hergenommen aufgrund der Annahme, daß sie unvermögend war, und nun können die sich das meiste davon zurückholen.«
Slater sah einen Moment lang schockiert aus und lächelte dann reumütig.
»Verdammt, vielleicht sollte ich doch noch mal mit Turnbull wegen der Zinsen reden!«
Dalziel stand so abrupt auf, daß sein Stuhl laut über den Boden schrammte und beinahe umgefallen wäre.
Slater schob seinen Stuhl ebenfalls ein Stück zurück, als erwarte er einen tätlichen Übergriff. Doch der Dicke klang eher resigniert als aggressiv.
»Verhör beendet«, sagte er und knipste das Tonbandgerät aus. »Und nein, Sie werden nicht mit Turnbull reden, Mr. Slater. Das werden wir erledigen. Wir brauchen eine schriftliche Aussage über all das hier, ja?«
»Ja. Sicher. Kein Problem«, sagte Slater. »Das war’s dann?«
»Es sei denn, mein Sergeant kann in seinem großen schlauen Buch noch etwas finden, mit dem wir Sie belasten können.«
»Körperverletzung bei Mr. Turnbull?« fragte Wield hoffnungsvoll.
»Da besteht wohl nicht viel Aussicht, falls wir gerade die Wahrheit gehört haben. Ich denke, wir sind fertig. Wieldy? Ivor?«
Wield schüttelte den Kopf. Novello fragte: »Was, glauben Sie, ist mit Ihrem Bruder passiert, Mr. Slater?«
»Benny? Ich kann mich kaum an ihn erinnern, Miss, außer daß er eher ein nervöser Typ war, der Angst vor seinem eigenen Schatten hatte. Ich würde ja darauf tippen, daß der arme Kerl ohne seine Großmutter und mit dem zerstörten Cottage nicht mehr leben wollte, Gott sei seiner Seele gnädig.«
Es schien ein würdiges Schlußwort. Auf der Wache gab es keine zwei Verhörzimmer, also wurde Slater wieder in seine Zelle gebracht, mit Stift und Papier für seine Aussage, und Geordie Turnbull geholt.
Er hatte genug Zeit gehabt, seine alte Leutseligkeit wiederzufinden. Tatsächlich ging von ihm etwas aus, das man geradezu als Euphorie beschreiben könnte, weil endlich alles ans Licht kam.
»Echt blöd, das zu sagen, aber als ich Sie vor meinem Bungalow stehen sah«, sagte er zu Wield, »da dachte ich, es wäre irgendwie rausgekommen, und ich war beinahe erleichtert, als Sie dann wegen dem kleinen Mädchen fragten. Da kommt man schon ins Grübeln, oder? Daß man lieber wegen so was verdächtigt wird! Nein, ich bin froh, daß jetzt alles ans Licht kommt.«
Seine Geschichte deckte sich in allen wichtigen Punkten mit der von Slater.
Er hätte seinen Anwalt anrufen sollen, dachte Novello. Der heimtückische Hoddle hätte schon dafür gesorgt, daß er den Mund hält. Mit der toten Agnes Lightfoot und nur Slaters Vermutungen gegen sich, hätte der Staatsanwalt keine Klage aufrechterhalten können.
Doch dies hatte weniger mit Gesetz zu tun als mit Schuld. Wie sich herausstellte, hing der gute, einfache, bodenständige und lebenslustige Geordie einem religiösen Fatalismus an. Wenn er das Geld nicht behalten hätte, wäre Tommy Tiplakes Firma badengegangen, und er, Geordie, wäre längst fort und weit entfernt von dieser zweiten Runde der Untersuchungen über Kindesmißhandlung gewesen. Dies war seine Strafe. Alles, was der Staatsanwalt ihm vorwerfen würde, käme ihm nur gelegen als öffentlicher Beweis, daß ihn diesbezüglich keine Schuld traf.
Novello merkte, daß er ihr am Ende des Verhörs beinahe schon wieder leid tat. Falls das nicht an seinem angeborenen und unbefangenen Charme lag (was, wie sie sich nachdrücklich versicherte, bestimmt nicht der Fall war), so hätten sie spätestens seine letzten Worte ganz für ihn eingenommen.
»Was mich jetzt wirklich fertigmacht, nachdem ich die ganze Geschichte kenne, ist die Vorstellung, daß der arme Benny im strömenden Regen zurückkommt und in der Ruine von Neb Cottage nach dem Geld sucht, das seine Großmutter ihm versprochen hatte. Armer Kerl!«
»Armer Kerl?« wiederholte Dalziel ungläubig. »Dieser arme Kerl hat möglicherweise drei kleine Mädchen auf dem Gewissen, und selbst wenn das nicht bewiesen ist, so hat er ganz ohne Zweifel die kleine Betsy Allgood in genau der Nacht angegriffen, von der Sie gerade sprachen.«
»Meinen Sie wirklich? Tja, das ist eben Ihre berufsmäßige Art, die Dinge zu sehen, Mr. Dalziel«, erwiderte Turnbull respektvoll. »Ich, ich kannte den Burschen und hielt ihn eigentlich für ganz harmlos. Ich war immer überzeugt, daß er mit den vermißten Mädchen genausowenig zu tun hatte wie ich. Was Betsy Allgood angeht – wahrscheinlich hat er ihr nur einen Riesenschrecken eingejagt. Ein kleines Mädchen verirrt sich in einer Gewitternacht im Tal und steht plötzlich dem Mann gegenüber, den jeder als Buhmann anprangert – natürlich ist sie da zu Tode erschrocken! Ich möchte sogar behaupten, wenn Sie in jener Nacht derjenige gewesen wären, den sie getroffen hat, dann hätte sie sich genauso erschrocken, das arme Mädchen.«
»Verhör beendet«, verkündete Dalziel prompt. »Nichts schlägt mir mehr auf den Magen als ein Fan von Newcastle Umted mit religiösem Touch.«
»Tja dann … Aber eins ist sicher, trotz all der Zeichen, von denen Sie mir erzählt haben: Benny ist nicht zurück, oder? Und ich hatte nichts mit der keinen Lorraine zu tun – und Barney Lightfoot auch nicht, wie sich’s anhört. Dann gehe ich jetzt wohl besser in meine Zelle zurück, wie? Und lasse Sie endlich wieder an Ihre Arbeit. So wie sich’s anhört, haben Sie ja noch ’ne ganze Menge zu tun.«