172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 59

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Siebzehn

Nachdem Turnbull das Verhörzimmer verlassen hatte, saßen die drei Polizisten eine Weile schweigend da.

Schließlich sagte Novello: »Könnte er recht haben, Sir? Könnte Betsy Allgood das falsch mitgekriegt haben? Als sie Benny Lightfoot sah, hat sie sich so erschrocken, daß sie in Panik geriet, und als er sie beruhigen wollte, dachte sie, er wolle sie angreifen.«

»Für ein Mädchen ihres Alters war sie eine der besten Zeuginnen, die ich je hatte«, sagte der Sergeant anerkennend. »Wir hatten vorher schon einige Male mit ihr gesprochen, und nach diesem Angriff war sie genauso ruhig und sachlich und präzise wie davor. Die ganze Geschichte mit ihrer Katze – Sie wollen doch nicht sagen, daß sie sich das nur eingebildet hat, daß sie das alles nur erfunden hat? Für mich klang das damals absolut echt, und das tut es noch heute. Haben Sie die Akte gelesen? Dann wissen Sie ja, was ich meine.«

Ja, dachte Novello. Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich bin nicht sicher, daß ich weiß, was ich meine – und das ist vielleicht mehr, als Sie wissen. Oder wissen können. Etwas über die Art und Weise, wie kleine Mädchen denken. Über die Art und Weise, wie sie sich aus Angst die phantastischsten Geschichten ausdenken … wie sie die Realität verbiegen können, um sie ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen anzupassen … wie sie die Welt der Erwachsenen beobachten und analysieren …

Sie rief sich die Dendale-Akte ins Gedächtnis und sah darin einmal nicht das Protokoll einer Untersuchung, sondern eine Art gemusterte Tapete, deren verschlungenes Muster aus dem dreifach wiederholten Motiv eines vermißten Kindes bestand. Aus dieser Sicht entdeckte sie plötzlich etwas, dessen sie sich vorher nur verschwommen bewußt gewesen war.

Sie sagte: »Sir …«

Da ging die Tür auf, und Sergeant Clarks Kopf erschien.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber viele Grüße von Mr. Pascoe, und hätten Sie wohl die Freundlichkeit, ihn am Dender Mere zu treffen, also am Stausee?«

»Pascoe?« fragte Dalziel und sah erstaunt zu Wield hinüber. »Was macht der denn schon wieder im Dienst? Wissen Sie was davon, Wieldy?«

»Nein, Sir.«

»Und Sie, Ivor? Sie haben ihn als letzte gesehn.«

»Ja, Sir. Na ja, wie ich Ihnen schon sagte, seiner Tochter ging es viel besser, er meinte, sie sei außer Gefahr. Und er schien ganz aufgeregt über etwas, ich weiß nicht was, einen Ohrring oder so …«

»Was hat er Ihnen gesagt, Nobby?« wollte Dalziel wissen.

»Nicht mehr, als ich Ihnen erzählt habe, Sir. Grüße an Mr. Dalziel, und hätten Sie wohl …«

»Ja, ja, ich kann mir sein gestelztes Gerede auch ohne Ihre Imitationskünste vorstellen«, schnaubte Dalziel. »Tja, ich denke nicht, daß hier heute noch was andres los ist als dieses blöde Konzert, also fahrn wir doch hin und sehn, was unser hauseigener Intellektueller für uns in petto hat. Es sollte zu dieser Stunde allerdings was Spektakuläres sein.«

Das war es auch.

Peter Pascoe hatte auf seinem Weg nach Danby in der Einsatzzentrale angerufen. Dort erwischte er einen einsamen George Headingley, der ihm einen detaillierten Bericht über alle Ereignisse des Nachmittags lieferte.

»Seine Dicklaucht und Wieldy sind also mit nassen Handtüchern auf dem Polizeirevier?« meinte Pascoe, der wußte, daß sogar banale Scherze über polizeiliche Unredlichkeit den Inspector zum Zittern brachten.

»Sie verhören die Verdächtigen, ja«, sagte Headingley.

»Aber dieser Lightfoot, den sie geschnappt haben, sagt, er heiße Barney und nicht Benny?«

»So hat Nobby Clark es erzählt. Und er hält es für wahr. Er kannte Benny gut und meint, daß dieser Kerl ihm zwar ähnlich sieht, aber keinesfalls Benny selbst ist.«

»Interessant«, sagte Pascoe. »Sagen Sie, George, die Froschmänner am Stausee – sind die immer noch da?«

»Die haben gerade angerufen und gefragt, ob Mr. Dalziel eine Genehmigung für Überstunden gegeben hat. Ich sagte nein, also machen sie für heute Schluß.«

Pascoe dachte nach, dann sagte er: »Tun Sie mir einen Gefallen. Rufen Sie sie an und sagen … nein, geben Sie mir doch besser ihre Nummer.«

George war fähig, einen Zusammenbruch sämtlicher Kommunikationsgeräte zu fingieren, nur um der persönlichen Beteiligung an einem Überstundenskandal zu entgehen!

Pascoe wählte die Handy-Nummer des Tauchteams und freute sich, als Tom Perriman selbst dranging. Sie waren alte Bekannte und verstanden sich gut.

»Pete, wie geht’s? Ich hab von deinem Unglück gehört. Wie steht’s denn?«

»Gut«, versicherte Pascoe. »Eine Zeitlang war’s ganz schön haarig, aber ich glaube, jetzt wird alles wieder gut. Hör zu, Tom, ich bin gerade auf dem Weg zu euch, also verschwindet bitte noch nicht gleich.«

»Ach, nein!« protestierte Perriman. »Wir haben gerade alles zusammengepackt.«

»Ist schon gut. Ich will euch nicht mehr tauchen lassen. Aber könntest du wohl schon mal anfangen, bis ich da bin?«

Er erklärte, was er von ihm wollte. Als er fertig war, sagte Perriman: »Und du unterschreibst uns die Überstunden?«

»Ich unterschreibe nicht nur«, entgegnete Pascoe. »Ich riskiere meinen Hals.«

»Ich komme zur Hinrichtung«, sagte Perriman. »Okay, bis gleich.«

»Großartig.« Pascoe verließ die Straße nach Danby und navigierte sich mit Hilfe der Sonne durch verlassene Landstraßen, bis er sich auf der Straße direkt ins Tal von Dendale wiederfand.

Das Tor zum Stausee-Gebiet war noch offen, und er fuhr bis zu der Stelle, wo der Transporter des Tauchteams geparkt hatte. Am Ufer sah er Männer mit Steinhacken und Schaufeln hantieren. Tom Perriman löste sich von der Gruppe und ging auf ihn zu.

»Schlaues Kerlchen«, sagte er. »Ich hab mit einem Haken herumgestochert und gleich einen halben Brustkorb hochgezogen. Ich würde sagen, es ist ziemlich sicher, daß der Rest des Kerls auch da unten liegt. Muß ein Keller gewesen sein, und als das Haus abgerissen wurde, ist der Boden durchgebrochen, so daß eine Öffnung entstand, durch die man runterkriechen konnte. Irgendwie ist der arme Kerl in eine Falle geraten. Kam wahrscheinlich noch hoch genug, um einen Arm durch die Öffnung zu stecken, und dann ist noch mehr abgebrochen und auf ihn draufgefallen. Das Wasser stieg höher. Er ertrank und verweste, bis sich seine Arme schließlich vom Körper lösten und einen Meter oder so in den See hineintrieben.«

»Na toll. Dann habt ihr jetzt den Rest des Skeletts nach oben befördert?«

»Immer langsam«, meinte Perriman. »Da unten ist immer noch alles voll Wasser und Schlamm. Außerdem würde ich nicht gern jemanden in eine Brühe runterschicken, in der eine Leiche verwest ist.«

»Ich dachte, das sei dieselbe Brühe, die wir trinken und zum Kochen verwenden?«

»Ja, bloß nicht in dieser Konzentration. Aber ich sehe schon, daß du viel zu ungeduldig bist, um auf die Pumpe zu warten. Willst du was Bestimmtes haben? Einen Kieferknochen? Na gut, ich springe schnell runter, aber das kostet dich einige große Whiskys zum Desinfizieren.«

Pascoe stand dabei und beobachtete das Ganze. Sie hatten gerade so viel vom Fußboden entfernt, daß ein Taucher hinuntersteigen konnte. Das Wasser war dunkel und trübe. Nicht einmal die warme Abendluft ließ das Abtauchen in die Tiefe verlockend erscheinen. Perriman mußte sich nach Gefühl vorarbeiten. Er verschwand außer Sichtweite und tastete den Boden ab, bis seine Finger etwas spürten. Er brachte einen Oberschenkelknochen nach oben, dann ein Schulterblatt, dann einen Schädel.

Pascoe nahm ihn entgegen und wusch ihn an einer sauberen Stelle des Stausees ab. Als er eine Metallplatte blitzen sah, sagte er: »Das reicht fürs erste. Du kannst jetzt aufhören, bevor du dir was einfängst.«

»Oh, danke für deine Besorgnis«, sagte Perriman. »Aber allmählich gefällt es mir da unten. Außerdem war da noch etwas …«

Er verschwand ein weiteres Mal. Nach dreißig Sekunden tauchte er mit hoch erhobenen Händen wieder auf, nicht als Geste des Triumphs, sondern um seine Beute zu zeigen.

Diesmal war es kein Knochen, sondern eine lange, rostige Kette.

Pascoe nahm sie ihm ab und legte sie auf den vertrockneten Boden. Das eine Ende bildete mit Hilfe eines Vorhängeschlosses eine Schlinge, am anderen Ende waren mehrere Krampen durch einzelne Kettenglieder geschlagen worden.

»Du meine Güte«, sagte Perriman, der wieder auf dem Trockenen stand. »Sieht so aus, als ob der arme Kerl da unten festgekettet war. Ich glaube, es liegt noch mehr von dem Zeug rum.«

»Laß es liegen, bis ihr den Keller freigepumpt habt«, sagte Pascoe.

»Das hatte ich auch vor. Du siehst nicht besonders überrascht aus, Pete.«

Pascoe betrachtete die Kette und blickte dann über das friedliche Wasser des Mere, über die Berghänge, den langgezogenen Grat des Neb bis zur Beulah Height, deren beide Gipfel sich mysteriös gegen das dunkler werdende Blau des Abendhimmels abhoben.

Ihm schien, als könnte man dieses perfekte Bild mit ausgestrecktem Arm berühren und wie elektrischen Strom in jede Zelle seines Körpers aufnehmen. Es schien so nahe, daß es eine bewußte und böswillige Ablehnung zu sein schien, nicht daran teilzuhaben.

Dann dachte er an seine Verzweiflung in den letzten achtundvierzig Stunden, dachte an die Verzweiflung der Purlingstones für die nächsten Gott weiß wie viele Jahre, und als er schließlich seinen Blick wieder auf die Kette und die Knochen zurückschweifen ließ, dachte er an die Verzweiflung dieses Mannes, den das Wasser erst dem Licht und der Freiheit entgegengetragen und dann ertränkt hatte.

»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht sehr überrascht.«

Er rief auf dem Revier in Danby an und hinterließ bei Clark seine Nachricht für Dalziel. Dann spazierte er am Seeufer entlang und wählte die Nummer des Krankenhauses, damit sie ihm Ellie ans Telefon holten.

»Alles in Ordnung?« fragte er.

»Ja. Mit jeder Minute sieht es besser aus. Und bei dir?«

»Wir machen Fortschritte. Ich bin aber nicht sicher, wann wir fertig sein werden.«

»Ist schon gut. Ich habe hier genug zu tun.«

»Ach ja? Hast du einen gutaussehenden Arzt gefunden, oder was?«

Sie lachte. Es war schön zu hören.

»Nein, soviel Glück hatte ich nicht. Aber ich habe meinen Stift dabei und spiele gerade mit ein paar Ideen.«

»Oh.« Er dachte: Sie wird doch nicht das verarbeiten wollen, was wir gerade durchgemacht haben … noch nicht jetzt … Aber wie sollte er das sagen?

Doch das brauchte er nicht. Sie lachte wieder und sagte: »Ist schon gut, Peter. Es wird lange dauern, bis ich mich in der Lage fühle, anderen Leuten unsere letzten Erfahrungen vor die Nase zu halten. Aber ich lasse auch das alte Zeug hinter mir. Wenn niemand den Flötenspieler bezahlt, muß er eben ein neues Lied spielen. Ich glaube, nach dieser Sache sind wir alle reif für ein paar neue Lieder, oder nicht?«

»Ganz deiner Meinung«, erwiderte er mit Nachdruck. »Und wo wir schon von alten Liedern sprechen – könntest du mir wohl Mahlers Zweite Symphonie vorpfeifen?«

»Bitte?«

Er erklärte es ihr. Sie redeten noch eine Weile. Schließlich legte er auf und sah sich um. Sein Spaziergang hatte ihn an die Ruinen des alten Dorfes gebracht. Pascoe trug noch immer die Kopie von Wields Landkarte in der Tasche, die Dalziel ihm gegeben hatte. Damit versuchte er nun, einzelne Gebäude ausfindig zu machen, war sich aber bei keinem außer der Kirche absolut sicher. Wie er in »Das Ende von Dendale« gelesen hatte, war sie ganz in der Nähe des Felsens, der vormals den Toten von Dendale Schutz geboten hatte, ehe sie ihre Reise über den Leichenpfad nach St. Michael’s antraten. Das restliche Dorf war ein Durcheinander von Steinhaufen, deren Zuordnung mehr Ortskenntnis oder archäologischem Geschick bedurfte, als er besaß.

Er stand lange Zeit da und spürte um sich herum die Seelen der Toten und auch der Lebenden, deren Aufbruch von hier eine Generalprobe für den Tod gewesen war. Dann hörte er einen Motor brummen und sah, wie ein Range Rover der Polizei ans Ufer zu den Tauchern hinunterholperte. Dalziel kletterte heraus, und nach ihm Wield und Novello.

Als er zu ihnen stieß, hatten sie bereits Perrimans Bericht gehört, erkundigten sich aber zunächst nach Rosie.

»Ich habe gerade eben Ellie von meinem Handy aus angerufen«, antwortete er. »Sie schläft immer noch tief und fest. Ich meine, sie schläft richtig. Es sieht gut aus.«

»Na prima«, sagte Dalziel. »Und das andere Mädchen, mit dem komischen Namen?«

»Zandra? Sie ist gestorben.«

»Oh, Scheiße.«

Es folgte ein langes Schweigen der Art, das man sich nicht zu brechen getraut. Schließlich räusperte sich Dalziel und sagte abrupt: »Nun gut, mein Junge. Also, was ist hier los? Wie kommt’s, daß Sie bei all Ihren privaten Sorgen trotzdem mehr wissen als ich?«

»Ich hatte Hilfe«, sagte Pascoe. »Aus unerwarteter Ecke.« Er führte sie zu seinem Wagen und nahm einen großen Umschlag vom Beifahrersitz.

»Was wissen Sie über Elizabeth Wulfstan?« fragte er.

»Ich weiß, daß sie Betsy Allgood ist, die vor langer Zeit erst Vollwaise wurde und dann adoptiert«, sagte Dalziel. »Und daß sie als junger Teenager ’ne Psychiaterin brauchte, um auf die Reihe zu kommen.«

»Genau«, sagte Pascoe. Er war nicht überrascht, daß Dalziel das wußte, doch würde er sich vermutlich sehr wundern, wenn er erführe, wie spät und auf welche Weise Dalziel darauf gekommen war. »Die Psychiaterin war übrigens Paula Appleby.«

»Die aus der Glotze? Die findet, Polizisten sollten Östrogen gespritzt kriegen? Du meine Güte!« meinte Dalziel. »Aber was hat das überhaupt mit unsrer Sache zu tun?«

Pascoe zog ein paar Bögen aus dem Umschlag.

»Dies sind die Abschriften von Betsys Erinnerungen an Dendale und danach, die im Verlauf ihrer Behandlung aufgezeichnet wurden.«

»Au weia«, sagte Dalziel und nahm die Protokolle an sich.

Er überflog sie kurz. Er besaß nicht Wields beinahe fotografisches Gedächtnis, aber er war schnell.

»Tja, nun«, meinte er, als er fertig war. »Das Mädchen sagt da auf etwas erwachsenere Art, was sie uns fünfzehn Jahre vorher in Dendale schon erzählt hatte.«

»Stimmt«, bestätigte Pascoe. »Ich habe hier auch eine Kopie von Dr. Applebys Abschlußbericht an die Wulfstans. Sie schreibt darin, daß die psychische Verfassung des Mädchens eine Folge ihres verzweifelten Bedürfnisses gewesen sei, sich in ihrem neuen Zuhause sicher zu fühlen – nach dem traumatischen Verlust beider Eltern zu einer Zeit, in der sie sich noch nicht von den Ereignissen in Dendale und natürlich auch von ihrem Wegzug von dannen erholt hatte.«

»Von dannen«, wiederholte Dalziel. »Diese Worte hab ich ja vermißt! Aber was mich im Moment am meisten beunruhigt, ist nicht von dannen, sondern von wannen Sie diese Sachen her haben. Sie waren doch nicht mit einer verbogenen Haarnadel an Wulfstans Schreibtisch, wie ich hoffe?«

»Ist schon in Ordnung, Sir, ich hab meine Fingerabdrücke weggewischt«, sagte Pascoe. Dann grinste er und fügte hinzu: »Keine Sorge. Nichts Illegales. Jedenfalls nicht von mir. Jemand hat sie mir gegeben. Arne Krog.«

»Gott sei Lob und Dank«, sagte Dalziel, weniger erleichtert darüber, daß kein Verbrechen begangen wurde, sondern daß es nicht von Pascoe begangen worden war, dem er nicht zutraute, nicht geschnappt zu werden. »Aber warum hat der Smörebröd sie Ihnen gegeben? Und was zum Henker haben sie mit den Knochen da unten zu tun?«

»Da ist noch etwas«, erklärte Pascoe. »Eine überarbeitete Version. Oder vielleicht eher die autorisierte Version. Entscheiden Sie selbst.«

Er nahm drei Bogen blaues liniertes Papier aus dem Umschlag, die mit runder, flüssiger Handschrift in schwarzer Tinte bedeckt waren.

Dalziel nahm sie an sich, legte sie auf das Wagendach und begann zu lesen.

Es gab keine Überschrift.

Ich habe darüber nachgedacht, was ich Dr. Appleby erzählt habe, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles richtig gesagt habe. Bis zu dem Moment, wo ich runter zum Mere lief und zu rufen anfing »Bonnie! Bonnie!«, da stimmt alles noch. Dann, glaube ich, hörte ich jemanden zurückrufen, und ich weiß, daß das bescheuert ist, aber ich dachte nie, daß es jemand anders sein könnte als Bonnie. Ich war durchnäßt und verängstigt und erst sieben, deshalb habe ich mich nie gewundert, warum mein Kater plötzlich sprechen konnte, und als ich wieder rief und »Hier, hier!« hörte, bin ich einfach auf die Stimme zugelaufen.

Sie kam genau vom Ufer, wo die Ruinen von Heck lagen. Ich kletterte über die eingestürzten Mauern und rief immer weiter, und wieder hörte ich die Antwort, die aus einer Öffnung kam, die halb von einem großen Stein und jeder Menge Geröll verdeckt wurde. Aber ich schaffte es, ein wenig davon zur Seite zu schieben, bis es ausreichte, daß ich durchkriechen konnte. Es war dunkel und naß da unten, und ich wußte, wo ich war, nämlich in dem Keller, wo Mr. Wulfstan seine teuren Weine aufbewahrte. Ich war mit Mary da unten gewesen, und es war wirklich unheimlich, selbst mit Licht an. Jetzt sah es aus wie das Loch in unserem Hof, ich meine, den Hof auf Low Beulah, wo Dad immer den ganzen Dreck runterspülte, als Mam anfing, sich zu beschweren, daß wir wie auf einem Misthaufen leben. Ich habe mir immer angesehen, wie der Dreck und das Wasser runterblubberten, und mir vorgestellt, wie es wäre, da unten zu sein, mit den ganzen Ratten und so. Also hatte ich keine große Lust, in den Keller von Heck zu gehen, aber plötzlich hörte ich keine Stimme, sondern ein langgezogenes Miauen, das ich unter tausend anderen erkannt hätte. Da habe ich nicht mehr lang überlegt. Bonnie war da unten und brauchte meine Hilfe.

Also bin ich durch die Öffnung gekrabbelt. Da lag ziemlich viel Schutt herum, der eine Art Treppe bildete, und als ich weiter nach unten kam, mußte ich ins Wasser steigen. Es war noch nicht hoch, nur bis knapp über meine Knie, und zum Glück war da ein bißchen Licht, das durch die Öffnung schien und sich auf dem Wasser spiegelte, so daß ich nach einer Weile sehen konnte, was es zu sehen gab.

Ich sagte: »Bonnie, bist du da?«, und eine Stimme antwortete: »Hier bin ich«, und da entdeckte ich die Gestalt in einer Kellerecke und erkannte, daß ein Mann da war. Ich strengte meine Augen sehr an und sah Benny Lightfoot, der Bonnie im Arm hielt.

Danach passierte mehr oder weniger das, was ich Dr. Appleby erzählt habe.

Aber als Bonnie sein Gesicht zerkratzte und Benny ihn loslassen mußte und ich mit Bonnie weglief, da erinnere ich mich, wie Benny hinter mir herrannte. Und er kam ziemlich nahe, und ich dachte schon, gleich wird er mich packen, und drehte mich um, weil ich mich wehren wollte. Aber da blieb er plötzlich stehen, und hinter ihm war was Langes, was sich jetzt spannte, und ich sah, daß es eine Kette war, die an einem Ende um seinen Körper und hinten an der Mauer befestigt war.

Er streckte seine Hände nach mir aus, und seine Augen waren groß wie Suppenteller, weil sein Gesicht so mager und abgezehrt war. Und er machte mir gar keine Angst mehr, er sah eher selber so aus, als ob er furchtbare Angst hätte. Er sah ganz traurig und verloren aus. Und er sagte nur: »Hilf mir doch, bitte, hilf mir.«

Da drehte ich mich um und kletterte hinaus, und ich weiß noch, wie ich eine Menge Steine und Zeug auf die Öffnung warf, bevor ich den Berg hinauflief, so schnell ich konnte, egal wohin, bis ich anhalten und mich ausruhen mußte. Da hat mich dann mein Dad gefunden.

Ich glaube, das ist die Wahrheit, weil Dr. Appleby sagte, ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich mich an die wahren Begebenheiten erinnere, und ich fühle mich jetzt viel besser, wo ich es jemandem erzählt habe, auch wenn es nicht Dr. Appleby ist. Ich will es aber sonst niemandem sagen, nicht jetzt und auch nicht später. Ich will einfach nur ganz friedlich mit Tante Chloe in London wohnen und zur Schule gehen und lernen und eine gute Tochter sein, wie eine Tochter eben sein soll.

Als Dalziel zu Ende gelesen hatte, wandte er sich ab und blickte auf die Überreste von Heck am Rande des hellen und friedlichen Sees. Er war nicht gerade ein Tagträumer, aber wenn er wollte, konnte er wie ein Filmregisseur seine Phantasie anknipsen. Jetzt ließ er vor seinem geistigen Auge die Abendsonne verschwinden und Regen niederprasseln und Nebel hereinwirbeln. Er stellte sich einen Mann vor, der unter der Erde an eine Mauer gekettet war und dem das langsam ansteigende Wasser bereits bis zu den Oberschenkeln reichte. Und dann stellte er sich vor, er selbst wäre dieser Mann und würde jemanden etwas rufen hören, das klang wie sein eigener Name, so daß er die Hoffnung schneller aufsteigen spürte als das Wasser, nun da Rettung nahte …

Er drückte Wield die Seiten in die Hand und sagte zu Pascoe: »Also gut, Sie Schlaumeier. Alles lief schön und gut, bis Sie wieder ins Spiel kamen. Würden Sie wohl so freundlich sein, mir zu sagen, was Ihrer Meinung nach hier passiert ist?«

»Schön und gut« schien Novello keinesfalls der richtige Ausdruck für alle Aspekte dieses Falls, die sie bearbeitet hatte. Sie sah gierig auf die Bogen blaues Papier in Wields Hand, weil sie wissen wollte, was Dalziel zu dieser unbeholfenen Äußerung veranlaßt hatte.

Pascoe sagte: »Für die endgültige Identifizierung werden wir noch die zahntechnische Untersuchung brauchen, aber mir persönlich reicht die Metallplatte im Schädel eigentlich aus. Das war Lightfoot da unten. Jemand hat ihn angekettet. Hauptkandidat dafür ist Wulfstan. Das würde erklären, warum er in letzter Zeit regelmäßig den Neb raufgeklettert ist, als die Hitze das Dorf wieder zum Vorschein brachte. Das war nicht Nostalgie oder Kummer. Das waren Schuldgefühl und Sorge, daß er nach all der Zeit entlarvt werden könnte.«

»Es würde auch erklären, warum er sich zu der BENNY IST WIEDER DA!-Schmiererei nicht geäußert hat«, meinte Wield. »Er wußte, daß er nicht zurückkommen konnte.«

»Warum hat das Mädchen nix gesagt?« wollte Dalziel wissen.

»Ein verängstigtes Kind, das die Fragen der Polizei so beantwortet, wie sie glaubt, das sie es hören wollen?« mutmaßte Pascoe. »Das passiert. Zumindest früher einmal.«

Dalziel machte ein skeptisches Gesicht, ließ die Erklärung aber durchgehen.

»Und Wulfstan, wenn er es war – was hatte der vorgehabt? Ein Geständnis aus Lightfoot herauspressen?«

»Das wäre eine Möglichkeit, Sir.«

»Eine? Und die andere?«

»Na ja, es könnte auch sein, daß er sichergehen wollte, daß der Hauptverdächtige im Fall der vermißten Kinder ebenfalls verschwindet.«

»Wie? Ach, kommen Sie. Sind Sie jetzt übergeschnappt, oder was? Geben Sie mir einen Hinweis, daß Wulfstan selbst an einem der Fälle beteiligt sein könnte, oder gar an allen dreien.«

»Das kann ich nicht, Sir. Ich war nicht dabei.«

»Dann haben Sie gar nichts.«

»Na ja«, meinte Pascoe. »Ich habe eine Zeugin, die gesehen hat, wie Wulfstan am Sonntag morgen Lorraine Dacre angriff.«

Oho, dachte Novello. Dalziel, ausgerechnet Dalziel, war sprachlos. Und verärgert.

»Jetzt hören Sie mal«, brachte er schließlich hervor. »Ich laß mir ja einiges gefallen, aber wenn das wieder eins Ihrer cleveren Spielchen ist …«

»Kein Spiel, Sir«, entgegnete Pascoe. »Obwohl ich bezweifle, daß es vor Gericht Beweiskraft hätte. Tatsächlich bin ich absolut sicher, daß ich diese Zeugin nicht einmal in die Nähe eines Gerichtssaals lassen würde. Es ist nämlich Rosie.«

Wieder war der Dicke sprachlos. Das zweite Mal in zwanzig Sekunden. Dazu der Wortpatzer von vorhin. Novellos Respekt für Pascoe wuchs beträchtlich.

Und sie selbst fühlte sich durch sein Beispiel zu eigenen Theorien beflügelt.

»Der Ohrring«, sagte sie und wußte sofort, daß sie recht hatte.

Pascoe lächelte sie an und sagte: »Eigentlich war es ein Kruzifix-Ersatz. Sie hat am frühen Sonntag morgen am Aussichtspunkt der Moorstraße gefrühstückt. Dabei hat sie durch Derek Purlingstones Fernglas gesehen. Und beobachtet, wie ihre imaginäre Freundin Nina vom Nix geholt wurde.«

»Vom Nix?« wiederholte Dalziel, der immer noch nicht ganz sicher war, ob Pascoe durch den Schock der letzten Tage nicht ein wenig durcheinander war.

»Genau. Nina ist ein Mädchen mit blonden Zöpfen, so wie hier.« Er ging zu seinem Wagen und holte das Büchlein der Eendale Press hervor.

»Und so sieht der Nix aus. Erinnert der Sie an jemanden?«

Dalziel schüttelte den Kopf. Doch Novello sagte: »Das Foto in der ›Post‹ …«

»Genau. Ich habe Rosie die Seiten gezeigt, und sie deutete geradewegs auf Wulfstan und sagte: ›Da ist der Nix.‹ Ich bin sicher, daß sie ihn gesehen hat, Sir.«

Der Dicke schüttelte wieder den Kopf – weniger aus Ablehnung, als um einen klaren Gedanken zu fassen.

»Pete«, sagte er freundlich. »Das Mädchen hat Schreckliches durchgemacht. Sie auch. Da kann man ganz schön durcheinanderkommen. Andererseits ist sie die einzige in Ihrer Familie, die ich mit zwei Schweinen zum Markt schikken würde. Es könnte also nicht schaden, der Sache nachzugehen.«

Mit neuem Energieschub marschierte er zum Seeufer, wo die Taucher ihre Ausrüstung zusammenpackten, sprach kurz mit Perriman, hob die Kette auf und zog sie auf dem Weg zum Range Rover hinter sich her.

»Na, dann los«, rief er. »Pete, Sie kommen mit uns. Esther Williams da unten wird Ihren Wagen zurück nach Danby bringen. Ich lasse Sie nicht mehr aus den Augen, sonst weiß der Himmel, was für dannen und wannen Sie noch ausgraben.«

»Wo genau fahren wir denn hin, Sir?« erkundigte sich Pascoe, während er auf den Beifahrersitz kletterte.

»Was glauben Sie wohl? Sie mögen doch Musik, oder? Wir gehn ins Konzert. Und ich denke, wenn wir oft genug Zumutung brüllen, dann singt uns irgendeiner noch ein Lied.«

»Ich glaube, Sie meinen Zugabe, Sir«, meldete Pascoe sich vorsichtig.

»Ich weiß genau, was ich meine«, erwiderte Andy Dalziel.