172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

Fünf

Einem aktuellen Artikel der »Evening Post« zufolge war Danby so etwas wie eine Seltenheit – ein Dorf, das den Durchbruch geschafft hatte.

Entgegen dem üblichen Trend zur Stadtflucht und Verwahrlosung hatte der Fortschritt in Form eines Forschungs- und Industrieparks am Südrand der Ortschaft das ehemals mittelgroße Dorf zu einer Kleinstadt anwachsen lassen.

Nicht schön, aber erfolgreich, dachte Pascoe, als sie die Straße zwischen dem Park auf der einen und einem riesigen Supermarkt vor einer Neubau-Wohnsiedlung auf der anderen Seite vorbeifuhren.

Es bedarf jedoch mehr als den Einmarsch der Moderne, um den englischen Provinzsonntag abzuschaffen, denn der alte Ortskern lag so ruhig da wie ein Pueblo zur Siesta. Selbst die Leute, die draußen vor den drei Pubs saßen und von Dalziel lediglich mit einem schwachen sehnsuchtsvollen Seufzer bedacht wurden, wirkten wie Dornröschens zum Schlaf erstarrte Untertanen.

Die einzigen Anzeichen von Geschäftigkeit waren nurmehr ein Mann, der wie wild auf einer Schaufensterscheibe herumschrubbte, auf der aller Anstrengung zum Trotz die Worte BENNY IST WIEDER DA! hartnäckig sichtbar blieben, und ein anderer, der dieselben Worte in schwarzer Schrift von einem Dachgiebel entfernte.

Keiner der beiden Polizisten sagte etwas, bis sie wieder auf offenem Land waren. Moorlandschaft nun, kein Nutzland mehr.

»Dieses Liggside liegt am Stadtrand, oder?«

»Ja. Gleich neben dem Ligg Common. Der Ligg Beck fließt geradewegs ins Tal. Und da hinten ist der Neb.«

Die Sonne ließ die Szenerie erstrahlen wie ein Urlaubsdia. Das Tal stieg vor ihnen allmählich an, erst Richtung Norden, dann mit einem Schlenker nach Nordosten. Der Neb ragte nach Westen auf. Die Straße, auf der sie fuhren, verlief über den unteren östlichen Ausläufer des Talhangs, und ihre weißen Kehren waren so deutlich zu sehen wie Knochen auf einem Strand.

»Die nächste links, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Dalziel.

Natürlich erinnerte er sich recht. Sollte Pascoe sich einmal zusammen mit einem Kartographen des Landesvermessungsamts, einem preisgekrönten Orientierungswettkampfteilnehmer und Andy Dalziel inmitten des Mid-Yorkshire-Nebels verirren, so wußte er, wem er folgen würde.

Liggside bestand aus einer kleinen grauen Häuserreihe mit Bürgersteig. Hausnummer 7 war ohne Schwierigkeiten auszumachen. Ein Polizeiwagen stand davor, ein uniformierter Polizist an der Tür, und zwei kleine Gruppen Schaulustiger hatten sich in dezenter Entfernung (was in Mid-Yorkshire etwa zehn Fuß bedeutete) rechts und links davon postiert.

Der Constable kam zur Straße, als Dalziel seinen Wagen quer über zwei Parkplätze abstellte, vermutlich, um ihn zu maßregeln, doch zu seinem eigenen Glück erkannte er den Wagenbesitzer noch rechtzeitig und öffnete ihm und seinem Beifahrer diensteifrig die Tür.

Pascoe stieg aus, streckte sich und sah sich um. Die Häuser waren klein und unscheinbar, aber solide und keineswegs schäbig, und der Erbauer war stolz genug gewesen, das Jahr ihrer Fertigstellung in den Mittelsturz zu schnitzen: 1860. Mahlers Geburtsjahr. Nach Dalziels unerwarteter Reaktion auf die »Kindertotenlieder« fiel ihm der Komponist wieder ein. Er bezweifelte allerdings, daß dieses Ereignis in Danby irgend jemanden interessiert hatte. Welches große Ereignis mochte wohl die Gemüter der ersten Bewohner von Liggside bewegt haben? Der amerikanische Bürgerkrieg? Nein, der war 1861 gewesen. Die Besetzung Siziliens durch Garibaldis Rothemden? Vermutlich dachten die meisten hier beim Namen des Italieners eher an ein Nudelgericht. Oder war es arrogant und elitär, so zu denken?

Ihm war sehr wohl bewußt, daß seine geistigen Streifzüge ein Versuch waren, den quälenden Schmerz und die panische Angst von sich fernzuhalten, die hinter dieser mattbraunen Tür mit ihrem Briefkasten aus Messing und ihrer abgetretenen Schwelle warteten. Wenn es um ein vermißtes Kind ging, waren die Eltern diesen Gefühlen unwiderruflich ausgeliefert, und nicht einmal Wut konnte sie verdrängen.

Der Constable öffnete die Haustür und rief leise. Einen Augenblick später tauchte ein Sergeant in Uniform auf, in dem Pascoe den Leiter der Polizeiwache Danby wiedererkannte: Nobby Clark. Der sagte nichts, sondern schüttelte nur den Kopf, um anzuzeigen, daß die Situation noch immer unverändert war. Dalziel schob sich an ihm vorbei, und Pascoe folgte.

Das kleine Wohnzimmer war voller Leute, alles Frauen, doch konnte man die Mutter des vermißten Kindes unschwer an ihrem blassen Gesicht erkennen. Sie saß in fast embryonaler Haltung am Rand des weißen Kunstledersofas und schien der versuchten Umarmung einer großen blonden Frau, deren Körperbau zum Stämmen von Gewichten geeigneter schien als zu trostspendenden Gesten, eher auszuweichen, als ihr nachzugeben.

Dalziel zog alle Blicke auf sich. Sie hielten Ausschau nach Hoffnung, und da sie keine fanden, wanderten sie von seinem Gesicht auf sein Hemd.

»Wer, zum Teufel, ist dieser Clown?« wollte die Blonde mit heiserer Stimme wissen.

»Detective Superintendent Dalziel, Chef der Kriminalpolizei«, verkündete Clark.

»Ach, tatsächlich? Und dann kommt er zu so einem Zeitpunkt daher wie ein kunterbuntes Kirmeszelt?«

Dalziel ignorierte die Bemerkung und kniete sich mit überraschender Behendigkeit vor die blaßgesichtige Frau.

»Mrs. Dacre, Elsie«, sagte er. »Ich bin sofort gekommen, als ich davon hörte, und habe keine Zeit mit Umziehen verschwendet.«

Sie hob den Kopf und sah ihn mit rotgeränderten, trüben Augen an.

»Niemand schert sich einen Dreck, was Sie anhaben! Werden Sie sie finden?«

Was sagst du nun, alter Zaubermeister? überlegte Pascoe.

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht«, erwiderte Dalziel.

»Und was ist das?« fragte die Blonde. »Was genau machen Sie denn, hm?«

Dalziel erhob sich. »Sergeant Clark, lassen Sie uns ein wenig Platz schaffen. Bitte gehen Sie alle hinaus. Wir brauchen Luft.«

Die Blonde signalisierte allein durch ihre Körpersprache, daß sie nicht gewillt war, sich von der Stelle zu rühren, doch Dalziel nahm ihr den Wind aus den Segeln. »Sie nicht, Mrs. Coe. Sie können dableiben, falls Elsie Sie braucht.«

»Woher zum Teufel wissen Sie meinen Namen?«

Das war tatsächlich eine interessante Frage, die Antwort jedoch nicht allzu schwer zu erraten. Coe war Elsie Dacres Mädchenname, und eine etwas ältere Frau, die die Rolle der Meistertrösterin übernahm und weder eine Familienähnlichkeit aufwies noch den Eindruck einer Busenfreundin erweckte, war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Schwägerin.

Dalziel sah sie nur ausdruckslos an, um ja nicht den Eindruck der Allwissenheit zu zerstören, die die Leute dazu brachte, ihm die Wahrheit zu enthüllen – oder sie zumindest so nervös machte, daß sie sich durch das Verschweigen derselben verrieten.

»Also, Sergeant«, sagte er, als Clark hinter der letzten Frau die Tür schloß. »Was geht hier ab?«

»Meine Männer sind oben am Berg …«

»Ganze drei! So viele hat er«, unterbrach Mrs. Coe verächtlich.

»Tony – das ist Mr. Dacre – wollte natürlich wieder rauf und suchen«, fuhr Clark unbeirrt fort, »und ein Haufen anderer wollte ihm helfen, also hielt ich’s für das beste, daß sie ein wenig angeleitet werden.«

Dalziel nickte anerkennend. Je unorganisierter und amateurhafter eine erste Suche war, desto schwerer wurde ein späteres gründliches Durchkämmen des Gebietes, um Hinweise auf eine Entführung oder einen Mord zu finden.

»Sehr gut«, sagte er. »Das Mädchen könnte sich leicht den Knöchel verstaucht haben und jetzt da oben hocken und warten, daß jemand sie holt.«

Solch forsch-fröhlicher Optimismus ging Mrs. Coe sichtlich gegen den Strich, aber sie hielt den Mund. Elsie Dacre war es, die darauf ansprang, wenn auch zunächst mit gezwungen ruhiger Stimme.

»Der Weichspülgang ist wahrhaftig nicht nötig, Mr. Dalziel«, sagte sie. »Wir wissen doch alle, was los ist, oder? Wir wissen es alle.«

»Verzeihen Sie, Mrs. Dacre, ich wollte nur …«

»Ich weiß genau, was Sie wollen, und ich weiß auch, was Sie als nächstes tun. Aber letztes Mal hat’s auch nix genützt, oder? Also, was hat sich geändert, Mister? Sagen Sie’s mir. Was zum Teufel hat sich geändert?«

Jetzt schrie sie aus voller Kehle, ihre Augen funkelten, und ihr Gesicht war vor Wut und Angst verzerrt.

»Also hören Sie, gute Frau«, bat Dalziel eindringlich. »Es ist noch zu früh, viel zu früh, um von einem ›letzten Mal‹ zu sprechen. Ich versteh, weiß Gott, daß Sie daran denken, das tu ich auch, aber ich behalte es ganz hinten im Hinterkopf, solange es geht. Ich werde die Vergangenheit nicht voreilig heraufbeschwören, und das sollten Sie auch nicht tun.«

»Dann erinnern Sie sich also an mich?« fragte Mrs. Dacre und starrte Dalziel an, als wäre es ein Trost, in das Gedächtnis dieses Dickwansts eingebrannt zu sein.

»Ja, das tu ich. Als ich Ihren Mädchennamen hörte, dachte ich, das könnte eine von den Coes aus Dendale sein. Sie waren die jüngste, oder?«

»Ich war elf, als es anfing. Ich kann mich gut an damals erinnern, es war so heiß wie jetzt, und wir Kinder liefen rum und hatten Todesangst. Ich dachte, ich würde das nie vergessen. Aber man vergißt es doch. Oder zumindest, wie Sie das sagen, schiebt man es so weit hinten in den Hinterkopf, daß es ist wie Vergessen … Und man wird älter und fühlt sich allmählich sicher, und man kriegt selbst ein Kind und erlaubt sich nie, daran zu denken … Aber das war falsch, Mister! Wenn ich es nicht in den Hinterkopf gedrängt hätte, wenn ich es nur immer vor Augen gehabt hätte … Etwas wie das ist zu wichtig … zu schrecklich … um es nur im Hinterkopf …«

Sie brach unter Tränen zusammen und wurde von den tröstenden Armen der Schwägerin umschlungen. Dann öffnete sich die Tür, und eine ältere Frau betrat den Raum. Diesmal war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Sie sagte: »Elsie, ich war unten bei Sandra … Ich hab’s gerade erst gehört …«

»Oh, Mam«, schluchzte Elsie.

Die Schwägerin wurde beiseite geschoben, und sie warf sich ihrer Mutter in die Arme, als könnte sie Hoffnung und Trost aus ihr herauspressen.

Dalziel sagte: »Mrs. Coe, warum machen Sie uns allen nicht eine Tasse Tee?«

Die drei Polizisten begleiteten sie in die Küche. Das war auch gut so, denn dort pfiff ein Wasserkessel bereits dampfschnaubend auf höchster Gasstufe. Mrs. Coe ergriff ein Handtuch und benutzte es als Topflappen, um den Kessel von der Flamme zu ziehen.

»Oh, der Tee wird gut!« sagte Dalziel. »Das Wasser muß immer richtig heiß sein. Mrs. Coe, was halten Sie von Tony Dacre?«

»Was ist denn das für ’ne Frage?«

»Eine ganz einfache. Was haben Sie Ihrem Schwager gegenüber für ein Gefühl?«

»Ich will erst mal wissen, wozu Sie das fragen.«

»Stellen Sie sich doch nicht dumm. Sie wissen genau, warum ich das frage. Wenn ich ihn aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen kann, muß ich dieses Haus nicht in seine Einzelteile zerlegen.«

Ehrlichkeit ist nicht nur die beste Politik, sie ist gelegentlich auch die beste Form polizeilicher Gewalt, dachte Pascoe, der beobachtete, wie die robuste Frau schockiert innehielt.

Dalziel fuhr fort: »Bevor Sie anfangen, mich anzuschreien, denken Sie lieber weiter. Wollen Sie etwa, daß ich die arme Frau frage, ob ihr Mann ein Hitzkopf ist oder sich auffallend innig für seine kleine Tochter interessiert? Sie sind doch nicht dumm, Mrs. Coe, Sie wissen, daß solche Dinge passieren. Also sagen Sie mir einfach, ob es irgend etwas gibt, das ich über Tony Dacre wissen muß.«

Sie fand ihre Stimme wieder.

»Nein, da gibt es nichts. Ich mag ihn nicht besonders, aber das ist was Persönliches. Was Lorraine angeht, er betet die Kleine an, ich meine, wie ein Vater das eben so tut. Wenn Sie mich fragen, verwöhnt er sie über alle Maßen – er wäre ihr wohl nicht mal böse, wenn sie das Haus anzünden würde. Gott im Himmel, Ihren Job möchte ich für tausend Pfund nicht haben! Sind die Dinge hier nicht schon schlimm genug, ohne daß Sie dazu noch so was Schweinisches denken müssen?«

Sie klang erregt, doch es gelang ihr, die Stimme auf Zimmerlautstärke zu halten.

»Wunderbar«, sagte Dalziel mit einem freundlichen Lächeln. »Bringen Sie den Tee, wenn er fertig ist, ja?«

Er ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Dabei fiel Pascoe auf, daß dahinter ein Hundekorb mit einem kleinen Mischling auf dem Boden stand, irgend etwas zwischen Cockerspaniel und Terrier. Der Hund hatte die Augen geöffnet, rührte sich aber nicht. Als Pascoe sich über ihn beugte, legte er sofort die Ohren an und knurrte leise. Pascoe gab besänftigende Laute von sich, und obwohl die Augen des Tieres mißtrauisch blieben, ließ es sich zwischen den Ohren kraulen. Doch als Pascoes Hand tiefer bis zu seiner Schulter wanderte, knurrte er wieder laut und bedrohlich und richtete sich auf.

»Hat schon jemand den Tierarzt gerufen?« wollte er wissen.

»Das ist ja wohl die Höhe!« ereiferte sich Mrs. Coe. »Meine Nichte wird vermißt, und alles, worum Sie sich Sorgen machen, ist dieser verdammte Köter!«

Der Sergeant antwortete: »Nicht, daß ich wüßte. Ich meine, mit allem anderen hier …«

»Tun Sie es jetzt, ja? Ich möchte kein Tier leiden sehen, aber vor allem möchte ich wissen, woher es seine Verletzungen hat.«

»Ja, klar. Daran hab ich nicht gedacht, Sir«, erwiderte Clark schuldbewußt. »Ich werd mich sofort darum kümmern.«

Mrs. Coe, die in der Zwischenzeit den Tee aufgebrüht hatte, schob sich verärgert an den Männern vorbei. Clark folgte ihr, blieb jedoch an der Tür stehen und fragte: »Noch was, an das ich hätte denken sollen, Sir?«

»Falls Lorraine nicht innerhalb der nächsten halben Stunde oder so auftaucht, werden wir das Ganze zu einer großen Suchaktion ausweiten. Wir werden eine Einsatzzentrale brauchen, irgendwas mit ausreichend Platz und nicht zu weit entfernt. Irgendwelche Ideen?«

Das derbe Gesicht des Sergeant legte sich in nachdenkliche Falten, dann sagte er: »Da wär die St. Michael’s Hall. Wird von der Kirche als Gemeindezentrum und von der Schule als Aula benutzt und ist nur ein paar Ecken entfernt.«

»Das klingt gut. Und jetzt holen Sie den Tierarzt. Wie gut, daß Sie noch vor dem Superintendent daran gedacht haben.«

Er lächelte dabei, und nach einem kurzen Augenblick lächelte Clark zurück und ging.

Pascoe öffnete die Hintertür, die zu einem kleinen, sorgsam gepflegten Garten mit einem Rasenfleck und einem Holzschuppen führte. Er trat in die laue Luft hinaus und öffnete die Tür zum Schuppen. Ein paar Gartengeräte, ein ausrangierter Kinderwagen und ein Kinderfahrrad.

Bemüht, seine Gedanken im Zaum zu halten, ging er als nächstes zum Gartentor und entriegelte es. Vor ihm breitete sich eine niedergetretene vertrocknete Wiese mit vereinzelten Stechginsterbüschen aus, deren leuchtendgelbe Blüten mit der grellen Sonne konkurrierten. Dies mußte der Ligg Common sein, hinter dem sich das langgezogene Tal Danbydale erstreckte, das im Norden vom Neb begrenzt wurde.

Helles Sonnenlicht verfälscht die Entfernungen, deshalb wirkte das Ende des Tals nur etwa eine halbe Stunde entfernt, und der lange Ausläufer des Neb schien für einen Kricket-Außenspieler mit gutem Wurfarm problemlos erreichbar. Pascoe ließ seinen Blick zum gegenüberliegenden Talhang schweifen und sah dort reflektiertes Sonnenlicht in der Scheibe eines hinabfahrenden Wagens aufblitzen, dessen Winzigkeit die Perspektive plötzlich korrigierte.

Das war ein riesiges Gebiet hier draußen, zu groß, als daß ein paar Dutzend Männer es an einem Tag gründlich durchsuchen konnten. Und wenn man zum offenen Gelände noch alle Häuser und Scheunen und Schuppen vom Stadtrand bis zu den äußersten bewohnten Ecken des Tals hinzuzählte, so hatten sie ein gigantisches Unternehmen vor sich.

Er stand da und spürte, wie die Sonne auf seinen hellbraunen Haarschopf und die blasse Haut brannte. Noch ein paar Minuten derart ungeschützt im Freien, und er würde puterrot werden und sich pellen wie eine neue Kartoffel. Und nach ungefähr einer Stunde wäre sein Hirn in jenem Zustand sonnentrunkener Gefühllosigkeit, den er für gewöhnlich im Sommerurlaub an mediterranen Stränden erlebte, während Ellie neben ihm immer brauner und fitter wurde.

Manchmal war Gefühllosigkeit das wünschenswertere Schicksal.

»Ha’m Sie Wurzeln geschlagen, oder was?«

Er drehte sich um und sah Dalziel im Türrahmen stehen.

»Ich denke nur nach, Sir. Irgendwas Neues?«

»Nein. Sie hat sich etwas beruhigt. Mit der Mutter geht’s viel besser als mit dieser Schwägerin. Wo ist Clark? Ich wollte ihn nach Dennis Coe fragen, dem Bruder.«

»Mrs. Coes Mann?«

»Wir machen ja doch noch einen Kriminalen aus Ihnen! Sechs oder sieben Jahre älter als Elsie, wenn ich mich recht erinnere. Wir werden ihn unter die Lupe nehmen müssen.«

»Warum? Stand er denn vor fünfzehn Jahren unter Verdacht?« wollte Pascoe wissen, der Dalziels Coup mit Mrs. Coes Namen mittlerweile als simplen Zaubertrick abstempelte.

»Bei vermißten Kindern steht jeder Kerl unter Verdacht, der alt genug ist, einen Steifen zu kriegen. Er muß damals um die achtzehn gewesen sein. Schlimmes Alter. Und alle Kinder, die verschwanden, waren blond, und er hat ’ne Blonde geheiratet …«

»Ach, kommen Sie!« meinte Pascoe. »Stammt das aus Ihrer Trickkiste für Hobbypsychologen? Außerdem würde ich sowieso sagen, daß Mrs. Coes Haarfarbe aus dem Chemiekasten kommt.«

»Dann hat er sie meinetwegen mit dunklen Haaren geheiratet, sie aber wissen lassen, daß er Blondinen bevorzugt. Okay, hören Sie auf, Ihre Nasenflügel aufzublähen, sonst nisten sich noch Schwalben drin ein. Eins ist sicher: er ist Lorraines Onkel, und Onkels rangieren bei solchen Sachen ganz oben in der Statistik.«

Pascoe schüttelte traurig den Kopf »Mrs. Coe meinte, sie würde unseren Job nicht für tausend Pfund machen wollen. Aber manchmal ist eine Million nicht genug Entschädigung dafür, wie wir die Dinge sehen müssen.«

»Apropos sehen: was ist das da?«

Der Dicke starrte Richtung Norden. Über dem fernen Horizont hatte sich der Hitzedunst verdichtet.

»Keine Wolke, oder?« meinte Dalziel.

»Bestimmt keine Regenwolke«, sagte Pascoe. »Rauch, würde ich sagen. Bei diesem Wetter kann der kleinste Funke ein Feuer entfachen.«

»Wir geh’n mal lieber sicher, daß das auch wer anders bemerkt hat«, sagte Dalziel, zog sein Handy hervor, wählte, sprach und lauschte.

»Hm«, sagte er dann und stellte das Gerät aus. »Sie wissen davon. Großes Feuer. Und nicht das einzige. Die gesamte Feuerwehr ist alarmiert, und unsere Uniformierten sind auch im Einsatz, was keine gute Nachricht ist, wenn wir gleich den roten Knopf drücken müssen.«

»Gleich?« fragte Pascoe. »Sie glauben doch nicht, daß …«

Er wurde von Sergeant Clark unterbrochen, der in die Tür trat.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber Mr. Douglas ist hier, der Tierarzt. Wir haben ihn über sein Handy erwischt, als er grad von einem Bauernhof kam.«

»Tierarzt?« Dalziel blickte fragend zu Pascoe. »Was ist los? Geht’s Ihnen nicht gut?«

In der Küche kniete der stämmige, graubärtige Mann bereits neben dem Hundekorb. Die Untersuchung des Mischlings entlockte ihm hin und wieder ein Brummen, das jedoch nicht so bedrohlich klang wie das vorhin durch Pascoes ungeübte Hand provozierte Knurren des Hundes.

Schließlich erhob er sich und wandte seine Aufmerksamkeit den menschlichen Wesen zu.

»Chief Inspector Peter Pascoe«, stellte Pascoe sich vor und streckte die Hand aus. »Und das ist Superintendent Dalziel.«

»Wir kennen uns«, erwiderte Douglas kurzangebunden.

»Na, wie geht’s, Dixie?« meinte Dalziel. »Und, was hat er?«

»Schwere Prellungen an Schulter und Brustkorb. Ich glaube nicht, daß was gebrochen ist, aber zur Sicherheit mache ich lieber noch eine Röntgenaufnahme. Möglicherweise innere Verletzungen. Unter den Umständen ist es wohl besser, ich nehme ihn mit in die Praxis. Irgendwas Neues von der Kleinen?«

»Noch nicht«, antwortete Pascoe. »Diese Verletzungen – was, glauben Sie, war die Ursache?«

»Kein Unfall, soviel ist sicher«, erwiderte der Tierarzt. »Ich würde vermuten, daß jemand das arme Tier kräftig getreten hat. Einen guten Tag noch.«

Vorsichtig hob er den Hund aus dem Korb und Küche.

»Guter Mann«, meinte Sergeant Clark anerkennend. »Sorgt sich wirklich um kranke Tiere.«

»Klar, er ist auch Fan der ›Raith Rovers‹«, bemerkte Dalziel trocken. »Kränkster Fußballverein aller Zeiten. So so, den Hund hat also jemand getreten. Das reicht aus, um die Truppen aufzufahren. Gute Idee, das Vieh untersuchen zu lassen.«

»Ja, gut gemacht, Sergeant Clark«, sagte Pascoe. »Also, was soll ich tun, Sir? Verstärkung anfordern und eine Einsatzzentrale einrichten?«

»Tja, wir geh’n am besten lehrbuchmäßig vor«, antwortete Dalziel ohne große Begeisterung. »Irgendwelche Vorschläge, Sergeant? Soweit ich mich erinnere, ist Ihr Dienstzimmer nicht groß genug, um einen Kricketschläger darin zu schwingen.«

»St. Michael’s Hall, Sir«, erwiderte Clark knapp und präzise. »Dient als Aula und Turnhalle für die Grundschule sowie als Gemeindezentrum. Ich hab schon mit Mrs. Shimmings telefoniert, der Schulleiterin. An die werden Sie sich bestimmt erinnern, Sir. Sie war auch in Dendale, so wie ich. Miss Lavery hieß sie damals noch. Sie ist wirklich sehr bedrückt. Meinte, sie würd jetzt zur Schule geh’n, um dazusein, falls wir ihre Hilfe brauchen … über das kleine Mädchen reden und so.«

Dalziel musterte ihn nachdenklich. »Gut gemacht, Sergeant. Sie denken ja so weit voraus, daß Sie uns bald die Zukunft weissagen können, wie? Also los, Peter, ab mit Ihnen. Sagen Sie denen, ich brauche jemanden, der rechts und links auseinanderhalten kann, um den Suchtrupp anzuführen. Maggie Burroughs wär wohl geeignet. Und wir brauchen einen Verpflegungswagen. Die Berge rauf und runter zu laufen, macht ganz schön durstig. Und einen Info-Bus für die Gemeindewiese. Ich werd hingeh’n und mich drum kümmern, daß sie auf ihren Posten finden. Noch Fragen?«

»Nein, Sir«, sagte Pascoe. »Sie voraus, Sergeant.«

Clark ging hinaus. Als Pascoe ihm folgen wollte, hielt Dalziel ihn zurück.

»Ein guter Rat, Junge.«

»Ist immer willkommen«, erwiderte Pascoe.

»Bin froh, das zu hören. Also, wenn Sie Nobby Clark einen Gefallen tun, lassen Sie sich das nicht etwa in Bier zurückzahlen, sondern sorgen Sie lieber dafür, daß er sich für Sie den Arsch aufreißt. Alles klar?«

Das war nicht nur ein Zaubertrick gewesen, dachte Pascoe. Er weiß wirklich alles.

»Ja, Sir«, antwortete er. »Klar wie Kantinenkaffee.«