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The conspiracy theory of society... comes from abandoning God and then asking: »Who is in his place?«
(Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft... kommt aus der Abkehr von Gott und der daraus resultierenden Frage: »Wer ist an seine Stelle getreten?«)
Karl Popper, Conjectures and Refutations, 4, London, Routledge, 1969, p.
Der Flug tat mir gut. Ich hatte nicht nur Paris verlassen, sondern auch den Untergrund, ja den festen Grund und Boden, die Erdkruste. Himmel und Berge waren noch weiß von Schnee. Die Einsamkeit in zehntausend Metern Höhe, und dieses Gefühl der Trunkenheit, das man beim Fliegen immer hat, der Überdruck, die Durchquerung einer leichten Turbulenz. Nur hier oben, dachte ich, bekam ich endlich wieder Boden unter die Füße. Und so beschloss ich, Klarheit zu gewinnen, erst indem ich mir Fakten notierte, dann indem ich die Augen schloss und meinen Gedanken freien Lauf ließ.
Zunächst einmal galt es, eine Liste der unbestreitbaren Tatsachen aufzustellen.
Erstens: Diotallevi ist tot, das steht zweifelsfrei fest. Gudrun hat es mir gesagt. Gudrun ist in unserer Geschichte immer draußen geblieben, sie hätte nichts davon verstanden, und folglich ist sie die einzige, die noch die Wahrheit sagt. Weiter steht fest, dass Garamond nicht in Mailand war. Sicher, er könnte überall sein, aber die Tatsache, dass er nicht dort ist und in den letzten Tagen nicht dort war, erlaubt die Annahme, dass er in Paris war, wo ich ihn gesehen habe.
Desgleichen ist Belbo nicht da.
Nun, versuchen wir einmal anzunehmen, was ich am Samstag Abend in Saint-Martin-des-Champs gesehen habe, ist wirklich geschehen. Vielleicht nicht so, wie ich es wahrgenommen habe, benebelt von der Musik und dem Weihrauch, aber irgendwas ist da geschehen. So ähnlich wie damals die Geschichte mit Amparo: Als sie an jenem Abend in Rio nach Hause kam, war sie keineswegs sicher, von der Pomba Gira ergriffen worden zu sein, aber sie war sicher, in dem Umbanda-Tempel gewesen zu sein und geglaubt zu haben, dass — oder sich so verhalten zu haben, als ob — die Göttin in sie gefahren wäre.
Richtig war schließlich auch, was mir Lia in den Bergen gesagt hatte, ihre Lesart war absolut überzeugend, die Botschaft aus Provins war eine harmlose Wäscheliste. Es hat nie Templerversammlungen in der Grange-aux-Dimes gegeben. Es hat keinen Großen Plan und keine Botschaft gegeben.
Für uns war die Wäscheliste ein Kreuzworträtsel gewesen, in dem die Kästchen noch leer waren und die Wortdefinitionen fehlten. Also mussten die Kästchen so ausgefüllt werden, dass alles zusammenpasste. Aber vielleicht ist das Beispiel ungenau. Im Kreuzworträtsel überkreuzen sich Wörter, und sie müssen sich dort überkreuzen, wo sie gemeinsame Buchstaben haben. In unserem Spiel überkreuzten sich keine Wörter, sondern Begriffe und Fakten, und folglich mussten die Regeln andere sein, und letztlich waren es drei.
Erste Regel: Die Begriffe verbinden sich per Analogie. Es gibt keine Regel, die auf Anhieb zu entscheiden erlaubt, ob eine Analogie gut oder schlecht ist, denn jedes Ding ähnelt jedem anderen unter einem bestimmten Aspekt. Beispiel: Kartoffel überkreuzt sich mit Apfel, da beides essbare Gewächse sind und beide außerdem rund. Von Apfel kommt man durch biblische Assoziation zu Schlange. Von Schlange durch formale Ähnlichkeit zu Kringel, von Kringel weiter zu Rettungsring, von da zu Badeanzug, vom Baden zum Meer, vom Meer zum Schiff, vom Schiff zum Shit, vom Shit zur Droge, von der Droge zur Spritze, von der Spritze zum Loch, vom Loch zum Boden, vom Boden zum Acker, vom Acker zur Kartoffel.
Perfekt. Denn die zweite Regel heißt: Wenn der Kreis sich am Ende schließt und tout se tient, ist das Spiel gültig. Von Kartoffel zu Kartoffel schließt sich der Kreis. Also ist die Kette richtig.
Dritte Regel: Die Verknüpfungen dürfen nicht zu originell sein, sie müssen schon mindestens einmal irgendwo gemacht worden sein, besser noch öfter, von anderen. Nur so erscheinen die Kreuzungen wahr, weil selbstverständlich.
Was ja übrigens die Idee von Signor Garamond war: Die Bücher der Diaboliker dürfen nichts Neues sagen, sie müssen das schon Gesagte immerzu wiederholen, was würde sonst aus der Kraft der Überlieferung?
So hatten wir's gemacht. Wir hatten nichts erfunden, nur die Teile neu arrangiert. So hatte es auch Ardenti gemacht, auch er hatte nichts erfunden, aber sein Arrangement der Teile war schlechter als unseres gewesen, und außerdem war er nicht so gebildet wie wir, er hatte nicht alle Teile beisammen gehabt.
Sie hatten alle Teile beisammen, aber ihnen fehlte der Plan des Kreuzworträtsels, und so waren wir auch hier wieder die Besseren.
Mir fiel ein Satz von Lia ein, den sie mir in den Bergen gesagt hatte, als sie mir vorwarf, wir hätten ein hässliches Spiel gespielt: »Die Leute gieren nach Plänen, wenn du ihnen einen anbietest, stürzen sie sich drauf wie eine Meute von Wölfen. Du erfindest was, und sie glauben es. Man muß nicht noch mehr Fantasien wecken, als es schon gibt.«
Im Grunde läuft es immer so. Ein junger Herostrat verzehrt sich, weil er nicht weiß, wie er berühmt werden soll. Dann sieht er einen Film, in dem ein schüchterner Junge auf die gefeierte Country-Music-Diva schießt und das Ereignis des Tages wird. Er hat die Formel gefunden, er geht hin und erschießt John Lennon.
Es ist das gleiche wie mit den AEKs. Wie mache ich's, ein berühmter Dichter zu werden, der in die Lexika kommt? Ganz einfach, erklärt Signor Garamond, bezahlen Sie dafür! Der AEK hatte nie vorher daran gedacht, aber da es den Plan von Manuzio nun einmal gibt, identifiziert er sich damit. Der AEK ist überzeugt, sein Leben lang auf Manuzio gewartet zu haben, nur wusste er nicht, dass es Manuzio gab.
Konsequenz? Wir hatten einen nicht-existenten Plan erfunden, und sie hatten ihn nicht nur für wahr und real gehalten, sondern sich auch eingeredet, selber schon lange Teil dieses Planes gewesen zu sein, beziehungsweise sie hatten die Fragmente ihrer krausen Vorstellungen und konfusen Projekte als Teile unseres Plans identifiziert, zusammengefügt nach einer unwiderleglichen Logik der Analogie, der Ähnlichkeit und des Verdachts.
Aber wenn man einen Plan erfindet, und die anderen führen ihn aus, dann ist es, als ob der Plan existierte. Beziehungsweise dann existiert er wirklich.
Von nun an werden Scharen von Diabolikern durch die Welt ziehen, um die Karte zu finden.
Wir boten unsere Karte Leuten an, die gegen eine tiefe Frustration ankämpfen. Was für eine Frustration? Das hatte mir Belbos letzter file angedeutet: Es gäbe kein Scheitern, wenn da wirklich ein Großer Plan wäre. Niederlagen ja, aber nicht aus eigener Schuld. Einem kosmischen Komplott zu unterliegen ist keine Schande. Du bist kein Feigling, du bist ein Märtyrer.
Beklage dich nicht, dass du sterblich bist, eine Beute unzähliger Mikroorganismen, die du nicht beherrschst. Du bist nicht verantwortlich für deine schlecht greifenden Füße, für den Verlust des Schwanzes, für die Haare und Zähne, die dir nicht nachwachsen, für die Neuronen, die du rings um dich her verstreust, für die Arterien, die in dir verkalken. Verantwortlich sind die Neidischen Engel.
Dasselbe gilt für das Alltagsleben. Und für die Börsenkräche. Sie kommen zustande, weil jeder eine falsche Bewegung macht, bis alle falschen Bewegungen zusammen eine Panik erzeugen. Dann fragt sich jeder, der keine starken Nerven hat: Wer steckt hinter diesem Komplott, und wem nützt es? Und wehe, du findest dann keinen Feind, dem du das Komplott in die Schuhe schieben kannst, du würdest dich selber schuldig fühlen. Oder, da du dich selber ja schuldig fühlst, du erfindest einfach ein Komplott, oder besser noch viele. Und um die Komplotte der andern zu durchkreuzen, musst du dein eigenes organisieren.
Und je mehr du dir fremde Komplotte ausdenkst, um deine eigene Verständnislosigkeit zu rechtfertigen, desto mehr verliebst du dich in deine Fantasien und entwirfst dein eigenes Komplott nach ihrem Muster. Genau das war geschehen, als Jesuiten und Baconianer, Paulizianer und Neutempler einander jeder den Plan des andern zuschrieben und um die Ohren schlugen. Damals hatte Diotallevi bemerkt: »Klar, du unterschiebst den anderen, was du selber tust, und da du etwas Hässliches tust, beginnst du die anderen zu hassen. Aber da die anderen in der Regel genau das Hässliche, das du gerade tust, gerne täten, kollaborieren sie mit dir, indem sie dich glauben machen, was du ihnen unterschiebst, sei in Wirklichkeit das, was sie sich schon immer gewünscht hatten. Gott blendet, wen er verderben will, man muß Ihm nur dabei helfen.«
Ein Komplott muß, wenn es denn eines sein soll, geheim sein. Es muß ein Geheimnis geben, dessen Kenntnis, hätten wir sie, uns entfrustrieren würde, denn entweder wäre es das Geheimnis, das uns zum Heil führt, oder die Kenntnis des Geheimnisses wäre mit dem Heil identisch. Gibt es ein so leuchtendes Geheimnis?
Gewiss, vorausgesetzt, es wird nie enthüllt. Einmal enthüllt, würde es uns nur enttäuschen. Hatte Agliè mir nicht von der Begierde nach Mysterien erzählt, die das erste Jahrhundert nach Christus durchzog, die Epoche der Antonine? Obwohl doch gerade erst einer erschienen war, der sich als Gottes Sohn bezeichnet hatte, als Gottes Sohn, der Fleisch geworden sei, um die Welt von ihren Sünden zu erlösen. War das vielleicht ein Dreigroschengeheimnis? Und er versprach das Heil allen, man brauchte bloß seinen Nächsten zu lieben. War das ein Geheimnis für Habenichtse? Und er hinterließ als Vermächtnis, dass jeder, der zur rechten Zeit die richtigen Worte sprach, ein Stückchen Brot und einen Krug Wein in das Fleisch und das Blut des Gottessohnes verwandeln und sich daran nähren konnte. War das ein Rätsel zum Wegwerfen? Und er brachte die Kirchenväter dazu, erst zu erwägen und dann zu erklären, dass Gott einer und drei sei und dass der Geist vom Vater und vom Sohne ausgehe, nicht aber der Sohn vom Vater und vom Geist. War das eine Formel für Hyliker? Und doch blieben jene, die nun das Heil in Reichweite hatten — do it yourself —, taub und verstockt. Das sollte die ganze Enthüllung, die ganze Offenbarung sein? Wie banal! Und so suchten sie hysterisch weiter im ganzen Mittelmeerraum nach einem anderen verlorenen Wissen, einem, für das diese Dreißig-Silberling-Dogmen nur die oberflächlichen Schleier waren, das Gleichnis für die Armen im Geiste, die Hieroglyphe, das Augenzwinkern zu den Pneumatikern. Mysterium der Trinität? Zu einfach, dahinter muß noch was anderes stecken!
Jemand, vielleicht war es Rubinstein, sagte einmal, als er gefragt wurde, ob er an Gott glaube: »O nein, ich glaube... an etwas viel Größeres...« Aber ein anderer (war es Chesterton?) sagte: »Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.«
Aber alles ist kein größeres Geheimnis. Es gibt überhaupt keine »größeren Geheimnisse«, denn kaum sind sie aufgedeckt, erscheinen sie klein. Es gibt nur ein leeres Geheimnis. Ein Geheimnis, das einem ständig wegrutscht. Das Geheimnis der Orchidee ist, dass ihr Name Hoden bedeutet und sie auf die Hoden einwirkt, aber die Hoden bedeuten ein Tierkreiszeichen und dieses eine Hierarchie der Engel und diese eine Tonleiter und diese ein Verhältnis zwischen den Säften und so weiter. Initiation heißt lernen, nie innezuhalten, man pellt das Universum wie eine Zwiebel, und eine Zwiebel ist nichts anderes als Pelle, denken wir uns eine endlose Zwiebel, die ihr Zentrum überall hat und ihre Außenhaut nirgends, Initiation ist endlos wie ein Möbiussches Band.
Der wahre Initiierte ist der, der weiß, dass das mächtigste Geheimnis ein Geheimnis ohne Inhalt ist, denn kein Feind kann ihn zwingen, es zu enthüllen, und kein Gläubiger kann es ihm wegnehmen.
Allmählich erschien mir die Dynamik des nächtlichen Rituals vor dem Pendel logischer und konsequenter. Jacopo Belbo hatte behauptet, ein Geheimnis zu besitzen, und deshalb hatte er Macht über sie gewonnen. Daraufhin war ihr erster Impuls — selbst bei einem so erfahrenen Mann wie Agliè, der sofort die Trommel gerührt hatte, um sie alle zusammenzurufen —, es ihm zu entreißen. Und je mehr Belbo sich weigerte, es zu enthüllen, desto mehr glaubten sie, es müsse ein großes Geheimnis sein, und je mehr er schwor, es nicht zu besitzen, desto mehr waren sie überzeugt, dass er es besitze und dass es ein echtes Geheimnis sei, denn wenn es ein falsches gewesen wäre, hätte er es enthüllt.
Jahrhundertelang war die Suche nach diesem Geheimnis das Band gewesen, das sie alle zusammengehalten hatte, trotz aller gegenseitigem Exkommunikationen, internen Machtkämpfe und Putsche. Nun waren sie kurz davor, es zu erfahren. Und da überfielen sie zwei Ängste: dass die Enthüllung des Geheimnisses sie enttäuschen könnte und dass es — wenn es einmal enthüllt war — kein Geheimnis mehr sein würde. Das wäre ihr Ende gewesen.
An diesem Punkt hatte Agliè begriffen: wenn Belbo reden würde, würden es alle hören, und er, Agliè, würde die Aura verlieren, die ihm sein Charisma und seine Macht verlieh. Wenn aber Belbo sich nur ihm allein anvertrauen würde, dann würde Agliè weiterhin Saint-Germain bleiben können, der Unsterbliche — der Aufschub seines Todes fiel zusammen mit dem Aufschub der Enthüllung des Geheimnisses. Also versuchte er Belbo zu überreden, ihm das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, und als er begriff, dass es sinnlos war, provozierte er ihn, indem er seine Kapitulation voraussagte, aber mehr noch, indem er ihm eine melodramatische Szene vorspielte. Oh, er kannte ihn gut, der alte Graf, er wusste, dass bei Leuten vom Schlage Belbos die Dickköpfigkeit und der Sinn für das Lächerliche sogar die Angst besiegen. Er zwang Belbo, einen schärferen Ton anzuschlagen und endgültig nein zu sagen.
Und aus derselben Angst zogen es die anderen vor, Belbo zu töten. Zwar verloren sie damit die Aussicht auf die gesuchte Karte — sie hatten ja noch Jahrhunderte Zeit, nach ihr zu suchen —, aber sie retteten sich die Jugendfrische ihrer alternden und sabbernden Begierde.
Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Amparo erzählt hatte. Bevor sie nach Italien gekommen war, hatte sie ein paar Monate in New York verbracht und dort in einer Gegend gewohnt, wo man höchstens hingeht, um Fernsehfilme über die Arbeit der Mordkommission zu drehen. Sie war oft spät in der Nacht allein nach Hause gekommen. Als ich sie fragte, ob sie denn keine Angst vor Vergewaltigungen gehabt habe, erklärte sie mir ihre Methode: Sobald ein Vergewaltiger näher kam und sich als solcher zu erkennen gab, nahm sie ihn am Arm und sagte: »Na komm, gehen wir ins Bett.« Woraufhin er panikartig davonlief.
Ein Vergewaltiger will keinen Sex, er will die Erregung des Gewaltaktes, mit dem er sich den Sex holen muß, er will den Widerstand des Opfers brechen. Wird ihm der Sex freiwillig geboten und ihm gesagt, hic Rhodus, hic salta, dann ist es ganz natürlich, dass er wegrennt, was wäre er sonst für ein Vergewaltiger?
Und wir sind hingegangen, um ihre Begierde zu wecken, um ihnen ein Geheimnis anzubieten, das leerer nicht sein konnte, denn wir kannten es nicht nur selber nicht, wir wussten auch, dass es falsch war.
Die Maschine flog über den Mont Blanc, und alle Passagiere stürzten sich auf dieselbe Seite, um nicht die Offenbarung jener platten Beule zu versäumen, die da dank einer Dystonie der tellurischen Ströme gewachsen war. Ich dachte, wenn das, was ich gerade dachte, richtig war, dann gab es vielleicht die tellurischen Ströme gar nicht, genauso wenig wie die Botschaft aus Provins. Aber die Geschichte der Entzifferung des Großen Plans, so wie wir sie rekonstruiert hatten, war dann nichts anderes als die Realgeschichte.
Meine Gedanken gingen zurück zu Belbos letztem file... Aber wenn das Sein so leer und zerbrechlich ist, dass es sich nur an der Illusion derjenigen aufrecht hält, die nach seinem Geheimnis suchen, dann gibt es wirklich — wie Amparo damals nach ihrer Niederlage sagte —, dann gibt es wirklich keine Erlösung, dann sind wir alle Sklaven, gebt uns einen Herrn, wir haben's nicht besser verdient...
Nein, das kann nicht alles sein. Das kann nicht alles sein, denn Lia hat mich gelehrt, dass es noch etwas anderes gibt, und ich habe den Beweis, er heißt Giulio, in diesem Moment spielt er wahrscheinlich gerade auf einer Bergwiese und zieht eine Ziege am Schwanz. Es kann nicht alles sein, denn Belbo hat zweimal nein gesagt.
Das erste Nein hatte er zu Abulafia gesagt und zu jedem, der Abulafias Geheimnis zu knacken versuchte. »Hast du das Passwort?« hieß die Frage. Und die Antwort, der Schlüssel zum Wissen, war »Nein«. Darin lag eine Wahrheit: Nicht nur gibt es das Zauberwort nicht, sondern wir müssen auch zugeben, dass wir es nicht kennen. Doch wer zugeben kann, dass er es nicht kennt, kann etwas erfahren, zumindest so viel, wie ich dann erfahren habe.
Das zweite Nein hatte Belbo am Samstag Abend gesagt, als er die angebotene Rettung ablehnte. Er hätte irgendeine Weltkarte erfinden können, er hätte eine von denen angeben können, die ich ihm gezeigt hatte — so wie das Pendel hing, hätte dieser Haufen Irrer das Zeichen für den Nabel der Welt ohnehin nie gefunden, und wenn doch, hätten sie weitere Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht das richtige war. Aber nein, Belbo wollte sich nicht beugen, er wollte lieber sterben.
Und es war nicht die Gier nach Macht, der er sich nicht beugen wollte, er wollte sich nicht dem Un-Sinn beugen. Das aber heißt, dass er irgendwie gewusst haben muß, dass es trotz aller Zerbrechlichkeit des Seins, trotz aller End-und Ziellosigkeit unserer Befragung der Welt doch etwas gibt, was mehr Sinn hat als der Rest.
Was war es, was Belbo geahnt hatte, vielleicht erst in jenem Moment, was hatte ihm erlaubt, den verzweifelten Worten in seinem letzten file zu widersprechen und sein Schicksal nicht in die Hände derer zu legen, die ihm irgendeinen Plan garantierten? Was hatte er begriffen — endlich —, das ihm nun erlaubte, sein Leben zu opfern, als hätte er alles, was er wissen musste, schon vor langer Zeit entdeckt, ohne sich dessen bis zu diesem Moment bewusst gewesen zu sein, und als wäre angesichts dieses seines einzigen, wahren, absoluten Geheimnisses alles, was da im Conservatoire geschah, heillos dumm — so dumm, dass es dumm gewesen wäre, unbedingt weiterleben zu wollen?
Mir fehlte etwas, ein Glied der Kette. Ich glaubte nun alle Heldentaten Belbos zu kennen, vom Leben bis zum Tode, außer einer.
Bei der Ankunft in Mailand, als ich nach meinem Pass suchte, fand ich in einer Jackentasche den Schlüssel zu diesem Haus. Ich hatte ihn am letzten Donnerstag zusammen mit Belbos Wohnungsschlüssel eingesteckt. Bei seinem Anblick fiel mir jener Tag ein, als wir nach *** gekommen waren und Belbo uns den großen Wandschrank gezeigt hatte, der, wie er uns sagte, seine gesammelten Jugendwerke enthielt. Vielleicht hatte Belbo etwas geschrieben, was nicht in Abulafia zu finden war, und dieses Etwas lag in dem Wandschrank begraben?
Es gab keinen vernünftigen Grund für diese meine Vermutung. Ein guter Grund — sagte ich mir —, sie ernst zu nehmen. Nach allem.
So ging ich mein Auto holen und bin hierhergefahren.
Niemand war da, nicht einmal die alte Verwandte der Canepas oder Hausmeisterin oder was sie gewesen sein mochte. Vielleicht ist auch sie inzwischen gestorben. Das Haus ist leer. Ich bin durch die Zimmer gegangen, es riecht nach Feuchtigkeit, ich hatte sogar daran gedacht, den »Priester« in einem der Schlafzimmer anzuzünden. Aber es ist Unsinn, im Juni das Bett zu wärmen, sobald man die Fenster öffnet, kommt die laue Abendluft herein.
Nach Sonnenuntergang war noch kein Mond zu sehen. Wie vorgestern Nacht in Paris. Er ist erst sehr spät aufgegangen, ich sehe die schmale Sichel — noch schmaler als in Paris — erst jetzt, wo sie langsam über die flacheren Hügel steigt, in einer Senke zwischen dem Bricco und einem anderen gelblichen, vielleicht schon abgeernteten Buckel.
Angekommen bin ich so gegen sechs, es war noch hell. Ich hatte mir nichts zu essen mitgebracht, aber in der Küche fand ich eine Salami an einem Haken hängen. Mein Abendessen bestand aus Salami und frischem Wasser, das war so gegen zehn. Jetzt habe ich Durst, ich habe mir eine große Karaffe Wasser in Onkel Carlos Arbeitszimmer geholt und trinke alle zehn Minuten ein Glas, dann gehe ich runter und fülle sie wieder auf. Es muß inzwischen bald drei sein. Aber ich habe das Licht gelöscht und kann die Uhr kaum noch lesen. Ich denke nach und sehe dabei aus dem Fenster. An den Hängen der Hügel sind winzige Lichter zu sehen, wie Glühwürmchen oder Sternschnuppen. Die Scheinwerfer vereinzelter Autos, die ins Tal fahren oder hinauf zu den höher gelegenen Dörfern. Als Belbo klein war, kann es diesen Anblick noch nicht gegeben haben. Es gab weder diese Autos noch diese Straßen, und nachts war Ausgangssperre.
Gleich nach meiner Ankunft hatte ich den bewussten Wandschrank geöffnet. Borde und Fächer voller Papiere, von den Schulaufsätzen des Grundschülers bis zu Heften und Bündeln voller Gedichte und Prosa des Heranwachsenden. Jeder hat als Heranwachsender Gedichte geschrieben, die wahren Dichter haben sie dann vernichtet, die schlechten haben sie veröffentlicht. Belbo war zu nüchtern, um sie aufzuheben, und zu schwach, um sie zu vernichten. So begrub er sie in Onkel Carlos Schrank.
Ich las einige Stunden lang. Und weitere lange Stunden, bis zu diesem Moment, habe ich über den letzten Text nachgedacht, den Text, den ich schließlich gefunden hatte, als ich die Suche gerade aufgeben wollte.
Ich weiß nicht, wann ihn Belbo geschrieben hat. Es sind Seiten und Seiten, auf denen sich verschiedene Handschriften überschneiden, oder es ist dieselbe Handschrift zu verschiedenen Zeiten. Als hätte er den Text sehr früh geschrieben, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, ihn dann weggelegt und mit zwanzig wieder hervorgeholt, und mit dreißig wieder und womöglich später noch einmal. Bis er dann auf das Schreiben verzichtete und erst mit Abulafia wieder anfing, aber ohne zu wagen, diese Zeilen wieder hervorzuholen und sie der elektronischen Demütigung auszusetzen.
Beim Lesen schien mir, als setzten sie eine bekannte Geschichte fort: die Ereignisse in *** von 1943 bis 1945, mit Onkel Carlo, den Partisanen, dem Oratorium, Cecilia und der Trompete. Den Prolog kannte ich, das waren die obsessiven Themen des romantischen, betrunkenen, enttäuschten und leidenden Belbo. Memoirenliteratur, das wusste auch er, ist die letzte Zuflucht der Canaillen.
Aber ich war kein Literaturkritiker, ich war einmal mehr Sam Spade, auf der Suche nach der letzten Spur.
Und so fand ich den Schlüsseltext. Er bildet vermutlich das letzte Kapitel von Belbos Geschichte in ***. Danach kann nichts mehr geschehen sein.
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Dann sobald das Laubwerck oder Krantz am Rohr angezündet wurde, sahe ich zu oberst das Loch eröffnen und ein hellen Feuerstriemen durch das Rohr hinabschießen und in den Leichnam fahren. Darauf wurde das Loch wider verdecket und die Posaun weggeraumbt.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 6, p. 126
Der Text hat Lücken, Überlappungen, unklare Stellen, Streichungen. Ich rekonstruiere ihn mehr, als dass ich ihn lese, ich lebe ihn nach.
Es muß gegen Ende April 45 gewesen sein. Die deutsche Wehrmacht war geschlagen, die Faschisten zerstreuten sich, auf jeden Fall war *** bereits fest in der Hand der Partisanen. Nach der letzten Schlacht, derjenigen, von der uns Jacopo in diesem Hause erzählt hatte (vor fast zwei Jahren), hatten sich mehrere Partisanenbrigaden in *** versammelt, um dann in die Provinzhauptstadt zu marschieren. Sie warteten auf ein Signal von Radio London, sie sollten aufbrechen, wenn Mailand zum Aufstand bereit war.
Auch die kommunistischen Garibaldiner waren gekommen, befehligt von Ras, einem Riesen mit schwarzem Bart, der im Ort sehr beliebt war. Sie trugen Fantasieuniformen, alle voneinander verschieden, nur die Halstücher und der Stern auf der Brust waren immer gleich, beide rot, und sie waren bewaffnet, wie's gerade kam, der eine mit einem alten Karabiner, der andere mit einer vom Feind erbeuteten MP. Ganz anders dagegen die Badoglianer mit ihren blauen Halstüchern, in Khaki-Uniformen ähnlich denen der Engländer und mit brandneuen Stens. Die Alliierten unterstützten die Badoglianer durch großzügige Nachschublieferungen, die nachts mit Fallschirmen abgeworfen wurden, nachdem pünktlich um elf, wie er's allabendlich seit zwei Jahren tat, der mysteriöse »Pippetto« vorbeigeflogen war, ein englischer Aufklärer, bei dem niemand kapierte, was der da aufklären mochte, denn Lichter waren über Kilometer und Kilometer keine zu sehen.
Es gab Spannungen zwischen Garibaldinern und Badoglianern, angeblich hatten die Badoglianer sich am Abend der Schlacht mit dem Ruf »Vorwärts Savoyen!« auf den Feind gestürzt, aber einige von ihnen sagten, das sei nur aus Gewohnheit gewesen, was solle man denn sonst beim Angriff rufen, das heiße noch lange nicht, dass sie Monarchisten seien, sie wüssten selber, dass der König beträchtliche Mitschuld habe. Worauf die Garibaldiner grienten, man könne wohl »Vorwärts Savoyen!« brüllen, wenn man auf offenem Feld mit aufgepflanztem Bajonett voranstürme, aber nicht, wenn man mit der Sten in der Hand hinter eine Hausecke hechte. Tatsache ist, dass die Badoglianer sich an die Engländer verkauft hatten.
Trotzdem kam man zu einem Modus vivendi. Für den Angriff auf die Provinzhauptstadt brauchte man ein gemeinsames Oberkommando, und die Wahl fiel auf Terzi, der die am besten ausgerüstete Brigade kommandierte. Er war der älteste, er hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht, er war ein Held und genoss das Vertrauen der Alliierten.
Nach ein paar Tagen, ich glaube, es war noch vor dem Aufstand in Mailand, waren sie losgezogen, um die Provinzhauptstadt zu nehmen. Gute Nachrichten trafen ein, die Operation war gelungen, die Brigaden kehrten siegreich nach *** zurück, aber es hatte Verluste gegeben, es hieß, Ras sei gefallen und Terzi sei verwundet.
Dann, eines Nachmittags, hörte man das Brummen der Lastwagen, Siegesgesänge, die Leute liefen auf die Piazza, von der Landstraße kamen die ersten Einheiten, erhobene Fäuste, Fahnen, freudig geschwenkte Waffen aus den Autofenstern und auf den offenen Lastwagen. Schon längs der Straße waren die Partisanen mit Blumen überschüttet worden.
Auf einmal rief jemand »Ras! Ras!«, und da saß er, vorn auf dem Kotflügel eines Dodge, mit seinem struppigen Bart und seinem schwarzen Haar auf der verschmitzten Brust unter dem offenen Hemd, und er grüßte lachend die Menge.
Neben Ras stieg auch Rampini vom Dodge, ein kurzsichtiger Junge, der in der Blaskapelle spielte, er war nicht viel älter als die anderen, und seit drei Monaten war er verschwunden gewesen, es hieß, er sei zu den Partisanen gegangen. Und nun stand er da mit dem roten Tuch um den Hals, in einer Khaki-Jacke und einem Paar blauer Hosen. Es war die Uniform von Don Ticos Blaskapelle, aber er trug jetzt einen breiten Gürtel mit einem Holster und einer Pistole darin. Durch seine dicken Brillengläser, die ihm soviel Spott von seinen alten Spielkameraden eingebracht hatten, sah er auf die Mädchen, die ihn umjubelten, als ob er Flash Gordon wäre. Und Jacopo fragte sich, ob Cecilia wohl in der Menge sein mochte.
Nach einer halben Stunde wimmelte der Platz von Partisanen, und die Menge rief laut nach Terzi, er solle eine Rede halten.
Terzi erschien auf dem Balkon des Rathauses, blass, auf seine Krücke gestützt, und versuchte mit der freien Hand die Menge zu beruhigen. Jacopo wartete gespannt auf die Rede, denn seine ganze Kindheit war, wie die seiner Altersgenossen, von den großen historischen Reden des Duce geprägt gewesen, deren bedeutendste Stellen man in der Schule auswendig lernte, was in der Praxis hieß, dass man alles auswendig lernte, denn jeder Satz war eine bedeutende Stelle.
Als die Menge endlich schwieg, begann Terzi zu sprechen, mit einer rauen Stimme, die kaum zu hören war. Und er sagte: »Mitbürger, Freunde. Nach so vielen leidvollen Opfern... da sind wir wieder. Ehre den für die Freiheit Gefallenen.«
Das war alles. Er ging wieder hinein.
Und die Menge jubelte, und die Partisanen hoben ihre MPs, ihre Stens, ihre Karabiner, ihre Einundneunziger hoch und feuerten in die Luft, die Hülsen regneten nur so herunter, und die Jungs schlüpften zwischen den Beinen der Bewaffneten und der Zivilisten hindurch, denn eine so fette Ernte würden sie nie wieder machen, es bestand die Gefahr, dass der Krieg noch im selben Monat zu Ende ging.
Aber es hatte auch Tote gegeben, zwei junge Männer. Durch einen grausamen Zufall stammten sie beide aus San Davide, einem Dorf oberhalb von ***, und ihre Familien wünschten, dass sie auf dem dortigen Friedhof begraben würden.
Das Partisanenkommando beschloss, es solle ein feierliches Begräbnis werden, mit angetretenen Kompanien, geschmücktem Leichenwagen, der kommunalen Musikkapelle und dem Dompropst. Und mit Don Ticos Blaskapelle.
Don Tico war sofort einverstanden. Vor allem, wie er sagte, weil er immer antifaschistisch empfunden habe. Sodann auch, wie die Spieler flüsterten, weil er seit einem Jahr zwei Trauermärsche mit ihnen eingeübt hatte, die er irgendwann einmal vorführen musste. Und schließlich, wie die Lästerzungen im Städtchen sagten, um die Geschichte mit Giovinezza wiedergutzumachen.
Die Geschichte mit Giovinezza ging so.
Monate vorher, ehe die Partisanen kamen, war Don Ticos Kapelle eines Tages losgezogen, um zum Fest ich weiß nicht welches Heiligen aufzuspielen, und war unterwegs von den Schwarzen Brigaden angehalten worden. »Spielen Sie Giovinezza, Herr Pfarrer!« hatte der Hauptmann befohlen, und seine Finger trommelten auf der MP. Was tun, wie man später sagen lernte? Don Tico sagte: Jungs, versuchen wir's halt, man hat nur ein Leben. Und er schlug den Takt mit seiner Stimmpfeife, und eine wüste Horde von Kakofonikern überzog *** mit einem Getöse, das nur die desperateste Hoffnung auf Endsieg hätte für die Faschistenhymne Giovinezza halten können. Es war eine Schande für alle. Eine Schande, weil sie eingewilligt hatten, sagte Don Tico hinterher, aber vor allem, weil sie so hundsmiserabel gespielt hatten. Priester ja, und Antifaschist, aber Kunst ist Kunst.
Jacopo war an dem Tag nicht dabei gewesen. Er hatte Mandelentzündung gehabt. Es waren nur Annibale Cantalamessa und Pio Bo da gewesen, und ihre exklusive Präsenz muß entscheidend zum Zusammenbruch des Nazifaschismus beigetragen haben. Aber für Belbo war das Problem noch ein anderes, jedenfalls als er darüber schrieb: Er hatte eine weitere Gelegenheit versäumt, herauszufinden, ob er den Mut zum Neinsagen hätte. Vielleicht ist er deshalb am Pendel gestorben.
Wie auch immer, das Begräbnis war dann für Sonntag Vormittag angesetzt worden. Auf dem Domplatz waren sie alle da. Terzi mit seinen Mannen, Onkel Carlo und einige Honoratioren der Stadt mit ihren Orden aus dem Ersten Weltkrieg, und es spielte keine Rolle, wer von ihnen Faschist gewesen war und wer nicht, es ging nur darum, die Helden zu ehren. Da waren der Klerus, die Männer der kommunalen Kapelle in dunklen Anzügen, der prächtige Leichenwagen, gezogen von schabrackenbedeckten Pferden mit Zaumzeug in Cremeweiß, Silber und Schwarz. Der Kutscher war aufgeputzt wie ein Marschall Napoleons, mit Zweispitz, Cape und weitem Mantel in denselben Farben wie das Zaumzeug. Und da war Don Ticos Kapelle, mit Schirmmützen, Khaki-Jacken und blauen Hosen, goldglänzend das Blech, schwarz glänzend das Holz und funkelnd das Becken über der Großen Trommel.
Von *** bis San Davide waren es fünf bis sechs Kilometer, in Serpentinen den Hügel hinauf. Ein Weg, den die Rentner sonntags bocciaspielend zurücklegten, eine Partie, eine Pause, ein paar Fläschchen Wein, die nächste Partie, und so weiter bis rauf zur Kapelle.
Ein paar Kilometer Steigung sind nichts, wenn man Boccia spielt, und vielleicht ist es auch nur ein Klacks, sie in Marschformation zu überwinden, die Waffe geschultert, den Blick geradeaus, die frische Frühlingsluft atmend. Aber man probiere es einmal blasend, mit prallen Backen, wenn einem der Schweiß von der Stirn rinnt und die Luft wegbleibt. Die Männer von der kommunalen Kapelle taten ihr ganzes Leben lang nichts anderes, aber für die Jungs vom Oratorium war's eine harte Prüfung. Sie hielten heroisch durch, Don Tico schlug den Takt mit seiner Stimmpfeife in die Luft, die Klarinetten jaulten erschöpft, die Saxophone blökten asthmatisch, das Bombardon und die Trompeten krächzten mit letzten Kräften, aber sie schafften es bis zum Dorf, bis zum Fuß des steilen Weges, der zum Friedhof hinaufführte. Seit geraumer Zeit hatten Annibale Cantalamessa und Pio Bo nur noch so getan, als ob sie bliesen, aber Jacopo spielte wacker weiter seine Rolle als Hirtenhund unter Don Ticos verständnisinnigen Blicken. Verglichen mit der kommunalen Kapelle hatten sie keine schlechte Figur gemacht, und das sagten nun auch Terzi und die anderen Kommandanten der Brigaden: Bravo, Jungs, großartig habt ihr gespielt.
Ein Kommandant mit blauem Halstuch und einem Regenbogen von Ordensbändern aus beiden Weltkriegen sagte: »Herr Pfarrer, lassen Sie die Jungs sich erst mal hier im Dorf ausruhen, sie können nicht mehr. Geht nachher rauf, am Ende. Da wird dann ein Pritschenwagen kommen, der bringt euch zurück nach ***.«
Sie stürmten in die Osteria, und die Männer von der kommunalen Kapelle, alte Hasen, gestählt durch unzählige Beerdigungen, stürzten sich hemmungslos auf die Tische und bestellten Kutteln und Wein in rauen Mengen. Sie würden da zechend bis zum Abend bleiben. Die Jungs von Don Tico versammelten sich am Tresen, wo der Wirt Granita di Menta servierte, grün wie ein chemisches Experiment. Das Eis flutschte durch die Kehle und rief einen Schmerz in der Mitte der Stirn hervor, wie bei einer Nebenhöhlenentzündung.
Dann waren sie zum Friedhof hinaufgestiegen, wo der Pritschenwagen schon auf sie wartete. Sie waren lärmend auf die Ladefläche geklettert und standen dicht gedrängt, einander mit den Instrumenten anstoßend, als aus dem Friedhof der Kommandant mit den vielen Ordensbändern kam und sagte: »Herr Pfarrer, für die Schlusszeremonie brauchten wir rasch noch eine Trompete, Sie wissen schon, die üblichen Signale. Eine Sache von fünf Minuten.«
»Trompeter!« rief Don Tico. Und der unselige Inhaber des begehrten Titels, inzwischen ganz verklebt von pfefferminzgrüner Granita und begierig auf das heimische Mahl, ein träger Bauernlümmel ohne jedes Gespür für ästhetischen Schauder und höhere Ideale, begann zu jammern, es wäre schon spät, er wolle nach Hause, er hätte gar keine Spucke mehr und so weiter und so fort, und der arme Don Tico stand ganz blamiert vor dem Kommandanten.
Da sagte Jacopo, der in der Glorie des Mittags das süße Bildnis Ceciliens erspähte: »Wenn er mir die Trompete gibt, gehe ich.«
Dankbares Leuchten in den Augen Don Ticos, Erleichterung in dem verschwitzten Gesicht des offiziellen Trompeters. Austausch der Instrumente, wie zwei Wachen.
Und Jacopo schritt in den Friedhof hinein, geführt von dem Psychopompos mit den Ordensbändern aus Addis Abeba. Alles ringsum war weiß, die Mauer im blendenden Sonnenlicht, die Gräber, die blühenden Bäume an der Umfriedung, das Chorhemd des Probstes, der zum Segnen bereitstand, alles außer dem verblichenen Braun der Fotos auf den Grabsteinen. Und außer dem großen Farbfleck der vor den zwei offenen Gräbern angetretenen Formationen.
»Junge«, sagte der Kommandant, »stell dich hier neben mich, und auf mein Kommando bläst du das Attenti. Danach, wieder auf mein Kommando, das Riposo. Ist doch ganz leicht, oder?«
Kinderleicht. Nur hatte Jacopo noch nie ein Habt-acht und noch nie ein Rührt-euch geblasen.
Er hielt die Trompete im angewinkelten rechten Arm, an die Rippen gedrückt, den Trichter ein wenig nach unten gerichtet, als wär's ein Karabiner, und wartete, Kopf hoch, Bauch rein, Brust raus.
Terzi hielt eine kleine Rede mit lauter sehr kurzen Sätzen. Jacopo überlegte: Beim Blasen würde er die Augen zum Himmel heben müssen, und dann würde ihn die Sonne blenden. Aber so stirbt ein Trompeter, und da man nur einmal stirbt, tut man's lieber gleich richtig.
Dann flüsterte der Kommandant ihm zu: »Jetzt!« Und begann laut: »Aaa... « Und Jacopo wusste nicht, wie man ein At-ten-ti bläst.
Die Tonfolge musste sehr viel komplexer sein, aber in diesem Augenblick war er nur fähig, C-E-G-C zu blasen, und jenen rauen Kriegsmännern schien das auch zu genügen. Bevor er zum abschließenden C ansetzte, holte er tief Luft, damit er den Ton lange aushallen konnte, so lange, dass ihm Zeit genug blieb —, schrieb Belbo —, die Sonne zu erreichen.
Die Partisanen salutierten in Habachtstellung. Die Lebenden regungslos wie die Toten.
Es bewegten sich nur die Totengräber, man hörte das Rumpeln der Särge, die in die Gräber hinuntergelassen wurden, und das Scharren der Seile, die sich am Holz rieben, als sie hinaufgezogen wurden. Aber das war nur eine schwache Bewegung, wie das Tanzen eines Lichtreflexes auf einer Kugel, das nur die reglose Ruhe der Kugel des Seins unterstreicht.
Dann das trockene Klacken eines Präsentiert-das-Gewehr. Der Probst murmelte die Aspersionsformeln, während er das Weihwasser auf die Gräber sprengte, die Kommandanten traten an die Gruben und warfen jeder eine Handvoll Erde hinunter. Plötzlich ein kurzer Befehl, eine Salve krachte in die Luft, ta-ta-ta ta-pum, und tschilpend flog ein Schwarm kleiner Vögel aus den blühenden Bäumen auf. Aber auch das war nicht eigentlich Bewegung, es war eher, als präsentierte sich immer derselbe Augenblick in verschiedenen Perspektiven, und einen Augenblick immerfort zu betrachten heißt nicht, ihn zu betrachten, während die Zeit vergeht.
Deshalb war Jacopo regungslos stehen geblieben, unbeirrt sogar von den Patronenhülsen, die ihm vor die Füße kullerten, und hatte auch die Trompete nicht abgesetzt, sondern hielt sie noch immer am Mund, die Finger auf den Ventilen, starr in Habachtstellung, das Instrument schräg nach oben gerichtet. Er blies noch immer.
Sein langer Schlusston hatte keinen Augenblick ausgesetzt. Unhörbar für die Anwesenden kam er noch immer aus dem Trompetentrichter, wie ein leichter Atem, ein dünner Luftstrom, den Jacopo weiterhin in das Mundstück blies, die Zunge zwischen den kaum geöffneten Lippen, ohne sie gegen das Metall zu drücken. Das Instrument blieb vorgestreckt, ohne sich auf den Mund zu stützen, allein durch die Anspannung der Ellenbogen und Schultern.
Und Jacopo fuhr fort, diesen Hauch von Ton zu blasen, da er spürte, dass er in diesem Augenblick einen Faden ausspann, der die Sonne festhielt. Das Gestirn war stehen geblieben in seinem Lauf, fixiert in einem Mittag, der eine Ewigkeit hätte andauern können. Und alles hing von Jacopo ab, er brauchte nur abzusetzen, den Faden zu lockern, und die Sonne wäre davongesprungen wie ein Ball, und mit ihr der Tag und das Ereignis dieses Tages, diese phasenlose Aktion, diese Abfolge ohne Vorher und Nachher, die bewegungslos ablief, nur weil er die Macht hatte, es so zu wollen und so zu tun.
Hätte er abgesetzt, um einen neuen Ton zu blasen, es hätte wie ein scharfer Riss geklungen, viel lauter als die Salven, die ihn betäubten, und die Uhren hätten wieder angefangen, tachykardisch zu ticken.
Jacopo wünschte sich von ganzem Herzen, dass der Mann neben ihm nie das Kommando Rührt-euch geben würde. Ich könnte mich widersetzen, dachte er, und für immer so bleiben. Blas weiter, so lange du kannst.
Ich glaube, er war in jenen Zustand der Benommenheit und des Taumels eingetreten, der einen Taucher erfaßt, wenn er versucht, nicht aufzutauchen, sondern die Trägheit, die ihn auf den Grund sinken lässt, noch länger hinauszuziehen. Denn in seinem Bemühen um Ausdruck dessen, was er empfand, lässt Belbo hier seine Sätze im Leeren abbrechen, sich asyntaktisch verdrehen und rachitisch mit Ellipsen durchsetzen. Aber es ist klar, dass er in jenem Moment — nein, er sagt es nicht so, aber mir scheint, es ist ganz klar: dass er in jenem Moment Cecilia besaß.
Ich meine, dass Jacopo Belbo damals noch nicht begriffen haben konnte — und auch nicht begriffen hatte, als er über sein unbewusstes Selbst schrieb —, dass er in jenem Augenblick ein für allemal seine chymische Hochzeit feierte — mit Cecilia, mit Lorenza, mit Sophia, mit der Erde und mit dem Himmel. Als einziger vielleicht unter den Sterblichen war er im Begriff, endlich das Große Werk zu vollenden.
Niemand hatte ihm bisher gesagt, dass der Gral ein Kelch, aber auch ein Speer ist, und doch war seine als Kelch erhobene Trompete zugleich eine Waffe, ein Instrument der zartesten Herrschaft, ein Pfeil, der zum Himmel flog und die Erde mit dem Mystischen Pol verband. Mit dem einzigen Festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte: dem, den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem erschuf.
Diotallevi hatte ihm noch nicht gesagt, dass man in Jessod sein kann, der Sefirah des Fundaments, dem Zeichen des Bundes des hohen Bogens, der sich spannt, um Pfeile abzusenden auf Malchuth, sein Ziel. Jessod ist der Tropfen, der aus dem Pfeil quillt, um den Baum und die Frucht zu erzeugen, Jessod ist die Seele der Welt, denn es ist der Moment, in dem die männliche Kraft als zeugende alle Seinszustände miteinander verbindet.
Wer diesen Venusgürtel zu weben weiß, der macht den Fehler des Demiurgen wett.
Wie kann man ein Leben lang nach der GELEGENHEIT suchen, ohne zu merken, dass der entscheidende Augenblick, derjenige, der Geburt und Tod rechtfertigt, schon vorbei ist? Er kommt nicht wieder, aber er ist da gewesen, unaustilgbar, rund und voll, glänzend und generös wie jede Offenbarung.
An jenem Tag hatte Jacopo Belbo der Wahrheit ins Auge gesehen. Der einzigen, die ihm jemals vergönnt sein sollte, denn die Wahrheit, die er damals erfuhr, war, dass die Wahrheit sehr kurz ist (hinterher ist alles nur Kommentar). Darum versuchte er, die Ungeduld der Zeit zu bändigen.
Damals hatte er das ganz sicher noch nicht begriffen. Und wohl auch nicht, als er dann später darüber schrieb, oder als er beschloss, nicht mehr zu schreiben.
Ich habe es heute Abend begriffen: der Autor muß sterben, damit der Leser sich seiner Wahrheit innewird.
Die Obsession des Foucaultschen Pendels, die Jacopo Belbo sein ganzes Erwachsenenleben lang verfolgt hatte, war — wie die verlorenen Adressen in seinem Traum — das Bild jenes anderen Moments gewesen, jenes damals registrierten und dann verdrängten Augenblicks, als er wirklich das Dach der Welt berührt hatte. Und dieser Augenblick, als er Raum und Zeit hatte erstarren lassen, indem er seinen Zenonschen Pfeil abschoss, das war kein Zeichen gewesen, kein Symptom, keine Anspielung, keine Figur, keine Signatur, kein Rätsel: es war, was es war, es stand nicht für etwas anderes, es war der Moment, in dem es keinen Weiterverweis mehr gibt und die Konten beglichen sind.
Jacopo Belbo hatte nicht begriffen, dass er seinen Moment gehabt hatte und dass ihm dieser Moment für das ganze Leben hätte genügen müssen. Er hatte es nicht erkannt oder nicht anerkannt, denn er hatte sein ganzes restliches Leben damit verbracht, nach etwas anderem zu suchen, bis er sich selbst verdammte. Oder vielleicht hatte er es geahnt, sonst wäre er nicht so oft auf die Trompete zurückgekommen. Aber er hatte sie als etwas Verlorenes in Erinnerung, und dabei hatte er sie gehabt.
Ich glaube, ich hoffe, ich bete, dass Jacopo Belbo in dem Augenblick, als er am Pendel schwingend starb, dies endlich begriffen und Frieden gefunden hat.
Dann war das Rührt-euch gekommen. Er hätte ohnehin aufgeben müssen, da ihm die Luft ausging. Er setzte ab, setzte neu an und blies einen einzigen hohen Ton, den er in einem sanften Decrescendo abschwellen ließ, um die Welt an die Melancholie zu gewöhnen, die auf sie wartete.
Der Kommandant sagte: »Bravo, junger Mann. Kannst jetzt gehen. Hast schön geblasen.«
Der Probst eilte davon, die Partisanen marschierten zu einem Hinterausgang, wo ihre Lastwagen warteten, die Totengräber gingen, nachdem sie die Gruben zugeschüttet hatten. Jacopo ging als letzter. Er konnte sich nicht losreißen von diesem Ort des Glücks.
Auf dem Dorfplatz war kein Pritschenwagen mehr da.
Wie konnte das sein, fragte sich Jacopo, Don Tico hätte ihn doch nicht einfach so allein gelassen. Im nachhinein ist die wahrscheinlichste Antwort, dass es ein Missverständnis gegeben hatte, wahrscheinlich hatte jemand Don Tico gesagt, der Junge würde von den Partisanen ins Tal gebracht werden. Aber in jenem Augenblick dachte Jacopo — und nicht ohne Grund —, dass zwischen dem Attenti und dem Riposo zu viele Jahrhunderte vergangen waren, die Jungs hatten bis ins Greisenalter auf ihn gewartet, bis in den Tod, ihr Staub hatte sich zerstreut, um jenen leichten Dunst zu bilden, der jetzt die Weite der Hügel vor seinen Augen bläulich färbte.
Jacopo war allein. Hinter ihm lag ein leerer Friedhof, in seinen Händen lag die Trompete, vor ihm lagen die Hügel, die immer blauer einer hinter dem andern im Quittenmus des Unendlichen verschwammen, und rächend schien über seinem Kopf die befreite Sonne.
Da beschloss er zu weinen.
Doch plötzlich war dann der Leichenwagen erschienen, mit dem prächtigen Kutscher, der wie ein General des Kaisers angetan war, ganz in Cremeweiß und Schwarz und Silber, und die Pferde verhüllt mit barbarischen Masken, die nur die Augen freiließen, und mit Tüchern verhängt wie Bahren, und auf dem Wagen die gewundenen Säulen, die das Dach mit dem ägyptisch-griechisch-assyrischen Tympanon trugen, alles in Weiß und Gold. Der Mann mit dem Zweispitz hielt einen Augenblick vor dem einsamen Trompeter auf dem Dorfplatz, und Jacopo fragte ihn: »Bringen Sie mich nach Hause?«
Der Mann nickte gutmütig. Jacopo kletterte neben ihn auf den Bock, und so begann auf dem Totenwagen die Rückkehr in die Welt der Lebenden. Schweigend lenkte der nunmehr dienstfreie Charon seine funebren Rösser zu Tal, Jacopo saß aufrecht und feierlich da, die Trompete unter den Arm geklemmt, den glänzenden Mützenschirm über die Augen gezogen, durchdrungen von seiner neuen, unverhofften Rolle.
Sie fuhren die Serpentinen hinunter, in jeder Kurve öffnete sich eine neue Aussicht auf blaugrüne Weinberge, alle in einem blendenden Licht, und nach einer unbestimmbaren Zeit kamen sie in *** an. Sie überquerten die rings mit Arkaden gesäumte Piazza, die menschenleer war, wie es nur die Plätze im Monferrat an einem Sonntagnachmittag um zwei sein können. Ein Schulkamerad an der Ecke der Piazza hatte Jacopo auf dem Kutschbock sitzen sehen, die Trompete unterm Arm, die Augen geradeaus ins Unendliche, und hatte ihm bewundernd zugewinkt.
Dann war Jacopo nach Hause gekommen, er wollte nichts essen und nichts erzählen. Er hockte sich auf die Terrasse und begann Trompete zu spielen, leise, als hätte er einen Dämpfer, um die Stille der Siesta nicht zu stören.
Sein Vater war herausgekommen und hatte freundlich, mit der Ruhe dessen, der die Gesetze des Lebens kennt, zu ihm gesagt: »In einem Monat, wenn alles läuft, wie es laufen sollte, geht's wieder nach Hause. Es ist leider nicht möglich, dass du in der Stadt Trompete spielst. Der Hausherr würde uns kündigen. Also fang schon mal an, sie zu vergessen. Wenn's dich wirklich zur Musik hinzieht, lassen wir dich Klavierstunden nehmen.« Und dann, als er Jacopos Augen feucht werden sah: »Na komm schon, Dummerchen. Merkst du nicht, dass die schlimmen Tage vorbei sind?«
Am nächsten Tag brachte Jacopo die Trompete zu Don Tico zurück. Zwei Wochen später verließ die Familie ***, um sich in die Zukunft zu wenden.