172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 62

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Zwanzig

Der Himmel schimmert wie aufgeplusterte Seide, die Sonne taumelt trunken, der felsige Grat unter seinen Füßen federt wie ein Trampolin. Nach so vielen Jahren, nach so viel Schmerz ist sie da, so blond und strahlend, wie er sie in Erinnerung hat, keinen Tag älter, kein bißchen verändert. Der Geist des Mannes, der sie ihm genommen hatte, brachte ihn zu ihr zurück.

Er überlegt keine Sekunde, warum sie in all den Jahren nicht älter geworden ist. Er fragt sich nicht, warum sie in diesem Tal spaziert anstatt in Dendale, wo sie damals verschwand. Er denkt keinen Augenblick über den steilen Abhang nach. Statt dessen rast er den Berg hinunter wie ein Bergläufer in Bestform. Leichtfüßig springt er von Vorsprung zu Vorsprung. Unter ihm, am Rand der tiefen Schlucht, durch die der Beck außer Sicht fließt, pflückt sie Blumen und denkt an nichts als an sich selbst und die Blumen zu ihren Füßen und vielleicht noch an den kleinen Hund neben sich, der Bienen und Fliegen und die Luft anbellt.

Er ruft ihren Namen. Er ist zu sehr außer Atem, um laut zurufen, aber er ruft trotzdem. Der Hund hört ihn als erstes und sieht ihn an, während sein Bellen sich in tiefes Knurren verwandelt. Er ruft erneut, lauter diesmal, und jetzt hört das Mädchen ihn.

»Mary!«

Sie dreht sich um und blickt nach oben. Sie sieht, wie ein Wesen mit weit aufgerissenen Augen auf sie zustürmt, mit den Lippen seltsame Worte formt, die Arme ausbreitet und mit entkräfteten Beinen zu taumeln beginnt. Sie läßt die Blumen fallen. Sie will weglaufen. Er ruft wieder. Sie rennt blindlings davon. Der Rand der Schlucht kommt näher. Sie blickt zurück und sieht seine ausgestreckten Arme, die sie packen wollen.

Und sie fällt.

»Als ich bei ihr ankam, konnte ich zwei Dinge feststellen. Ich sah, daß sie nicht Mary war. Und ich sah, daß sie tot war.«

Novello starrte ihn wütend an und versuchte, ihm nicht zu glauben. Es gelang ihr nicht. Sie hatte sich ein Monster in der Falle gewünscht, nicht einen übergeschnappten Vater. Sie wollte gerade einige skeptische Fragen stellen, da bedachte Dalziel sie mit einem warnenden Blick und sagte: »Und was haben Sie dann getan?«

»Ich hob die Leiche hoch und begann, die Schlucht hochzuklettern. Ich glaube, ich wollte sie ins Tal hinunter tragen und Hilfe suchen, obwohl ich bereits wußte, daß jede Hilfe zu spät kam. Auf halbem Weg, auf einem Vorsprung, griff der Hund mich an und biß mir in die Knöchel. Ich mußte stehenbleiben und ihn irgendwie loswerden. Schließlich habe ich ihn so fest getreten, daß er auf den Grund der Schlucht fiel und dort knurrend liegenblieb. Da bemerkte ich plötzlich diese Öffnung hinter einem Felsblock. Als ich hineinblickte, sah ich, daß es eine Art Versteck für das Mädchen gewesen sein muß. Es waren lauter Sachen darin, die ein Mädchen mit in ein Versteck nehmen würde … Ich weiß das noch von damals, als …«

Er sah zu seiner Frau, deren Gesicht ganz bleich geworden war. Elizabeth hielt ihre eine Hand, während Arne nach der anderen griff.

»Ich legte sie dort ab und dachte, das sei ein guter Platz, wo ich sie lassen könnte, während ich nach Hilfe suche. Und dann fing ich an darüber nachzudenken, was das bedeutete … Leute benachrichtigen, möglicherweise ihre Eltern aufsuchen … und ich merkte, daß ich dazu nicht die Kraft hatte. Im Verlauf der Jahre war ich zu der Überzeugung gekommen, daß ich stark genug wäre, alles zu tun und zu ertragen, aber ich merkte, dazu hätte ich nicht die Kraft. Also verschloß ich den Eingang ihrer kleinen Höhle. Ich wollte eigentlich nur etwas Zeit zum Nachdenken gewinnen. Ich wollte sie nicht für immer versteckt halten. Das wollte ich ihren Eltern nicht antun, denn ich weiß nur zu gut, wie es einem geht, wenn die Leiche seines Kindes nicht gefunden wird.«

»Warum haben Sie dann Ihre Spuren durch das tote Schaf verwischt?«

Das kam von Wield, der unbemerkt im Hintergrund gestanden hatte. »Ich bin der, der sie gefunden hat«, fuhr er anklagend fort. »Ich habe gesehen, wie sehr Sie sich angestrengt haben, sie gut zu verstecken.«

»Der Hund war immer noch da«, sagte Wulfstan. »Ich hatte ihn mit Steinen fortgejagt, fürchtete aber, er könnte zurückkommen. Ich dachte, das tote Schaf könnte ihn oder auch irgendwelche Raubtiere daran hindern, zu ihr zu gelangen. Und dann ging ich zurück zu meinem Wagen am Leichenpfad und fuhr nach Hause. Ich glaube nicht, daß mich jemand gesehen hat.«

O doch, das hat jemand, dachte Pascoe. Ein anderes kleines Mädchen, das Gott sei Dank glaubt, sie hätte eine Szene aus einem ihrer Märchenbücher erlebt.

»Und wann genau wollten Sie uns in den Genuß dieser Informationen bringen, Sir?« erkundigte sich Dalziel mit amtlicher Höflichkeit.

»Nach dem Konzert. Morgen früh«, erwiderte Wulfstan. »Ich hatte schon vor einiger Zeit begonnen, meine Angelegenheiten sowohl beruflicher als auch privater Natur zu ordnen. Die letzten drei Tage haben mir Zeit gegeben, die Sachen zum Abschluß zu bringen, und ich dachte, ich wollte auch nicht Elizabeths … wollte nicht das Debüt meiner anderen Tochter bei diesem Festival ruinieren.«

Er sah zu Elizabeth. Was zwischen ihnen ablief, war schwer zu erkennen.

Zuneigung? Verständnis? Vergebung? Reue? Es war alles da, aber wer wem wieviel davon entgegenbrachte, war schwer zu sagen.

»Sonst noch was, das Sie uns sagen wollen?« fragte Dalziel. »Etwa, warum Sie in den letzten Wochen immer wieder den Leichenpfad raufgegangen sind? Und warum Sie Ihre Angelegenheiten ins reine bringen wollten?«

Wulfstan nickte beinahe unmerklich mit dem Kopf.

»Ich glaube, Sie wissen es, Mr. Dalziel. Vor fünfzehn Jahren hielt ich Sie für hoffnungslos dumm; jetzt sehe ich, daß ich mich womöglich geirrt habe. Zumindest, was das ›hoffnungslos‹ angeht. Ich fing an, zum Grat des Neb hinaufzugehen, als ich hörte, daß der Stausee so sehr austrocknet, daß das Dorf wiederauftaucht. Ich lebe von der Sonne und betrachtete es als Ironie des Schicksals, daß es die Sonne ist, die diese Art von Leben beendet.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Dalziel nach. »Nur damit jeder hier das auch versteht.«

Er sah zu Chloe Wulfstan. Pascoe, wohl der fortgeschrittenste Dalzieloge der zivilisierten Welt, las die Botschaft ohne große Schwierigkeiten.

Sag’s ihr jetzt, in aller Öffentlichkeit, so daß, falls sie’s wußte, niemand es aus ihr heraustricksen kann.

Eine unerwartete Galanterie? Oder nur ein subtiles Anziehen der Schraube, um sicherzugehen, daß Wulfstan weitersprach?

Was auch immer, es funktionierte.

»Sie werden in den Ruinen von Heck die Überreste eines Mannes finden – haben sie vermutlich bereits gefunden. Dieser Mann ist … war … Benny Lightfoot. Ich habe ihn dort eingesperrt. Ich habe ihn dort ertrinken lassen. Ich bin allein verantwortlich für seinen Tod. Mein Motiv war, so denke ich, ganz offensichtlich.«

Dalziel sah zu Novello, die vor lauter Konzentration auf den Verlauf der Ereignisse ein finsteres Gesicht zog. Sie hatte eines der seltenen Gesichter, die mit finsterem Blick hübscher aussehen.

»Vielleicht nicht für diejenigen unter uns, die damals nicht dabeiwaren«, sagte der Dicke. »Wenn Sie uns also einen kurzen Überblick geben könnten … Sie werden später noch ausreichend Gelegenheit haben, alles bis aufs i-Tüpfelchen zu erzählen.«

»Nachdem wir alle das Tal verlassen hatten und der Regen einsetzte, merkte ich, daß es mich immer wieder zurückzog. Zu jeder Zeit, bei Tag oder Nacht, brach dieser unwiderstehliche Drang über mich herein, zurückzugehen und auf den Hängen herumzuwandern. Sie mögen denken, daß solch ein Drang, der oftmals eine lange Anreise von entfernten Orten erforderte, recht einfach in den Griff zu bekommen wäre. Aber wenn ich Ihnen sage, daß mich dazu die absolute Gewißheit überfiel, daß Mary dort war und allein und verängstigt umherläuft, und wenn ich nicht hingehen und sie finden würde, daß sie dann aller Wahrscheinlichkeit nach stirbt, dann verstehen Sie vielleicht, warum ich diesem Drang jedesmal nachgab.

Natürlich habe ich sie nie gefunden. Manchmal stellte ich mir vor …«

Er hielt inne und zog sich einen Moment lang in sich selbst zurück. Und Pascoe ging mit ihm, zu einem dunklen, verregneten Berghang, an dem jedes noch so schwache Licht von einem blondgelockten Kopf zu kommen schien und wo jedes Wassergluckern wie das Echo eines Kinderlachens klang.

»Eine Nacht jedoch«, fuhr Wulfstan fort, »hörte ich ein Geräusch und sah eine Gestalt, die nicht nur meiner Phantasie entsprang. Es war nahe der Überreste von Neb Cottage, dort, wo man dich eine Weile später gefunden hat«, sagte er zu Elizabeth gewandt, die seinen Blick regungslos erwiderte. »Es war natürlich Benny Lightfoot.«

Ein weiterer lebendiger Geist, der im Tal herumspukte und Trost in den zerstörten Überresten seines einstigen Zuhauses suchte.

»Ich weiß, ich hätte ihn bei Ihnen abliefern müssen«, sagte Wulfstan zu Dalziel. »Aber ich konnte nicht darauf vertrauen, daß Sie ihn dieses Mal behalten würden. Nein. Das ist zu einfach. Das klingt zu sehr nach Ausrede. Ich wollte ihn für mich selbst, weil ich sicher war, daß ich Dinge über meine Tochter aus ihm herausbekommen würde, die Sie mit Ihren zurückhaltenderen Methoden nicht herausbekommen würden.«

»Sie haben ihn gefoltert«, sagte Novello.

»Ich habe ihn geschlagen«, erwiderte Wulfstan. »Mit den Fäusten. Ich habe niemals irgendwelche Geräte benutzt. Macht es das besser? Sie kennen sich mit so was besser aus als ich. Und als er nichts verriet und ich den Morgen grauen sah, schleppte ich ihn runter zu Heck. Ich wußte, daß der Keller noch zugänglich war, weil ich eine ausreichend große Öffnung zum Nachsehen geschaffen hatte für den Fall, daß Mary zu ihrem alten Haus zurückgeht und dort Zuflucht sucht. Ich band ihn mit Stoffstreifen von seiner eigenen Jacke fest, und in der nächsten Nacht kehrte ich mit Ketten und Schlössern und Haken zurück und kettete ihn an. Ich wollte einzig und allein, daß er mir sagt, was er ihr angetan hat und wo sie ist. Aber er sagte nichts. Egal, was ich tat, er sagte nichts. Ich dachte, das käme, weil er denkt, daß ich ihn umbringe, sobald er es mir gesagt hätte. Und ich schwor bei allem, das mir heilig war, schwor bei der Erinnerung an Mary, daß ich ihn am Leben ließe, wenn er mir nur sagen würde, was ich wissen mußte. Aber er wollte immer noch nicht reden. Warum? Warum? Du mußtest es mir doch nur sagen …«

Er war wieder zurückgekehrt, und diesmal waren alle bei ihm, unten in dem schmutzigen Loch, in dem das Wasser immer höher stieg. Sie sahen die beiden Gesichter so dicht nebeneinander und beide so sehr von Schmerz verzerrt, daß es in dem schummrigen Licht kaum auszumachen war, wer der Peiniger war und wer der Gepeinigte …

Nur, daß einer von ihnen jeden Morgen in eine Welt voller Wärme und Licht zurückkehrte, während der andere in Ketten lag, umgeben von Dunkelheit und kaltem Wasser.

Pascoe sagte: »Er hat also niemals geredet. Und Sie haben ihn sterben lassen.«

»Ja«, antwortete Wulfstan. »Ich bin nicht sicher, ob ich das so wollte. Ob ich dazu fähig gewesen wäre. Aber ich mußte für ein paar Tage weg und kam erst an dem Tag zurück, an dem Elizabeth … Betsy vermißt wurde. Als sie sie fanden und ich die Geschichte hörte, daß sie in der Nähe von Neb Cottage von Benny Lightfoot angegriffen worden war, dachte ich … Ich weiß nicht, was ich dachte, aber zum Teil war ich erleichtert, weil er sich anscheinend befreit hatte … weil er am Leben war. Am nächsten Abend ging ich zu Heck. Das Wasser war beträchtlich gestiegen. Ich erkannte sofort, daß er sich nicht befreit hatte, aber er muß mit übermenschlicher Anstrengung versucht haben, die Kette aus der Wand zu reißen … Ich konnte einen Arm von ihm sehen, der aus dem Kellerloch in das Wasser darüber ragte. Ein Mauerteil über der Eingangsöffnung war zusammengebrochen und hatte sie verschüttet. Ich griff ins Wasser und berührte seine Haut. Sie war kalt. Ich versuchte, den Arm zurück in den Keller zu stoßen, aber es gelang mir nicht. Also schichtete ich etwas Schutt darauf und ging weg.«

»Was für ein Gefühl hatten Sie dabei?« fragte Pascoe. »Wo Sie doch wußten, daß Sie ihn umgebracht hatten.«

Wulfstan dachte darüber nach und schürzte dabei die Lippen, als versuchte er, einen ungewohnten Geschmack zu identifizieren oder einen seltenen Wein.

»Traurig«, antwortete er schließlich.

»Traurig, daß Sie ihn umgebracht hatten?«

»Traurig, daß er starb, ohne mir zu sagen, was ich wissen wollte.«

Pascoe schüttelte den Kopf, nicht vor Abscheu, sondern voller Mitleid. Er hätte wohl zumindest empört sein müssen, doch das war er nicht.

Nicht nach den letzten Tagen.

Dalziel sagte: »Sind Sie fertig, Peter?«

»Ja.«

»Ivor, haben Sie noch was zu sagen?«

Warum war er so erpicht darauf, Novello ihre Theorie weiterspinnen zu lassen? fragte sich Pascoe. Ebenso wie in Fahrzeugen, setzte sich Andy Dalziel auch in Mordfällen niemals auf den Rücksitz.

»Ja, Sir. Nur eine Kleinigkeit«, sagte Novello. »Ich glaube nicht, daß Sie traurig waren, Mr. Wulfstan. Warum sollten Sie auch, wenn Sie doch erreicht hatten, was Sie wollten? Nun, da der Hauptverdächtige auf mysteriöse Weise verschwunden war, würde niemand mehr Zeit auf eine neuerliche Suche verschwenden, oder?«

»Suche wonach? Nach meiner Tochter?«

»Nein! Nach dem wahren Mörder. Denn der lief immer noch frei herum. Und das muß ihn doch richtig glücklich gemacht haben.«

Sie sprach mit großem Nachdruck, teils aus Verachtung, teils um eine Reaktion zu provozieren. Sie ist so sicher, daß sie recht hat, dachte Pascoe mitfühlend. Sie will unbedingt recht haben! Dies war es, worauf Dalziel aus war. Es gab Lektionen, die man am besten vor Publikum lernt. Dazu gehörte, daß es ganz in Ordnung war, den anderen einen Schritt voraus zu sein, bis man vor lauter Anstrengung, da vorn zu bleiben, einen Schritt zu weit ging.

»Tja, was sagen Sie dazu, Mr. Wulfstan?« fragte Dalziel in freundlichem Ton. »Könnte das alles vielleicht ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, weil von Anfang an Sie es waren, der die Mädchen ermordet hat?«

Also nicht nur eine Lektion. Der Dicke wollte diesmal ganz sichergehen, daß keine Möglichkeit, so unwahrscheinlich sie auch klingen mochte, ungesagt blieb.

Wulfstans Gesicht spiegelte weder Entsetzen noch Verletztheit wider, sondern reines Unverständnis, als hätte man ihn in einer fremden Sprache angeredet. Er blickte zu seiner Frau, als suchte er in ihr eine Übersetzerin. Sie schüttelte den Kopf und sagte fast unhörbar: »Das ist widerlich … Superintendent, das ist einfach unmöglich …«

»Nun, irgend jemand hielt es aber für möglich«, sagte Dalziel. »Hat uns angerufen und geraten, daß wir Mr. Wulfstan genauer unter die Lupe nehmen. Klang wie ’ne Frau. Oder ein Mann mit verstellter Stimme. Wie klingt Ihre Falsettstimme, Mr. Krog?«

»Zu falsch, um ein Ohr wie das Ihre zu täuschen, Mr. Dalziel«, meinte Krog leichthin.

Ton, Ausdruck, Körpersprache stimmten überein. Aber es war eine Rolle, erkannte Pascoe. Eine gewählte Antwort, keine natürliche. Es war kaum zu beweisen, aber er hätte seine Weihnachtsgratifikation gewettet, daß der Smörebröd den Anruf getätigt hatte. Was nicht weiter riskant war, da Polizisten keine Gratifikationen bekamen.

Wulfstan, der vorher bereits blaß gewesen war, wurde totenbleich, als er schließlich das Ausmaß dieser Anschuldigung begriff. Interessanterweise ging er dann nicht auf Dalziel, sondern auf Novello los.

»Sie dumme, einfältige Pute«, raunte er. »Sie sind ja krank! Was wissen Sie denn überhaupt?«

Sie erhob sich.

»Ich weiß, daß Sie ein Mädchen getötet haben«, gab sie zurück. »Jetzt will ich nur herausfinden, ob es das erste war.«

Sie stand, er saß, und dennoch glich es einer Szenerie wie David gegen Goliath, als er sich mit vor Wut verzerrtem Gesicht auf seinem Stuhl vorlehnte. Jetzt sieht er dem Nix aber mächtig ähnlich, dachte Pascoe und bereitete sich auf sein Einschreiten vor.

»Kümmere dich nicht um sie, Walter. Jeder Pißkopp hier weiß, daß sie’n Haufen Hühnerkacke redet. Das heißt, jeder außer ihr.«

Sprechweise und Akzent hätten von Dalziel stammen können, doch die Stimme gehörte Elizabeth Wulfstan.

Sie faßte Wulfstan am Arm, und er entspannte sich. Dann wandte sie sich Dalziel zu und ließ Novello vollkommen links liegen, was einer direkt vor der Nase zugeschlagenen Tür gleichkam. »Sie da, Mr. Fettbrocken, Sie wissen, daß es Hühnerkacke ist. Walter hat Ihnen gesagt, was mit dem armen Mädchen passiert ist. Ist zwar schrecklich, aber es war ’n Unfall. Also, warum rufen Sie nicht seinen Anwalt an, wir gehn alle aufs Revier, Sie nehmen seine Aussage auf, und das war’s? Ich meine, das ist doch reine Zeitverschwendung hier. Ich hab keine Eidesbelehrung gehört, ich sehe keine Tonbänder. Morgen früh fahr ich nach Italien und würd davor gern ausgiebig schlafen.«

Dalziel sah sie an, lächelte, schüttelte den Kopf und murmelte: »Die kleine Betsy Allgood. Wer hätte das gedacht? Die kleine Betsy Allgood ist ein Star geworden.«

Sie kratzte sich den kahlen Kopf und sagte: »Nee, Andy, ich hab noch ’nen weiten Weg vor mir.«

»Klar, aber Sie werden’s schaffen, Herzchen«, entgegnete er. »Sie sind so weit gekommen – was sollte Sie jetzt noch aufhalten?«

»Sie vielleicht, wenn Sie uns die ganze verdammte Nacht hierbehalten«, gab sie zurück.

»Nee, Sie können jederzeit gehn, Betsy. Was hält Sie hier noch? Sie haben getan, was Sie tun wollten. Zurückkommen. Die Lieder singen. Frieden machen. Aber bevor Sie wieder verschwinden, gibt es noch eine kleine Sache, bei der Sie uns helfen könnten.«

Er hob erwartungsvoll die Hand. Wield, mit der beinahe telepathischen Gabe, sein Stichwort rechtzeitig zu erahnen – was in Dalziels Gefolge überlebensnotwendig war –, zog aus dem Stapel an Schriftstücken, den er in Händen hielt, die handbeschriebenen blauen Briefbögen heraus.

Reaktionen: Wulfstan gleichgültig, kaum bei der Sache; Krog scheinbar ahnungslos, mit aufgesetzter Unschuldsmiene; Elizabeth nachdenklich, mit einem Blick in die Runde, als wollte sie herausfinden, wie die Bögen in Dalziels Hände gekommen waren; Chloe verharrte unbeteiligt, mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen, in der Pose, die sie seit ihrem schwachen Protest gegen die immense Anschuldigung eingenommen hatte; und Inger Sandel auf ihrem Klavierschemel schien wie immer mehr an der Tastatur als an der Unterhaltung interessiert zu sein …

»So wie’s aussieht, haben Sie sich später gedacht, daß Sie alles ’n bißchen durcheinandergekriegt hatten, was auf der Suche nach Ihrer Katze passiert ist«, sagte Dalziel. »Es wär doch schön, das alles jetzt mal klarzustellen.«

»Ich dachte, nach dem, was wir grad gehört haben, ist alles so klar, wie Sie sich’s nur wünschen können«, meinte Elizabeth.

»Es wär schön, das Vögelchen selbst singen zu hören.«

Sie schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln.

»Dachten Sie das auch bei meinem Konzert?«

»Ich denke, daß Sie gehofft hatten, mit Ihrem Konzert die Dinge hier für sich abzuschließen«, erwiderte Dalziel. »Das war’s doch, was dahintersteckte, oder? Zurückkommen, es loswerden und schnell mit dem Rest Ihres Lebens weitermachen? Aber mit der Vergangenheit ist es wie mit Menschen, Herzchen. Sie müssen ordentlich begraben werden, sonst spuken sie einem ewig hinterher. Benny ist jetzt wirklich wieder da, und wir können ihm einen würdigen Abschied geben. Aber was ist mit den anderen? Glauben Sie, ein paar traurige deutsche Liedchen in einer umfunktionierten Kapelle reichen aus? Ich glaube nicht. Fragen Sie die Hardcastles. Fragen Sie die Telfords. Fragen Sie Chloe und Walter hier, die Sie all die Jahre wie die eigene Tochter großgezogen haben.«

»Und sie war eine gute Tochter«, erklärte Chloe Wulfstan, die plötzlich aus ihrer Trance erwacht war. »Eine zweite Chance. Vielleicht mehr, als ich verdient habe. Kummer macht einen egoistisch … O Gott, wenn ich an den Kummer denke, den sie sich selbst angetan hat … Betsy, es tut mir leid, ich hab versucht, es wiedergutzumachen …«

Sie ergriff Elizabeths Hand und sah die junge Frau flehentlich an, die jedoch nur die Stirn runzelte.

Pascoe hüstelte leicht. Dalziel sah ihn beinahe erleichtert an und nickte. Sie arbeiteten schon lange genug zusammen, um gewisse Grenzen abzustecken. Mit Dalziels Worten: »Ich trete den Leuten in die Eier, und Sie lullen sie mit Ihrer Psychokacke ein.«

Pascoe sagte: »Ich denke nicht, daß Sie sich allzuviel vorwerfen sollten, Mrs. Wulfstan. Sehen Sie, ich glaube nicht, daß Betsys Magersucht und diese Haargeschichte wirklich der Versuch waren, sich in Mary zu verwandeln. Und wenn, dann war das nicht Ihretwegen, oder zumindest nicht allein Ihretwegen. Nein. Sie tat es, um sich in die Art von Tochter zu verwandeln, die ihr eigener Vater bevorzugt hätte. Blond, schlank, attraktiv, anmutig. Alle dachten, die kurzgeschorenen Haare und jungenhaften Kleider seien als Ausgleich dafür gedacht, daß ihr Vater keinen Sohn bekommen hat. Aber das denke ich nicht, Elizabeth. Ich denke, Ihre Mutter hat ganz bewußt versucht, Sie so wenig mädchenhaft wie möglich zu machen. Sie für ihn unsichtbar zu machen. Aber Sie wollten von ihm gesehen werden. Sogar, als er schon tot war. Vielleicht dachten Sie, er wäre Ihretwegen gestorben. Weil Sie nicht das waren, was er wollte. Was uns zu der Frage bringt, woher Sie denn wußten, was er wollte. Woher Ihre Mutter das wußte … Tja, ich glaube, eine Ehefrau hat da einen Instinkt. Sie mag es verbergen und vertuschen, vielleicht auch vor sich selbst, aber sie weiß es. Und manchmal wird dieses Wissen unerträglich. Aber ein kleines Mädchen … Vielleicht hat Ihnen Ihre Unsichtbarkeit geholfen. Ich wette, Sie sind ihm häufig gefolgt … Ich wette, Sie konnten ihn bei guter Sicht auf eine halbe Meile Entfernung erkennen. Ein flüchtiger Blick zum Berg hinauf reichte aus. Ja, ich wette, so war es, Betsy. Ich wette, so war es.«

Es funktionierte nicht. Er hatte es so in die Länge gezogen in der Hoffnung, ihre Fassade allmählich bröckeln zu sehen, doch im Gesicht der Frau entdeckte er nichts außer einem Stirnrunzeln. Die anderen zeigten dafür um so mehr, als ihnen die Bedeutung seiner Worte bewußt wurde. Wulfstan kehrte aus seiner Versunkenheit zurück, Krogs gekünstelte Miene verzog sich zu echter Überraschung. Sandel blickte erstaunt von der Klaviatur auf, und Chloes Griff um die Hand ihrer Tochter wurde immer verkrampfter.

Sie sagte: »Betsy, bitte, was meint er damit? Was will er damit sagen?«

»Kümmere dich nicht darum«, sagte Elizabeth harsch. »Er spricht in Rätseln. So reden diese Typen nun mal, wenn sie nix zu sagen haben.«

»Betsy, wir können den Toten nichts mehr antun, wie schuldig sie auch sein mögen«, fuhr Pascoe fort. »Aber die Lebenden müssen reden. Denken Sie an all den Kummer, den Ihr Schweigen verursacht hat. Gut, einem verwirrten Kind kann man nicht vorwerfen, daß es geschwiegen hat, aber Sie taten mehr als nur schweigen, oder nicht? Sie legten eine falsche Fährte. Denken Sie an die Konsequenzen. Denken Sie an den armen Mann, der im Keller ertrinken mußte. Denken Sie an die kleine Lorraine. All das war die Folge Ihres Schweigens. Es muß ein Ende geben.«

»Ja«, sagte sie und löste ihre Hand aus Chloes Umklammerung. »Für mich hat das jetzt ein Ende. Ich habe genug. Ich muß morgen sehr früh raus und brauche meinen Schlaf. Walter, es tut mir leid, wie alles gekommen ist, aber sie können dir für einen Unfall nicht viel anhängen. Chloe …«

In einem letzten verzweifelten Versuch flehte Chloe: »Elizabeth, wenn du irgend etwas weißt, bitte, bitte, sag es uns.«

»Was denn? Was soll ich wissen?« rief Elizabeth.

»Wo sie ist. Wo meine Tochter ist! Sag es mir. Sag es mir!«

Letzte Gelegenheit, dachte Pascoe. Aber zuzugeben, daß sie es wußte, würde bedeuten, daß sie alles zugeben müßte. Nicht zuletzt, daß sie das Leid ihrer Adoptiveltern um all die Jahre verlängert hatte. Würde sie dazu stark genug sein? Er sah, wie es sie innerlich zerriß.

Er flüsterte Wield etwas zu, woraufhin der in seiner Akte wühlte und die Landkarte hervorzog, die er damals von Dendale gezeichnet hatte. Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen reichte er sie Pascoe. Und der zeigte ihm, was er in der anderen Hand hielt.

Augenblicklich fühlte Wield sich auf den sonnenhellen Berg zurückversetzt. Vor ihm breitete sich das Tal aus wie das Gelobte Land, hinter ihm waren die tausend Jahre alten Steine des Schafpferchs, neben ihm stand der dunkle, sehnige Schäfer, den Hund gehorsam zu seinen Füßen, und durch die gleißende Luft ertönte der Gesang der Lerchen und das Blöken der zusammengetriebenen Schafe …

Du dreckiger Mistkerl! dachte Wield, als ihm klarwurde, daß die toten Schafe schon damals benutzt wurden, um die Leichen der Mädchen zu verbergen. Ein anderer Mann, ja, aber derselbe Trick!

Wie ein Zauberer hielt Pascoe die Landkarte in die Höhe, daneben die CD, und dann drehte er die CD um 45 Grad, so daß das Profil des gezeichneten Gesichts zu den Umrissen der Berge von Dendale wurde und die Sonne vor den Noten senkrecht auf die Stelle schien, die vormals der Mund des Mädchens gewesen war.

Pascoe wußte nun, was diese Noten aus seinem Mund bedeuteten. Ellie hatte sich an das Gespräch der beiden Radiomoderatoren an jenem Sonntag morgen erinnert, der mittlerweile eine Million Jahre entfernt schien.

»Mahlers Zweite ist als ›Auferstehungssinfonie‹ bekannt«, hatte sie ihm erzählt. »Es geht darin um die Auferstehung der Toten, um göttliches Gericht. Die Notenzeile ist der Beginn des Auferstehungsthemas, und es gab jede Menge Spekulationen darüber, warum sie ausgerechnet das verwendet hat und nichts aus den Liedern selber.«

Tja, die Spekulationen waren nun vorbei.

Er hielt Elizabeth die CD dicht vor die Augen.

»Ich glaube, Sie haben bereits gesagt, wo Mary und die anderen sind, Betsy«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben sich jahrelang danach gesehnt, es jemandem zu sagen. Sie wollen, daß es vorbei ist, wollen endlich vorwärts gehen, nicht wahr? Aber Sie wissen, daß es ohne Auferstehung keine Hoffnung auf Buße und Erneuerung gibt. Das ist es, was Sie uns sagen wollen, stimmt’s, Betsy? Wir holen sie ein auf jenen Höh’n im Sonnenschein. Der Tag ist schön auf … Beulah Height.«

Und obwohl sehr wenig körperliche Veränderung möglich war, sah es so aus, als würde Elizabeth Wulfstan zu Betsy Allgood zusammenschrumpfen, die müde auf ihrem Stuhl saß und weinte.