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Das Eröffnungskonzert des zwanzigsten Mid-Yorkshire Dales Sommer-Musikfestivals begann mit Verspätung.
Das geschah nicht unerwartet. Trotz Plakaten, Zeitungsnotizen und Mundpropaganda hatte nicht jeder von der Änderung des Austragungsortes erfahren, und mehrere Gäste mußten von St. Michaels Hall zur Beulah-Kapelle umdirigiert werden.
Unter den gegebenen Umständen beschwerte sich niemand. Kommerziell gesehen, war es sogar eine gute Sache, dachte Arne Krog, während er eine Gruppe Konzertbesucher beim Betrachten der ausgelegten Kassetten und CDs beobachtete. Auf einem halben Dutzend war er selbst vertreten, wobei er nur auf zweien davon als Solist sang. Seine Plattenkarriere verlief parallel zu seiner Konzertkarriere – ein beständiges Glänzen, das sich wohl kaum mehr zu dem Feuerwerk eines Stars steigern würde.
Elizabeth hatte nur eine einzige CD anzubieten, aber sie war es, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog. Krog überraschte das nicht. Die Klugen unter den Musikliebhabern würden ein halbes Dutzend kaufen und sie mit Datum signieren lassen. In fünfzehn Jahren könnten es begehrte Sammlerstücke sein. Seine Stimme hingegen würde nie in Vergessenheit geraten, weil sie auch nie als erinnerungswürdig erachtet worden war. Bei diesem Gedanken lächelte er wehmütig. Zwar hatte er anderen ihren Starrummel immer geneidet, doch betrachtete er die dazu erforderliche stimmliche Begabung als Gottesgeschenk, das einfach nur bewundert werden konnte. Deshalb störte es ihn nicht, daß Elizabeth ein Star werden könnte. Er bedauerte nur, daß ihr Leuchten das Licht anderer dämpfen würde.
Er war sich immer noch nicht sicher, ob es richtig gewesen war, dem Polizisten den Umschlag zu geben. Es war aus einem Impuls heraus geschehen und wäre ihm bei Dalziel wahrscheinlich nicht passiert.
Er ging in den Raum, der die Sakristei wäre, falls die Beulahiten Sakristeien hatten. Elizabeth saß dort und wirkte so ruhig wie ein zugefrorener See. Inger machte die vor jedem ihrer Konzerte üblichen Fingerübungen. Walter starrte auf seine Armbanduhr, als hätte sie einen direkten Befehl verweigert.
»Ich glaube, wir müssen anfangen«, sagte er.
»Gut«, sagte Krog. »Ich bin bereit. Inger?«
»Ja.«
Sie sahen zu Wulfstan. Früher einmal war er als Vorsitzender des Komitees als eine Art Conférencier aufgetreten und hatte die Künstler vorgestellt. Doch war er dabei so steif gewesen, daß sie irgendwann damit aufgehört hatten. »Es ist weniger ein Aufwärmen«, hatte Krog gefunden, »als ein Abkühlen des Publikums.« Nun war es Brauch geworden, daß er ihren Stammgästen den Beginn des Konzerts signalisierte, indem er sich einfach zu Chloe in die erste Reihe setzte.
Heute jedoch sagte er: »Ich bleibe hier bei Elizabeth, damit sie nicht allein ist.«
Die Sängerin sah ihn an und lächelte mit einer Art distanziertem Mitgefühl, wie eine römische Göttin, die von ihrem olympischen Teetisch auf die sterblichen Massen hinabblickt.
»Nein, das macht mir nichts. Geh du nur und setz dich zu Chloe. Sie wird dich schon erwarten.«
Wulfstan protestierte nicht. Er ging einfach. Er mochte auf der Bühne kein Talent sein, aber er wußte sie würdevoll zu verlassen.
In breitem amerikanischem Akzent sagte Krog: »Okay, bringen wir’s hinter uns.«
Er trat zur Seite, um Inger vorbeizulassen.
»Viel Glück, Elizabeth«, sagte er. »Oder, falls du abergläubisch bist: Hals- und Beinbruch.«
Sie bedachte ihn mit einem Blick, der nicht einmal Gleichgültigkeit ausdrückte, und er wandte sich schnell ab.
Der Applaus, der eingesetzt hatte, als Inger am Flügel Platz nahm, schwoll bei seinem Erscheinen deutlich an. Bei kleinem Publikum war er sehr beliebt. Wenn er vor der ganzen Welt hätte singen können, immer vor fünfzig oder sechzig Menschen zur Zeit, an Sommerabenden in Gemeindehallen, wäre er international ein echter Publikumsliebling geworden.
Er lächelte ihnen zu, und sie lächelten zurück, als er sie mit charmanter Leichtigkeit begrüßte. Während er sprach, ließ er seinen Blick über die Reihen schweifen. Viele erkannte er aus früheren Jahren – die Kulturgeier von Mid-Yorkshire, die sich bei diesen musikalischen Appetithappen zum Schmausen niederließen, um gleichzeitig dabei gesehen zu werden. Andere waren Touristen, die froh über einen Abend außerhalb der staubigen Hotelhallen oder unkomfortablen Ferienhütten waren. Darunter verstreut sah er Gesichter, an die er sich noch aus der Zeit erinnerte – oder zumindest halbwegs –, als er auf Heck logiert hatte und Stammkunde im Dorfladen und im Pub gewesen war.
War das nicht Miss Lavery aus der Dorfschule? Und der alte Mr. Pontifex, dem das halbe Dorf gehörte? Und dieses runzlige Gesicht ganz hinten, gehörte das nicht Joe Telford, dem Schreiner, dessen Großzügigkeit ihnen das Konzert hier erst ermöglicht hatte? Und das Paar dort drüben – sie mit der Geduld eines Standbilds, er wie der Granit, aus dem es gefertigt war –, waren das nicht Cedric und Molly Hardcastle?
Sein Blick wanderte nach vorn und traf sich mit dem Chloes in der ersten Reihe, und ihm versagte die Stimme. Sein Instinkt war richtig gewesen. Dies war nicht der richtige Moment für den Mahler-Zyklus. Elizabeth hatte das Konzert sogar damit enden lassen wollen, doch zumindest das hatte er verhindern können. Er wollte, daß das Konzert mit optimistischen Klängen endete, die die Möglichkeit für Zugabe-Rufe boten. Nach den »Kindertotenliedern« würde niemand eine Zugabe wollen. Schließlich hatte sie zugestimmt, die erste Hälfte damit enden zu lassen. Nun sah er, daß selbst dies ein Fehler sein würde. Gott steh uns bei, sie werden wahrscheinlich alle nach Hause gehen!
Doch nun war keine Änderung mehr möglich. Er konnte nur hoffen, daß Vaughan Williams’ »Songs of Travel« – die überhaupt nicht zu den »Kindertotenliedern« paßten, die er aber gerade deswegen ausgewählt hatte – als eine Art Gegenpol wirkten.
Als er zum neunten und letzten Lied kam, wußte er, daß er sich geirrt hatte. Manchmal erschafft das Publikum seine ganz eigene Atmosphäre, auf die der Künstler keinen Einfluß mehr nehmen kann. Er spürte, wie sie sich von der männlichen Kraft und robusten Unabhängigkeit, die manche der Lieder ausdrückten, abwandten und dafür in die fatalistische Melancholie eintauchten, die er immer als sehr nebensächlichen Aspekt der Lieder erachtet hatte. Selbst sein letztes Lied, »I Have Trod the Upward and the Downward Path«, das durch die Unterstützung stoischer Gelassenheit gegenüber den Launen des unfühlenden Schicksals eine Art gemäßigt intellektuelle Version von Sinatras »My Way« war, wirkte irgendwie durchtränkt von Verzweiflung.
Er verbeugte sich, machte keinen Versuch, den Applaus zu verlängern, sondern widmete sich sofort Elizabeths Ankündigung.
Er blieb kurz und sachlich, aber selbst Walter Wulfstan hätte zu seinen schlimmsten Zeiten Schwierigkeiten gehabt, die erhitzte Atmosphäre gespannter Erwartung abzukühlen. Und selbst wenn er es geschafft hätte, hätte Elizabeths Erscheinen alles wieder zunichte gemacht. Diejenigen, die sie nur von Fotos kannten, wurden von der Realität geblendet. Und diejenigen, die sich noch an das kleine, dicke, häßliche Kind erinnerten, schnappten hörbar nach Luft, als sie die schlanke, elegante Frau mit dem aufrechten Gang eines Models, dem enganliegenden, knöchellangen schwarzen Abendkleid und dem langen blonden Haar sahen, die ihr die Aura einer tragischen Königin verliehen.
Krog drehte sich um und verließ die Bühne. Er vermutete, daß er auch grimassierend rückwärts hätte abschwirren können, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre. Irgend jemand begann zu klatschen, doch der Applaus kam vereinzelt und war bald verhallt. Es herrschte Stille. Draußen schwammen Geräusche vorbei wie Fische an einer Tiefseekamera, wie Bewohner einer vollkommen anderen Welt.
Elizabeth hob zu sprechen an. Ihr Yorkshire-Akzent war so erschreckend wie das Brüllen einer Lerche.
»Vor fünfzehn Jahren sind drüben auf der anderen Seite des Neb drei kleine Mädchen, Freundinnen von mir, verschwunden. Ich singe diese Lieder für sie.«
Inger spielte die kurze Einleitung, dann begann Elizabeth zu singen.
»And now the sun will rise as bright
As though no horror had touched the night.«
Die ersten Zeilen des ersten Liedes reichten aus, um Krog zu beweisen, daß er sowohl recht als auch unrecht gehabt hatte.
Unrecht insofern, als Elizabeth entgegen seiner Erwartung reif für diesen Zyklus war. Sie sang so klar und unumwunden direkt, daß ihre Aufnahme auf der CD dagegen angestrengt und gekünstelt wirkte. Und die Klavierbegleitung war die perfekte Ergänzung zu diesem Timbre, das unter den volleren Klängen eines ganzen Orchesters begraben worden wäre.
Und recht hatte er damit gehabt, daß sie die Lieder hier niemals hätte singen dürfen. In der Stille nach dem ersten Lied hörte er ein unterdrücktes Schluchzen. Und viele der Gesichter, die er von seinem Platz aus sehen konnte, wirkten eher schmerzverzerrt als verzückt. Er hätte sie die Lieder doch am Ende singen lassen sollen, denn hiernach würde die zweite Hälfte des Programms mit seiner Mischung aus Liebesduetten und klassischen Evergreens trivial und geschmacklos anmuten.
Er betrachtete Chloe Wulfstans Gesicht. Der Schmerz, den er dort entdeckte, wäre Grund genug gewesen, die Lieder zu streichen, selbst wenn das restliche Publikum die Aufführung als hervorragendes Beispiel der Liederkunst erachtete. Es war fast zwanzig Jahre her, daß er sie bei seinem allerersten Auftritt im Rahmen des Festivals kennengelernt hatte. Für einen jungen Sänger am Anfang seiner Karriere war diese Art von Engagement ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Ruhm gewesen. Und als er die junge Ehefrau seines Gastgebers sah und den vertrauten Kloß im Hals spürte, das erste Anzeichen von Begierde, hatte er es instinktiv einfach bei ihr versucht, da er bezweifelte, eine zweite Chance zu bekommen.
Er hatte sein ganzes Programm abgespult, doch sie hatte nur gelächelt – amüsiert, wie sie später zugab, über seine blumige kontinentale Art – und sich wieder ihrer Hauptaufgabe gewidmet, ihrer kleinen Tochter.
Er hatte eine Weile über sie nachgedacht, aber nicht lange, und als Wulfstan ihn im folgenden Jahr erneut einlud, sagte er zu, nicht wegen Chloe, sondern weil er es sich noch nicht leisten konnte, solch ein Angebot abzusagen.
Als er sie wiedersah, war es wie ein Nachhausekommen. In jenem Sommer wurden sie Freunde. Und seine Beziehung zu Wulfstan änderte sich ebenfalls. Ein weiterer Grund für seine Zusage war gewesen, daß er erkannt hatte, wieviel Einfluß Wulfstan in ganz Europa hatte. Nicht die Art von Einfluß, die ihm die Türen zur Mailänder Scala oder Pariser Oper oder zum Bayreuther Festspielhaus öffneten, aber er hatte nützliche Verbindungen zu Veranstaltern, die ihm Arbeit und ein gewisses Maß an Bekanntheit verschaffen konnten. Auf persönlicher Ebene hatte er mit dem Mann so seine Schwierigkeiten, was die Absicht, seine Frau zu verführen, hätte erleichtern müssen; nun aber, da er ihn in gewissem Sinne als Gönner betrachtete, wirkte sein Selbstinteresse gewissermaßen als kalte Dusche. Daß er und Chloe zusammenkamen, war dann beinah purer Zufall. Bei seinem dritten Aufenthalt gingen sie beide unterhalb des Neb spazieren. Als sie einen Bach überquerten, rutschte er aus, fiel gegen sie, riß sie um, und sie küßten sich, als gäbe es nichts anderes zu tun.
So hatte es angefangen. Für sie war es »das einzig Wahre«, was immer das bedeuten mochte, und es hätte ihn womöglich beunruhigt, wenn sie nicht von Anfang an klargemacht hätte, daß das Wohl ihrer Tochter an erster Stelle stand. Bis sie erwachsen wäre, würde Chloe nicht einmal daran denken, Walter zu verlassen. Aber sie war nicht dumm. Als er beteuerte, seine Liebe zu ihr sei so stark, daß er gern allezeit auf sie warten würde, erwiderte sie: »Das ist sehr nobel, Arne, aber es könnte doch auch sein, daß du dich nur freust, gleichzeitig mich und deine Freiheit zu haben.«
Was ohne die Tragödie vor fünfzehn Jahren geschehen wäre, konnte er nur vermuten. Was er allerdings mit Sicherheit wußte, war, daß ihr Kummer und die Trennung ihn auf eine Weise berührten, die er nicht für möglich gehalten hätte, und sein Leben geriet zu einer Statistenrolle, bis Chloe durch die Krise mit Elizabeth wieder zu ihm zurückkehrte.
Nun schien es nichts mehr zu geben, das sie bei Wulfstan hielt. Doch sie hatte sich um die Entscheidung gedrückt und war schließlich mit ihm nach Mid-Yorkshire zurückgekehrt.
Was Krog dazu gebracht hatte, im Arbeitszimmer seines Gastgebers herumzustöbern, wußte er nicht. Er hatte nichts Bestimmtes im Sinn gehabt, nur eine vage Hoffnung, daß er etwas finden könnte, das ihm die Macht verlieh, Chloe und Walter auseinanderzubringen. Inger hatte ihn beim Spionieren erwischt, auf ihre übliche unbeteiligte Art jedoch nichts gesagt und die Tür wieder geschlossen. Als er die Abschriften gefunden und sich ihre Bedeutung klargemacht hatte, war er zunächst entsetzt gewesen. Daß ein Mann sich Rache für die ermordete Tochter wünscht, konnte er nachvollziehen. Daß er einen Verdächtigen, gegen den nichts Handfestes vorlag, in einem Kellerloch ankettet und dort ertrinken läßt, konnte er nicht im mindesten verstehen. Und die andere große Frage, die er sich nicht zu stellen getraute, weil er Angst vor der Antwort hatte, war, wieviel Chloe von all dem wußte.
Gar nichts, versicherte er sich selbst … das konnte er nicht glauben … nichts! Vielleicht hatte er das alles auch mißverstanden, und es waren nur die abgedrehten Phantasien einer verwirrten Heranwachsenden. Oder vielleicht hatte Walter gar nichts mit dem angeketteten Benny zu tun. Doch als Krog ihm am Sonntag morgen den Leichenpfad hinauf folgte, und heute wieder, und ihn dort oben stehen sah, wie er auf die Ruinen von Dendale blickte, da war er sicher gewesen.
Ob seine darauffolgende Handlung richtig gewesen war, wußte er allerdings nicht. Mittlerweile bereute er, Pascoe den Umschlag gegeben zu haben. Warum hatte er sich selbst zum Instrument gemacht, wo er doch einfach Beobachter hätte bleiben können? Denn jetzt, als sein Blick vom lieblichen und geliebten Gesicht der Ehefrau zum gramzerfurchten Gesicht des Ehemannes wanderte, sah er dort deutlich die Spuren von Reue, aber auch Versöhnung mit den Folgen seiner bald zu entdeckenden Tat.
Der Zyklus bestand aus nur fünf Liedern, doch jedes erschuf eine eigene zeitlose Welt des Kummers. Die Zuhörer lauschten so gebannt, daß niemand sich umdrehte, als während des vorletzten Liedes die rückwärtige Tür aufging und drei Männer und eine Frau in die Kapelle traten.
»Don’t look so pale! The weather’s bright.
They’ve only gone to climb up Beulah Height.«
Der Ortsbezug drehte die Schmerzensschraube noch eine Windung weiter. Und die Wiederholung in den letzten Zeilen – mit ihrer herzzerreißenden falschen Heiterkeit, ihrer aus schierer Verzweiflung geborenen Hoffnung – war zuviel für Mrs. Hardcastle, die gegen den steifen Körper ihres Mannes sank und leise vor sich hin schluchzte.
»We’ll catch up with them on Beulah Height
In bright sunlight.
The weather’s bright on Beulah Height.«
Dann, beinahe ohne Pause, stürzte sich Inger Sandel in die aufwühlende Begleitung des letzten Liedes.
Von seinem Standort hinter der leicht geöffneten Sakristeitür aus konnte Krog die Reaktionen der Neuankömmlinge beobachten. Drei von ihnen kannte er. Dalziels steinernes Gesicht verriet nichts von dem, was hinter seinen kleinen Schweinsaugen vorging. Wields zerfurchtes Antlitz war ebenso undurchsichtig, vermittelte jedoch den Eindruck gebannten Zuhörens. Pascoe war sichtlich bewegt und konnte seine Gefühle nicht verbergen. Und die Frau, die Krog nicht kannte – jung und attraktiv, aber keine auffallende Schönheit – nahm mit polizeilicher Routine ihre Umgebung in sich auf, ohne auf die Musik zu reagieren, die ihre Ohren hörten.
Aufruhr und Konflikt und die Bilder von Unwetter und Schuld und Gegenanklage begannen nun zu verblassen, als der Gesang sich darüber erhob wie ein verirrter Wanderer, der endlich Ruhe und Schutz erreicht.
»By no foul storm confounded«
Elizabeth hielt den Kopf leicht nach hinten geneigt und blickte über die Köpfe ihres Publikums hinweg.
»By God’s own hands surrounded«
Krog konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß es so strahlend war wie das einer Heiligen im Augenblick des Märtyrertodes, wenn die Tore des Himmels sich für sie öffnen.
»They rest«
Sie ruhen. Laß sie ruhen. Ja, dies war ein Requiem.
»They rest …«
Vielleicht hatte sie recht und er unrecht. Wenn nur die Polizei nicht da wäre … und wessen Schuld war das? Würde Pascoe seine Informationsquelle verraten? Nicht, daß es wichtig wäre. Chloe würde es wissen. Ohne es gesagt zu bekommen, würde sie es wissen.
»… as in their father’s house.«
In des Vaters Haus? Es hieß doch: in der Mutter Haus! Ein Versprecher? Vielleicht. Aber wer merkte das schon?
Das Klavier wand seinen Weg durch das lange melancholische Finale, das ein Siegel der friedlichen Versöhnung auf all die vorangegangenen Turbulenzen von Verlust und Kummer setzte. Als es verklungen war, sprach niemand ein Wort. Niemand applaudierte.
So sollte es sein. Jetzt sollten alle einfach aufstehen und nach Hause gehen.
Dann ertönte ein Geräusch wie ein Donnerschlag. Und noch einmal. Und noch einmal.
Es war der dicke Polizist, der abscheuliche Dalziel, der dastand wie der Inbegriff des Mißklangs, seine riesigen Hände zusammenschlug und damit beinahe eine Parodie des Applauses vollführte.
Sechsmal tat er dies. Köpfe drehten sich her, doch niemand fiel in sein Klatschen ein. Die junge Frau betrachtete Dalziel mit einer Mischung aus Bewunderung und Staunen. Die Augen des jungen Polizisten schlossen sich für einen Moment vor Scham, dann nahm er eine CD auf und studierte eingehend das Cover. Nur der häßliche Wield zeigte keine Reaktion, sondern starrte unverwandt auf Elizabeth.
Nach dem letzten Klatschen begann Dalziel zu sprechen.
»Hey, das war toll, Mädchen«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Eine gute Ballade hör ich wirklich gern, wenn sie mit Gefühl gesungen wird. Ist jetzt Teepause? Das Wetter, tz! Mein Hals ist so trocken wie’n ausgedörrter See.«