172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 61

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Neunzehn

»Was ist Wahrheit?« fragte Peter Pascoe.

Manchmal ist sie bei dir, hell wie ein Stern, der allein am Himmel steht.

Manchmal, wie bei einem sehr schwachen Stern in einem Meer von leuchtenden Himmelskörpern, kann man sie nur erhaschen, wenn man seitwärts hinsieht.

Und manchmal kommt man nah genug, daß man sie mit ausgestreckter Hand ergreifen könnte, doch wenn man zupackt, greifen die Finger in das Nichts einer Sinnestäuschung.

Der Trick bestand darin, sie zu erkennen, wenn man sie sah, und nicht ein Teil mit dem Ganzen zu verwechseln.

Dalziel war ein guter Polizist, der sich auf seinen Instinkt verließ. Wield arbeitete mit Logik und System und ordnete die Fakten so oft neu, bis sie Sinn ergaben. Pascoe sah sich selbst als Mensch mit viel Phantasie, der große Sprünge machte und dann voller Hoffnung darauf wartete, daß die Fakten ihn einholten.

Und Shirley Novello …?

Im Range Rover bekam sie endlich die Schriftstücke in die Finger.

Sie las, während der Wagen gefährlich schnell über die schmalen Landstraßen kurvte. Die blauen Seiten las sie zweimal.

Nach dem zweiten Durchgang lehnte sie sich zurück und schloß fest die Augen, als hoffte sie durch mehr Dunkelheit auf Erleuchtung.

Sie dachte an die verwirrten und bruchstückhaften Gefühle ihrer Jugendzeit. Doch im Vergleich zu dem, was sie in Händen hielt, war es eine friedvolle und glückliche Zeit gewesen. Und Betsy Allgoods Träume hatten nicht erst mit Einsetzen der Pubertät begonnen, sondern viel früher. Ein häßliches, ungeliebtes Kind, das nach Liebe von einem arbeitswütigen Vater und einer emotional unstabilen Mutter hungerte – wie neidisch mußte sie auf ihre hübscheren, glücklicheren, treu und liebevoll umsorgten Freundinnen gewesen sein, vor allem auf Mary Wulfstan, die nur in den Ferien auftauchte und wie eine kleine Prinzessin ihren Platz in der Hierarchie der Dendale-Kinder einnahm.

Und doch war Marys Mutter nur eine Allgood, wie Betsys Vater. Also mußte diese Besonderheit, diese beneidenswerte, wünschenswerte »Andersartigkeit« von ihrem Vater stammen, dem kraftvollen, rätselhaften Walter Wulfstan.

Wieviel verstanden diese Männer wohl von all dem? Pascoe hatte nach seiner schweren Zeit und dieser Geschichte mit der imaginären Freundin und dem echten/unechten Nix sicher eine Ahnung davon bekommen, daß kleine Mädchen zwischen hier und einer Welt hinter den Spiegeln hin und her wechseln konnten, ohne es selbst zu bemerken. Und Wield – wie sehr trafen diese angeblich homosexuellen Attribute wie Empfindsamkeit und Einfühlungsvermögen auf ihn zu?

Und Dalziel … Herrje, er sprach gerade mit ihr.

»Schlafen Sie, Ivor, oder was? Ich hab gefragt, was Sie von all dem halten, wo Sie jetzt diesen Psychokäse gelesen haben.«

Hier sitze ich nun, dachte Novello, eingesperrt in ein Fahrzeug mit meinem dreifaltigen Gott, wie die vierte Ecke an einem Dreieck, und sie warten auf meine Meinung! Eine Chance zu glänzen? Oder die Chance, für immer in der Versenkung zu verschwinden? Am klügsten wäre es wohl herauszufinden, was diese großen Geister dachten, und sich dann dranzuhängen, so daß man im schlimmsten Fall, wenn sie vollkommen danebenliegen, mit ihnen gemeinsam in der Patsche saß.

Pascoe drehte sich zu ihr um und lächelte sie an.

»Keine Sorge«, sagte er. »Hier gibt es keine Fleißbildchen zu gewinnen. Es geht um ein totes Kind, vielleicht vier tote Kinder, und vielleicht ein verkorkstes Kind. Das ist die einzige Wahrheit, die zählt. Nicht persönlicher Ehrgeiz. Oder persönlicher Kummer. Ich weiß, daß Sie das verstehen.«

Verdammt, dachte Novello. Dieser gedankenlesende Mistkerl will mich daran erinnern, daß ich in sein Leben gepoltert kam, als er am Krankenbett seiner Tochter saß, und er sagt, daß es in Ordnung war, sofern ich es für den Fall und nicht für mich getan habe. Wer zum Teufel denkt er, daß er ist? Ein gutmütig verzeihender Jesus?

Doch sie wußte, daß ihr Ärger zum Teil auf Schuldgefühl beruhte. Und da war noch etwas, das viel schlimmer war, weil es ganz und gar ihrem heimlichen Entschluß widersprach, ihren Weg an die Spitze dieser Männerwelt zu gehen, ohne ein Teil davon zu werden. Es war das äußerst angenehme Gefühl, daß sie vielleicht falsch gedacht und dieses Heilige Dreieck in Wirklichkeit ein Heiliger Kreis war, der sich gerade ausdehnte, um sie mit einzuschließen …

Aber so werden sie mich nicht kriegen! versicherte sie sich selbst und schnappte dann erschrocken nach Luft, als der Wagen ins Schleudern geriet.

Dalziel hatte gebremst, um einem Hund auszuweichen, der aus den Büschen gesprungen kam. Das kleine, unbestimmbare Tier setzte seinen Weg mit unbekümmerter Gleichgültigkeit gegenüber geringeren Kreaturen fort, die mit so wenig Beinen ausgestattet waren, daß sie sich zur Fortbewegung wie Hundefutter in eine Blechdose zwängen mußten.

Der Zwischenfall dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte der Dicke das Fahrzeug wieder unter Kontrolle. Doch Novello mußte an Tig denken, Lorraines Hund. Sie hatte ihn nie gesehen. Und Lorraine auch nicht. Weder tot noch lebendig.

Dalziel hatte sie gesehen, Wield ebenfalls.

Auf einmal spürte sie das Bedürfnis zu weinen, doch dies war ein Gefühl, mit dem sie schon vor langer Zeit gelernt hatte umzugehen.

Betont munter sagte sie: »Natürlich war Betsy sehr mitgenommen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie verwirrt war. Sie wollte Wulfstan offenbar wissen lassen, daß sie sich an den wahren Verlauf der Ereignisse an jenem Abend erinnerte. Mit anderen Worten: sie hat ihn in Schutz genommen. Aber angenommen, ihre Begeisterung für Wulfstan und daß sie ihn in Schutz nahm, reichte noch viel weiter zurück. Als ich die Akte gelesen habe, ist mir aufgefallen, daß es immer Betsy gewesen war, die Lightfoot in der Nähe der Tatorte gesehen hatte. Vielleicht hatte sie Wulfstan da schon in Schutz genommen, und als sie Benny im Keller von Heck angekettet sah, verlegte sie instinktiv das Geschehen nach Neb Cottage.«

Da, sie hatte es getan! Hatte angedeutet, daß vor fünfzehn Jahren, als sie selbst kaum älter war als die vermißten Mädchen, diese Männer einen Riesenfehler gemacht und sich von einem Kind an der Nase hatten herumführen lassen.

Dalziel sagte: »Verdammte Hacke, Schätzchen. Ich weiß, ihr Weiber denkt mit euren Hormonen, aber hätte uns eine Siebenjährige wirklich so verarschen können?«

Sie schmunzelte in sich hinein, da sie Dalziels ruppige Offenheit sehr viel erfrischender fand als Pascoes pietätvolles Tränengas.

»Ich glaube nicht, daß es hier um sorgfältig ausgearbeitete Strategien geht, Sir. An dem Abend, als sie Benny sah, muß Betsy wirklich verängstigt und durcheinander gewesen sein. Vielleicht hat einfach jeder angenommen, weil sie in der Nähe von Neb Cottage gefunden wurde, daß sie Benny dort gesehen hatte, und sie stritt es erst einmal nicht ab und glaubte dann selbst daran, weil sie die Wahrheit verdrängen wollte. Erst später, als Dr. Appleby mit ihr arbeitete, kam dann alles wieder zurück.«

»Aber ihr hat sie nicht verraten, daß sie sich an die Wahrheit erinnerte«, sagte Pascoe.

»Nein. Nicht der Psychiaterin. Inzwischen war sie alt genug, sich die volle Bedeutung ihres Erlebnisses klarzumachen. Und klug genug zu begreifen, daß sie damit die Macht hatte, Wulfstan in die Rolle des liebenden Vaters hineinzuzwingen, was sie anhand ihrer flehentlichen Versuche mit Gewichtsreduktion und Haarefärben nicht geschafft hatte.«

Die Männer schwiegen. Inzwischen hatten sie den Rand von Danby erreicht. Nicht unbedingt ein Ort, in dem nachts das Leben tobt, dachte sie. Es gab kaum Verkehr, und die wenigen Menschen auf den Straßen bewegten sich so langsam wie Rauchwolken durch die Abendsonne.

Eine Geisterstadt. Eine Stadt voller Geister, die über den Leichenpfad vom Neb herüberdriften. Aber nicht, um zu spuken. Eher um zu bitten, zur Ruhe gebettet zu werden.

»Dann denken Sie also, Wulfstan hat es getan, bei allen vier Mädchen, einschließlich seiner Tochter?«

»Er wäre nicht der erste«, entgegnete Novello.

»Der erste inwiefern?« erkundigte sich Pascoe.

»Der erste Kindesmißhandler und -mörder, der sich an der eigenen Familie vergreift!« entfuhr es ihr leidenschaftlicher, als sie beabsichtigt hatte.

»Und Betsy weiß, daß er ein Monster ist, will aber trotzdem von Herzen gern seine Tochter werden?« meinte Dalziel ungläubig. »Eins ist sicher, Herzchen, Sie gehören nicht zu den Feministinnen, die behaupten, Frauen könnten nichts verkehrt machen.«

»Ich rede hier nicht von richtig oder verkehrt. Ich rede von der Wahrheit«, gab Novello verärgert zurück. »Und es würde unsere Arbeit bestimmt um einiges erleichtern, wenn Männer der Wahrheit ebenso ins Gesicht sehen würden wie wir Frauen.«

Oh, Scheiße, dachte sie und sank in ihren Sitz zurück. Eben noch hallelujasingend mit der Dreifaltigkeit im Himmel, im nächsten Augenblick in kometenhaftem Sturz auf dem Weg zur Hölle!

Und dies war der Moment, an dem Pascoe in seiner Fundgrube an Bemäntelungen stöberte und nichts Besseres fand als: »Was ist Wahrheit?«

Den Rest der Fahrt zur Beulah-Kapelle legten sie in bedächtigem Schweigen zurück.

Dort angelangt, war Pascoe nicht mehr nachdenklich, sondern beobachtete alles ganz genau. Er hatte das Gefühl, daß die Sache hier zum Abschluß gelangen würde. Doch wie in allen guten Vorführungen war es erst vorbei, wenn der dicke Mann gesungen hatte.

Nach Dalziels lautstarkem Ruf nach Tee schnitt eine Stimme durch das sich anhebende Raunen. Sie war klar und charmant und stammte von einer gut gebauten, gutaussehenden Frau, in der Pascoe ohne große Überraschung (im Moment konnte ihn nichts mehr überraschen) Cap Marvell wiedererkannte, Dalziels Exfreundin. Sie rief. »Ladies und Gentlemen, es ist ein solch schöner Abend, daß die Getränke draußen im Hof kredenzt werden.«

Während das Publikum langsam hinausströmte, ging sie zum Dicken, legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Andy, was ist passiert?«

»Erzähl ich dir später, Herzchen«, antwortete er. »Es wäre hilfreich, wenn wir die da drüben auch noch loswerden könnten.«

Einige der Zuhörer waren aufgrund von Knauserigkeit, Neugier oder Arthritis auf ihren Sitzen geblieben. Cap Marvell ging von einem zum anderen, redete leise auf ihn ein, und einer nach dem anderen erhob sich. Sie geleitete die Gäste zum Ausgang und lächelte Dalziel im Vorübergehen zu.

Vielleicht, dachte Pascoe, sollte ich das »Ex« wegstreichen.

Dalziel sah zu ihm herüber, und ohne nachzudenken, legte er den Kopf schief und machte ein »Aber hallo!«-Gesicht. Himmel, ich werde mutig, dachte er.

Marvell schloß hinter dem letzten Gast die Tür. Eine überzeugende Frau, dachte Pascoe. Oder vielleicht hatte sie bei ihrem Freund gelernt und den Leuten einfach geraten, sie sollten sich verpissen, solange sie noch zwei gesunde Beine zum Laufen hätten.

Sie kehrte zu Dalziel zurück und fragte wie ein braves Hausmädchen: »Sonst noch etwas, Sir?«

Er sagte: »Ich hab so das Gefühl, daß das Konzert vorbei ist, also könntest du sie hin und wieder selbst zum Singen anstiften, damit sie abgelenkt sind und nicht ihr Geld zurückverlangen. Nein, im Ernst, schick sie nach Hause, wenn sie ihre Erfrischungen bekommen haben. Apropos Erfrischungen: Das war vorhin kein Witz, als ich sagte, daß mein Hals ganz trocken ist. Du könntest dich nicht vielleicht anstellen und uns einen Becher Tee holen? Oder besser, eine ganze Kanne und genug Becher für uns alle?«

Er blickte zum anderen Ende der Kapelle, wo die drei Wulfstans und Arne Krog am Flügel standen, an dem Inger Sandel noch immer saß. Wie ein Gesangsquartett, das auf seinen Einsatz wartet, dachte Pascoe.

»Die sind fünf, wir vier, das macht neun«, rechnete Dalziel. »Wieldy, Sie sind haushaltserfahren. Gehn Sie dem Mädchen zur Hand.«

Das Mädchen schenkte ihm ein untertäniges Lächeln, trat ihm fest, aber wirkungslos auf den Fuß und verließ in Wields Begleitung den Raum.

Pascoe erhaschte ein kurzes zufriedenes Aufleuchten in Novellos Gesicht. Sie denkt, sie ist aus dem Schneider, weil sie nicht den Tee holen muß, vermutete er. Armes Kind. Sie hat schon viel gelernt. Aber bis sie nicht weiß, daß bei Dalziel Zufriedenheit ebenso unangebracht ist wie Gereiztheit, hat sie noch nicht genug gelernt.

»Nun, laßt uns nicht ungesellig sein«, sagte der Dicke.

Und strahlend wie ein Versicherungsvertreter, der gerade Rentenversicherungen auf der »Titanic« verkaufen will, machte er sich auf den Weg zu der kleinen Menschengruppe am Flügel.

»Ach, wie nett!« rief er dort aus. »Familie und Freunde. Es wird uns bestimmt Zeit sparen, wenn ich mit Ihnen allen zusammen sprechen kann, aber wenn einer von Ihnen meint, das könnte peinlich werden, sagen Sie’s ruhig, dann nehm ich Sie mir einzeln vor.«

Niemand sagte etwas.

»Na, toll«, meinte Dalziel. »Also keine Geheimnisse. So sollte es bei Familien und Freunden auch sein. Machen wir es uns doch bequem, oder?«

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit solchem Schwung darauf, daß die Verbindungsstellen krachten und sich die Beine spreizten. Pascoe und Novello brachten Stühle für alle anderen und stellten sie im Halbkreis auf. Dann nahmen sie hinter Dalziel Platz, wie Diener bei einem Galaempfang.

Elizabeth setzte sich als letzte. Während sie sich elegant auf den Stuhl drapierte, zog sie ihre blonde Perücke vom Kopf und warf sie lässig auf den Flügel. Sie landete zur Hälfte auf dem Rahmen, hing dort einen Moment und rutschte dann zu Boden wie ein beinloser Pekinese.

Niemand bemerkte es. Alle Augen waren auf Elizabeth gerichtet, die mit beiden Händen ausgiebig ihren kahlen Kopf kratzte.

»Verdammt heiß unter dem Ding«, sagte sie. »Ich glaub, ich schmeiß sie weg.«

»’ne andere Farbe, hm?« schlug Dalziel vor.

»Klar. Ich denke, meine Tage als Blondine sind gezählt.«

Sie saß da wie ein Alien in einem Science-fiction-Film. Pascoe, der sie bislang als eine Frau von umwerfender Erscheinung, aber eisigem Charme erlebt hatte, war vollkommen verdutzt von der plötzlichen Vorstellung, diesen kahlen Kopf zwischen seine Schenkel zu ziehen. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte, als wüßte sie genau, was er dachte. Hastig widmete er sich wieder dem Cover ihrer CD, die er noch immer in der Hand hielt.

In diesem Augenblick kam Wield mit einem Tablett mit Teekanne, Tassen, Zucker, Milch und einem Teller voller Kekse.

»Sieh mal an, da kommt Muttern«, sagte Dalziel. »Ist ’ne komische Sache. Wenn’s draußen heiß und man so richtig ausgedörrt ist, löscht nichts so gut den Durst wie ’ne schöne Tasse Tee.«

Er sprach mit der Überzeugung eines Enthaltsamkeitspredigers. Pascoe beobachtete mit ergebenem Amüsement, wie der Dicke betont beflissen darauf achtete, daß die Damen ihren Tee serviert bekommen hatten, ehe er seine eigene Tasse mit abgespreiztem kleinen Finger an die Lippen hob. Entweder war er noch dabei, eine Strategie zu entwickeln, oder er spürte, daß eine Sache, die fünfzehn Jahre auf ihr Ende gewartet hatte, eine genüßliche Würdigung verdiente.

Endlich war er bereit.

Sein Eröffnungszug überraschte Pascoe, weil er damit sein vorheriges Angebot der getrennten Befragung wiederholte, nur diesmal gezielt und sehr ernst.

»Mrs. Wulfstan«, sagte er freundlich, »dies könnte schmerzhaft für Sie werden. Falls Sie lieber später mit mir sprechen wollen, oder in Ihrem Haus …«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe mich an Schmerz gewöhnt.«

Krog, der zu ihrer Linken saß, nahm ihre Hand, die schlaff bis fast auf den Boden hing, doch sie erwiderte den Druck nicht, und so ließ er sie nach einer Weile wieder los. Wulfstan drehte nicht einmal den Kopf. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Dalziel.

Machte der Dicke sich tatsächlich Sorgen um die Frau, oder war das nur seine Art, die Schraube um ihren Mann enger anzuziehen? überlegte Pascoe.

Wahrscheinlich von beidem ein bißchen. Dalziel hatte lange Übung darin, ganze Vogelschwärme mit einem einzigen Stein herunterzubringen.

»Also gut, dann legen wir die Karten mal auf den Tisch«, sagte er mit der gewinnenden Offenheit eines Glücksspielers, der gezinkte Karten im Ärmel, im Kragen, im Hosenbund und hinter dem Hutband hatte. »Wer fängt an?«

Schweigen. Was zu erwarten gewesen war. Pascoe fing Wields Blick auf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Sergeant nickte und ging leise zum Ausgang.

»Lampenfieber, wie?« meinte Dalziel. »Na schön. Detective Constable Novello, warum versuchen Sie nicht, uns auf die Sprünge zu helfen?«

Gott im Himmel! dachte Novello sowohl flehentlich als auch fluchend.

Sie hatte voller Spannung beobachtet, wie der Dicke die Sache anging. Würde er mit der Vergangenheit oder der Gegenwart beginnen? Würde er verraten, was sie herausgefunden hatten, oder das meiste zurückhalten und die anderen damit herausrücken lassen?

Sie hatte sich darauf eingestellt, kritische Anmerkungen zu machen, Anregungen zu geben. Nun stand sie vor der ganzen Klasse und bekam die Kreide in die Hand gedrückt.

Gott im Himmel, wiederholte sie, diesmal nur als beschwörende Bitte.

Ihre Gedanken rasten zwischen dem angeketteten Skelett, den blauen Briefbogen, Barney Lightfoots Geschichte und Geordie Turnbulls Geständnis hin und her.

Dann dachte sie, das hängt alles mit der Vergangenheit zusammen. Scheiß auf die Vergangenheit! Der dicke Andy mag darin verhaftet sein, ich aber nicht. Der Fall, an dem ich arbeite, ist der Mord an Lorraine Dacre, sieben Jahre.

Sie sagte: »Mr. Wulfstan, gibt es etwas, das Sie Ihrer Aussage über den Besuch in Danby letzten Sonntag hinzufügen möchten?«

Sie konzentrierte sich ganz auf Wulfstans hagere Gesichtszüge, teils um dem Drang zu widerstehen, Anerkennung in Dalziels Blick zu suchen, andererseits aber auch, um jedes verräterische Zucken registrieren zu können. Eine Emotion huschte wie ein Nebelschleier über seine passiven Züge, doch sie konnte ihre Bedeutung nicht erkennen. Am ehesten sah sie aus wie … Erleichterung?

Er sagte: »Wie ich Mr. Dalziel gesagt habe, stieg ich den Leichenpfad hinauf und stand eine Weile oben, um mir Dendale anzusehen.«

»Und dann?«

»Dann, als ich mich umdrehte, um wieder in Richtung Danby zu gehen, blickte ich über den Grat zum Neb. Und ich sah einen Mann.«

»Einen Mann? Was für einen Mann? Das haben Sie in Ihrer Aussage nicht erwähnt. Warum nicht?«

Er berührte mit der Hand sein Gesicht, als müsse er sich vergewissern, daß er aus Fleisch und Blut bestand.

Dann sagte er leise: »Weil es Benny Lightfoot war.«

Novello schnaubte verärgert. Wollte der Mistkerl sie verarschen? Sich hinter der ganzen BENNY IST WIEDER DA!-Hysterie verschanzen? Nun, sie besaß die nötigen Mittel, ihm diesen lächerlichen Schild wegzustoßen!

Mit vor Sarkasmus triefender Stimme entgegnete sie: »Sie haben Benny Lightfoot gesehen? Tja, das muß wirklich ein ganz schöner Schock gewesen sein, Mr. Wulfstan. Wo Sie doch als einziger Mensch ohne jeden Zweifel wissen, daß er tot ist.«

Falls sie rundum Schockiertheit und Entsetzen erwartet hatte, wurde sie enttäuscht.

Wulfstan schüttelte matt den Kopf und wiederholte: »Ich habe ihn gesehen.«

Die drei Frauen zeigten keine oder kaum eine Regung.

Und Arne Krog sagte: »Es stimmt. Da war ein Mann.«

Und zu Wulfstan gewandt fügte er beinahe entschuldigend hinzu: »Ich bin dir gefolgt.«

Diese Bestätigung irritierte Novello eine Sekunde lang, bis sie die Erklärung fand. Natürlich war da ein Mann gewesen, aber nicht Benny, sondern Barney, der oben am Neb entlanggewandert war, um das Dorf aus der Vogelperspektive zu sehen.

Wulfstan blickte leicht überrascht zu Krog. Nun ja, es war schon eine Überraschung, wenn man aus unerwarteter Ecke die Erscheinung eines Geistes bestätigt bekam.

»Was haben Sie dann getan, Mr. Wulfstan?« fragte Novello weiter.

»Ich ging den Grat entlang, um ihn einzuholen.«

»Und haben Sie ihn eingeholt?«

»Nein. Er verschwand.«

»Sie meinen, wie ein Rauchwölkchen?« höhnte sie.

»Nein. Am Hang gibt es jede Menge Senken und Spalten. Er verschwand außer Sicht und tauchte nicht wieder auf. Ich nahm an, daß er zur einen oder anderen Seite abgetaucht war.«

Jetzt ahnte sie, worauf er hinauswollte. Benny/Barney war zur Danby-Seite hin verschwunden und hatte Lorraine getroffen und … Netter Versuch, Walter. Aber er funktionierte nicht.

Novello meinte, wieder alles unter Kontrolle zu haben, und fuhr fort, das Terrain zu ebnen.

»Was ist mit Ihnen, Mr. Krog? Haben Sie gesehen, wohin der Mann verschwand?«

»Nein. Ich sah, wie Walter in seine Richtung ging, dann kehrte ich auf dem Leichenpfad um.«

»Und haben Sie Mr. Wulfstan noch mal gesehen?«

»Erst später am Tag in seinem Haus.«

Jetzt bist du also allein, Wulfstan. Nur du und ich.

Und das Kind.

»Also, was geschah dann, Mr. Wulfstan?« fragte sie ruhig. »Sind Sie den Grat entlanggegangen und haben rechts und links nach dem Mann gesucht, denn Sie für Benny Lightfoot hielten? Und haben Sie zum Ligg Beck hinuntergeblickt und dort unten jemanden gesehen? War es ein Mädchen, das Sie gesehen haben, Mr. Wulfstan?«

Vor Gericht würde das wohl Beeinflussung des Zeugen heißen. Sie hoffte beinahe, er würde sich nicht beeinflussen lassen, damit sie ihn voller Wut in die Enge treiben könnte.

Doch er leugnete es nicht.

»Ja«, sagte er. »Ja, ich habe hinuntergeblickt. Und ein kleines Mädchen gesehen. Ich habe Mary gesehen.«

»Mary?« Novello war einen Moment lang verwirrt. Gegen ihren Willen warf sie seitwärts einen Blick auf die Männer. Pascoe nickte ihr aufmunternd zu. Wield, der mit der Dendale-Akte und dem großen Umschlag in den Händen wieder bei ihnen saß, war undurchschaubar wie immer. Dalziel starrte auf Wulfstan und runzelte die Stirn.

Da wandte auch sie ihren Blick wieder Wulfstan zu. Er wollte sich also immer noch herauswinden, wie? Novello sammelte Kraft für einen direkten Angriff.

»Kommen Sie, Mr. Wulfstan! Sie meinen doch Lorraine, oder nicht? Sie blickten ins Tal und sahen Lorraine Dacre.«

Es knirschte und krachte, als Dalziel sich auf seinem Stuhl vorbeugte.

»Nein, Herzchen«, korrigierte er freundlich. »Er meint Mary. Stimmt’s, Mr. Wulfstan? Sie guckten zum Ligg Beck runter und sahen Ihre Tochter Mary. Und sie sah aus wie das letzte Mal, als Sie sie gesehn hatten, vor fünfzehn Jahren.«

Und zum erstenmal, seit sie sich kannten, betrachtete Wulfstan Andy Dalziel beinahe voller Dankbarkeit und sagte: »Ja. Das stimmt, Superintendent. Ich habe meine Mary gesehen.«