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Beydelus, Demeymes, Adulex, Metucgayn, Atine, Ffex, Uquizuz, Gadix, Sol, Veni cito cum tuis spiritibus.
Picatrix, Ms. Sloane 1305, 152, verso
Der Bruch der Gefäße. Diotallevi sprach oft von der späten Kabbalistik Isaak Lurias, in der die geordnete Artikulation der Sefiroth sich verlor. Die Schöpfung, sagte er, sei ein heftiges Ein- und Ausatmen Gottes, heftig wie ein Keuchen oder das Fauchen eines Blasebalgs.
»Das Große Asthma Gottes«, glossierte Belbo.
»Versuch du mal aus dem Nichts zu schaffen. So was macht man nur einmal im Leben. Um die Welt zu blasen, wie man eine Glaskugel bläst, muß Gott sich zuerst in sich selbst zurückziehen, um Atem zu schöpfen, und dann bläst er den langen Lichterhauch der zehn Sefiroth heraus.«
»Licht oder Hauch?«
»Gott haucht, und es ward Licht.«
»Multimedia.«
»Aber die Lichter der Sefiroth müssen in Gefäße eingefasst werden, die ihrem Strahlen standzuhalten vermögen. Die Gefäße der drei ersten, Kether, Chochmah und Binah, hielten ihrem Leuchten stand, während bei den unteren Sefiroth, von Chessed bis Jessod, das Licht und der Hauch in einem Zuge mit solcher Heftigkeit ausströmten, dass die Gefäße zerbrachen. Die Fragmente des Lichts zerstreuten sich durchs Universum, und so entstand die rohe Materie.«
Der Bruch der Gefäße sei eine ernste Katastrophe, sagte Diotallevi bedrückt, nichts sei unbewohnbarer als eine fehlgeschlagene Schöpfung. Es müsse von Anfang an einen Fehler im Kosmos gegeben haben, und auch die klügsten Rabbiner hätten ihn nicht vollständig zu erklären vermocht. Vielleicht seien in dem Moment, als Gott ausatmete und sich entleerte, im Urgefäß ein paar Tröpfchen Öl geblieben, ein materieller Rückstand, der Reschimu, und Gott habe sich zusammen mit diesem Rückstand verströmt. Oder irgendwo hätten bereits die Qelippoth auf der Lauer gelegen, die »Schalen« oder Kräfte des Bösen.
»Fiese Leute, diese Qelippoth«, meinte Belbo, »Agenten des teuflischen Doktor Fu Man-Chu... Und dann?«
Und dann, erklärte Diotallevi geduldig, im Licht von Geburah, dem Strengen Gericht, auch Din, die Strafgewalt, oder Pachad, die Furcht genannt, der Sefirah, in der nach Isaak dem Blinden das Böse sich zeigt, gelangten die Schalen zu realer Existenz.
»Sie sind unter uns«, sagte Belbo.
»Schau dich um«, sagte Diotallevi.
»Und wie kommt man da raus?«
»Es geht eher darum, wieder reinzukommen«, sagte Diotallevi. »Alles fließt aus Gott in der Kontraktion des Zimzum. Unser Problem ist, den Tiqqun zu realisieren, die Rückkehr, die Reintegration des Adam Kadmon. Also müssen wir das Ganze in der ausgewogenen Form der Parzufim rekonstruieren, der Gesichter oder Gestalten, die den Platz der Sefiroth einnehmen werden. Der Aufstieg der Seele ist wie eine seidene Schnur, die dem Frommen erlaubt, sich im Dunkel den Weg zum Licht zu ertasten. So bemüht sich die Welt jeden Augenblick, indem sie die Lettern der Torah kombiniert, die natürliche Form wiederzufinden, die sie aus ihrer grauenhaften Verwirrung erlöst.«
Und so tue auch ich es jetzt in dieser tiefen Nacht, in der unnatürlichen Ruhe dieser Hügel. Doch vorgestern Abend im Periskop fand ich mich noch umgeben vom klebrigen Schleim der Schalen, die ich rings um mich spürte — winzige Schnecken, verkrustet in den Glasphiolen des Conservatoire, vermengt mit den Barometern und den rostigen Rädern von Uhren in stummem Winterschlaf. Wenn es einen Bruch der Gefäße gab, dachte ich, hatte der erste Riss sich vielleicht an jenem Abend in Rio während des Ritus gebildet, aber zur Explosion kam es erst bei meiner Rückkehr nach Hause. Zu einer langsamen Explosion, ohne Getöse, so dass wir uns alle unversehens im Schlamm der rohen Materie fanden, wo Gewürm aufkeimt durch spontane Zeugung.
Ich kam aus Brasilien zurück und wusste nicht mehr, wer ich war. Inzwischen ging ich auf die Dreißig zu. In diesem Alter war mein Vater Vater geworden, er hatte gewusst, wer er war und wo er lebte.
Ich war zu lange fern von meinem Lande gewesen, während große Dinge geschahen, und hatte in einer Welt prall voller Unglaublichkeiten gelebt, in die auch die Nachrichten aus Italien nur wie ferne Legenden drangen. Kurz bevor ich die andere Hemisphäre verließ, während ich meinen Aufenthalt dort mit einer Flugreise über die Urwälder Amazoniens beschloss, war mir eine Lokalzeitung in die Hände gefallen, die bei einer Zwischenlandung in Fortaleza an Bord gekommen war. Auf der ersten Seite prangte das Foto von einem, den ich wiedererkannte, denn ich hatte ihn jahrelang kleine Weiße bei Pilade trinken sehen. Die Bildunterschrift lautete: »O homem que matou Moro.«
Natürlich war er, wie ich bei meiner Rückkehr erfuhr, nicht der Mann, der Aldo Moro getötet hatte. Er hätte sich, wenn ihm eine geladene Pistole in die Hand gedrückt worden wäre, ins Ohr geschossen, um zu prüfen, ob sie funktionierte. Er war bloß zufällig da gewesen, als die Polizei in eine Wohnung eindrang, wo jemand drei Pistolen und zwei Päckchen Sprengstoff unter einem Bett versteckt hatte. Er lag auf dem Bett, verzückt, denn es war das einzige Möbelstück in jenem Einzimmerappartement, das eine Gruppe von Altachtundsechzigern gemietet hatte, um die fleischlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wäre der Raum nicht lediglich mit einem Poster der Inti Illimani ausstaffiert gewesen, man hätte ihn eine Junggesellenabsteige nennen können. Einer der Mieter war mit einer bewaffneten Untergrundgruppe liiert, und die anderen wussten nicht, dass sie deren Unterschlupf finanzierten. So landeten allesamt für ein Jahr im Knast.
Vom Italien der letzten Jahre hatte ich nur sehr wenig begriffen. Ich hatte das Land auf der Schwelle großer Veränderungen verlassen, fast mit einem Schuldgefühl, weil ich im Moment der Abrechnung floh. Als ich wegging, konnte ich die Ideologie eines jeden an seinem Tonfall erkennen, an seinen Redewendungen, seinen kanonischen Zitaten. Als ich wiederkam, kapierte ich nicht mehr, wer wohin gehörte. Man sprach nicht mehr von Revolution, man redete von den Wünschen und vom Begehren, wer sich links nannte, zitierte Nietzsche und Céline, die Publikationen der Rechten feierten die Revolution der Dritten Welt.
Ich ging zu Pilade und fand mich auf fremdem Boden. Das Billard war noch da, auch mehr oder minder dieselben Maler, aber die jugendliche Fauna hatte gewechselt. Einige der alten Stammkunden hatten, erfuhr ich, jetzt Schulen für transzendentale Meditation und makrobiotische Restaurants eröffnet. Ich fragte, ob jemand auch schon einen Umbanda- Tempel aufgemacht habe. Nein, vielleicht war ich der Zeit voraus, ich hatte ungeahnte Kenntnisse erworben.
Um den historischen Kern zu befriedigen, hatte Pilade einen alten Flipper behalten, so einen von der Sorte, die inzwischen alle aussahen wie kopiert von Roy Lichtenstein und die massenhaft von den Antiquitätenhändlern aufgekauft wurden. Aber daneben, umdrängt von den Jüngeren, reihten sich andere Apparate mit blinkenden Bildschirmen, auf denen Geschwader vernieteter Bussarde flogen, Kamikaze des Outer Space, oder Frösche umherhüpften und japanisch quakten. Pilade Bar war inzwischen ein einziges Flimmern sinistrer Lichter geworden, und vielleicht hatten sich vor der Mattscheibe von Galactica auch die Rekrutenanwerber der Roten Brigaden umgesehen. Aber gewiss hatten sie den Flip- per auslassen müssen, denn an dem kann man nicht mit einer Pistole im Gürtel spielen.
Das wurde mir klar, als ich Belbos Blick folgte, der sich auf Lorenza Pellegrini heftete. Bei ihrem Anblick begriff ich undeutlich, was er klarer gesehen hatte und was ich dann später in seinen files lesen sollte. Lorenza wird nicht namentlich genannt aber es ist evident, dass sie gemeint war. Nur sie flipperte so.
Filename: Flipper
Flipper spielt man nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Schambein. Beim Flippern ist das Problem nicht, die Kugel rechtzeitig aufzuhalten, bevor sie im Orkus verschwindet, auch nicht, sie mit dem Ungestüm eines Mittelverteidigers wieder ins Feld zu schießen, sondern sie möglichst lange im oberen Teil zu halten, wo die blinkenden Ziele am dichtesten sind, so dass sie von einem zum andern springt und wie verrückt hin und her zuckt, aber aus eigenem Willen. Und das erreicht man nicht, indem man der Kugel Stöße versetzt, sondern indem man Vibrationen auf das Gehäuse überträgt, aber sanft, so dass es der Flipper nicht merkt und nicht ins Kippen gerät. Das schafft man nur mit dem Schambein, beziehungsweise mit einem genau kalkulierten Einsatz der Hüften, so dass das Schambein mehr gleitet als stößt und man immer diesseits des Orgasmus bleibt. Und mehr als das Schambein, wenn man die Hüften natürlich bewegt, sind es die Pobacken, die den Stoß nach vorn weitergeben, aber mit Anmut, so dass der Stoß, wenn er beim Schambein ankommt, bereits gedämpft ist, wie in der Homöopathie, wo bekanntlich die Wirkung des Medikaments um so stärker wird, je länger man eine Lösung schüttelt und je mehr die Substanz sich im Wasser auflöst, das man langsam hinzufügt, bis sie fast ganz verschwunden ist. Genauso überträgt sich vom Schambein ein infinitesimaler Strom auf das Gehäuse, und der Flipper gehorcht, ohne neurotisch zu werden, und die Kugel rollt wider die Natur, wider die Trägheit, wider die Schwerkraft, wider die Gesetze der Dynamik, wider die Schläue des Konstrukteurs, der sie ungehorsam wollte, und durchtränkt sich mit vis movendi und bleibt im Spiel für memorable und immemorable Zeiten. Aber dazu bedarf es einer weiblichen Scham, die keine Schwellkörper zwischen Hüftbein und Gehäuse einschiebt, und es darf keine erigierbare Materie dazwischenkommen, sondern nur Haut und Nerven und Knochen, eingezwängt in ein Paar Jeans, und man braucht einen sublimierten Furor eroticus, eine maliziöse Frigidität, eine uneigennützige Anpassungsfähigkeit an die Sensibilität des Partners, eine Lust, sein Verlangen zu schüren, ohne am Übermaß des eigenen zu leiden: die Amazone muß den Flipper zur Raserei bringen und im voraus genießen, dass sie ihn dann verlassen wird.
Ich glaube, Belbo hatte sich in dem Moment in Lorenza Pellegrini verliebt, als er spürte, dass sie imstande war, ihm ein unerreichbares Glück zu versprechen. Aber ich glaube auch, dass er durch sie anfing, den erotischen Charakter der Automatenwelten zu entdecken, die Maschine als Metapher des kosmischen Leibes und das mechanische Spiel als talismanhafte Beschwörung. Er war schon dabei, sich an Abulafia zu berauschen, und vielleicht war er schon in den Geisteszustand des Hermes-Projekts eingetreten. Bestimmt hatte er schon das Pendel gesehen. Lorenza Pellegrini, ich weiß nicht, durch welche Kurzschlussverbindung, versprach ihm das Pendel.
In der ersten Zeit hatte ich Schwierigkeiten, mich wieder an Pilade zu gewöhnen, Allmählich, nicht jeden Abend, entdeckte ich dann im Dschungel der fremden Gesichter die vertrauten der Überlebenden wieder, wenn auch benebelt von der Anstrengung des Wiedererkennens: einer war jetzt Texter in einer Werbeagentur, ein anderer Steuerberater, ein dritter verkaufte zwar immer noch Bücher auf Raten, aber wenn es früher die Werke von Che waren, bot er jetzt Kräuterkunde, Buddhismus und Astrologie feil. Ich sah sie wieder, die alten Genossen, ein bisschen lispelnd, ein paar graue Strähnen im Haar, in der Hand ein Glas Whisky, und mir schien, als wär's noch immer derselbe Drink wie vor zehn Jahren, an dem sie ganz langsam genippt hatten, ein Tröpfchen pro Semester.
»Was treibst du denn so, warum lässt du dich nie mehr bei uns blicken?« fragte mich einer von ihnen.
»Wer seid denn jetzt ihr?«
Er sah mich an, als wäre ich hundert Jahre weg gewesen. »Na, ich meine doch das Kulturreferat, hier in der Stadtverwaltung.«
Ich hatte zu viele Takte ausgesetzt.
Ich beschloss, mir einen Beruf zu erfinden. Mir war aufgefallen, dass ich viele Dinge wusste, die alle zusammenhanglos nebeneinanderstanden, aber die ich in wenigen Stunden durch ein paar Bibliotheksbesuche ganz gut miteinander verbinden konnte. Als ich Europa verließ, musste man eine Theorie haben, und ich litt darunter, dass ich keine hatte. Jetzt brauchte man nur Kenntnisse zu haben, alle waren ganz versessen auf Kenntnisse, um so mehr, wenn es inaktuelle waren. Auch an der Uni, wo ich wieder reingeschaut hatte, um zu sehen, ob ich mich irgendwo eingliedern könnte. Die Hörsäle waren still, die Studenten schlichen lautlos wie Gespenster durch die Flure und tauschten schlecht gemachte Bibliografien aus. Ich konnte eine gute Bibliografie machen.
Eines Tages fragte mich ein Doktorand, der mich für einen Dozenten hielt (die Professoren waren inzwischen so alt wie die Studenten, oder umgekehrt), was dieser Lord Chandos geschrieben habe, von dem in einem Seminar über die zyklischen Krisen in der Ökonomie die Rede gewesen sei. Ich sagte ihm, dass es sich um eine Figur von Hofmannsthal handelte, nicht um einen Ökonomen.
Am selben Abend war ich auf einem Fest bei alten Freunden und erkannte einen wieder, der in einem Verlag arbeitete. Er war eingetreten, als der Verlag aufgehört hatte, die Romane der französischen Kollaborateure zu verlegen, um sich politischen Texten aus Albanien zu widmen. Wie ich erfuhr, machten sie immer noch politische Texte, aber nun im Auftrag der Regierung. Doch sie verschmähten auch nicht ab und zu ein gutes Buch über Philosophie. Über die klassische, präzisierte er.
»Apropos«, sagte er, »du bist doch Philosoph... «
»Danke, leider nein.«
»Ach komm schon, du warst doch damals einer, der alles wusste. Heute hab ich eine Übersetzung durchgesehen, einen Text über die Krise des Marxismus, und da war ein Zitat drin von einem gewissen Anselm von Canterbury. Weißt du, wer das ist? Ich hab ihn nirgendwo finden können, nicht mal im Dizionario degli Autori.« Ich sagte ihm, dass es sieht um denselben handelte, den wir Italiener Anselmo d'Aosta nennen, weil er unser ist und nicht ihrer.
Dabei kam mir eine Erleuchtung: Ich hatte einen Beruf gefunden. Ich beschloss, eine Agentur für Bildungsauskünfte zu eröffnen.
So etwas wie eine Detektei des Wissens. Statt nachts in den Bars und Bordellen herumzuschnüffeln, musst du dich in Buchläden, Bibliotheken und Korridoren von Universitätsinstituten herumtreiben. Und dann in deinem Büro sitzen, die Beine auf dem Tisch, einen Pappbecher mit Whisky vor dir, daneben die Flasche, vom Drugstore an der Ecke in einer Packpapiertüte mitgebracht. Das Telefon klingelt, jemand sagt: »Ich übersetze gerade ein Buch und stoße da auf einen gewissen — oder gewisse — Mutakallimun. Ich krieg nicht raus, was das ist.«
Du weißt es auch nicht, aber egal, du sagst ihm, er soll dir zwei Tage Zeit geben. Du gehst in die Bibliothek, blätterst ein paar Kataloge durch, bietest dem Typ an der Auskunft eine Zigarette an, findest eine Spur. Abends triffst du einen Assistenten vom Islamistischen Institut an der Bar, zahlst ihm ein Bier, zwei, er verliert die Kontrolle und gibt dir die gesuchte Information für nix. Am nächsten Tag rufst du den Kunden an: »Also, die Mutakallimun waren radikale muslimische Theologen zur Zeit von Avicenna. Sie sagten, die Welt sei gewissermaßen eine Staubwolke von Akzidentien und gerinne nur durch einen momentanen und vorübergehenden Akt des göttlichen Willens zur Form. Es genüge, dass Gott sich für einen Moment zerstreuen und schon falle das Universum in Stücke. Reinste Anarchie der Atome ohne jeden Sinn. Genügt das? Hat mich drei Tage gekostet, zahlen Sie mir, was Ihnen angemessen scheint.«
Ich hatte das Glück, zwei Zimmer mit einer kleinen Küche in einem alten Gebäude am Stadtrand zu finden, das früher einmal eine Fabrik gewesen sein musste, mit einem Flügel für die Büros. Die Appartements, die man daraus gemacht hatte, gingen alle auf einen langen Flur, meins lag zwischen einer Immobilienagentur und dem Labor eines Tierkörperpräparators (»A. Salon — Taxidermist«). Es war beinahe wie in einem amerikanischen Wolkenkratzer der dreißiger Jahre, es fehlte nur noch eine Glastür, und ich wäre mir vorgekommen wie Philip Marlowe. Ich stellte eine ausziehbare Couch in das hintere Zimmer und einen Schreibtisch ins vordere. Zwei Regale füllten sich mit Atlanten, Lexika und Katalogen, die ich nach und nach kaufte. Anfangs musste ich noch Kompromisse machen und auch Examensarbeiten für verzweifelte Studenten schreiben. Das war nicht besonders schwer, ich brauchte bloß die aus dem letzten Jahrzehnt abzuschreiben. Dann schickten mir die Freunde aus den Lektoraten Manuskripte und Übersetzungen zum Redigieren, natürlich nur die unangenehmsten und für mäßiges Honorar.
Aber ich sammelte Erfahrungen, akkumulierte Kenntnisse und warf nichts weg. Alles wurde säuberlich in Karteien verzettelt. Ich dachte noch nicht daran, die Karteien in einen Computer zu übertragen (die kamen damals gerade erst auf, Belbo war ein Pionier), ich operierte noch mit handwerklichen Mitteln, aber ich hatte mir eine Art künstliches Gedächtnis aus Kärtchen mit Querverweisen geschaffen. Kant - → Nebelfleck -→ Laplace... Kant -→ Königsberg -→ die sieben Brücken von Königsberg -→ Theoreme der Topologie... Ein bisschen wie jenes Spiel, bei dem man durch Assoziation in fünf Schritten von Würstchen zu Plato gelangen soll. Sehen wir mal: Würstchen -→ Schwein -→ Borste -→ Pinsel -→ Manierismus -→ Idee -→ Plato. Leicht. Auch das verquasteste Manuskript brachte mir noch mindestens zwanzig neue Kärtchen für meine Vernetzungen ein. Das Kriterium war streng, und ich glaube, es ist dasselbe, das auch die Geheimdienste anwenden: Keine Information ist weniger wert als die andere, das Geheimnis besteht darin, sie alle zu sammeln und dann Zusammenhänge zwischen ihnen zu suchen. Zusammenhänge gibt es immer, man muß sie nur finden wollen.
Nach etwa zwei Jahren Arbeit war ich mit mir zufrieden. Ich amüsierte mich. Und inzwischen war ich Lia begegnet.
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Sappia qualunque il mio nome dimanda ch’i’ mi son Lia, e vo movendo intorno le belle mani a farmi una ghirlanda.
(Ein jeder, der mich fragt nach meinem Namen, / Soll wissen, dass ich Lea bin und gehe, / Mit schönen Händen einen Kranz zu flechten (deutsch von Hermann Gmelin)).
Dante, Purgatorio, XXVII, 100-102
Lia. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, sie wiederzusehen, aber ich hätte ihr auch nie begegnet sein können, und das wäre noch schlimmer gewesen. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier und hielte mich an der Hand, während ich die Etappen meines Ruins rekonstruiere. Denn sie hatte es mir gesagt. Aber sie muß außerhalb dieser Geschichte bleiben, sie und das Kind. Ich hoffe, sie kommen erst später zurück, wenn alles zu Ende ist — wie immer es enden mag.
Es war am 16. Juli 1981 gewesen. Mailand entvölkerte sich, der Lesesaal in der Bibliothek war fast leer.
»He, den Band 109 wollte ich grad nehmen.«
»Und wieso hast du ihn dann im Regal gelassen?«
»Ich war nur schnell am Tisch, um was nachzusehen.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
Sie war eigensinnig mit ihrem Band an den Tisch zurückgegangen. Ich hatte mich vor sie gesetzt und versucht, ihr Gesicht zu entdecken.
»Wie kannst du das lesen, wenn's nicht Blindenschrift ist?« fragte ich.
Sie hob den Kopf, und ich wusste wirklich nicht, ob es das Gesicht oder der Hinterkopf war. »Wieso?« fragte sie. »Ach, ich kann sehr gut durchsehen.« Aber um das zu sagen, hatte sie ihre Mähne beiseite geschoben, und ich sah ihre grünen Augen.
»Du hast grüne Augen.«
»Weiß ich. Wieso? Ist das schlecht?«
»Im Gegenteil. Sollte es öfter geben.«
So hatte es angefangen. »Iss doch, du bist ja dünn wie ein Nagel«, hatte sie mir beim Essen gesagt. Um Mitternacht saßen wir immer noch in dem griechischen Restaurant neben Pilade, mit der Kerze in der Flasche, die schon fast runtergebrannt war, und erzählten uns alles. Wir waren quasi Kollegen, sie redigierte Lexikonartikel.
Ich hatte den Eindruck, ihr etwas sagen zu müssen. Eine halbe Stunde nach Mitternacht schob sie ihre Mähne beiseite, um mich genauer anzusehen, ich hielt den Zeigefinger mit dem Daumen nach oben auf sie gerichtet und sagte: »Pim.«
»Komisch«, sagte sie, »ich auch.«
So waren wir Fleisch von einem Fleische geworden, und von da an war ich für sie Pim.
Wir konnten uns keine neue Wohnung leisten, ich schlief bei ihr, und sie war oft in meinem Büro oder ging auf die Jagd, denn sie war besser im Spurenverfolgen als ich und suggerierte mir wertvolle Querverbindungen.
»Mir scheint, wir haben eine halb leere Kartei über die Rosenkreuzer«, sagte sie.
»Ich muß sie irgendwann auffüllen, es sind Notizen aus Brasilien... «
»Na gut, mach erst mal einen Verweis auf Yeats.«
»Was hat denn Yeats damit zu tun?«
»Einiges. Ich lese hier gerade, dass er zu einer Rosicrucian Society gehörte, die sich Stella Matutina nannte.«
»Was täte ich ohne dich?«
Ich hatte wieder angefangen, zu Pilade zu gehen, denn die Bar war wie eine Börse, ich fand dort Kunden.
Eines Abends sah ich Belbo wieder (in den Jahren davor musste er sich etwas rar gemacht haben, aber er kam wieder regelmäßig, als er Lorenza Pellegrini kennengelernt hatte). Immer noch derselbe, vielleicht jetzt ein bisschen grau meliert und etwas magerer, aber nicht viel.
Es war eine herzliche Begegnung, in den Grenzen seiner Mitteilsamkeit Ein paar Bemerkungen über die alten Zeiten, coole Zurückhaltung über unsere Komplizenschaft bei jenem letzten Vorfall und ihre brieflichen Nachzügler. Der Kommissar De Angelis hatte sich nicht wieder gemeldet. Fall erledigt, wie's aussah.
Ich erzählte ihm von meiner Arbeit, und er schien interessiert. »Im Grunde das, was ich gerne täte, den Sam Spade der Kultur spielen, zwanzig Dollar pro Tag plus Spesen.«
»Aber bei mir spazieren keine geheimnisvollen faszinierenden Frauen herein, und keiner kommt, um mir vom Malteser Falken zu erzählen«, sagte ich.
»Das weiß man nie. Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Spaß?« fragte ich zurück und zitierte ihn: »Ich amüsiere mich prächtig. Ich glaube, das ist das einzige, was ich wirklich gut kann.«
»Good for you«, antwortete er.
Wir sahen uns öfter wieder, ich erzählte ihm von meinen brasilianischen Erlebnissen, aber ich fand ihn immer ein wenig zerstreut, mehr als gewöhnlich. Wenn Lorenza Pellegrini nicht da war, hielt er den Blick auf die Tür geheftet, wenn sie da war, ließ er ihn nervös im Lokal umherschweifen und verfolgte ihre Bewegungen. Eines Abends, es war schon kurz bevor Pilade zumachte, sagte er mir, woandershin blickend: »Hören Sie, es könnte sein, dass wir Sie brauchen, nicht bloß für gelegentliche Gutachten. Könnten Sie ein bisschen Zeit für uns erübrigen, sagen wir einen Nachmittag pro Woche?«
»Mal sehen. Um was geht's denn?«
»Eine Stahlfirma hat bei uns ein Buch über Metalle bestellt. So einen Prachtband, bei dem es mehr auf die Bilder als auf den Text ankommt. Populär, aber seriös. Sie wissen schon, was ich meine: die Metalle in der Geschichte der Menschheit von der Eisenzeit bis zu den Legierungen für Raumschiffe. Wir brauchen jemanden, der sich in den Bibliotheken und Archiven nach guten Illustrationen umsieht — nach alten Miniaturen und barocken Stichen über, was weiß ich, Schmelzverfahren oder den Blitzableiter.«
»Na gut ich komme morgen bei Ihnen vorbei.«
In diesem Augenblick trat Lorenza Pellegrini zu ihm.
»Bringst du mich nach Hause?«
»Wieso ich heute?« fragte Belbo.
»Weil du der Mann meines Lebens bist.«
Er errötete, wie nur er erröten konnte, und schaute noch mehr woandershin. »Wir haben einen Zeugen«, sagte er zu ihr, und zu mir: »Ich bin der Mann ihres Lebens. Lorenza.«
»Hallo.«
»Hallo.«
Er stand auf und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Was hat das damit zu tun?« sagte sie. »Ich hab dich gefragt, ob du mich im Wagen nach Hause fährst«
»Ach so«, sagte er. »'Tschuldigen Sie, Casaubon, ich muß den Taxifahrer spielen, für die Frau des Lebens von wer weiß wem.«
»Blödmann«, sagte sie zärtlich und küsste ihn auf die Wange.
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Erlaubt mir einstweilen, meinem gegenwärtigen oder künftigen Leser einen Rat zu geben, so er tatsächlich Melancholiker ist: er sollte die Symptome oder Prognosen im folgenden Teil lieber nicht lesen, damit er sich nicht beunruhigt und am Ende mehr Schaden als Nutzen daraus zieht, indem er das Gelesene auf sich selber bezieht, wie es die meisten Melancholiker tun.
Robert Burton, Anatomy of Melancholy, Oxford 1621, Einführung
Es lag auf der Hand, dass Belbo irgendwie mit Lorenza Pellegrini liiert war. Ich wusste nur nicht, wie intensiv und seit wann. Auch die files von Abulafia haben mir nicht viel weitergeholfen.
So ist beispielsweise der Text über das Abendessen mit Doktor Wagner undatiert. Den Doktor Wagner hatte Belbo schon vor meiner Abreise nach Brasilien gekannt und er sollte mit ihm auch nach dem Beginn meiner Arbeit für Garamond noch in Verbindung stehen, so dass am Ende auch ich mit ihm in Berührung kam. Folglich konnte das fatale Essen vor oder nach jenem Abend gewesen sein, an den ich mich erinnere. Wenn es vorher gewesen war, begreife ich Belbos Verlegenheit, seine gefasste Verzweiflung.
Der Doktor Wagner — ein Wiener, der seit Jahren in Paris praktizierte, daher die Aussprache » Wagnère« bei denen, die Vertrautheit mit ihm bekunden wollten — wurde seit etwa zehn Jahren regelmäßig von zwei revolutionären Gruppen der unmittelbaren Nachachtundsechzigerzeit nach Mailand eingeladen. Sie machten ihn sich gegenseitig streitig, und natürlich gab jede Gruppe eine radikal andere Version seines Denkens. Wieso und warum es dieser berühmte Mann akzeptiert hatte, sich von außerparlamentarischen Gruppen sponsern zu lassen, habe ich nie ganz kapiert. Seine Theorien waren politisch neutral, und wenn er wollte, konnte er sich von Universitäten, Kliniken, Akademien einladen lassen. Ich glaube, er hatte die Einladungen von diesen Gruppen angenommen, weil er im Kern ein Epikureer war und Anspruch auf fürstliche Aufwandsentschädigungen erhob. Die Privaten konnten mehr aufbringen als die akademischen Institutionen, und für den Doktor Wagner hieß das Reisen erster Klasse und Luxushotels, plus Honorare für Vorträge und Seminare, berechnet nach seinem Therapeutentarif.
Wieso dann die beiden Gruppen eine ideologische Inspirationsquelle in Wagners Theorien fanden, war eine andere Geschichte. Aber in jenen Jahren erschien die Wagnersche Psychoanalyse hinreichend dekonstruktiv, diagonal, libidinal und nicht-cartesianisch, um der revolutionären Arbeit theoretische Anstöße bieten zu können.
Als schwierig erwies sich freilich, sie den Arbeitern zu vermitteln, und vielleicht waren die beiden Gruppen deswegen an einem bestimmten Punkt gezwungen gewesen, sich zwischen den Arbeitern und Wagner zu entscheiden, und hatten sich für Wagner entschieden. So wurde die Idee entwickelt, das neue revolutionäre Subjekt sei nicht das Proletariat, sondern der Deviante.
»Statt die Proletarier deviieren zu lassen, lieber die Devianten proletarisieren«, sagte Belbo eines Tages zu mir. »Ist auch billiger, bei Doktor Wagners Preisen.«
Tatsächlich war die Revolution der Wagnerianer wohl die teuerste in der Geschichte.
Der Verlag Garamond hatte, finanziert von einem Psychologischen Institut, eine Sammlung kleinerer Schriften Wagners übersetzen lassen, sehr fachspezifische Texte, aber inzwischen nirgends mehr aufzutreiben und darum sehr gefragt bei den Jüngern. Wagner war nach Mailand zur Präsentation des Bandes gekommen, und bei der Gelegenheit hatte seine Beziehung zu Belbo begonnen.
Filename: Doktor Wagner
Der diabolische Doktor Wagner Sechsundzwanzigste Folge
Wer hätte, an jenem grauen Morgen des
In der Diskussion hatte ich einen kritischen Einwand geäußert. Der satanische Alte war gewiss verärgert darüber, aber er ließ sich nichts anmerken. Im Gegenteil, er antwortete, als wollte er mich verführen.
Wie Charlus mit Jupien, Biene und Blüte. Ein Genius erträgt es nicht, von jemandem nicht geliebt zu werden, er muß den Dissidenten sofort verführen, um seine Liebe zu erzwingen. Es gelang ihm, ich liebte ihn.
Doch er konnte mir nicht verziehen haben, denn am selben Abend, als wir über die Scheidung sprachen, versetzte er mir einen tödlichen Hieb. Ohne es zu wissen, instinktiv: Ohne es zu wissen, hatte er mich zu verführen versucht, und ohne es zu wissen, beschloss er, mich zu bestrafen. Auf Kosten der Standesethik hat er mich gratis analysiert. Das Unbewusste beißt auch seine Wächter.
Geschichte des Marquis de Lantenac in Victor Hugos Dreiundneunzig. Das Schiff der Vendéens operiert in schwerer See vor der bretonischen Küste, plötzlich löst sich eine Kanone aus ihrer Verankerung, und während das Schiff rollt und stampft, beginnt sie wie verrückt von einer Seite zur andern zu rasen und droht, riesiges Ungetüm, das sie ist, Backbord und Steuerbord zu durchbrechen. Ein Kanonier (leider derselbe, dessen Nachlässigkeit die Schuld daran trug, dass die Kanone nicht genügend festgezurrt worden war) stürzt sich mit einem Mut ohnegleichen und mit einer Kette in Händen direkt vor das Ungetüm, das ihn beinahe zermalmt, stoppt es, fängt es ein, führt es an seinen Trog zurück und rettet derart das Schiff, die Besatzung und die Mission. In feierlicher Liturgie lässt der schreckliche Lantenac die Männer auf dem Vorderdeck antreten, lobt den Tapferen, reißt sich eine hohe Dekoration von der Brust und steckt sie ihm an die seine, umarmt ihn, und hoch zum Himmel tönt der Matrosen Hurra.
Dann, diamanthart, erinnert Lantenac daran, dass der so Ausgezeichnete der Verantwortliche für den Zwischenfall war, und befiehlt, ihn zu füsilieren.
Glänzender Lantenac, virtuos, gerecht und unbestechlich! Genauso machte es Doktor Wagner mit mir: er ehrte mich mit seiner Freundschaft, und er tötete mich, indem er mir die Wahrheit sagte
und er tötete mich, indem er mir enthüllte, was ich in Wahrheit wollte
und er enthüllte mir, was ich, während ich's wollte, fürchtete.
Eine Geschichte, die in kleinen Bars beginnt. Das Bedürfnis, sich zu verlieben.
Gewisse Dinge spürt man kommen, man verliebt sich nicht einfach, weil man sich verliebt, man verliebt sich, weil man in der betreffenden Zeit ein verzweifeltes Bedürfnis hat, sich zu verlieben. In solchen Zeiten, wenn du die Lust verspürst, dich zu verlieben, musst du gut aufpassen, wohin du die Füße setzt: es ist, als hättest du einen Liebestrank getrunken, einen von denen, die dich in das erstbeste Wesen verliebt machen, das dir begegnet. Könnte auch ein Schnabeltier sein.
Warum hatte ich das Bedürfnis gerade in jener Zeit, als ich aufgehört hatte zu trinken? Beziehung zwischen Leber und Herz. Eine neue Liebe ist ein gutes Motiv, wieder mit dem Trinken anzufangen. Jemanden haben, mit dem man durch kleine Bars ziehen kann. Sich wohl fühlen.
Die kleine Bar ist eine kurze, flüchtige Sache. Sie erlaubt dir eine lange süße Erwartung während des ganzen Tages, bis du hingehst, dich im Dämmerlicht zu verbergen, in die Ledersessel zu sinken, nachmittags um sechs ist noch niemand da, die gemeine Kundschaft kommt erst am Abend, mit dem Pianisten. Am späten Nachmittag eine schummrige kleine American Bar auswählen, wo der Kellner nur kommt, wenn du ihn dreimal rufst, aber er hat schon den nächsten Martini bereit.
Der Martini ist essenziell. Nicht Whisky, Martini. Das Zeug ist farblos, du hebst das Glas und siehst sie hinter der Olive. Unterschied, ob man die Geliebte durch einen Martini Cocktail betrachtet, dessen dreieckiges Kelchglas zu klein ist, oder durch einen Gin Martini on the Rocks, großes Glas, ihr Gesicht zerfällt im transparenten Kubismus der Eiswürfel, und der Effekt verdoppelt sich, wenn man die beiden Gläser einander nähert, jeder die Stirn an die Kälte des Glases gedrückt, und zwischen Stirn und Stirn die zwei Gläser... Mit dem Kelch geht das nicht.
Die kurze Stunde der kleinen Bar. Danach wirst du zitternd auf einen anderen Tag warten. Hier gibt es nicht die Erpressung mit der Sicherheit.
Wer sich in kleinen Bars verliebt, braucht keine Frau für sich allein. Jemand leiht einem seine.
Seine Rolle. Er ließ ihr viel Freiheit, er war immer auf Reisen. Seine verdächtige Liberalität: ich konnte auch um Mitternacht anrufen, er war da und du nicht, er sagte mir, du seist außer Haus, und wenn ich schon anriefe, ob ich nicht zufällig wüsste, wo du wärst. Einzige Momente der Eifersucht. Aber auch auf diese Weise entriss ich Cecilia dem Saxophonspieler. Lieben oder zu lieben glauben als ewiger Priester einer alten Rache.
Mit Sandra war's komplizierter geworden: diesmal hatte sie gemerkt, dass es mich böse erwischt hatte, das Leben zu zweit wurde eher angespannt. Mussten wir uns trennen? Also bitte, dann trennen wir uns. Nein, warte, reden wir noch mal drüber. Nein, so kann das nicht weitergehen. Mit einem Wort, das Problem war Sandra.
Wenn man durch Bars zieht, hat man das Drama der Leidenschaft nicht mit der, die man trifft, sondern mit der, die man verlässt.
Dann kam das Abendessen mit Doktor Wagner. In seinem Vortrag hatte er gerade erst einem Provokateur eine Definition der Psychoanalyse gegeben: »La psychanalyse? C’est qu’entre l’homme et la femme... chers amis... ça ne colle pas... (Die Psychoanalyse? Das ist, weil zwischen Mann und Frau... liebe Freunde... das hält nicht zusammen...)
Man diskutierte über die Zweierbeziehung, und über die Scheidung als Illusion des Gesetzes. Von meinen Problemen umgetrieben, beteiligte ich mich engagiert am Gespräch. Wir verloren uns in dialektischen Spielereien, sprachen miteinander, während Wagner schwieg, vergaßen, dass wir ein Orakel unter uns hatten. Und da, mit abwesender Miene
und da, mit gelangweilter Miene
und da, mit melancholischem Desinteresse
und da, als mischte er sich am Thema vorbei ins Gespräch ein, sagte Wagner (ich erinnere mich genau an seine Worte, sie haben sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt, ich kann mich unmöglich verhört haben): In meiner gesamten Tätigkeit habe ich nie einen Patienten gehabt, der von seiner eigenen Scheidung neurotisiert war. Der Grund des Unbehagens war immer die Scheidung des Andern.
Doktor Wagner sagte auch mündlich immer der Andere, mit großem A. Tatsache ist, dass ich hochfuhr wie von einer Viper gebissen
der Viscount fuhr hoch wie von einer Viper gebissen
eiskalter Schweiß perlte auf seiner Stirn
der Baron fixierte ihn durch die trägen Rauchschwaden seiner dünnen russischen Zigarette
— Sie meinen, fragte ich, dass man nicht durch die Scheidung vom eigenen Partner in die Krise gerät, sondern durch die mögliche oder unmögliche Scheidung der dritten Person, die das Paar, dem man angehört, in die Krise gebracht hat?
Wagner starrte mich an mit der Perplexität des Laien, der zum ersten mal einem Geistesgestörten begegnet. Was ich damit sagen wolle.
Wahr ist, was immer ich damit sagen wollte, ich hatte es schlecht gesagt. Also versuchte ich, meinen Gedankengang zu konkretisieren. Ich nahm den Löffel vom Tisch und legte ihn neben die Gabel: Sehen Sie, das bin ich, der Löffel, verheiratet mit ihr, der Gabel. Und hier ist ein anderes Paar, sie, das Obstmesserchen, verheiratet mit ihm, dem großen Mackie Messer. Nun glaube ich Löffel zu leiden, weil ich meine Gabel werde verlassen müssen und es nicht möchte, ich liebe das Messerchen, aber es ist mir recht, wenn es bei seinem großen Messer bleibt. Und jetzt sagen Sie mir, Doktor Wagner, dass ich in Wahrheit deswegen leide, weil sich Messerchen nicht von Mackie Messer trennt. Ist es so?
Wagner antwortete, zu einem anderen Tischgenossen gewandt, er habe nie etwas Derartiges gesagt.
— Wie, Sie haben es nicht gesagt? Gerade eben haben Sie doch gesagt, Sie hätten nie einen gefunden, der von seiner eigenen Scheidung neurotisiert war, sondern immer nur von der des anderen.
— Kann sein, ich weiß es nicht mehr, antwortete Doktor Wagner gelangweilt.
— Und wenn Sie's gesagt haben, meinten Sie's dann nicht so, wie ich es verstanden habe?
Wagner schwieg einige Minuten lang.
Während die ganze Tischrunde wartete, ohne auch nur zu schlucken, winkte er der Bedienung, ihm Wein nachzuschenken, hielt das Glas hoch und betrachtete aufmerksam die Flüssigkeit gegen das Licht, trank einen Schluck und sprach endlich:
— Wenn Sie es so verstanden haben, dann weil Sie es so verstehen wollten.
Sprach's, drehte sich zu einer anderen Seite, sagte, es sei heiß, deutete eine Opernarie an und schwenkte dazu eine Salzstange, als dirigierte er ein Orchester, gähnte dann, konzentrierte sich auf eine Sahnetorte und bat schließlich, nach einem erneuten Anfall von Mutismus, in sein Hotel gebracht zu werden.
Die andern sahen mich an, als hätte ich ein Symposion ruiniert, aus welchem Endgültige Worte hätten hervorgehen können.
In Wahrheit hatte ich die Wahrheit sprechen hören.
Ich rief dich an. Du warst zu Hause, mit dem Andern. Ich verbrachte die Nacht schlaflos. Alles war klar: ich konnte nicht ertragen, dass du mit ihm zusammen warst. Sandra hatte nichts damit zu tun.
Es folgten sechs dramatische Monate, in denen ich pausenlos hinter dir her war, immer dicht auf den Fersen, um deine traute Zweisamkeit zu ruinieren, um dir zu sagen, dass ich dich ganz für mich allein haben wollte, um dich zu überzeugen, dass du den Andern hasstest. Du begannst mit dem Andern zu streiten, der Andere begann anspruchsvoll zu werden, eifersüchtig, er ging abends nicht mehr aus, und wenn er auf Reisen war, rief er dich zweimal täglich an, und mitten in der Nacht. Eines Abends hat er dich geohrfeigt, Du batest mich um Geld, weil du weglaufen wolltest, ich kratzte das bisschen zusammen, was ich auf der Bank hatte. Du verließest die eheliche Wohnung, gingst mit ein paar Freunden in die Berge, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Der Andere rief mich an, verzweifelt, um mich zu fragen, ob ich vielleicht wüsste, wo du stecktest. Ich wusste es nicht, und es klang wie eine Lüge, da du ihm gesagt hattest, dass du ihn meinetwegen verließest.
Als du zurückkamst, verkündetest du mir strahlend, dass du ihm einen Abschiedsbrief geschrieben hättest. An diesem Punkt fragte ich mich, was nun zwischen mir und Sandra geschehen werde, aber du ließest mir keine Zeit zum Nachdenken. Du sagtest, du habest jemanden kennengelernt, einen Typ mit einer Narbe auf der Wange und einem sehr zigeunerhaften Appartement. Du würdest zu ihm gehen. — Liebst du mich nicht mehr? — Im Gegenteil, du bist der einzige Mann meines Lebens, aber nach dem, was geschehen ist, muß ich diese Erfahrung durchmachen, sei nicht kindisch, versuch mich zu verstehen, im Grunde habe ich meinen Mann wegen dir verlassen, lass den Leuten ihr Tempo.
— Ihr Tempo? Du sagst mir gerade, dass du mit einem anderen davongehst!
— Du bist ein Intellektueller, dazu noch ein linker, also benimm dich nicht wie ein Mafioso. Auf bald.
Ich verdanke ihm alles, dem Doktor Wagner.
37
Wer über vier Dinge nachgrübelt, der wäre besser nie geboren: was oben, was unten, was vorher und was nachher ist.
Talmud, Chagigah 2.l
Ich kam genau an jenem Vormittag zu Garamond, als Abulafia installiert wurde, während Belbo und Diotallevi sich in ihren Streit über die Namen Gottes verloren und Gudrun voller Argwohn die Männer beobachtete, die jenes beunruhigende neue Wesen zwischen die immer mehr verstaubenden Manuskriptstapel einfügten.
»Setzen Sie sich, Casaubon, hier haben Sie die Pläne für diese unsere Geschichte der Metalle.« Wir blieben allein, und Belbo zeigte mir Inhaltsverzeichnisse, Kapitelentwürfe, Umbruchmuster. Ich sollte die Texte lesen und passende Illustrationen dazu finden. Ich nannte ihm einige Mailänder Bibliotheken, die mir gut ausgestattet schienen.
»Das wird nicht genügen«, sagte Belbo. »Sie werden sich auch woanders umsehen müssen. Zum Beispiel in München, da gibt es im Deutschen Museum ein fantastisches Bildarchiv. Dann in Paris im Conservatoire des Arts et Metiers. Da würde ich gerne mal wieder hin, wenn ich Zeit hätte.«
»Ist es schön?«
»Beunruhigend. Der Triumph der Maschine in einer gotischen Kirche ...« Er zögerte, ordnete einige Papiere auf seinem Schreibtisch und sagte dann wie nebenbei, als fürchtete er, seiner Enthüllung zu viel Nachdruck zu geben: »Da ist das Pendel.«
»Welches Pendel«?
»Das Pendel. Es nennt sich Foucaultsches Pendel.«
Er schilderte mir das Pendel, so wie ich es am Samstag gesehen hatte und vielleicht hatte ich es am Samstag so gesehen, weil Belbo mich auf den Anblick vorbereitet hatte. Aber damals zeigte ich wohl nicht allzu viel Enthusiasmus, denn Belbo sah mich an wie einen, der angesichts der Sixtinischen Kapelle fragt, ob das alles sei.
»Es ist vielleicht die Atmosphäre der Kirche, aber ich versichere Ihnen, man hat dort ein sehr starkes Gefühl. Der Gedanke, dass alles fließt und nur dort oben der einzige feste Punkt des Universums existiert ... Für einen, der keinen Glauben hat, ist das eine Art, zu Gott zurückzufinden, ohne dabei die eigene Ungläubigkeit infrage zu stellen, denn es handelt sich um einen Nullpol. Wissen Sie, für Leute meiner Generation, die Enttäuschungen mittags und abends gefressen haben, kann das tröstlich sein.«
»Enttäuschungen haben wir mehr gefressen, wir von meiner Generation.«
»Überheblichkeit! Nein, für euch war's nur eine Saison, ihr habt die Carmagnole gesungen und euch dann in der Vendée wiedergefunden. So was geht schnell vorbei. Für uns ist es anders gewesen. Erst der Faschismus, auch wenn wir ihn nur als Kinder erlebt hatten, wie einen Abenteuerroman, aber die Unsterblichen Schicksale waren ein fester Punkt. Dann der feste Punkt der Resistenza, besonders für solche wie mich, die sie von außen betrachteten und einen Vegetationsritus daraus machten, die Wiederkehr des Frühlings, eine Tagundnachtgleiche oder Sonnwende, ich verwechsle das immer ... Dann für einige Gott und für andere die Arbeiterklasse, und für viele beides zugleich. Es war tröstlich für einen Intellektuellen, zu denken, es gäbe da noch die Arbeiter, schön, gesund, stark und bereit, die Welt neu zu schaffen. Und auf einmal, ihr habt's ja auch gesehen, waren die Arbeiter zwar noch da, aber die Klasse nicht mehr. Muss wohl in Ungarn umgebracht worden sein. Dann seid ihr gekommen. Für euch war's eine ganz natürliche Sache, vielleicht, und es war ein Fest. Für uns in meinem Alter nicht, für uns war's die Abrechnung, das schlechte Gewissen, die Reue, die Regeneration. Wir hatten versagt, und da kamt ihr mit eurem Enthusiasmus, eurem Mut, eurer Bereitschaft zur Selbstkritik. Für uns, die damals Mitte Dreißig oder Anfang Vierzig waren, war es eine Hoffnung, demütigend, aber eine Hoffnung. Wir mussten wieder so werden wie ihr, um den Preis, noch einmal von vorn anzufangen. Wir trugen keine Krawatten mehr, wir warfen den Trenchcoat weg, um uns einen gebrauchten Parka zu kaufen, manche kündigten ihre Stellung, um nicht mehr den Kapitalisten zu dienen ...«
Er zündete sich eine Zigarette an und tat, als täuschte er Groll vor, um seine Bekenntnisse vor mir verzeihlich zu machen.
»Und ihr seid auf allen Fronten zurückgewichen. Wir, mit unseren jährlichen Bußpilgerfahrten zu den Fosse Ardeatine, wir hatten uns geweigert, Werbeslogans für Coca-Cola zu erfinden, weil wir Antifaschisten waren. Wir begnügten uns mit den paar Kröten bei Garamond, weil Bücher wenigstens demokratisch sind. Und ihr, um euch an den Bourgeois zu rächen, die ihr nicht aufhängen konntet, ihr verkauft ihnen jetzt Videokassetten und Fan-Magazine, ihr infantilisiert sie mit Zen und der Kunst, ein Motorrad zu warten. Ihr habt uns eure Kopie der Gedanken Maos aufgeschwatzt, und dann seid ihr mit dem Geld hingegangen und habt euch die Knaller für eure Feste der neuen Kreativität gekauft. Ohne Scham. Wir haben unser Leben damit verbracht, uns zu schämen. Ihr habt uns getäuscht, ihr habt keine Reinheit verkörpert, es war bloß Pubertätsakne. Ihr habt uns das Gefühl gegeben, wir wären elende Feiglinge, weil wir nicht den Mut hatten, mit offenem Visier den Bullen entgegenzutreten, und dann habt ihr irgendwelchen Passanten, die gerade vorbeikamen, in den Rücken geschossen. Vor zehn Jahren ist es uns passiert, dass wir logen, um euch aus dem Gefängnis zu holen, und ihr habt gelogen, um eure Freunde ins Gefängnis zu bringen. Deswegen gefällt mir diese Maschine hier: sie ist dumm, sie glaubt nichts, sie macht mich nichts glauben, sie tut, was ich ihr sage, ich Dummer ihr in ihrer Dummheit — oder ihm. Das ist ein ehrliches Verhältnis.«
»Ich ...«
»Sie sind unschuldig, Casaubon. Sie sind abgehauen, statt Steine zu schmeißen, Sie haben promoviert, nicht geschossen. Und doch, vor ein paar Jahren fühlte ich mich auch von Ihnen erpresst. Verstehen Sie mich recht, das ist nicht persönlich gemeint. Das sind Generationszyklen. Und als ich dann das Pendel sah, letztes Jahr, habe ich alles begriffen.«
»Was alles?«
»Fast alles. Sehen Sie, Casaubon, auch das Pendel ist ein falscher Prophet. Sie schauen es an, Sie glauben, es sei der einzige feste Punkt im Kosmos, aber wenn Sie es aus dem Kirchengewölbe abnehmen und es in einem Bordell aufhängen, funktioniert es trotzdem. Es gibt noch andere Foucaultsche Pendel, eins in New York im Palais der Vereinten Nationen, eins in San Francisco im Technischen Museum, und wer weiß wo sonst noch. Das Foucaultsche Pendel hängt fest, während die Erde sich unter ihm dreht, wo immer es sich befindet. Jeder Punkt im Universum ist ein fester Punkt, man braucht nur das Pendel dranzuhängen.«
»Dann ist Gott überall?«
»In gewissem Sinn ja. Deshalb verwirrt mich das Pendel. Es verspricht mir das Unendliche, aber es lässt mir die Verantwortung, zu entscheiden, wo ich es haben will. Also genügt es nicht, das Pendel einfach da zu verehren, wo es ist, man muß auch hier wieder eine Entscheidung treffen und den besten Punkt suchen. Und doch ...«
»Und doch?«
»Und doch ... he, Casaubon, Sie nehmen mich doch nicht etwa ernst, oder? Nein, ich kann unbesorgt sein, wir sind Leute, die nichts ernst nehmen ... Und doch, sagte ich, das Gefühl ist: da hat man nun in seinem Leben das Pendel an so viele Stellen gehängt und nie hat es funktioniert, und dort im Pariser Conservatoire funktioniert es so gut ... Was, wenn es im Universum privilegierte Punkte gäbe? Hier vielleicht, an der Decke dieses Büros? Nein, das würde uns niemand glauben. Es braucht eine Atmosphäre. Ich weiß nicht, vielleicht sind wir ständig auf der Suche nach dem richtigen Punkt und vielleicht ist er uns ganz nahe, aber wir erkennen ihn nicht, und um ihn zu erkennen, müssten wir glauben ... Schluss jetzt, gehen wir zu Signor Garamond.«
»Um das Pendel aufzuhängen?«
»O sel'ge Narretei. Gehen wir ernsthafte Dinge tun. Um Sie bezahlen zu können, muß ich Sie dem Boss vorführen, damit er Sie sieht, Sie berühren und Sie beschnuppern kann und sagt, es wäre ihm recht. Kommen Sie, lassen Sie sich vom Boss berühren, seine Berührung heilt von der Krätze.«
38
Geheimer Meister, Vollkommener Meister, Geheimer Sekretär, Vorsteher und Richter, Intendant der Gebäude, Auserwählter Meister der Neun, Erlauchter Auserwählter der Fünfzehn, Groß-Architekt, Royal Arch oder Ritter des Königlichen Gewölbes von Salomo, Ritter des Ostens oder des Schwertes, Prinz von Jerusalem, Ritter vom Osten und Westen, Ritter vom Rosenkreuz oder Ritter des Adlers und des Pelikans, Hoher Priester oder Erhabener Schotte des Himmlischen Jerusalems, Ehrwürdiger Großmeister Aller Logen ad vitam, Preußischer Ritter oder Noachitischer Patriarch, Ritter der Königlichen Axt oder Prinz von Libanon, Prinz des Tabernakels, Ritter der Ehernen Schlange, Prinz der Barmherzigkeit oder der Gnade, Großer Komtur des Tempels, Ritter der Sonne oder Prinz-Adept, Groß-Schotte des Sankt Andreas von Schottland oder Großmeister des Lichtes, Großer Auserwählter Ritter Kadosch und Ritter vom Weißen und Schwarzen Adler.
Hochgrade der Freimaurerei nach Altem und Angenommenem Schottischen Ritus
Wir gingen durch den Flur, stiegen drei Stufen hinauf und passierten eine Mattglastür. Mit einem Schlag betraten wir eine andere Welt. Waren die Räume, die ich bisher gesehen hatte, dunkel, staubig und verkommen, so wirkten diese wie die VIP-Lounge eines Flughafens. Gedämpfte Musik, hellblaue Tapeten, ein komfortabler Wartesaal mit Designermöbeln, an den Wänden Fotografien, auf denen man Herren mit Abgeordnetengesichtern geflügelte Siegestrophäen an Herren mit Senatorengesichtern überreichen sah. Auf einem niedrigen Tischchen lagen, lässig hingestreut wie im Wartezimmer eines Zahnarztes, einige Hochglanzzeitschriften mit Titeln wie Der Literarische Spürsinn, Der Poetische Athanor, Die Rose und die Dornen, Parnassus Önotrius, Der Freie Vers. Ich hatte noch niemals eine davon gesehen, und später erfuhr ich auch den Grund: Sie wurden nur unter den Kunden des Hauses Manuzio vertrieben.
Wenn ich zunächst geglaubt hatte, in die Chefetage des Verlags Garamond gekommen zu sein, wurde ich rasch eines Besseren belehrt. Wir waren in den Räumen eines anderen Verlages. Im Vorraum von Garamond gab es eine dunkle, angelaufene Vitrine mit den Neuerscheinungen, aber die Bücher von Garamond waren bescheiden aufgemacht, mit nüchternen grauen Einbänden und noch unaufgeschnittenen Bögen — sie sollten an jene französischen Universitätspublikationen erinnern, bei denen das Papier nach wenigen Jahren vergilbt, damit der Eindruck entsteht, als habe der Autor, besonders wenn er noch jung ist, schon seit Langem publiziert. Hier dagegen stand eine andere Vitrine, die von innen erleuchtet war und die Bücher des Verlages Manuzio präsentierte, einige aufgeschlagen auf generös umbrochenen Seiten: strahlend weiße Umschläge, bezogen mit glänzendem Zellophan, sehr elegant, und feines Reispapier mit schönen klaren Drucktypen.
Die Reihen von Garamond hatten seriöse akademische Titel wie »Humanistische Studien« oder »Philosophische Texte«. Die Reihen von Manuzio trugen erlesene poetische Namen: »Die Ungepflückte Blume« (Lyrik), »Terra Incognita« (erzählende Prosa), »Die Stunde des Oleanders« (mit Titeln wie Tagebuch eines kranken Mädchens), »Reihe Osterinsel« (offenbar diverse Essayistik), »Das Neue Atlantis« (letzte Neuerscheinung: Erlöstes Königsberg — Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik, die sich als doppeltes transzendentales System und Wissenschaft vom phänomenalen Noumenon präsentiert). Auf jedem Umschlag prangte das Verlagssignet, ein Pelikan unter einer Palme, mit dem Motto: »Ich hab, was ich gab.«
Belbo war knapp und vage: Signor Garamond besitze eben zwei Verlage, das sei alles. In den folgenden Tagen stellte ich fest, dass der Durchgang von Garamond zu Manuzio eine sehr private, vertrauliche Sache war. Tatsächlich befand sich der offizielle Eingang zu Manuzio in der Via Marchese Gualdi, und in der Via Marchese Gualdi machte die schmuddlige Welt der Via Sincero Renata Platz für saubere Fassaden, breite Fußwege, Eingangshallen mit Fahrstühlen aus Aluminium, Niemand hätte vermutet, dass ein altes Haus in der Via Sincero Renata über bloß drei Stufen mit einem Gebäude in der Via Gualdi verbunden war. Um die Genehmigung dafür zu bekommen, musste Signor Garamond wahre Seiltänze aufgeführt haben, vermutlich hatte er sich an einen seiner Autoren gewandt, der im städtischen Bauamt tätig war.
Wir wurden sogleich von der Signora Grazia empfangen, einer mütterlichen Dame mit signiertem Halstuch und Kostüm in derselben Farbe wie die Tapeten, die uns mit gepflegtem Lächeln in den Saal des Globus führte.
Der Saal war nicht unermesslich, doch er erinnerte an den Amtssitz Mussolinis im Palazzo Venezia: ein mannshoher Globus am Eingang und der Mahagonischreibtisch des Signor Garamond so fern am anderen Ende, dass er wie durch ein umgedrehtes Fernglas gesehen erschien. Garamond winkte uns, näher zu treten, und ich fühlte mich eingeschüchtert. Später, beim Eintritt von De Gubernatis, sollte Garamond sich erheben und ihm entgegengehen, und diese Geste der Herzlichkeit sollte ihm noch mehr Charisma verleihen, denn der Besucher würde erst ihn durch den Saal auf sich zukommen sehen und dann selbst den Saal am Arm des Hausherrn durchschreiten, sodass der Raum sich wie durch Zauberei verdoppelte.
Garamond ließ uns vor seinem Schreibtisch Platz nehmen und war zugleich brüsk und herzlich. »Doktor Belbo hat mir viel Gutes von Ihnen erzählt, Doktor Casaubon. Wir brauchen tüchtige Mitarbeiter. Wie Sie gewiss begriffen haben, handelt es sich nicht um eine Festanstellung, die können wir uns nicht leisten. Sie erhalten eine angemessene Entschädigung für Ihren Eifer, für Ihre Hingabe, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, denn unsere Arbeit ist eine Mission.«
Er nannte mir eine Pauschalsumme für die veranschlagten Arbeitsstunden, die mir damals vernünftig erschien.
»Na bestens, lieber Casaubon.« Er hatte den Titel weggelassen, da ich nun in seinen Diensten stand. »Diese Geschichte der Metalle muß ganz prachtvoll werden, ich sage noch mehr, wunderschön. Populär, verständlich, aber wissenschaftlich exakt. Sie muß die Fantasie des Lesers packen, aber auf wissenschaftliche Weise. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Hier in den ersten Fahnen lese ich, dass es da diese Kugel von Magdeburg gab oder wie sie heißt, zwei zusammengefügte Halbkugeln, aus deren Innern die Luft abgepumpt wird, sodass ein Vakuum entsteht. Dann werden zwei starke Pferdegespanne davorgespannt, eins auf der einen und eins auf der anderen Seite, die mit aller Kraft eins nach der einen und eins nach der anderen Seite ziehen, und die beiden Halbkugeln bleiben zusammen. Gut, das ist eine wissenschaftliche Information. Aber die müssen Sie mir aus all den anderen, weniger pittoresken heraussuchen. Und wenn Sie sie herausgesucht haben, müssen Sie mir das passende Bild dazu finden, das Fresko, das Ölgemälde, gleichviel. Aus der Epoche. Und dann knallen wir's groß auf die ganze Seite, in Farbe.«
»Es gibt einen Stich«, sagte ich, »den kenne ich.«
»Sehen Sie? Bravo. Auf die ganze Seite, in Farbe.«
»Wenn's ein Stich ist, wird es schwarz-weiß sein.«
»So? Na gut, also dann schwarz-weiß. Exaktheit ist Exaktheit. Aber auf Goldgrund, es muß den Leser frappieren, es muß ihm das Gefühl geben, selber dabei gewesen zu sein, an jenem Tage in Magdeburg, als sie das Experiment gemacht haben. Klar? Wissenschaftlichkeit, Realismus, Leidenschaft! Man kann die Wissenschaft sehr wohl benutzen und den Leser trotzdem im Innersten packen. Gibt es etwas Theatralischeres, Dramatischeres als Madame Curie, die abends nach Hause kommt und im Dunkeln ein phosphoreszierendes Licht glimmen sieht, mein Gott, was mag das wohl sein ... Es ist der Kohlenwasserstoff, die Golkonda, das Phlogiston oder wie zum Teufel das heißt, und voilà, Marie Curie hat die Radioaktivität erfunden. Dramatisieren! Bei allem Respekt vor der Wahrheit.«
»Kommt denn die Radioaktivität bei den Metallen mit rein?«, fragte ich.
»Ist das Radium kein Metall?«
»Ich glaube schon.«
»Na bitte. Unter dem Gesichtspunkt der Metalle kann man das ganze Universum des Wissens betrachten. Wie haben wir das Buch zu nennen beschlossen, Belbo?«
»Wir dachten an einen seriösen Titel, wie Die Metalle und die materielle Kultur.«
»Und seriös muß er auch sein. Aber mit jenem zusätzlichen Appeal, jenem Nichts, das alles sagt, warten Sie ... Ja, so: Universalgeschichte der Metalle. Sind da auch die Chinesen mit drin?«
»Ja, auch.«
»Also universal. Das ist kein Werbetrick, das ist die reine Wahrheit. Oder warten Sie, besser noch: Das wunderbare Abenteuer der Metalle.«
In diesem Augenblick kam die Signora Grazia herein und meldete, der Commendator De Gubernatis sei da. Garamond zögerte einen Moment und sah mich zweifelnd an, doch Belbo nickte ihm zu, wie um zu sagen, er könne sich nunmehr auf mich verlassen. Garamond ließ den Besucher eintreten und ging ihm entgegen. De Gubernatis kam im dunklen Zweireiher, hatte ein Abzeichen im Knopfloch, einen Füllfederhalter in der Brusttasche, eine gefaltete Zeitung in der Jackentasche und eine Mappe unter dem Arm.
»Mein lieber Commendatore, machen Sie sich's bequem, unser lieber Freund De Ambrosiis hat mir von Ihnen erzählt, ein Leben im Dienste des Staates. Und eine geheime poetische Ader, nicht wahr? Zeigen Sie, zeigen Sie mir den Schatz, den Sie da in Händen halten ... Hier stelle ich Ihnen zwei meiner Generaldirektoren vor.«
Er ließ ihn vor dem mit Manuskripten übersäten Schreibtisch Platz nehmen und streichelte mit vor Begierde zitternden Fingern den Umschlag des Werkes, das ihm vorgelegt wurde: »Nein, sagen Sie nichts, ich weiß bereits alles. Sie kommen aus Vipiteno, der großen und noblen Grenzstadt. Ein Leben im Dienste der Zollverwaltung. Und im geheimen, Tag für Tag, Nacht für Nacht diese Seiten, erregt vom Dämon der Poesie. Ah, die Poesie ... Sie verbrannte die Jugend Sapphos, sie nährte das Alter Goethes ... Pharmakon, sagten die alten Griechen: Gift und Medizin. Natürlich werden wir es zuerst lesen müssen, dieses Ihr Werk, ich pflege mindestens drei Gutachten einzuholen, eins aus dem Hause und zwei von unseren Außenberatern (die leider anonym bleiben müssen, Sie werden verstehen, es handelt sich um sehr exponierte Personen), der Verlag Manuzio bringt kein Buch heraus, wenn er sich dessen Qualität nicht sicher ist, und Qualität, das wissen Sie besser als ich, ist etwas Ungreifbares, man muß sie mit einem sechsten Sinn erspüren, manchmal hat ein Buch gewisse Imperfektionen, Mängel — auch Svevo schrieb schlecht, wem sage ich das —, doch bei Gott, man spürt eine Idee, einen Rhythmus, eine Kraft! Ich weiß es, sagen Sie nichts, kaum habe ich einen Blick auf das Incipit dieses Ihres Werkes geworfen, habe ich etwas gespürt, aber ich will nicht alleine urteilen, auch wenn so oft — ach, wie so oft! — die Gutachten lau waren, aber ich habe mich versteift, denn man kann einen Autor nicht verurteilen, ohne sich auf ihn eingelassen zu haben, ja gleichsam in inneren Einklang mit ihm getreten zu sein, hier zum Beispiel, ich schlage aufs Geratewohl diesen Ihren Text auf, und mein Blick fällt auf einen Vers: ›wie im Herbst, die abgemagerten Wimpern‹ — gut, ich weiß noch nicht, wie es weitergeht, aber ich spüre da einen Anhauch, erfasse ein Bild, manchmal ist das der erste Einstieg in einen Text, eine Ekstase, eine Verzückung... Dies vorausgeschickt, lieber Freund — ah, bei Gott, wenn man könnte, wie man wollte! Aber auch das Verlagswesen ist eine Industrie, die edelste unter den Industrien, aber doch eine Industrie, Wissen Sie, was heutzutage der Druck kostet, und das Papier? Sehen Sie, sehen Sie hier in der Zeitung von heute, wie hoch die prime rate in Wall Street gestiegen ist! Das betreffe uns nicht, meinen Sie? Und wie uns das betrifft! Wissen Sie, dass man uns sogar das Lager besteuert? Ich verkaufe nichts, und die besteuern sogar noch die Remittenden. Ich bezahle auch den Misserfolg, den Leidensweg des Genies, das die Philister nicht erkennen. Dieses Seidenpapier — es ist wirklich sehr fein, und gestatten Sie: gerade daran, dass Sie Ihren Text auf so dünnes Papier getippt haben, erkennt man den Dichter, ein beliebiger Schwätzer hätte ein extradickes Papier genommen, um das Auge zu blenden und den Geist zu benebeln, aber dies hier ist mit dem Herzen geschriebene Poesie, nicht wahr, die Worte sind Steine und erschüttern die Welt —, dieses Seidenpapier kostet mich soviel wie Banknotenpapier.«
Das Telefon klingelte. Wie ich später erfuhr, hatte Garamond auf einen Knopf unter dem Schreibtisch gedrückt, und die Signora Grazia hatte ihm einen fingierten Anruf durchgestellt.
»Verehrtester Meister! Was sagen Sie? Wie schön! Große Neuigkeiten, man läute die Glocken! Ein neues Buch von Ihnen ist stets ein Ereignis. Aber gewiss, Manuzio ist stolz, ist bewegt, ich sage noch mehr, ist froh, Sie unter seinen Autoren zu wissen. Haben Sie gelesen, was die Zeitungen über Ihre letzte epische Dichtung geschrieben haben? Nobel-preiswürdig! Leider sind Sie der Zeit voraus. Wir haben mit Mühe dreitausend Exemplare verkauft... «
Der Commendator De Gubernatis erbleichte: dreitausend Exemplare waren für ihn ein unverhofft hohes Ziel.
»Der Verkauf hat die Produktionskosten nicht gedeckt. Schauen Sie nur einmal hinter die Glastür, wie viele Angestellte ich beschäftige. Heutzutage muß ich von einem Buch, um auf meine Kosten zu kommen, mindestens zehntausend Exemplare absetzen, und zum Glück kann ich von vielen auch mehr verkaufen, aber das sind Schriftsteller mit einer, wie soll ich sagen, anderen Berufung. Balzac war groß und verkaufte seine Bücher wie warme Semmeln, Proust war ebenso groß und publizierte auf eigene Kosten. Sie, lieber Freund, werden in den Schulbüchern landen, aber nicht in den Bahnhofskiosken, genauso ist es auch Joyce ergangen, der seine Sachen gleichfalls auf eigene Kosten herausbrachte, wie Proust. Von Büchern wie den Ihren kann ich mir nur alle zwei, drei Jahre eins leisten. Geben Sie mir drei Jahre Zeit... « Es folgte eine lange Pause. In Signor Garamonds Antlitz zeichnete sich eine schmerzerfüllte Verlegenheit ab.
»Wie bitte? Auf Ihre eigenen Kosten? Nein, nein, es ist nicht die Höhe der Summe, die Summe lässt sich begrenzen... Aber der Verlag Manuzio pflegt nicht... Gewiss, wem sagen Sie das, auch Joyce und Proust... Gewiss, ich verstehe... «
Erneute leidvolle Pause. »Nun gut, wir werden darüber reden. Ich bin ehrlich zu Ihnen gewesen, Sie sind voller Ungeduld, also machen wir, was man einen Joint venture nennt, die Amerikaner machen's uns vor. Kommen Sie morgen vorbei, und wir rechnen alles noch einmal durch... Meine tiefe Verehrung und hohe Bewunderung.«
Garamond legte auf, hob den Kopf, als erwachte er aus einem Traum, und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann entsann er sich plötzlich der Anwesenheit seines Besuchers. »Entschuldigen Sie. Das war ein Schriftsteller, ein echter Schriftsteller, vielleicht ein Großer. Und doch, gerade deshalb... Manchmal ist es demütigend, diesen Beruf auszuüben. Wenn man nicht die Berufung hätte. Aber kommen wir zurück zu Ihnen. Wir haben uns alles gesagt, ich werde Ihnen schreiben, sagen wir, etwa in einem Monat. Ihr Text bleibt hier, in guten Händen.«
Der Commendator De Gubernatis war sprachlos gegangen. Er hatte den Fuß in die Schmiede des Ruhmes gesetzt.
39
Ritter der Weltkugeln, Prinz des Tierkreises, Erhabener Hermetischer Philosoph, Oberkommandeur der Gestirne, Erhabener Priester der Isis, Prinz des Heiligen Hügels, Philosoph von Samothrakien, Titan des Kaukasus, Knabe der Goldenen Lyra, Ritter des Wahren Phönix, Ritter der Sphinx, Erhabener Weiser des Labyrinthes, Erster Brahmane, Mystischer Wächter des Heiligtums, Architekt des Mysteriösen Turmes, Erhabener Prinz des Heiligen Vorhangs, Deuter der Hieroglyphen, Orphischer Doktor, Wächter der Drei Feuer, Hüter des Unnennbaren Namens, Erhabener Ödipus der Großen Geheimnisse, Geliebter Hirte der Oase der Mysterien, Doktor des Heiligen Feuers, Ritter des Leuchtenden Dreiecks.
Hochgrade nach Altem und Primitivem Ritus von Memphis-Misraim
Manuzio war ein Verlag für AEKs.
Ein AEK im Jargon von Manuzio war — doch warum gebrauche ich hier das Imperfekt? Die AEKs sind immer noch da, dort unten geht alles weiter, als wenn nichts geschehen wäre, ich bin es, der inzwischen alles in eine unendlich ferne Vergangenheit projiziert, weil das, was vorgestern Abend geschehen ist, gleichsam einen Riss in der Zeit markiert hat, weil in der Kirche von Saint-Martin-des-Champs die Ordnung der Jahrhunderte umgestürzt worden ist ... Oder vielleicht, weil ich seit vorgestern Abend mit einem Schlag um Jahrzehnte gealtert bin, oder weil die Furcht, von denen gefasst zu werden, mich reden lässt, als berichtete ich von einem zerfallenden Reich, im Bade liegend, die Pulsadern aufgeschnitten, wartend, dass ich im eigenen Blut ertrinke ...
Ein AEK ist ein Autor auf Eigene Kosten, und Manuzio ist eines jener Unternehmen, die man in den angelsächsischen Ländern »Vanity Press« nennt. Enorme Gewinne und so gut wie keine Betriebskosten. Belegschaft: Signor Garamond, Signora Grazia, der Buchhalter hinten in seinem Kabäuschen, genannt kaufmännischer Direktor, und Luciano, der kriegsversehrte Packer unten im Lager.
»Ich habe nie kapiert, wie Luciano es schafft, die Bücher mit seinem einen Arm zu verpacken«, hatte Belbo zu mir gesagt, »ich glaube, er behilft sich mit den Zähnen. Andererseits verpackt er nicht gerade viel: die Packer in normalen Verlagen schicken die Bücher an die Buchhandlungen, Luciano schickt sie nur an die Autoren. Manuzio interessiert sich nicht für die Leser... Das Entscheidende ist, sagt Signor Garamond, dass man die Autoren nicht verrät — ohne Leser kann man durchaus überleben.«
Belbo bewunderte den Signor Garamond. Er sah in ihm den Träger einer Kraft, die ihm verwehrt war.
Das System von Manuzio war sehr einfach. Einige wenige Anzeigen in Lokalzeitungen, Fachzeitschriften, literarischen Provinzblättern, besonders in denen, die nur wenige Nummern überdauern. Anzeigen von mittlerer Größe, mit Foto des Autors und wenigen einprägsamen Zeilen: »Eine der exzellentesten Stimmen unserer Dichtung« oder: »Der neue Beweis für das erzählerische Talent des Autors von Floriana und ihre Schwestern«.
»An diesem Punkt ist das Netz gespannt«, erklärte Belbo, »und die AEKs fallen traubenweise darauf herein, wenn man traubenweise auf ein Netz hereinfallen kann, aber die verunglückte Metapher ist typisch für die Autoren von Manuzio, und ich habe die schlechte Angewohnheit übernommen, entschuldigen Sie.«
»Und dann?«
»Nehmen Sie den Fall De Gubernatis. In einem Monat, wenn unser Pensionär sich vor lauter Ungeduld schon verzehrt, wird Signor Garamond ihn anrufen und zu einem Abendessen mit einigen Schriftstellern einladen. Rendezvous in einem arabischen Restaurant, sehr exklusiv, ohne Firmenschild draußen: man läutet und sagt seinen Namen vor einem Guckloch, innen luxuriöses Ambiente, diffuses Licht, exotische Musik. Garamond drückt dem Chefkoch die Hand, duzt die Kellner und schickt den Wein zurück, weil ihn der Jahrgang nicht überzeugt, oder er sagt, entschuldige, mein Lieber, aber das ist nicht der Couscous, den man in Marrakesch isst. De Gubernatis wird dem Kommissar Hinz vorgestellt, alle Flughafendienste unterstehen ihm, aber vor allem ist er der Erfinder und Apostel des Cosmoranto, der Sprache für den Weltfrieden, die gerade in der Unesco diskutiert wird. Dann dem Professor Kunz, starke Erzählernatur, Gewinner des Premio Petruzzellis della Gattina 1980, aber auch eine Leuchte der medizinischen Wissenschaft. Wie viele Jahre haben Sie gelehrt, Herr Professor? Andere Zeiten, ja damals, da waren die Studien noch eine ernsthafte Sache. Und last but not least hier unsere exquisite Dichterin, die charmante Olinda Mezzofanti Sassabetti, Autorin von Keusche Herzensregungen, haben Sie sicher gelesen.«
Belbo gestand mir, dass er sich lange gefragt hatte, warum die weiblichen AEKs immer mit zwei Nachnamen firmierten, Lauretta Solimeni Calcanti, Dora Ardenzi Fiamma, Carolina Pastorelli Cefalù. Warum haben bedeutende Schriftstellerinnen nur einen Nachnamen, außer Ivy Compton-Bunett, und einige nicht mal einen Nachnamen, wie Colette, während eine AEK sich Olinda Mezzofanti Sassabetti nennt? Weil ein wahrer Schriftsteller aus Liebe zu seinem Werk schreibt und es ihm nichts ausmacht, unter einem Pseudonym bekannt zu sein, siehe Nerval, während ein AEK von seinen Nachbarn wiedererkannt werden möchte, von den Leuten in seinem Viertel und in dem, wo er früher gewohnt hat. Dem Mann genügt sein Name, der Frau nicht, weil es Leute gibt, die sie als Mädchen gekannt haben, und solche, die sie als Verheiratete kennen. Deswegen benutzt sie zwei Namen.
»Kurz, ein Abend prall voll intellektueller Erfahrungen. De Gubernatis kommt sich vor, als schluckte er einen LSD-Cocktail. Er lauscht dem Geschwätz der Tischgenossen, der geschmackvollen Anekdote über den großen Poeten mit seiner notorischen Impotenz, der auch als Poet nicht viel tauge, er wirft vor Erregung glänzende Blicke auf die neue Ausgabe der Enzyklopädie der berühmten Italiener, die Garamond überraschend hervorzieht, um die betreffende Seite dem Kommissar zu zeigen (haben Sie gesehen, mein Lieber, auch Sie sind jetzt im Pantheon, oh, es gibt noch Gerechtigkeit!).«
Belbo zeigte mir die Enzyklopädie. »Vor einer Stunde habe ich Ihnen eine Gardinenpredigt gehalten, aber niemand ist unschuldig. Die Enzyklopädie machen Diotallevi und ich ganz allein. Aber ich schwöre Ihnen, nicht um unser Gehalt aufzubessern. Es ist eine der amüsantesten Sachen der Welt, und jedes Jahr muß die aktualisierte Neuausgabe gemacht werden. Die Struktur ist mehr oder weniger diese: Ein Artikel verweist auf einen berühmten Autor, einer auf einen AEK, und das Problem ist nur, die alphabetische Ordnung gut auszutarieren und nicht zu viel Platz für die berühmten Autoren zu verschwenden. Sehen Sie hier zum Beispiel den Buchstaben L.«
LAMPEDUSA, Giuseppe Tomasi di (1896-1957). Sizilianischer Schriftsteller. Lebte lange Zeit unbekannt und wurde erst nach seinem Tod berühmt durch den Roman Der Leopard.
LAMPUSTRI, Adeodato (*1919). Schriftsteller, Pädagoge, Frontkämpfer (Bronzemedaille in Ostafrika), Denker, Erzähler und Dichter. Seine Gestalt ragt hoch empor in der italienischen Literatur unseres Jahrhunderts. L. offenbarte sich bereits 1959 mit dem ersten Band einer groß angelegten Trilogie, Die Brüder Caramasssi, einer mit krudem Realismus und hochpoetischer Inspiration erzählten Geschichte einer lukanischen Fischerfamilie. Diesem Erstlingswerk, das im Jahre 1960 mit dem Premio Petruzzellis della Gattina ausgezeichnet wurde, folgten in den beiden nächsten Jahren Die Entlassenen und Der Panther mit den wimperlosen Augen. Zwei Werke, die vielleicht noch mehr als das erste das Ausmaß an epischer Kraft, an plastisch funkelnder Fantasie und lyrischem Atem dieses unvergleichlichen Künstlers bezeugen. Ein emsiger Ministerialbeamter, wird L. in seinen Kreisen geschätzt als höchst integre Persönlichkeit, als beispielhafter Vater und Gatte sowie als erlesener Redner.
»De Gubernatis«, erklärte Belbo, »wird sich dringend wünschen, in dieser Enzyklopädie präsent zu sein. Er hatte schon immer gesagt, dass der Ruhm der Hochberühmten nur Machenschaft sei, Ergebnis einer Verschwörung willfähriger Kritiker. Aber vor allem wird ihm aufgehen, dass er in eine Familie von Schriftstellern eingetreten ist, die zugleich Direktoren öffentlicher Ämter sind, Bankbeamte, Aristokraten, Richter. Mit einem Schlag wird er seinen Bekanntenkreis beträchtlich vergrößert haben, und wenn er künftig jemanden um einen Gefallen bitten muß, wird er wissen, an wen er sich wenden kann. Signor Garamond hat die Macht, den Commendator De Gubernatis aus der Provinz zu holen und in die höchsten Kreise zu versetzen. Gegen Ende des Abends wird Garamond ihm ins Ohr flüstern, er solle doch am nächsten Morgen einmal bei ihm vorbeikommen.«
»Und kommt er am nächsten Morgen?«
»Darauf können Sie schwören. Er wird die Nacht schlaflos verbringen, von der Größe des Adeodato Lampustri träumend.«
»Und dann?«
»Dann wird ihm Garamond am nächsten Morgen sagen: Hören Sie, gestern Abend habe ich nicht gewagt, mit Ihnen darüber zu sprechen, um die anderen nicht zu demütigen. Ah, welch ein erhabenes Werk, ich spreche gar nicht von den enthusiastischen, ich sage noch mehr, positiven Gutachten, nein, ich selber habe in eigener Person eine Nacht über diesen Seiten verbracht. Ein literaturpreiswürdiges Buch. Groß, groß... Er wird an den Schreibtisch zurückgehen, wird die Hand auf das Manuskript legen — das inzwischen zerknittert ist, zerlesen durch die liebenden Blicke von mindestens vier Lektoren (die Manuskripte zu zerknittern ist Aufgabe der Signora Grazia) — und wird den AEK mit perplexer Miene anstarren. Was geschieht nun damit, was geschieht nun damit? wird De Gubernatis fragen, und Garamond wird sagen, dass über die Qualität des Werkes keine Sekunde lang zu diskutieren sei, aber dass es zweifellos seiner Zeit weit vorauseile und dass man, was die Auflage angehe, zweitausend nicht überschreiten werde, maximal zweitausendfünfhundert. Für De Gubernatis würden zweitausend Exemplare vollauf reichen, um alle Personen, die er kennt, zu beglücken, der AEK denkt nicht in planetarischen Dimensionen, beziehungsweise sein Planet besteht aus bekannten Gesichtern, solchen von Schulkameraden, Bankdirektoren, Kollegen im Lehrkörper seiner Schule, pensionierten Offizieren. Lauter Personen, die der AEK gerne in seine poetische Welt einführen würde, auch jene, die keinen Wert darauf legen, wie der Metzgermeister an der Ecke oder der Präfekt... Angesichts der Gefahr, dass Garamond sich zurückziehen könnte, nachdem alle zu Hause, im Städtchen, im Büro wissen, dass er sein Manuskript einem großen Mailänder Verlag angeboten hat, überschlägt De Gubernatis seine Finanzen. Er könnte einen Kredit aufnehmen, sich die Lebensversicherung auszahlen lassen, den Bausparvertrag verkaufen, Paris ist eine Messe wert. Er bietet schüchtern an, sich an den Druckkosten zu beteiligen. Garamond zeigt sich verstört: Aber nicht doch, wo denken Sie hin, Manuzio pflegt nicht... und dann lässt er sich breitschlagen: Top, abgemacht, Sie haben mich überzeugt, schließlich haben auch Joyce und Proust sich der harten Notwendigkeit beugen müssen, die Kosten sind soundso hoch, wir drucken erst einmal zweitausend Exemplare, aber den Vertrag machen wir über ein Maximum von zehntausend. Rechnen Sie zweihundert Freiexemplare für sich, die Sie zusenden können, wem immer Sie wollen, zweihundert gehen an die Presse, denn wir wollen eine Werbekampagne machen, als handle es sich um die Angélique der Golon, also bleiben eintausendsechshundert zu vertreiben. Auf diese, das werden Sie verstehen, haben Sie keine Rechte, aber wenn das Buch dann geht, drucken wir nach, und von da an kriegen Sie zwölf Prozent.«
Später sah ich einen Vertrag von der Art, wie ihn De Gubernatis, nun voll auf dem Poetentrip, unterschreiben würde, ohne ihn auch nur gelesen zu haben, während der Buchhalter jammerte, Garamond habe wieder einmal die Kosten zu niedrig veranschlagt. Zehn Seiten Klauseln in winziger Schrift, betreffend ausländische Übersetzungen, Nebenrechte wie Bühnenbearbeitungen, Hörspielfassungen, Verfilmungen, Ausgaben in Blindenschrift und Kurzfassungen für Reader's Digest, Gewährleistungsausschluss im Falle von Prozessen wegen Diffamierung, Recht des Autors, die redaktionellen Änderungen zu billigen, Zuständigkeit des Mailänder Gerichts im Falle von Streitigkeiten... Der AEK sollte völlig erschöpft, das Auge umflort von Ruhmesträumen, zu den haarigen Klauseln gelangen, in denen stand, dass die Höchstauflage zehntausend betrage, ohne dass eine Mindestauflage erwähnt wurde, dass die zu zahlende Summe nicht an die Auflagenhöhe gebunden sei, von der nur mündlich die Rede war, und vor allem, dass der Verleger das Recht habe, nach Ablauf eines Jahres die unverkauften Exemplare einzustampfen, es sei denn, der Autor wolle sie zum halben Ladenpreis erwerben. Unterschrift.
Die Werbekampagne sollte gigantisch sein. Zehnseitige Presseerklärung mit Biografie und kritischer Würdigung. Keine Schamgrenze, in den Zeitungsredaktionen würde man das Zeug sowieso in den Papierkorb werfen. Effektiv gedruckt: tausend Exemplare in Rohbögen, davon nur dreihundertfünfzig aufgebunden. Zweihundert an den Autor, fünfzig an zweitrangige und genossenschaftliche Buchläden, fünfzig an Provinzzeitschriften, dreißig zur Sicherheit an die Zeitungen, für den Fall, dass sie sich zu einer Zeile in der Rubrik »Eingesandte Bücher« aufrafften. Die Exemplare würden sie Krankenhäusern oder Gefängnissen schenken — womit begreiflich wird, warum erstere nicht heilen und letztere nicht resozialisieren.
Im Sommer würde dann der Premio Petruzzellis della Gattina kommen, eine Kreation von Garamond. Gesamtkosten: Unterkunft und Verpflegung der Jury, zwei Tage, und eine Nike von Samothrake aus Vermeil. Glückwunschtelegramme von den Manuzio-Autoren.
Schließlich würde der Moment der Wahrheit kommen, anderthalb Jahre später. Garamond würde ihm schreiben: Lieber Freund, ich hatte es ja vorausgesehen, Sie sind fünfzig Jahre zu früh erschienen. Rezensionen in Hülle und Fülle, Preise und Zustimmung der Kritik, ça va sans dire. Aber verkaufte Exemplare nur wenige, das Publikum ist noch nicht soweit Wir sehen uns gezwungen, das Lager zu räumen, wie vorgesehen in unserem Vertrag (Kopie anbei). Entweder geht der Rest in den Reißwolf, oder Sie kaufen ihn zum halben Ladenpreis, wie es Ihr gutes Recht ist.
De Gubernatis ringt verzweifelt die Hände, seine Familie tröstet ihn: die Leute verstehen dich nicht, natürlich, wenn du einer von ihnen wärst, wenn du sie geschmiert hättest, ja, dann hätten sie dich jetzt auch im Corriere rezensiert, ist doch alles nur eine einzige Mafia, du musst standhaft bleiben. Von den Freiexemplaren sind bloß noch fünf übrig, es gibt noch viele wichtige Persönlichkeiten, die bedacht werden müssen, du kannst nicht zulassen, dass dein Werk in den Reißwolf wandert, um zu Klopapier verarbeitet zu werden, sehen wir mal, was wir zusammenkratzen können, es ist gut ausgegebenes Geld, man lebt nur einmal, wir könnten doch, sagen wir, fünfhundert Exemplare kaufen, und für den Rest, sic transit gloria mundi.
Bei Manuzio liegen noch 650 Exemplare in Rohbögen, Signor Garamond lässt 500 aufbinden und schickt sie dem Autor per Nachnahme. Bilanz: der Autor hat großzügig die Produktionskosten für 2000 Exemplare bezahlt, der Verlag hat 1000 gedruckt und davon 850 aufgebunden, von denen der Autor 500 noch ein zweites Mal bezahlt hat. Fünfzig Autoren pro Jahr, und die Firma schließt immer mit gutem Gewinn.
Und ohne Gewissensbisse: sie verbreitet Glück.
40
Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt.
Shakespeare, Julius Caesar, II, 2
Ich hatte stets einen Gegensatz empfunden zwischen der Hingabe, mit der sich Belbo um seine respektablen Autoren bei Garamond kümmerte, immer bestrebt, aus ihren Texten Bücher zu machen, auf die er stolz sein konnte, und dem Piratentum, mit dem er nicht nur half, die eitlen Tröpfe bei Manuzio zu umgarnen, sondern mit dem er auch diejenigen, die ihm bei Garamond nicht präsentabel erschienen, in die Via Gualdi schickte — wie er's mit dem Oberst Ardenti versucht hatte.
Ich hatte mich oft gefragt, während ich mit ihm arbeitete, warum er diese Situation akzeptierte. Sicher nicht wegen des Geldes. Er verstand sein Metier gut genug, um eine besser bezahlte Arbeit zu finden.
Lange dachte ich, dass er es deshalb täte, weil er auf diese Weise seine Studien über die menschliche Torheit betreiben konnte, und zwar in einem exemplarischen Observatorium. Was er Dummheit nannte, der unangreifbare Paralogismus, der hinterlistige Wahn, verkleidet als makellose Argumentation, das faszinierte ihn und er wiederholte immerzu, dass es ihn faszinierte. Aber auch das war nur eine Maske. Wer aus Spiellust mitgemacht hatte, war Diotallevi gewesen, vielleicht in der Hoffnung, dass sich ihm eines Tages in einem Buch von Manuzio eine unerhört neue Kombination der Torah offenbaren würde. Und aus Jux, zum puren Vergnügen, aus Spottlust und Neugier hatte ich bei dem Spiel mitgemacht, besonders nachdem Garamond das Hermes-Projekt lanciert hatte.
Für Belbo lag die Sache anders. Das ist mir jedoch erst jetzt klar geworden, nachdem ich in seinen files gekramt habe.
Filename: Rache furchtbare Rache
Sie kommt einfach so. Auch wenn Leute im Büro sind: packt mich am Rockkragen, streckt das Gesicht vor und küsst mich. Anna che quando bacia sta in punta di piedi. (Anna, die sich zum Küssen auf die Zehenspitzen stellt [ein italienischer Schlager aus den sechziger Jahren]) Sie küsst mich, als ob sie flippert.
Dabei weiß sie, dass sie mich verlegen macht. Aber sie will mich vorführen.
Sie lügt nie.
— Ich liebe dich.
— Sehen wir uns Sonntag?
— Nein, ich bin am Wochenende mit einem Freund...
— Du meinst einer Freundin.
— Nein, einem Freund, du kennst ihn, es ist der, der neulich mit mir in der Bar war. Ich hab's ihm versprochen, du willst doch nicht, dass ich 'n Rückzieher mache.
— Mach keinen, aber komm nicht, um mir... Nein, bitte, draußen wartet ein Autor.
— Ein Genie zum Lancieren?
— Ein Wurm zum Zertreten.
Ein Wurm zum Zertreten.
Ich war gekommen, dich bei Pilade abzuholen. Du warst nicht da. Habe lange auf dich gewartet, dann bin ich allein hingegangen, sonst wäre die Galerie schon geschlossen gewesen. Jemand dort sagte mir, ihr wärt schon ins Restaurant vorgegangen. Ich tat, als betrachtete ich die Bilder — die Kunst ist tot seit den Zeiten Hölderlins, sagen sie mir. Ich brauchte zwanzig Minuten, um das Restaurant zu finden, weil die Galeristen immer die auswählen, die erst nächsten Monat berühmt werden.
Du warst da, mitten unter den üblichen Gesichtern, und neben dir hattest du den Mann mit der Narbe. Du warst keinen Moment verlegen. Hast mich komplizenhaft angesehen und — wie machst du das gleichzeitig? — herausfordernd, als wolltest du sagen: na und? Der Eindringling mit der Narbe musterte mich wie einen Eindringling. Die anderen auf dem laufenden über alles, abwartend. Ich hätte einen Vorwand zum Streit suchen sollen. Wäre in jedem Fall hinterher gut dagestanden, auch wenn er mich geschlagen hätte. Alle wussten, dass du mit ihm dort warst, um mich zu provozieren. Ob ich nun provozierte oder nicht, meine Rolle war festgelegt. Ich gab in jedem Fall ein Schauspiel.
Ein Schauspiel ist so gut wie das andere, ich wählte die brillante Komödie, beteiligte mich liebenswürdig an der Konversation, in der Hoffnung, jemand würde meine Selbstkontrolle bewundern.
Der einzige, der mich bewunderte, war ich.
Man ist feige, wenn man sich feige fühlt.
Der maskierte Rächer. Wie Clark Kent pflege ich die jungen unverstandenen Genies, und wie Superman bestrafe ich die zu Recht unverstandenen alten. Ich kollaboriere beim Ausbeuten derer, die nicht meinen Mut hatten und sich nicht mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen wussten.
Ist das eine Möglichkeit? Das Leben damit zu verbringen, diejenigen zu bestrafen, die niemals wissen werden, dass sie bestraft worden sind? Wolltest du Homer werden? Nimm, Bettler, und glaub daran.
Ich hasse Leute, die versuchen, mir eine Illusion von Leidenschaft zu verkaufen.
41
Erinnern wir uns, daß Daath an dem Punkt liegt, wo der Abgrund den Mittelpfeiler durchschneidet, und daß oben auf dem Mittelpfeiler der Pfad des Pfeils ist... und daß hier auch Kundalini ist, so sehen wir, daß in Daath sowohl das Geheimnis der Zeugung wie das der Wiedererzeugung liegt, der Schlüssel zur Manifestation aller Dinge durch die Differenzierung der Gegensatzpaare und ihre Vereinigung in einem Dritten.
Dion Fortune, The mystical Qabalah, London, Fraternity of the Inner Light, 1957, 7.19
Zum Glück musste ich mich nicht um Manuzio kümmern, sondern um das wunderbare Abenteuer der Metalle. So begann ich meine Erkundung der Mailänder Bibliotheken. Ich fing mit den Handbüchern an, verzettelte die Bibliografien und gelangte von da zu den mehr oder minder alten Originalen, in denen ich gute Illustrationen finden konnte. Nichts ist schlimmer, als ein Kapitel über die Raumfahrt mit einem Foto der letzten amerikanischen Sonde zu illustrieren. Wie Signor Garamond mir gesagt hatte: Das mindeste war ein Engel von Doré.
Ich sammelte Berge von kuriosen Reproduktionen, aber das genügte nicht. Wer einen Bildband machen will, muß für ein gutes Bild mindestens zehn andere verwerfen.
Ich bekam die Erlaubnis, nach Paris zu fahren, für vier Tage. Wenig, um alle Archive zu durchsuchen. Ich fuhr mit Lia hin, wir kamen am Donnerstag an und hatten die Rückfahrt für Montagabend gebucht. Ich machte den Fehler, das Conservatoire für den Montag zu planen, und entdeckte dann, dass genau an diesem Tag das Museum geschlossen war. Zu spät, ich musste mit langer Nase abziehen.
Belbo war ärgerlich, aber ich hatte viel Interessantes gesammelt, und so gingen wir hin, um es Signor Garamond zu zeigen. Er blätterte die Reproduktionen durch, die ich mitgebracht hatte, von denen viele in Farbe waren. Dann sah er die Rechnung und stieß einen Zischlaut aus. »Teuer, teuer. Unsere Arbeit ist eine Mission, wir arbeiten für die Kultur, ça va sans dire, aber wir sind nicht das Rote Kreuz, ich sage noch mehr, wir sind nicht die Unicef. War es wirklich nötig, all dieses Material zu kaufen? Ich meine, hier sehe ich einen Herrn in Unterhosen, mit einem Schnurrbart wie d'Artagnan, umgeben von allerlei Abrakadabra und Steinböcken, was ist das, Mandrake?«
»Die Anfänge der Medizin. Der Einfluß des Tierkreises auf die verschiedenen Teile des Körpers, mit den entsprechenden Heilkräutern. Und den Mineralen, einschließlich der Metalle. Die Lehre von den kosmischen Signaturen. In jener Frühzeit waren die Grenzen zwischen Magie und Wissenschaft noch recht dünn.«
»Interessant. Aber dieses Frontispiz hier, was bringt uns das? Philosophia Moysaica. Was hat Moses damit zu tun, ist der nicht ein bisschen zu frühzeitlich?«
»Das betrifft den Disput über das unguentum armarium oder die Waffensalbe. Berühmte Ärzte diskutierten fünfzig Jahre lang darüber, ob diese Salbe, wenn man sie auf die Waffe strich, mit der einer verletzt worden war, die Wunde heilen konnte.«
»Verrücktes Zeug. Und das ist Wissenschaft?«
»Nicht in dem Sinn, wie wir Wissenschaft heute verstehen. Aber sie diskutierten über diese Sache, weil kurz vorher die Wunder des Magneten entdeckt worden waren und man sich überzeugt hatte, dass es Fernwirkungen gibt. Wie es auch die Magie behauptete. Und so dachte man, eine Fernwirkung ist so gut wie die andere... Verstehen Sie, diese Leute irrten sich damals, aber Volta und Marconi haben sich nicht geirrt. Was sind Elektrizität und Funkwellen, wenn nicht Fernwirkungen?«
»Schau, schau. Gar nicht so übel, unser Casaubon. Wissenschaft und Magie Arm in Arm, he? Große Idee. Also gut, los: Werfen Sie ein paar von diesen langweiligen Dynamos raus, und tun Sie dafür mehr Mandrake rein. So ein paar Teufelsbeschwörungen, was weiß ich, auf Goldgrund.«
»Ich würde es nicht übertreiben. Dies ist das wunderbare Abenteuer der Metalle. Die Bizarrerien machen sich nur gut, wenn sie an der richtigen Stelle kommen.«
»Das wunderbare Abenteuer der Metalle muß vor allem die Geschichte seiner Irrtümer sein. Man zeigt die schöne Bizarrerie, und dann sagt man in einer Fußnote, dass sie falsch ist. Derweilen steht sie da, und der Leser ist fasziniert, weil er sieht, dass auch die großen Männer falsch argumentieren, genau wie er.«
Ich erzählte von einem sonderbaren Erlebnis, das ich am Ufer der Seine gehabt hatte, unweit vom Quai Saint-Michel. Ich war in eine Buchhandlung getreten, die sich schon draußen in zwei symmetrischen Schaufenstern mit ihrer Schizophrenie gebrüstet hatte. Auf der einen Seite Werke über Computer und die Zukunft der Elektronik, auf der anderen nur okkulte Wissenschaften. Und genauso ging's dann auch innen weiter: Apple und Kabbala.
»Unglaublich«, sagte Belbo.
»Evident«, sagte Diotallevi. »Oder jedenfalls bist du der letzte, der sich darüber wundern dürfte, Jacopo. Die Welt der Maschinen sucht das Geheimnis der Schöpfung wiederzufinden: Buchstaben und Zahlen.«
Garamond sagte nichts. Er hatte die Hände gefaltet, als ob er betete, und hielt die Augen am Himmel gerichtet. Dann klatschte er plötzlich die Hände zusammen: »Meine Herren, alles, was Sie heute gesagt haben, bestätigt mich in einem Gedanken, den ich seit ein paar Tagen... Aber alles zu seiner Zeit, ich muß noch darüber nachdenken. Machen Sie vorerst weiter so. Bravo, Casaubon, wir werden auch Ihren Vertrag noch mal ansehen, Sie sind ein wertvoller Mitarbeiter. Und tun Sie, tun Sie mir viel Kabbala und Computer rein. Computer macht man doch aus Silizium, oder?«
»Aber Silizium ist kein Metall, sondern ein Metalloid.«
»Wollen Sie mir jetzt mit Spitzfindigkeiten über Wortendungen kommen? Was soll das, rosa rosarum? Computer rein! Und Kabbala!«
»Die kein Metall ist«, insistierte ich.
Er begleitete uns zur Tür. Auf der Schwelle sagte er zu mir: »Casaubon, das Büchermachen ist eine Kunst, keine Wissenschaft. Spielen wir nicht die Revolutionäre, die Zeiten sind vorbei. Tun Sie Kabbala rein. Ach, übrigens, bei Ihren Reisespesen habe ich mir erlaubt, den Liegewagen abzuziehen. Nicht aus Geiz, ich hoffe, Sie nehmen mir das ab. Sondern weil die Forschung sich eines gewissen — wie soll ich sagen — spartanischen Geistes befleißigen muß. Sonst wird sie unglaubwürdig.«
Ein paar Tage später bestellte er uns wieder in sein Büro. Er habe da einen Besucher, sagte er zu Belbo, mit dem er uns gerne bekannt machen würde.
Wir gingen hinüber. Garamond unterhielt sich mit einem beleibten Herrn, der ein Gesicht wie ein Tapir hatte, blonder Schnurrbart unter einer großen Tiernase und kein Kinn. Er kam mir gleich irgendwie bekannt vor, dann erinnerte ich mich: es war der Professor Bramanti, den ich in Rio gehört hatte, der Referent oder was auch immer jenes Ordens vom Rosenkreuz.
»Herr Professor Bramanti behauptet«, sagte Garamond, »es sei der rechte Moment für einen gewitzten Verlag mit Gespür für den Zeitgeist, eine Buchreihe zum Thema okkulte Wissenschaften zu initiieren.«
»Für... Manuzio«, warf Belbo ein.
»Für wen sonst?« lächelte Signor Garamond verschmitzt. »Herr Professor Bramanti, der mir unter anderem von einem teuren Freund empfohlen wurde, nämlich von Doktor De Amicis, dem Autor jener großartigen Chroniken des Zodiaks, die wir letztes Jahr herausgebracht haben, beklagt, dass die wenigen Reihen, die es zu diesem Thema gebe — fast alle bei Verlagen von geringer Seriosität und Zuverlässigkeit, notorisch oberflächlich, unaufrichtig, unkorrekt, ich sage noch mehr, ungenau —, dass diese Reihen dem Reichtum und der Tiefe dieses Studiengebietes nicht annähernd gerecht würden.«
»Die Zeit ist reif für eine Neubewertung der Kultur der Inaktualität, nach dem Scheitern der Utopien der modernen Welt«, sagte Bramanti.
»Sie sagen da große Dinge, Herr Professor. Aber verzeihen Sie bitte unsere — nun ja, ich sage nicht Ignoranz, aber doch Unvertrautheit mit diesen Dingen: An was genau denken Sie, wenn Sie von okkulten Wissenschaften sprechen? An Spiritismus, Astrologie, Schwarze Magie?«
Bramanti machte eine abwehrende Gebärde: »O nein, wo denken Sie hin! Das sind doch nur Märchen, die man den Einfältigen erzählt. Ich spreche von Wissenschaften, wenn auch von okkulten. Gewiss, auch von Astrologie, wenn nötig, aber nicht um der kleinen Bürotippse zu sagen, dass sie nächsten Sonntag den Mann ihres Lebens treffen werde. Ich denke eher an eine seriöse Studie über die Dekane, um nur soviel zu sagen.«
»Verstehe. Wissenschaftlich. Die Sache liegt schon auf unserer Linie, aber könnten Sie sich ein bisschen erschöpfender äußern?«
Bramanti lehnte sich in den Sessel zurück und ließ die Augen durch den Raum schweifen, als suche er astrale Inspirationen. »Beispiele ließen sich geben, gewiss. Ich würde sagen, der ideale Leser einer solchen Reihe müsste ein Adept der Rosenkreuzer sein, mithin ein Experte in magiam, in necromantiam, in astrologiam, in geomantiam, in pyromantiam, in hydromantiam, in chaomantiam, in medicinam adeptam, um das Buch Azoth zu zitieren — jenes, das dem Staurophoros von einem mysteriösen Mädchen überreicht wurde, wie im Raptus philosophorum berichtet. Doch die Kenntnis des wahren Adepten umfasst noch andere Gebiete. Da wäre die Physiognosis zu nennen, die sich mit okkulter Physik befasst, mit Statik, Dynamik und Kinematik, mit Astrologie oder esoterischer Biologie sowie dem Studium der Naturgeister, mit hermetischer Zoologie und biologischer Astrologie. Hinzu käme die Kosmognosis, die ebenfalls die Astrologie studiert, aber unter astronomischem Aspekt, unter kosmologischem, physiologischem, ontologjschem Blickwinkel, die Anthropognosis, die die homologische Anatomie studiert, sowie die divinatorischen Wissenschaften, die Physiologie der Fluida, die Psychurgie, die soziale Astrologie und der historische Hermetismus. Ferner gibt es die qualitative Mathematik, und das heißt wem sage ich das, die Arithmologie oder Zahlenkunde... Aber erforderlich wären auch Grundkenntnisse in der Kosmografie des Unsichtbaren, in Magnetismus, Auratik, Traumdeutung, Fluidumskunde, Psychometrie und Hellseherei — und generell das Studium der andern fünf hyperphysischen Sinne —, zu schweigen von der horoskopischen Astrologie, die bereits eine Degeneration des Wissens darstellt, wenn sie nicht mit der gebührenden Umsicht betrieben wird — und dann natürlich Physiognomik, Gedankenleserei, zukunftsdeutende Künste, von Tarot und Traumdeutung bis zu den höchsten Stufen der Prophetie und Ekstase. Verlangt werden auch hinreichende Kenntnisse über Verflüssigung, Alchimie, Spagirik, Telepathie, Exorzismus, Zeremonial- und Beschwörungsmagie, elementare Theurgie. Für den eigentlichen Okkultismus empfehlen würde ich Erkundungen in den Gebieten ursprüngliche Kabbala, Brahmanismus, Gymnosophie, memphitische Hieroglyphen... «
»Templerische Phänomenologie«, warf Belbo ein.
Bramanti Augen leuchteten auf. »Ohne Zweifel. Doch ich vergaß, zuvörderst einige Grundbegriffe in Nekromantik und Hexerei der nicht-weißen Rassen zu erwähnen, Onomantie, prophetische Raserei, freiwillige Thaumaturgie, Autosuggestion, Yoga, Hypnotik, Somnambulismus, merkuriale Chemie... Wronski riet, für die mystische Tendenz die Techniken der Besessenen von Loudun präsent zu haben, ebenso die der Konvulsionäre von Sankt Medardus oder Veitstänzer, dazu die mystischen Getränke: ägyptischen Wein, Lebenselixiere und Arsenlösungen. Für das Prinzip des Bösen — doch mir ist klar, dass wir hier zur delikatesten Zone einer möglichen Buchreihe kommen — müsste man sich vertraut machen mit den Mysterien Beelzebubs als der Selbstzerstörung und Satans als des entthronten Fürsten, mit denen des Eurynomios, des Molochs sowie der In- und Sukkubi. Für das positive Prinzip mit den Himmelsmysterien der Erzengel Michael, Gabriel und Raphael sowie der Agathodaimones. Sodann mit den Mysterien der Isis, des Mithra, des Morpheus, mit denen von Samothrake und Eleusis, mit den Naturmysterien des männlichen Geschlechts, Phallus, Lignum Vitae, Clavis Scientiorum, Baphomet, Hammer, sowie den Naturmysterien des weiblichen Geschlechts, Ceres, Kreis, Patera, Kybele und Astarte.«
Signor Garamond beugte sich vor und sagte mit einschmeichelndem Lächeln: »Sie werden die Gnostiker nicht vernachlässigen... «
»Aber gewiss nicht, obgleich zu diesem Thema viel Unsinn und Unfug im Umlauf ist. In jedem Fall ist jeder gesunde Okkultismus eine Gnosis.«
»Das war's, was ich meinte«, sagte Garamond.
»Und das alles wäre genug«, fragte Belbo unschuldig.
Bramanti blies die Backen auf und verwandelte sich mit einem Schlag aus einem Tapir in einen Hamster. »Genug... für den Anfang, ja, zur Initiierung, nicht für die Initiierten, wenn Sie mir das Wortspiel gestatten. Doch schon mit einem halben Hundert Bänden könnten Sie ein Publikum von Tausenden von Lesern mesmerisieren, die auf nichts anderes warten als auf ein klärendes Wort... Mit einer Investition von ein paar Hundert Millionen Lire — ich komme bewusst gerade zu Ihnen, Doktor Garamond, da ich Sie kenne und schätze als einen Verleger, der zu den großzügigsten Abenteuern bereit ist — und mit einem bescheidenen Prozentsatz für mich als Herausgeber der Reihe... «
Bramanti hatte genug gesagt und jedes Interesse in Garamonds Augen verloren. Er wurde eiligst hinauskomplimentiert, mit großen Versprechungen: Die übliche Beraterrunde werde den Vorschlag aufmerksam erwägen.
42
Wisset aber, daß wir uns alle einig sind, was wir auch immer sagen.
Turba Philosophorum
Als Bramanti draußen war, murmelte Belbo, er hätte sich mal den Pfropfen rausziehen sollen. Signor Garamond kannte den Ausdruck nicht, und Belbo versuchte ein paar respektvolle Paraphrasen, doch ohne Erfolg.
»Nun jedenfalls«, sagte Garamond, »machen wir uns doch nichts vor. Dieser Herr hatte kaum fünf Worte gesagt, da wusste ich schon, dass er für uns kein Kunde ist. Er. Wohl aber die, von denen er gesprochen hat, Autoren und Leser. Dieser Bramanti hat Überlegungen in mir bestärkt, die ich schon seit einigen Tagen anstelle. Hier, sehen Sie, meine Herren!« Mit theatralischer Geste zog er drei Bücher aus seiner Schreibtischschublade.
»Diese drei Bücher sind in den letzten Jahren erschienen und alle sehr erfolgreich gewesen. Das erste ist englisch, ich habe es nicht gelesen, aber der Autor ist ein berühmter Kritiker. Und was hat er geschrieben? Sehen Sie auf den Untertitel: ein gnostischer Roman. Und nun dies hier: anscheinend ein Kriminalroman, ein Bestseller. Und wovon spricht er? Von einer gnostischen Kirche in der Gegend von Turin. Sie werden wissen, was für Leute diese Gnostiker sind... « Er hob abwehrend die Hand: »Nein, lassen Sie, das spielt keine Rolle, mir genügt zu wissen, dass sie etwas Dämonisches sind... Ich weiß, ich weiß, ich gehe vielleicht zu rasch vor, aber ich will nicht wie Sie reden, ich will wie dieser Bramanti reden. Ich spreche jetzt als Verleger, nicht als Professor für vergleichende Gnoseologie oder wie das heißt. Was habe ich in Bramantis Diskurs an Lichtvollem gesehen, an Verheißungsvollem, an Einladendem, ich sage noch mehr, an Kuriosem? Diese außergewöhnliche Fähigkeit zur Zusammenschau, er hat nicht von den Gnostikern gesprochen, aber Sie haben's gehört, er hätte es ohne weiteres tun können, zwischen Geomantie, Gerovital und Radames mit Merkurium. Und warum insistiere ich so darauf? Weil ich hier noch ein anderes Buch habe, von einer berühmten Journalistin, die unglaubliche Dinge erzählt, die in Turin geschehen, in Turin sage ich, der Stadt des Automobils: Hexereien, schwarze Messen, Teufelsbeschwörungen, und das alles für zahlendes Publikum, nicht für die Veitstänzer aus dem Süden. Casaubon, Belbo hat mir gesagt, dass Sie in Brasilien waren und die Satansriten der Wilden da unten gesehen haben... Gutgut, Sie können mir später sagen, was genau das gewesen war, aber es kommt auf dasselbe raus. Brasilien ist hier, meine Herren. Vorgestern habe ich selbst in eigener Person eine von diesen Buchhandlungen aufgesucht, wie hieß sie doch gleich, na egal, es kommt auf dasselbe raus, es war eine Buchhandlung, die vor sechs oder sieben Jahren noch Texte von Anarchisten, Revolutionären, Tupamaros, Terroristen, ich sage noch mehr, Marxisten verkaufte. Und nun? Was verkauft sie jetzt? Die Sachen, von denen Bramanti gesprochen hat. Es ist wahr, wir befinden uns heute in einer Zeit der Konfusion, und wenn Sie in eine katholische Buchhandlung gehen, wo es früher nur den Katechismus zu kaufen gab, dann finden Sie heute da auch die Neubewertung Luthers, aber wenigstens verkaufen die noch keine Bücher, in denen steht, dass die ganze Religion eine einziger großer Schwindel ist. Doch in den Buchhandlungen, von denen ich spreche, da findet man den gläubigen Autor neben dem ungläubigen, alles wild durcheinander. Hauptsache, das Thema ist irgendwie, wie soll ich sagen... «
»Hermetisch«, suggerierte Diotallevi.
»Genau, ich glaube, das ist das richtige Wort. Da standen mindestens zehn Bücher über Hermes. Und so will ich nun über ein Hermes-Projekt sprechen. Begeben wir uns in den gewerblichen Zweig.«
»Den Goldenen Zweig«, sagte Belbo.
»Genau«, sagte Garamond, ohne die literarische Anspielung zu verstehen. »Es handelt sich um eine Goldader. Mir ist klar geworden, dass diese Leute alles fressen, solange es nur hermetisch ist, wie Sie sagten, solange es nur das Gegenteil dessen besagt, was in den Schulbüchern steht. Und ich glaube, es handelt sich auch um eine kulturelle Pflicht. Ich bin zwar kein Wohltäter aus Berufung, aber in diesen so finsteren Zeiten jemandem einen Glauben anzubieten, einen Blick auf das Übernatürliche... Der Verlag Garamond hatte schon immer eine wissenschaftliche Mission... «
Belbo erstarrte. »Ich dachte, Sie dächten an Manuzio.«
»An beide. Hören Sie. Ich habe mich in jener Buchhandlung umgesehen, und dann bin ich in eine andere gegangen, eine höchst seriöse, die jedoch ebenfalls ein Regal mit okkulten Wissenschaften hatte. Zu diesen Themen gibt es Studien auf universitärem Niveau, und sie stehen neben Büchern von Leuten wie diesem Bramanti. Und nun überlegen wir mal: Dieser Bramanti ist den akademischen Autoren vielleicht nie persönlich begegnet, aber er hat sie gelesen, und er hat sie gelesen, als wären sie seinesgleichen. Diese Leute sind so, bei allem, was man ihnen sagt, denken sie immer, es gehe um ihr Problem, wie in der Geschichte mit dem Kater, der hört, wie die beiden Eheleute sich wegen ihrer Scheidung zanken, und denkt, es gehe um die Zusammensetzung seines Frühstücks. Sie haben's ja selbst gehört, Belbo, Sie haben das mit diesen Templern da eingeworfen, und er sofort: d'accord, auch die Templer, und die Kabbala, und das Lotto und der Kaffeesatz. Das sind Allesfresser, sage ich Ihnen. Allesfresser. Haben Sie das Gesicht von diesem Bramanti gesehen: ein Nagetier. Ich sehe ein riesiges Publikum vor mir, in zwei Kategorien eingeteilt, ich sehe sie schon vor meinen Augen vorbeiziehen, und sie sind Legion. Erstens die, die darüber schreiben, und hier steht Manuzio mit offenen Armen bereit. Man braucht sie nur anzulocken, mit einer neuen Reihe, die in die Augen sticht und die heißen könnte, warten Sie... «
»Die Smaragdene Tafel«, suggerierte Diotallevi.
»Wie? Nein, zu schwierig, mir zum Beispiel sagt das gar nichts, wir brauchen etwas, das an etwas anderes erinnert.«
»Die Entschleierte Isis«, sagte ich.
»Die Entschleierte Isis! Das klingt gut, bravo, Casaubon, das klingt nach Tutanchamun, nach Skarabäus und Pyramiden. Die Entschleierte Isis, mit einem leicht dämonischen Umschlag, aber nicht zu viel. Und jetzt weiter. Daneben gibt es die zweite Heerschar, diejenigen, die kaufen. Schon gut, meine Freunde, Sie werden sagen, dass Manuzio nicht an denen interessiert ist, die kaufen. Aber muß das so bleiben? Diesmal verkaufen wir die Manuzio-Bücher, meine Herren, das wird ein qualitativer Sprung! Bleiben schließlich noch die Studien auf wissenschaftlichem Niveau, und hier tritt der Verlag Garamond auf den Plan. Unbeschadet der historischen Studien und der anderen akademischen Reihen werden wir einen seriösen Berater finden und drei bis vier Bücher pro Jahr herausbringen, in einer seriös aufgemachten Reihe mit einem aussagekräftigen, aber nicht pittoresken Titel...«
»Reihe Hermetik«, schlug Diotallevi vor.
»Sehr gut. Klassisch. Würdig. Sie werden mich vielleicht fragen, warum Geld bei Garamond ausgeben, wenn wir bei Manuzio welches verdienen können. Aber die seriöse Reihe dient uns als Aushängeschild, sie lockt besonnene Leute an, die weitere Vorschläge machen, uns Fährten weisen und dann die anderen anlocken, die Bramantis, die zu Manuzio umgeleitet werden. Kurzum, mir scheint, das ist ein perfektes Projekt, das Hermes-Projekt, eine saubere Sache, die sich rentiert und den ideellen Fluss zwischen den beiden Verlagen gewährleistet... An die Arbeit, meine Herren! Gehen Sie in die Buchläden, stellen Sie Bibliografien zusammen, lassen Sie sich Verlagskataloge kommen, sehen Sie sich an, was im Ausland gemacht wird... Und dann, wer weiß, wie viele Leute schon zu uns gekommen sind, die irgendwelche Schätze dieser Art mitbrachten, und wir haben sie weggeschickt, weil sie uns nicht nützten... Und denken Sie daran, Casaubon, auch in die Geschichte der Metalle muß ein Schuss Alchimie rein. Gold ist ein Metall, will ich doch hoffen. Die Kommentare später, Sie wissen, ich bin offen für jede Kritik, jeden Vorschlag und jeden Widerspruch, wie es üblich ist unter gebildeten Leuten. Das Projekt ist hiermit beschlossen. Signora Grazia, lassen Sie bitte den Herrn herein, der seit zwei Stunden draußen wartet, so kann man doch einen Autor nicht behandeln!« rief er laut, während er die Tür öffnete, so dass man ihn draußen im Wartesaal hören konnte.
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Gewöhnliche Leute, denen man auf der Straße begegnet... betreiben insgeheim Schwarze Magie, verbinden sich oder suchen Verbindung mit den Geistern der Finsternis, um ihr Verlangen nach Höherem zu stillen, nach Haß, nach Liebe — in einem Wort: um Böses zu tun.
J. K. Huysmans, Vorwort zu J. Bois, Le satanisme et la magie, 1895, p. VIII-IX
Ich hatte geglaubt, das Hermes-Projekt sei vorerst nur eine vage Idee, aber da kannte ich Signor Garamond schlecht. Während ich die nächsten Tage in den Bibliotheken verbrachte, um Illustrationen für die Geschichte der Metalle zu suchen, war man bei Manuzio schon an der Arbeit.
Nach zwei Monaten fand ich bei Belbo eine druckfrische Nummer der Zeitschrift Parnassus Önotrius mit einem langen Aufsatz unter dem Titel »Wiedergeburt des Okkultismus«, in dem der bekannte Hermetist Doktor Moebius — ein neues Pseudonym Belbos, der sich auf diese Weise den ersten Coupon des Hermes-Projekts verdient hatte — über die wundersame Renaissance der okkulten Wissenschaften in der modernen Welt sprach und ankündigte, dass der Verlag Manuzio beabsichtige, sich mit der neuen Reihe »Entschleierte Isis« auf diesem Gebiet zu betätigen.
In der Zwischenzeit hatte Signor Garamond eine Anzahl von Briefen an die verschiedenen Zeitschriften für Hermetismus, Astrologie, Tarot, Ufologie und so weiter geschrieben, unterzeichnet mit irgendwelchen Fantasienamen, um Informationen über die neue Buchreihe bei Manuzio zu erbitten. Daraufhin hatten die Redakteure dieser Zeitschriften bei ihm angerufen, um sich nach der Reihe zu erkundigen, und er hatte sich in Schweigen gehüllt und gesagt, er könne die ersten zehn Titel noch nicht nennen, aber sie würden in Kürze erscheinen. So war die Welt der Okkultisten, gewiss ohnehin sehr erregt durch fortwährende Trommelwirbel, inzwischen auf dem laufendem über das Hermes-Projekt.
»Verkleiden wir uns als Blüten«, sagte Signor Garamond, der uns zu einer erneuten Konferenz in den Saal des Globus bestellt hatte, »und die Bienen werden schon kommen.«
Aber das war noch nicht alles. Er wollte uns den Prospekt zeigen, den er sich ausgedacht hatte: ein schlichtes Faltblatt mit vier Seiten, aber aus Hochglanzpapier. Die erste Seite zeigte den geplanten Umschlag der Reihe, eine Art goldenes Siegel (das Pentaculum Salomonis, erklärte uns Garamond) auf schwarzem Grund, die Ränder der Seite gesäumt mit einer Dekoration aus ineinandergreifenden Hakenkreuzen (die asiatische Swastika, präzisierte Garamond, die im Sinne des Sonnenlaufs geht, nicht die nazistische, die im Uhrzeigersinn geht). Oben an der Stelle, wo der Buchtitel stehen sollte, eine Schrift: »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden...« Auf den inneren Seiten wurden die Verdienste des Hauses Manuzio um die Bewahrung und Förderung der Kultur gerühmt, dann wiesen ein paar einprägsam Slogans auf die Tatsache hin, dass die heutige Welt nach tieferen und leuchtenderen Gewissheiten verlangt, als die Wissenschaft sie ihr zu geben vermag: »Aus Ägypten, aus Chaldäa, aus Tibet — eine vergessene Weisheit — für die spirituelle Wiedergeburt des Okzidents«.
Belbo fragte, an wen der Prospekt versandt werden solle, und Garamond lächelte, wie nur — hätte Belbo gesagt — Jago, der böse Geist Othellos, zu lächeln vermag. »Ich habe mir aus Frankreich das Adressbuch aller zur Zeit in der Welt existierenden Geheimgesellschaften kommen lassen, und fragen Sie nicht, wie es ein öffentliches Adressbuch der geheimen Gesellschaften geben kann. Es gibt eins, hier, bitte sehr, Edition Henry Veyrier, mit Adresse, Telefonnummer und Postleitzahl. Nehmen Sie es mit, Belbo, gehen Sie's durch und eliminieren Sie die Adressen, die uns nicht interessieren, denn sehen Sie, hier stehen auch die Jesuiten, das Opus Dei, die Carbonari und der Rotary Club, aber suchen Sie alle heraus, die nach Okkultismus klingen, ich hab schon einige angekreuzt«
Er blätterte: »Hier: Absolutisten (glauben an die Metamorphose), Aetherious Society of California (pflegt telepathische Kontakte zum Mars), Astara in Lausanne (schwört absolute Geheimhaltung), Atlanteans of Great Britain (suchen nach dem verlorenen Glück), Builders of the Adytum in Kalifornien (Alchimie, Kabbala, Astrologie), Cercle E.B. in Perpignan (verehrt Hathor, die Liebesgöttin und Wächterin des Berges der Toten), Cercle Eliphas Lévi in Maule (keine Ahnung, wer dieser Levi ist, vielleicht dieser französische Anthropologe oder wie der heißt), Chevaliers de l'Alliance Templaire in Toulouse, Collège des Druides des Gaules, Convent Spiritualiste de Jéricho, Cosmic Church of Truth in Florida, Eglise Traditionelle d’Ecône in der Schweiz, überhaupt jede Menge Kirchen, Church of the Mormons (die hab ich mal in einem Krimi gefunden, aber vielleicht gibt's die nicht mehr), Church of Mithra in London und Brüssel, Church of Satan in Los Angeles, Eglise Luciférienne Unifiée de France, Eglise Rosicrucienne Apostolique in Brüssel, Enfants de la Ténèbre ou Orde Vert an der Goldküste (nein, die vielleicht nicht, wer weiß, in welcher Sprache die schreiben), Escuela Hermetista Occidental de Montevideo, National Institute of Kabbalah in Manhattan, Central Ohio Temple of Hermetic Science, Tetra-Gnosis of Chicago, Frères Anciens de la Rose-Croix de Saint-Cyr-sur-Mer, Fraternité Internationale d'Isis in Grenoble, Ancient Bavarian Illuminates in San Francisco, Johanniter-Bruderschaft für die Auferstehung der Templer in Kassel, The Sanctuary of the Gnosis in Sherman Oaks, Grail Foundation of America, Sociedade do Graal do Brazil, Hermetic Brotherhood of Luxor, Lectorium Rosicrucianum in Holland, Mouvement du Graal in Straßburg, Order of Anubis in New York, Temple of the Black Pentacle in Manchester, Odinist Fellowship in Florida, Orden vom Hosenband (da müsste sogar die Queen drin sein), Orden vom Vril (neonazistische Freimaurer, keine Adresse), Militia Templi in Montpellier, Souveräner Orden des Sonnentempels in Monte Carlo, Rosenkreuzer von Harlem (schau, schau, jetzt auch die Neger), Wicca (luziferische Assoziation keltischer Observanz, rufen die 72 Genien der Kabbala an)... nun, Sie sehen, soll ich fortfahren?«
»Existieren die alle wirklich?« fragte Belbo.
»Die und noch mehr. An die Arbeit, stellen Sie die definitive Liste zusammen, und dann versenden wir den Prospekt. Auch ins Ausland, unter diesen Leuten zirkulieren die Nachrichten schnell. Nun bleibt nur noch eins zu tun: in die richtigen Buchläden gehen und nicht nur mit den Buchhändlern sprechen, sondern auch mit den Kunden. Und gesprächsweise fallen lassen, dass es diese Reihe Soundso gibt.«
Diotallevi gab zu bedenken, dass wir Verlagsangehörigen uns nicht so exportieren könnten, es müssten unverdächtige Propagandisten gesucht werden, worauf Garamond sagte, gut, dann sollten wir welche suchen. »Vorausgesetzt, sie sind gratis.«
Schöner Auftrag, kommentierte Belbo, kaum dass wir wieder in seinem Büro waren. Aber die Götter des Untergrunds schätzten uns. Genau in diesem Moment kam Lorenza Pellegrini herein, sonniger denn je, Belbo erglühte, sie sah die Prospekte und wurde neugierig.
Als sie von dem Projekt im Haus nebenan erfuhr, leuchteten ihre Augen auf. »Wie schön, ich hab einen unheimlich sympathischen Freund, einen Ex-Tupamaro aus Uruguay, der bei einer Zeitschrift namens Picatrix arbeitet, er nimmt mich immer zu den spiritistischen Séancen mit. Ich hab Freundschaft mit einem fabelhaften Hektoplasma geschlossen, jetzt fragt es immer gleich nach mir, wenn es sich materialisiert!«
Belbo sah Lorenza an, als wollte er sie etwas fragen, ließ es dann aber bleiben. Ich glaube, er hatte sich daran gewöhnt, sie von den beunruhigendsten Bekanntschaften reden zu hören, und hatte beschlossen, sich nur noch über diejenigen zu beunruhigen, die einen Schatten auf seine Liebe zu ihr werfen konnten (liebte er sie?). Und in ihrem Hinweis auf Picatrix hatte er vermutlich weniger das Gespenst des Oberst Ardenti als das des allzu sympathischen Uruguayers gesehen. Doch Lorenza sprach schon von etwas anderem und enthüllte uns, dass sie oft in jene kleinen Buchhandlungen gehe, wo die Sorte Bücher verkauft würden, die in der Entschleierten Isis erscheinen sollten.
»Die sind nämlich eine Show, diese Läden«, sagte sie. »Da gibt's nicht nur Bücher, da gibt's auch Heilkräuter, und da gibt's Anweisungen, wie man sich einen Homunkulus macht, so wie der Faust mit der Helena, ach Jacopo, machen wir uns doch mal einen, ich hätte so gern einen Homunkulus von dir, den halten wir uns dann wie einen Dackel. Es geht ganz leicht, heißt es in dem Buch, man braucht bloß ein bisschen männlichen Samen in einem Reagenzglas aufzufangen, das wird dir doch nicht schwerfallen, hoffe ich, he, nicht rot werden, Blödmann! Dann vermischt man's mit Hippomene, das ist scheint's so 'ne Flüssigkeit, die wird sezerniert, sezessiert... wie sagt man?«
»Sekretiert«, sagte Diotallevi.
»Ach wirklich? Also ein Sekret von schwangeren Stuten, naja, das ist wahrscheinlich das Schwierigste an der Sache, wenn ich 'ne schwangere Stute wäre, ich würd ja nicht wollen, dass jemand hergeht, um mir meine Hippomene abzuzapfen, besonders wenn's jemand ist, den ich nicht kenne, aber ich glaube, das Zeug kriegt man auch zu kaufen, wie Räucherstäbchen. Dann tut man alles in einen Glaskolben und lässt es vierzig Tage gären, und langsam siehst du, wie sich so 'ne kleine Figur bildet, ein kleiner Fötus, und nach weiteren zwei Monaten wird er ein süßer kleiner Homunkulus und kommt raus und ist dir zu Diensten — ich glaube, die sterben nie, stell dir vor, Jacopo, er bringt dir sogar noch die Blumen aufs Grab, wenn du tot bist.«
»Und was gibt's sonst noch in diesen Buchläden?« fragte Belbo.
»Fantastische Typen, sag ich dir, Typen, die mit den Engeln reden und die Gold machen können, und manchmal auch professionelle Zauberer mit professionellen Zauberergesichtern... «
»Wie sehen professionelle Zauberer aus?«
»Sie haben gewöhnlich 'ne Adlernase, Brauen wie'n Russe und stechende Augen, sie tragen die Haare lang bis auf den Kragen, wie früher die Maler, und einen Bart, aber keinen dichten, so einen mit kahlen Stellen zwischen Kinn und Backen, und einen Schnauzer, der absteht und strähnig über die Lippen fällt, was auch logisch ist, weil die Lippen sehr wulstig sind wegen der vorstehenden Zähne, die alle ein bisschen übereinanderstehen. Sie lächeln dich an, was sie mit solchen Zähnen nicht tun sollten, aber sie tun's, wobei dich dann aber die Augen (hab ich gesagt, dass sie stechend sind?) auf beunruhigende Weise ansehen.«
»Facies hermetica«, sagte Diotallevi.
»Ja? Na bitte, da seht ihr. Und wenn jemand reinkommt, um nach einem Buch zu fragen, zum Beispiel nach einem mit Gebeten gegen die Geister des Bösen, dann raunen sie dem Buchhändler gleich den richtigen Titel zu, der dann genau derjenige ist, den der Buchhändler nicht auf Lager hat. Aber wenn du mit ihnen Freundschaft schließt und sie fragst, ob ein bestimmtes Buch was taugt, dann lächeln sie wieder verständnisvoll, als ob sie mit kleinen Kindern sprechen, und sagen dir, dass man bei diesen Sachen unheimlich aufpassen muß. Und erzählen dir dann Geschichten von Teufeln, die ganz entsetzliche Sachen mit Freunden von ihnen gemacht haben, und du kriegst Angst, und sie beruhigen dich und sagen, das wär in den meisten Fällen bloß Hysterie. Kurz und gut, du weißt nie, ob sie selber dran glauben oder nicht. Oft schenken die Buchhändler mir auch Räucherstäbchen, einmal hat mir einer sogar so'ne kleine Elfenbeinhand geschenkt, gegen den bösen Blick«
»Na, wenn du so gern in diesen Läden rumläufst«, sagte Belbo, »dann frag doch die Leute dort mal, ob sie schon was von dieser neuen Reihe gehört haben, und zeig ihnen den Prospekt«
Lorenza ging mit einem Stapel Prospekte. Ich nehme an, dass auch sie in den folgenden Wochen fleißig war, aber ich hätte nie gedacht, dass die Dinge so schnell vorangehen könnten. Schon nach ein paar Wochen wusste Signora Grazia sich kaum noch zu retten vor den Diabolikern, wie wir die AEKs mit okkultistischen Interessen getauft hatten. Denn sie waren, wie ihre Natur es verlangte, Legion.
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Invoke the forces of the Tablet of Union by means of the Supreme Ritual of the Pentagram, with the Active and Passive Spirit, with Eheieh and Agla. Return to the Altar, and recite the following Enochian Spirit Invocation: Ol Sonuf Vaorsag Goho Iad Balt, Lonsh Calz Vonpho, Sobra Z-ol Ror I Ta Nazps, od Graa Ta Malprg... Ds Hol-q Qaa Nothoa Zimz, Od Commah Ta Nopbloh Zien...
(Beschwöre die Kräfte der Tabula Unionis durch das Höchste Ritual des Pentagramms, mit dem Aktiven und dem Passiven Geist, mit Eheieh und Agla. Kehre zurück zum Altar und rezitiere die folgende Beschwörung Enochischer Geister: ...)
Israel Regardie, Original Account of the Teachings, Rites and Ceremonies of the Hermetic Order of the Golden Dawn, Ritual for Invisibility, St. Paul, Llewellyn Publications, 1986, p. 423
Wir hatten Glück, unser erstes Kolloquium war von höchster Qualität, zumindest für die Zwecke unserer Initiation.
Das Trio war zur Feier des Tages komplett versammelt, Belbo, Diotallevi und ich, und fast hätten wir beim Eintritt unseres Besuchers einen Überraschungsschrei ausgestoßen: er hatte genau die facies hermetica, die uns Lorenza beschrieben hatte, und war zudem ganz in Schwarz gekleidet.
Er trat herein, sah sich argwöhnisch um und stellte sich vor: Professor Camestres. Auf die Frage nach seiner Disziplin machte er eine vage Geste, als wollte er uns mehr Diskretion nahelegen. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich weiß nicht, ob Sie sich mit dem Problem nur unter rein technischem, kommerziellen Gesichtspunkt befassen oder ob Sie in Verbindung mit einer Gruppe von Initiierten stehen... «
Wir beruhigten ihn. »Es ist nicht aus übertriebener Vorsicht meinerseits«, sagte er, »aber ich hätte ungern Kontakte mit jemandem vom OTO.« Dann, angesichts unserer Perplexität: »Ordo Templi Orientis, das Grüppchen der letzten angeblichen Getreuen von Aleister Crowley... Ich sehe, Sie sind nicht vertraut mit... Um so besser, dann wird es Ihrerseits keine Vorurteile geben.« Er akzeptierte den angebotenen Sessel. »Denn sehen Sie, das Werk, das ich Ihnen anbieten möchte, stellt sich couragiert in Opposition zu Crowley. Wir alle, ich inklusive, sind nach wie vor Anhänger der Offenbarungen des Liber Al vel Legis, das, wie Sie vielleicht wissen, Crowley 1904 in Kairo von einer höheren Intelligenz namens Aiwaz diktiert worden ist Und auf diesen Text berufen sich die Getreuen des OTO noch heute, und zwar auf seine vier Ausgaben, deren erste neun Monate vor dem Ausbruch des Balkankrieges herauskam, die zweite neun Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die dritte neun Monate vor dem chinesisch-japanischen Krieg und die vierte neun Monate vor den Massakern des spanischen Bürgerkrieges... «
Ich kreuzte unwillkürlich die Finger. Er sah es und lächelte düster. »Ich verstehe Ihr Zögern. Bedenkt man, dass dieses mein Manuskript hier die fünfte Neufassung jenes Buches ist, was mag dann in neun Monaten geschehen? Nichts, ich kann Sie beruhigen, denn was ich anbiete, ist das erweiterte Liber Legis, da ich das Glück hatte, nicht nur von einer einfachen höheren Intelligenz besucht worden zu sein, sondern von Al persönlich, dem höchsten Prinzip oder Hoor-paar-Kraat und somit dem Doppelgänger oder mystischen Zwilling von Ra-Hoor-Khuit. Meine einzige Sorge ist, dass dieses mein Werk, auch um schädliche Einflüsse abzuwenden, genau zur Wintersonnwende erscheinen muß.«
»Das ließe sich machen«, sagte Belbo ermunternd.
»Freut mich sehr. Das Buch wird Aufsehen in den Kreisen der Eingeweihten erregen, denn wie Sie gewiss verstehen können, meine mystische Quelle ist seriöser und glaubwürdiger als die von Crowley. Ich weiß nicht, wie Crowley die Rituale des Großen Tieres ins Werk setzen konnte, ohne die Liturgie des Schwertes zu berücksichtigen. Nur mit gezücktem Schwert versteht man, was das Mahapralaya ist oder das Dritte Auge der Kundalini. Und dann hat er in seiner Arithmologie, die ganz auf der Zahl des Tieres gründet, nicht die 93, 118, 444, 868 und 1001 berücksichtigt: die Neun Zahlen.«
»Was bedeuten die?« fragte Diotallevi.
»Ah«, sagte der Professor Camestres, »wie es schon im ersten Liber Legis heißt, jede Zahl ist infinit, und es gibt keinen Unterschied!«
»Verstehe«, sagte Belbo. »Aber fürchten Sie nicht, dass dies alles ein bisschen dunkel für den gewöhnlichen Leser ist?«
Camestres sprang fast aus seinem Sessel auf. »Aber es ist absolut unverzichtbar. Wer diese Geheimnisse ohne die nötige Vorbereitung erführe, würde in den Abgrund stürzen! Schon indem ich sie auf verschleierte Weise publik mache, gehe ich Risiken ein, glauben Sie mir! Ich bewege mich im Bereich der Anbetung des Tieres, aber radikaler als Crowley, lesen Sie nur meine Seiten über den congressus cum daemone, die Vorschriften für die Einrichtung des Tempels und die fleischliche Vereinigung mit der Scharlachroten Frau und dem Tier, das Sie reitet. Crowley war bei dem sogenannten widernatürlichen congressus carnale stehen geblieben, ich versuche das Ritual noch hinauszutreiben über das Böse, wie wir es verstehen, ich berühre das Unfassbare, die absolute Reinheit der Goetia, die äußerste Schwelle des Bas-Aumgn und des Sa-Ba-Ft... «
Belbo blieb nur noch übrig, die finanziellen Möglichkeiten des Professors zu erkunden. Er tat es mit langen, verschachtelten Sätzen, und heraus kam schließlich, dass dieser Autor, wie zuvor schon Bramanti, nicht die geringste Absicht hatte, sein Opus selbst zu finanzieren. Woraufhin die Phase des Abstandnehmens begann, mit der höflichen Bitte, das Manuskript zur Prüfung dazulassen, für eine Woche, dann werde man weitersehen. Da aber hatte Camestres sein Manuskript mit beiden Händen fest an die Brust gedrückt und versichert, er sei noch nie mit soviel Misstrauen behandelt worden, und war empört gegangen, nicht ohne durchblicken zu lassen, er verfüge über ungewöhnliche Mittel, uns die ihm angetane Beleidigung noch bereuen zu lassen.
Nach kurzer Zeit jedoch hatten wir Dutzende von Manuskripten sicherer AEKs beisammen. Wir mussten ein Minimum an Auswahl treffen, da die Sachen ja auch verkauft werden sollten. Sie alle zu lesen, war ausgeschlossen, wir begnügten uns mit einem Blick auf die Inhaltsverzeichnisse und teilten uns dann mit, was wir entdeckt hatten.
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Womit sich eine verblüffende Frage erhebt: Kannten die alten Ägypter die Elektrizität?
Peter Kolosimo, Terra senza tempo, Mailand, Sugar, 1964,p. 111
»Ich hab hier einen Text über die verschwundenen Kulturen und die geheimnisvollen Länder«, sagte Belbo. »Scheint, es gab ursprünglich einen Kontinent Mu, in der Gegend von Australien, von dem die großen Migrationsströme ausgingen. Einer ging zur Insel Avalon, ein anderer zum Kaukasus und zu den Quellen des Indus, dann gab's die Kelten, die Begründer der ägyptischen Kultur und schließlich Atlantis... «
»Alte Kamellen«, sagte ich. »Leute, die Bücher über Mu schreiben, schleppe ich Ihnen so viele an, wie Sie wollen.«
»Aber dies hier lässt sich vielleicht verkaufen. Außerdem hat es ein sehr schönes Kapitel über die griechischen Einflüsse in Yucatán, es berichtet vom Basrelief eines Kriegers, in Chichén Itzá, der einem römischen Legionär ähnelt. Wie ein Ei dem andern... «
»Alle Helme der Welt haben entweder Federn oder Rosshaar«, sagte Diotallevi. »Das ist kein Beweis.«
»Für dich nicht, aber für den hier schon. Er findet Schlangenanbeter in allen Kulturen und schließt daraus auf einen gemeinsamen Ursprung...«
»Wo ist die Schlange nicht angebetet worden?« sagte Diotallevi. »Außer natürlich beim Auserwählten Volk«
»Ja, die haben das Kalb angebetet.«
»Das war ein Moment der Schwäche. Ich würde dieses hier wegtun, auch wenn sich's verkaufen lässt. Kelten und Arier, Kali-Yuga, Untergang des Abendlandes und SS-Spiritualität! Vielleicht bin ich ja paranoisch, aber das riecht mir nach Nazismus.«
»Für Garamond ist das nicht unbedingt ein Grund zur Ablehnung.«
»Ja, aber es gibt eine Grenze für alles. Hör zu, ich hab hier was Besseres, etwas über Kobolde, Undinen, Salamander, Elfen und Feen... Allerdings kommen auch hier die Ursprünge der arischen Kultur mit rein. Scheint, dass die SS von den Sieben Zwergen abstammt«
»Nicht doch, das sind die Nibelungen!«
»Aber hier ist die Rede von dem Kleinen Volk auf der Insel Irland. Und die Bösen sind die Feen, die Kleinen sind gute Kerlchen, nur treiben sie's manchmal ein bisschen arg.«
»Leg's mal raus. Und was haben Sie, Casaubon?«
»Nur einen kuriosen Text über Christoph Columbus. Der Autor analysiert seine Unterschrift und findet darin sogar eine Bezugnahme auf die Pyramiden. Columbus hatte die Absicht, den Tempel von Jerusalem zu rekonstruieren, denn er war ein Großmeister der Templer im Exil. Und da er bekanntlich ein portugiesischer Jude und folglich ein Experte für Kabbala war, hat er mit kabbalistischen Beschwörungen die Stürme besänftigt und den Skorbut gezähmt. Die Texte über die Kabbala hab ich nicht durchgesehen, ich nehme an, die hat sich Diotallevi reserviert.«
»Sind alle voll falschem Hebräisch, fotokopiert aus den Traktätchen über die Traumdeutung.«
»Vergessen wir nicht, wir suchen hier Texte für die Entschleierte Isis. Wir betreiben keine Philologie. Vielleicht gefällt den Diabolikern gerade das falsche Hebräisch der Traumdeuter. Ich schwanke, was die Beiträge über die Freimaurerei betrifft. Garamond hat mir empfohlen, keine Experimente zu machen, er will sich nicht in die Streitereien zwischen den verschiedenen Riten einmischen, aber ich würde diesen Text hier über die freimaurerische Symbolik in der Grotte von Lourdes nicht vernachlässigen. Auch nicht diesen anderen, sehr schönen hier, über das Auftauchen eines Edelmannes, vermutlich des Grafen von Saint-Germain, eines Vertrauten von Benjamin Franklin und La Fayette, bei der Erfindung des amerikanischen Sternenbanners. Allerdings erklärt er zwar die Bedeutung der Sterne ganz gut, aber mit den Streifen verheddert er sich ganz schön.«
»Der Graf von Saint-Germain!« sagte ich. »Schau, schau!«
»Wieso? Kennen Sie ihn?«
»Wenn ich ja sage, werden Sie mir nicht glauben. Lassen wir das. Ich hab hier eine vierhundert Seiten dicke Monstrosität über die Irrtümer der modernen Wissenschaft: Das Atom, eine jüdische Lüge, Der Irrtum Einsteins und das mystische Geheimnis der Energie, Die Illusion Galileis und die immaterielle Beschaffenheit des Mondes und der Sonne.«
»Wenn's darum geht«, sagte Diotallevi, »am besten gefällt mir diese Revue Fortischer Wissenschaften.«
»Was sind denn Fortische Wissenschaften?«
»Die von einem gewissen Charles Hoy Fort, der sich eine riesige Sammlung unerklärlicher Ereignisse angelegt hatte. Zum Beispiel ein Regen von Fröschen in Birmingham, Fußspuren eines Fabeltieres in Devonshire, mysteriöse Treppen und Abdrücke von Saugnäpfen auf einigen Bergrücken, Unregelmäßigkeiten in der Abfolge der Äquinoktien, Schriften auf Meteoriten, schwarzer Schnee, Blutregen, geflügelte Wesen achttausend Meter über Palermo, leuchtende Räder im Meer, Reste von Riesen, Kaskaden von toten Blättern in Frankreich, Niederschläge von lebender Materie in Sumatra, und natürlich alle Abdrücke in Machu Picchu und auf anderen Gipfeln der Anden, die von einer Landung mächtiger Raumschiffe in prähistorischen Zeiten künden. Wir sind nicht allein im Universum.«
»Seien wir froh«, sagte Belbo. »Was mich umtreibt, sind diese fünfhundert Seiten hier über die Pyramiden. Habt ihr gewusst, dass die Cheopspyramide genau auf dem dreißigsten Breitengrad steht, demselben, der das längste Stück von allen über Land verläuft? Dass die geometrischen Relationen, die man auf der Cheopspyramide finden kann, dieselben sind, die sich auch an der Pedra Pintada in Amazonien finden? Dass es in Ägypten zwei gefiederte Schlangen gab, eine auf dem Thron des Tutanchamun und die andere auf der Pyramide von Saqqara, was auf Quetzalcoatl verweist?«
»Was hat Quetzalcoatl mit Amazonien zu tun, wenn er doch zum mexikanischen Pantheon gehört?« fragte ich.
»Na, vielleicht hab ich da einen Nexus verpasst. Andererseits, wie erklärt sich, dass die Statuen auf den Osterinseln megalithisch sind, genau wie die keltischen? Einer der polynesischen Götter hieß Ya, und das ist ganz klar der Jod der Juden, wie auch der altungarische Io-v', der große und gute Gott. Eine alte mexikanische Handschrift zeigt die Erde als ein Quadrat, umgeben vom Meer, und im Zentrum der Erde steht eine Pyramide, auf der das Wort Aztlan geschrieben steht, das an Atlas oder Atlantis erinnert. Warum sind auf beiden Seiten des Atlantiks Pyramiden zu finden?«
»Weil es leichter ist, Pyramiden zu bauen als Kugeln. Weil der Wind die Dünen zu Pyramiden formt und nicht zu attischen Tempeln.«
»Ich hasse den Geist der Aufklärung«, sagte Diotallevi.
»Weiter. Der Kult des Sonnengottes Re tritt in der ägyptischen Religion nicht vor dem Neuen Reich auf, ergo kommt er von den Kelten. Oder denken wir an Sankt Nikolaus und seinen Schlitten. Im vorgeschichtlichen Ägypten war das Sonnenschiff ein Schlitten. Da es in Ägypten keinen Schnee gibt, muß der Schlitten aus dem Norden gekommen sein... «
Ich gab nicht nach: »Vor der Erfindung des Rades hat man den Schlitten auch auf Sand benutzt.«
»Reden Sie nicht immer dazwischen. Dieses Buch sagt, zuerst müsse man die Analogien identifizieren, dann nach den Gründen suchen. Und letzten Endes seien die Gründe wissenschaftliche. Die Ägypter mussten die Elektrizität gekannt haben, andernfalls hätten sie nicht machen können, was sie gemacht haben. Ein deutscher Ingenieur, der mit dem Bau der Kanalisierung von Bagdad beauftragt war, hat elektrische Batterien gefunden, die noch funktionierten und in die Zeit der Sassaniden zurückgingen. Bei den Ausgrabungen in Babylon sind Akkumulatoren ans Licht gekommen, die vor viertausend Jahren fabriziert worden waren. Und schließlich war die biblische Bundeslade (die die Gesetzestafeln, den Stab Aarons und ein Gefäß mit Manna aus der Wüste enthielt) eine Art elektrischer Tresor, der Entladungen bis zu fünfhundert Volt produzieren konnte.«
»Das hab ich schon mal in einem Film gesehen.«
»Ja und? Was meinen Sie, woher die Drehbuchschreiber ihre Ideen beziehen? Die Bundeslade war aus Akazienholz, innen und außen mit Gold überzogen — dasselbe Prinzip wie bei den elektrischen Kondensatoren: zwei Leitungen, getrennt durch eine Isolierung. Sie war umgeben von einem Gewinde aus purem Gold, und sie stand in einer trockenen Zone, wo das Magnetfeld an die 500-600 Volt pro Kubikmeter erreichte. Es heißt auch, Porsenna hätte sein Reich mit Hilfe der Elektrizität von der Präsenz eines schrecklichen Tieres mit Namen Volt befreit«
»Eben deswegen hatte Alessandro Volta diesen exotischen Namen angenommen. Vorher hieß er bloß einfach Szmrszlyn Krasvhnaprzavl.«
»Seien wir ernsthaft. Auch weil ich hier außer den Manuskripten noch eine Handvoll Briefe habe, die Enthüllungen ankündigen über die Beziehungen zwischen Jeanne d'Arc und den Sibyllinischen Büchern, der talmudischen Lilith und der hermaphroditischen Großen Mutter, dem genetischen Code und den Marskanälen, über die verborgene Intelligenz der Pflanzen, die kosmische Wiedergeburt und die Psychoanalyse, Marx und Nietzsche in der Perspektive einer neuen Angelologie, die Goldene Zahl und die Slums von Kalkutta, Kant und Okkultismus, die Mysterien von Eleusis und Jazz, Cagliostro und die Atomenergie, Homosexualität und Gnosis, Golem und Klassenkampf, und schließlich ein Werk in acht Bänden über den Gral und das Heilige Herz.«
»Was will es beweisen? Dass der Gral eine Allegorie des Heiligen Herzens ist oder das Heilige Herz eine Allegorie des Grals?«
»Ich kapiere den Unterschied und weiß ihn zu schätzen, aber ich glaube, dem hier ist beides recht. Jedenfalls bin ich hier mit meiner Weisheit am Ende. Wir sollten Signor Garamond fragen.«
Wir fragten ihn. Er sagte, wir sollten grundsätzlich nichts wegwerfen und alles prüfen.
»Aber schauen Sie, das meiste von diesem Zeug wiederholt bloß Sachen, die man an jedem Bahnhofskiosk finden kann«, sagte ich. »Die Autoren, auch die schon gedruckten, schreiben voneinander ab, der eine zitiert als Beleg die Behauptung des andern, und als letzten Beweis benutzen sie alle einen Satz von Jamblichos oder so jemandem.«
»Na und?« sagte Garamond. »Wollen Sie den Lesern etwas verkaufen, was sie nicht kennen? Die Bücher der Entschleierten Isis müssen genau von denselben Sachen handeln, die auch in den anderen stehen. Sie bestätigen sich gegenseitig, also sind sie wahr. Misstrauen Sie der Originalität.«
»Schon recht«, sagte Belbo, »aber wir müssten doch wenigstens wissen, was in diesen Kreisen allgemein bekannt ist und was nicht. Wir bräuchten einen Berater.«
»Welcher Art?«
»Ich weiß nicht. Er müsste nüchterner als die Diaboliker sein, aber ihre Welt kennen. Und er müsste uns auch bei der Reihe Hermetik beraten. Ein ernsthafter Kenner des Hermetismus der Renaissance... «
»Bravo«, sagte Diotallevi, »und wenn du ihm dann das erste Mal so was wie den Gral und das Heilige Herz in die Hand drückst, geht er empört davon und knallt die Tür zu.«
»Das ist nicht gesagt.«
»Ich wüsste jemanden, der dafür richtig wäre«, sagte ich. »Er ist ein Gelehrter, der diese Sachen ernst genug nimmt, aber mit Eleganz, ich würde sagen, mit Ironie. Ich habe ihn in Brasilien kennengelernt, aber jetzt müsste er in Mailand sein. Ich muß irgendwo seine Telefonnummer haben.«
»Kontaktieren Sie ihn«, sagte Garamond. »Aber seien Sie vorsichtig, er darf nicht zu teuer sein. Und dann versuchen Sie ihn auch gleich für das wunderbare Abenteuer der Metalle zu benutzen.«
Agliè schien erfreut, meine Stimme zu hören. Er fragte, wie es der entzückenden Amparo gehe, ich gab ihm schüchtern zu verstehen, dass es sich um eine verflossene Geschichte handelte, er entschuldigte sich und machte ein paar liebenswürdige Bemerkungen über die Frische, mit welcher ein junger Mensch immer neue Kapitel in seinem Leben aufschlagen könne. Ich machte ihm Andeutungen über ein neues Verlagsprojekt. Er zeigte sich interessiert, sagte, dass er uns gerne empfangen würde, und wir verabredeten ein Treffen in seinem Hause.
Von der Geburt des Hermes-Projekts bis zu jenem Tage hatte ich mich unbesorgt auf Kosten der halben Welt amüsiert. Nun begannen sie, die Rechnung zu präsentieren. Auch ich war eine Biene und flog zu einer Blüte, nur wusste ich es noch nicht.
46
Während des Tages setze dich etliche Male vor den Frosch und sprich Worte der Verehrung. Und bitte ihn, die Wunder zu vollbringen, die du dir wünschest… Unterdessen schnitze ein Kreuz, um ihn daran aufzuspießen.
Aus einem Ritual von Aleister Crowley
Agliè wohnte in der Gegend von Piazzale Susa: eine ruhige Seitenstraße, eine Fin-de-siècle-Villa in dezentem Jugendstil. Die Tür öffnete uns ein alter Diener in gestreifter Jacke. Er führte uns in einen Salon und bat uns, auf den Herrn Grafen zu warten.
»Dann ist er also Graf«, flüsterte Belbo.
»Hab ich Ihnen das nicht gesagt? Er ist Saint-Germain redivivus.«
»Er kann nicht redivivus sein, wenn er nie gestorben ist«, sprach Diotallevi. »Er wird doch nicht Ahasver sein, der Ewige Jude?«
»Nach Ansicht einiger ist der Graf von Saint-Germain auch Ahasver gewesen.«
»Na bitte.«
Agliè trat herein, wie immer makellos gekleidet. Drückte uns die Hand und entschuldigte sich: Eine langweilige Sitzung, ganz überraschend, halte ihn leider noch zehn Minuten in seinem Studio auf, wir sollten es uns einstweilen bequem machen. Er hieß den Diener, uns Kaffee zu bringen, und ging durch einen schweren Vorhang aus altem Leder hinaus. Es gab keine Tür, und während wir den Kaffee schlürften, hörten wir erregte Stimmen aus dem Nebenraum. Zuerst sprachen wir laut miteinander, um nicht zu lauschen, dann meinte Belbo, dass wir vielleicht störten. In einem Moment der Stille hörten wir eine Stimme und einen Satz, die unsere Neugier weckten. Diotallevi stand auf und tat, als bewunderte er einen barocken Stich an der Wand, direkt neben dem Vorhang. Es war eine Höhle im Gebirge, zu der einige Pilger über sieben Stufen hinaufstiegen. Nach kurzer Zeit taten wir alle drei, als ob wir das Bild studierten.
Es war zweifellos die Stimme Bramantis, die wir gehört hatten, und er sagte gerade: »Also jedenfalls, ich schicke niemandem Teufel ins Haus.«
An jenem Tag wurde uns klar, dass Bramanti nicht nur das Aussehen, sondern auch die Stimme eines Tapirs hatte.
Die andere Stimme war die eines Unbekannten mit starkem französischen Akzent und schrillem Ton, fast hysterisch. Hin und wieder mischte sich die Stimme Agliès mit ein, sanft und konziliant.
»Ich bitte Sie, meine Herren«, sagte Agliè gerade, »Sie haben mich um mein Urteil gebeten, und das ehrt mich, aber nun hören Sie mir auch zu. Erlauben Sie mir vor allem zu sagen, lieber Pierre, dass es zumindest unvorsichtig von Ihnen war, diesen Brief zu schreiben...«
»L'affaire est très simple, Monsieur le Comte«, erwiderte die französische Stimme. »Dieser Monsieur Bramongti hat geschrieb ein Article in eine Dzaitschrift, die wir alle sähr estimieren, wo er macht eher plump Ironie über certains Lucifériens, die wollen 'aben 'Ostien, ohne selber su glauben an die reale Présence, um damit su machen Argent et patatati patatá. Bon, alle Welt weiß, dass die einsig anerkannte Eglise Luciférienne ist die, wo ich bin modestement Tauroboliaste et Psicopompe, und man weiß gut, dass mein Kirsche nich macht Satanisme vulgaire und nich macht Ratatouille mit 'Ostien, ces choses du chanoine Docre à Saint-Sulpice! Ich 'abe gesagt in die Brief, dass wir sind nich Satanisten vieux jeu, Adorateurs du Grand Tenancier du Mal, und dass wir nich 'aben notwendig su maken Nachäfferai von Römische Kirsche mit all diese Zimborium... Nous sommes plutôt Palladiens, aber das weiß tout le monde, für uns ist Lucifére der Princip du Bien, und wenn jemand ist der Princip du Mal, dann 'ökstens Adonai, weil er ist es, der diesen Welt hat geschafft, und Lucifer hat versuch sich su opponier...«
»Schon gut«, unterbrach ihn Bramanti erregt, »ich hab's doch gesagt, kann sein, dass ich ein bisschen oberflächlich war, aber das erlaubt Ihnen nicht, mich mit Hexerei zu bedrohen!«
»Mais voyons! Was ich 'abe gesagt, war ein Metaphòre! C'est plutôt vous, Sie sind es, die mich 'aben bedroht mit l‘envoûtement!«
»Haha, als ob ich und meine Brüder Zeit hätten, kleine Teufelchen durch die Gegend zu schicken! Wir praktizieren das Dogma und Ritual der Hohen Magie, wir sind keine Hexenmeister!«
»Monsieur le Comte, ich appellier an Sie. Der Monsieur Bramongti hat notorisch Rapports mit dem Abbé Boutroux, und Sie wissen gut, daß man sagt von diesem Prétre, daß er hat sich gemakt tatouieren das Crucifix auf die Fußsohl, damit er kann marschier auf notre Seigneur, oder auf sein... Bon, es sind sieben Tage, ich encontre diesen prétendu Abbé in die Librairie du Sangreal, Sie kennen, er mir läschelt ein sähr schmierig Läscheln, wie es ist sein Kostüm, und er mir sagt bien bien, man wird sich noch 'ören ain dieser Tage... Mais qu‘est-ce que ça veux dire, ain dieser Tage? Das will sagen, daß zwai Tage später am Abend anfanggen die Visiten, ich bin gerade dabai su gehen im Bett, da fühl ich mich schlag im Gesicht von chocs fluides, Sie wissen, ce sont des émanations facilement reconnaissables.«
»Wahrscheinlich haben Sie die Sohlen Ihrer Slipper auf dem Teppich gerieben.«
»Ah oui! Et alors warum fliegen dann Nippsaken durch der Luft, ein von mein Alambiques trifft mich an Kopf, mein Baphomet von Gips fällt auf Boden und kassiert sich, es war ein Souvenir von mein pauvre père, und auf der Wand erscheinen des écritures en rouge, des ordures que je n'ose pas dire? Sie wissen sähr gut, daß es ist kaum ein Jahr daß der verstarb Monsieur Gros hat accuse diesen Abbé-là su machen Cataplasmes avec matière fécale, pardonnez-moi, und l'Abbé hat ihn condanné à mort — und zwai Wochen darauf der pauv' Monsieur Gros war tot auf mysteriöse maniére. Dass dieser Boutroux maneuvriert mit Substance véléneuse, das hat etabliert auch der Jury d'honneur, was war einberufen von den Martinistes de Lyon...«
»Aufgrund von Verleumdungen...«, sagte Bramanti.
»Ah dis donc! Ein Process über Sachen von diese Sort ist immer ein Process von Indicen...«
»Ja, aber daß der Monsieur Gros ein Alkoholiker war, mit Leberzirrhose im letzten Stadium, das ist dem Tribunal nicht gesagt worden.«
»Seien Sie nicht enfantil! Die Dsauberei procediert auf natürlische Wege, und wenn einer hat die Zirrhose, man wird ihn treffen auf sein malades Organ, das ist der Abécé von jeder Magie noire...«
»Also immer wenn einer an Zirrhose stirbt, ist es der gute Boutroux gewesen! Daß ich nicht lache!«
»Alors, dann erzählen Sie mir, was ist passiert in Lyon diese letzte zwai Wochen... Kapelle entwaiht, 'Ostie mit Tetragrammaton, der Abbé Boutroux in groß rot Robe mit Kreuz umgekehrt drauf, und Madame Olcott, seine Voyante personelle, um nich su sagen noch mehr, erscheint mit Trident auf die Stirn, und leere Kelsche, die sich füllen gans von allain mit Blut, und der Abbé kaschiert in die Mund von die Gläubigen... Cest vrai ou non?«
»Sie haben wohl zu viel Huysmans gelesen, mein Lieber!« rief Bramanti lachend. »Das war doch ein kulturelles Ereignis, eine historische Rekonstruktion, wie die Gedenkfeiern der Wicca-Schule und der druidischen Kollegien!«
»Quais, le Carneval de Venise...«
Wir hörten ein Getümmel, als ob Bramanti seinem Gegner an die Gurgel wollte und Agliè ihn nur mühsam zurückhalten konnte. »Vous voyez, vous voyez!« schrie der Franzose mit sich überschlagender Stimme. »Aber seien Sie vorsiktich, Monsieur Bramongti, fragen Sie Ihren Freund Boutroux, was ihm ist passiert! Sie wissen es noch nich, aber er ist im Hôpital, oui, fragen Sie ihn, wer ihm hat cassiert die Figüre! Auch wenn ich nich praktizier diese Ihre Goetiá-là, waiß ich doch auch was davon, und als ich hatte kapiert, daß mein Haus war habité, hab isch traciert auf das Parquet le Cercle de Défense, und weil ich nich glaube daran, moi non, mais vos petits diables oui, hab ich gehoben das Scapulaire du Carmel und hab ihm gemakt das Contresigne, l’envoûtement retourné,, ah oui! Alors, da hat Ihr Abbé gehabt ain terrible Moment!«
»Sehen Sie, sehen Sie?« schnaubte Bramanti. »Er ist es, der hier die Malefizen macht!«
»Meine Herren, das reicht jetzt«, ließ Agliè sich ruhig, aber bestimmt vernehmen. »Hören Sie mir zu. Sie wissen, wie sehr ich diese Vergegenwärtigungen überholter Rituale auf der Erkenntnisebene schätze, und für mich sind die Luziferische Kirche oder der Satansorden gleichermaßen respektabel, jenseits aller dämonologischen Differenzen. Sie kennen meinen Skeptizismus in diesen Dingen, aber schließlich gehören wir immer noch zu derselben spirituellen Ritterschaft, und ich bitte Sie um ein Mindestmaß an Solidarität. Und überdies, meine Herren, wie kann man den Fürsten der Finsternis in persönliche Streitereien hineinziehen! Wenn es wahr wäre, was Sie sagen, wäre es kindisch. Also was soll's, das sind doch Märchen für Okkultisten. Sie benehmen sich wie vulgäre Freimaurer. Boutroux ist ein Wirrkopf, seien wir ehrlich, und allenfalls sollten Sie, Bramanti, ihn auffordern, seinen Trödelkram an einen Opernrequisiteur zu verkaufen, für den Mephistopheles von Boito...«
»Ah, ah, c’est bien dit ça«, freute sich der Franzose, »c'est de la brocanterie...«
»Betrachten wir den Fall nüchtern. Was ist denn geschehen? Es hat eine Debatte über liturgische Formalitäten gegeben, die Gemüter haben sich erhitzt, aber wir wollen doch, wie man bei uns sagt, den Schatten nicht Körper geben. Wohlgemerkt, lieber Pierre, ich schließe keineswegs aus, daß in Ihrem Hause fremde Präsenzen umgehen, das ist die normalste Sache der Welt, aber mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand ließe das Ganze sich auch durch einen Poltergeist erklären...«
»Ja, das würde ich nicht ausschließen«, sagte Bramanti, »bei der derzeitigen Astralkonjunktur...«
»Also bitte! Auf, meine Herren, geben Sie sich die Hand. Und einen Bruderkuss!«
Wir hörten gemurmelte Entschuldigungen. »Sie wissen doch selbst«, sagte Bramanti, »manchmal muß man, um herauszufinden, wer wirklich auf Initiation bedacht ist, auch der Folklore nachgeben. Sogar jene Händler des Großen Orients, die an nichts glauben, haben ein Ritual.«
»Bien entendu, le rituel, ah ça...«
»Aber wir sind nicht mehr in den Zeiten Crowleys, einverstanden?« sagte Agliè. »Jetzt muß ich Sie leider verlassen, ich habe noch andere Gäste.«
Wir eilten rasch zum Sofa zurück und erwarteten Agliè in gefasster und zwangloser Haltung.
47
So war es denn unser hohes Bemühen, eine Ordnung in diesen sieben Maßen zu finden, die umfassend, ausreichend und distinkt sei und stets den Sinn wach und das Gedächtnis erregt halte... Diese hohe und unvergleichliche Collocation dient nicht nur dazu, die uns anvertrauten Dinge, Worte und Künste zu bewahren..., sondern gibt uns darüber hinaus auch die wahre Weisheit.
Giulio Camillo Delminio, L’Idea del Theatro, Florenz, Torrentino, 1550, Einleitung
Kurz darauf erschien Agliè. »Bitte entschuldigen Sie mich, liebe Freunde, ich komme aus einer recht unangenehmen Diskussion. Wie Freund Casaubon weiß, betrachte ich mich als einen Liebhaber der Religionsgeschichte, und das hat zur Folge, daß etliche, und nicht selten, sich um Rat an mich wenden, vielleicht mehr an meinen common sense als an meine Fachkenntnisse. Es ist schon kurios, was für singuläre Personen man bisweilen unter den Adepten der Weisheitsstudien finden kann... Ich meine nicht nur die üblichen Melancholiker auf der Suche nach transzendentalem Trost, sondern auch Leute mit profundem Wissen und großer intellektueller Feinsinnigkeit, die sich jedoch dessen ungeachtet nächtlichen Fantastereien hingeben und dabei den Sinn für die Grenze zwischen überlieferter Wahrheit und dem Archipel des Wunderlichen verlieren. Die beiden Herren, mit denen ich eben sprach, stritten sich über kindische Mutmaßungen. Dergleichen kommt leider, wie man so schön sagt, in den besten Familien vor. Aber nun folgen Sie mir bitte in meine Klause, da können wir in einer angenehmeren Atmosphäre plaudern.«
Er schob den Ledervorhang beiseite und ließ uns ins Nebenzimmer eintreten. Klause hätten wir es nicht genannt, so geräumig, wie es sich darbot, ringsum möbliert mit exquisiten Regalen voll kostbar gebundener Bücher, sicherlich alle von ehrwürdigem Alter. Was uns besonders frappierte, waren einige Glasvitrinen, die schwer bestimmbare Objekte enthielten, Steine, wie uns schien, und kleine Tiere, bei denen wir nicht zu erkennen vermochten, ob sie ausgestopft oder mumifiziert oder fein nachgebildet waren. Über allem lag ein diffuses Dämmerlicht. Es schien durch ein großes Doppelfenster mit bleigefassten Rautenscheiben von bernsteinartiger Transparenz einzudringen, aber das Licht aus dem Fenster vermischte sich mit dem Schein einer großen Lampe auf einem Schreibtisch aus dunklem Mahagoni, bedeckt mit Papieren. Es war eine von jenen Lampen mit grünem Glasschirm, wie man sie bisweilen noch auf den Lesetischen alter Bibliotheken findet, die ein helles Oval auf die Buchseiten werfen, aber die Umgebung in einem milchigen Zwielicht belassen. Genau dieses Spiel verschiedener Lichter, beide aus unnatürlicher Quelle, ließ nun jedoch die Farben der Deckenbemalung eher aufleuchten als erlöschen.
Es war eine gewölbte Decke, deren Bemalung den Eindruck weckte, als würde sie an den vier Ecken von schlanken, ziegelroten Säulen mit kleinen vergoldeten Kapitellen getragen, doch das trompe-l’œil der Bilder, die sie überzogen, aufgeteilt in sieben Felder, ließ sie gebläht wie ein Segel erscheinen, und der ganze Raum hatte den Charakter einer Totenkapelle mit einer leicht sündhaften, melancholisch sinnlichen Note.
»Mein kleines Theater«, sagte Agliè, »in der Manier jener Fantasien der Renaissance, die bildliche Enzyklopädien ausbreiteten, Gesamtdarstellungen des Universums. Mehr als ein Wohnraum ist dies für mich eine Maschine der Erinnerung. Hier sehen Sie kein Bild, das, wenn es sich in der richtigen Weise mit anderen verbindet, nicht ein Mysterium der Welt enthüllte und resümierte. Betrachten Sie jene Prozession von Figuren, die der Maler derjenigen im Palast zu Mantua nachgebildet hat: Es sind die sechsunddreißig Dekane, die Herren des Himmels. Und daher wollte ich, aus alter Gewohnheit und Treue zur Tradition, als ich diese herrliche Rekonstruktion von wer weiß wessen Hand gefunden hatte, daß auch die kleinen Objekte in den Vitrinen, die mit den Deckenbildern korrespondieren, die Grundelemente des Universums darstellen, Feuer, Wasser, Luft und Erde. So erklärt sich die Präsenz dieses graziösen Salamanders zum Beispiel, ein Meisterwerk der Taxidermie eines teuren Freundes, oder diese delikate, wenngleich ziemlich späte Miniaturnachbildung der Äolipile von Heron, auch Äolusbällchen genannt, worin die Luft in der kleinen Kugel, wenn ich dieses Spiritusöfchen entzünde, das ihr als Schale dient, sich erhitzt und aus diesen seitlichen Tüllen austritt, um die Kugel zum Kreisen zu bringen. Ein magisches Instrument, das schon die altägyptischen Priester in ihren Heiligtümern benutzten, wie viele berühmte Texte bezeugen. Sie benutzten es, um der Menge Wunder vorzutäuschen, und die Menge verehrte das Wunder, aber das wahre Wunder liegt in dem goldenen Gesetz, das die geheime und simple, ätherische und elementare Mechanik regelt: Luft und Feuer. Dies ist die Weisheit, die unsere antiken Ahnen besaßen, auch die Alchimisten noch, und die den modernen Konstrukteuren von Zyklotronen verloren gegangen ist.. So wende ich nun meinen Blick zu diesem Theater der Erinnerung, dem Nachkommen so vieler anderer, größerer, welche die großen Geister der Vergangenheit faszinierten, und weiß. Weiß mehr als die sogenannten Wissenden. Weiß, daß es oben so ist wie unten. Und mehr gibt es nicht zu wissen.«
Er bot uns kubanische Zigarren an, kurios geformte, die nicht gerade waren, sondern krumm und verdreht, obgleich voluminös und schwer. Wir stießen einige bewundernde Rufe aus, und Diotallevi trat an die Bücherregale.
»Oh«, sagte Agliè, »nur eine winzige Bibliothek, wie Sie sehen, nicht mehr als zweihundert Bände, ich habe Besseres in meinen Familiensitz. Doch alle sind, bescheiden gesagt, von einer gewissen Rarität, natürlich nicht zufällig angeordnet, die Ordnung der verbalen Themen folgt jener der Bilder und der Objekte.«
Diotallevi berührte schüchtern ein Buch. »Bitte, bitte, ziehen Sie's ruhig heraus«, sagte Agliè, »das ist der Oedypus Aegyptiacus von Athanasius Kircher. Sie wissen, er war der erste nach Horapollon, der die Hierglyphen zu entziffern versuchte. Ein faszinierender Mann, ich wünschte, diese meine Sammlung gliche seiner Wunderkammer, die heute in alle Winde zerstreut ist — heißt es, denn wer nicht zu suchen versteht, wird nicht finden... Ein höchst liebenswerter Gesprächspartner. Wie stolz er war an dem Tage, als er entdeckt hatte, daß diese Hieroglyphen bedeuten. ›Die Segnungen des göttlichen Osiris müssen durch heilige Zeremonien und durch die Kette der Geister herbeigeführt werden...‹ Dann kam dieser Intrigant Champollion, ein widerwärtiger Mensch, glauben Sie mir, von einer infantilen Eitelkeit, und insistierte auf seiner Behauptung, die Zeichenfolge entspreche bloß einfach dem Namen eines Pharaos. Wie erfinderisch die Modernen sind, wenn es darum geht, die heiligen Symbole herabzusetzen und zu entwerten! Das Werk ist übrigens nicht so rar: es kostet weniger als ein Mercedes. Betrachten Sie lieber dieses hier, die Erstausgabe von 1595 des Amphitheatrum sapientiae aeternae von Khunrath. Es heißt, es gebe davon auf ganzen der Welt nur noch zwei Exemplare. Dieses hier ist das dritte. Und hier ist die Erstausgabe der Telluris Theoria Sacra von Burnetius. Ich kann mir die Tafeln abends nicht ansehen, ohne ein Gefühl von mystischer Klaustrophobie zu bekommen. Die Tiefen unseres Globus... Unerwartet, nicht wahr? Wie ich sehe, ist Doktor Diotallevi fasziniert von den hebräischen Lettern des Traicté des Chiffres von Vigenère. Dann sehen Sie auch dies hier: die Erstausgabe der Kabbala denudata des Barons Knorr von Rosenroth. Sie werden es sicher wissen, das Buch wurde zu Anfang dieses Jahrhunderts auszugsweise und sehr schlecht ins Englische übersetzt und verbreitet von jenem unseligen McGregor Mathers... Sie haben gewiss von jenem skandalösen Zirkel gehört, der die britischen Ästheten so faszinierte: The Golden Dawn. Aus einer solchen Bande von Fälschern geheimer Dokumente konnte nur eine Serie von endlosen Degenerationen hervorgehen, von der Stella Matutina bis zu den Satanskirchen des Aleister Crowley, der die Dämonen heraufbeschwor, um sich die Gunst von Adligen zu erwerben, die dem vice anglais verfallen waren... Oh, wenn Sie wüssten, liebe Freunde, wie vielen dubiosen Gestalten, um nur das mindeste zu sagen, man leider begegnet, wenn man sich diesen Studien widmet! Sie werden es selber sehen, wenn Sie auf diesem Gebiet zu publizieren beginnen.«
Belbo ergriff die von Agliè gebotene Gelegenheit, um zur Sache zu kommen. Er sagte ihm, der Verlag Garamond habe die Absicht, einige wenige Bücher pro Jahr herauszubringen, deren Charakter, so sagte er, esoterisch sein solle.
»Oh, esoterisch«, lächelte Agliè, und Belbo errötete.
»Sagen wir... hermetisch?«
»Oh, hermetisch«, lächelte Agliè.
»Na gut«, meinte Belbo, »vielleicht gebrauche ich die falschen Termini, aber sicher verstehen Sie das Genre.«
»Oh«, lächelte Agliè erneut. »Das ist kein Genre. Es ist das Wissen. Sie wollen eine Sammlung des nicht-degenerierten Wissens herausbringen. Vielleicht ist es für Sie nur eine verlegerische Entscheidung, aber wenn ich mich darum kümmern soll, wird es für mich eine Suche nach Wahrheit sein, eine queste du Graal.«
Belbo gab zu bedenken, so wie der Fischer sein Netz auswerfe und damit auch leere Muscheln und Plastiktüten einfangen könne, so würden bei Garamond sicher auch viele Manuskripte von zweifelhafter Seriosität eintreffen, und daher suche man einen strengen Leser mit der Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen und dabei auch die Kuriositäten zu signalisieren, denn es gebe da einen befreundeten Verlag, der dankbar wäre, wenn einige Autoren von minderer Dignität zu ihm umgeleitet würden... Natürlich gelte es auch, eine angemessene Entschädigung festzusetzen.
»Dank dem Himmel bin ich das, was man gemeinhin wohlhabend nennt. Wohlhabend und wissbegierig und sogar ein wenig beschlagen. Es genügt mir, im Laufe meiner Erkundungen auf ein weiteres Exemplar von Khunrath zu stoßen, oder auf einen weiteren schön einbalsamierten Salamander, oder auch auf das Horn eines Narwals (das ich mich schämen würde, in meiner Sammlung zu haben, das aber selbst der Wiener Kronschatz als das Horn eines Einhorns ausstellt), und ich verdiene mit einer kleinen und angenehmen Transaktion mehr, als Sie mir in zehn Jahren Beratertätigkeit zahlen könnten. Ich werde Ihre Manuskripte im Geiste der Demut durchsehen. Ich finde gewiss auch im aller fadesten Text noch einen Funken, wenn nicht von Wahrheit, so doch von bizarrer Lüge, und oftmals berühren sich die Extreme. Langweilen werden mich nur die Selbstverständlichkeiten, und für diese Langeweile können Sie mich entschädigen. Nach Maßgabe der Langeweile, die ich empfunden habe, schicke ich Ihnen am Jahresende eine kleine Rechnung, die sich in den Grenzen des Symbolischen halten wird. Wenn Sie Ihnen zu hoch erscheint, schicken Sie mir eine Kiste guten Weines.«
Belbo war perplex. Er war es gewohnt, mit lamentierenden und geldgierigen Beratern zu verhandeln. Er öffnete die Aktenmappe, die er mitgebracht hatte, und entnahm ihr ein umfangreiches Manuskript.
»Ich hoffe, Sie machen sich nicht zu optimistische Vorstellungen. Sehen Sie sich zum Beispiel dies hier an, das mir typisch für den Durchschnitt erscheint.«
Agliè schlug das Manuskript auf: »Die geheime Sprache der Pyramiden... Schauen wir mal ins Inhaltsverzeichnis... Das Pyramidion... Der Tod des Lord Carnavon... Das Zeugnis Herodots...« Er klappte es wieder zu. »Haben Sie das gelesen?«
»Rasch überflogen, in den letzten Tagen«, sagte Belbo.
Agliè gab ihm das Manuskript zurück »Nun gut, bestätigen Sie mir, ob mein Resümee korrekt ist.« Er setzte sich hinter den Schreibtisch, steckte die Hand in seine Westentasche, zog das Pillendöschen hervor, das ich schon in Brasilien gesehen hatte, drehte es in seinen schmalen gepflegten Fingern, die eben noch seine Lieblingsbücher gestreichelt hatten, hob die Augen zu den Deckengemälden und schien einen Text zu rezitieren, den er seit langem kannte.
»Der Autor dieses Buches müsste daran erinnern, daß 1864 Piazzi Smyth die heiligen und esoterischen Maße der Pyramiden entdeckte. Erlauben Sie mir, nur die abgerundeten ganzen Zahlen zu nennen, in meinem Alter beginnt die Erinnerung etwas nachzulassen... Es ist singulär, daß ihre Basis ein Quadrat bildet, dessen Seite 232 Meter misst. Die Höhe war ursprünglich 148 Meter. Rechnen wir das in heilige ägyptische Ellen um, so haben wir eine Basis von 366 Ellen, also die Anzahl der Tage eines Schaltjahres. Für Piazzi Smyth ergibt die Höhe multipliziert mit zehn hoch neun die Entfernung Erde-Sonne: 148 Millionen Kilometer. Eine gute Annäherung für jene Zeit, wenn man bedenkt, daß die Entfernung heute auf 149,5 Millionen berechnet wird, und es ist nicht gesagt, daß die Modernen recht haben. Die Basis geteilt durch die Breite eines ihrer Steine ergibt 365. Der Umfang der Basis beträgt 931 Meter. Geteilt durch die doppelte Höhe ergibt das 3,14, die Zahl n. Fantastisch, nicht wahr?«
Belbo lächelte verwirrt. »Unglaublich! Aber sagen Sie, wie haben Sie das... «
»Sei still, Jacopo, lass Doktor Agliè weitersprechen!« fiel ihm Diotallevi ins Wort.
Agliè dankte ihm mit einem wohlerzogenen Lächeln. Dann sprach er weiter mit zur Decke gerichtetem Blick, doch mir schien, daß seine Inspektion weder müßig noch zufällig war. Seine Augen folgten einer Spur, als läsen sie aus den Bildern dort oben ab, was er aus den Tiefen seines Gedächtnisses auszugraben vorgab.
48
Von der Spitze zur Basis beträgt der Inhalt der Großen Pyramide, in ägyptischen Kubikzoll gemessen, ungefähr 161.000.000.000. Wie viele menschliche Seelen mögen von Adam bis heute auf der Erde gelebt haben? Eine gute Annäherung wäre etwas zwischen 153.000.000.000 und 171.900.000.000...
Piazzi Smyth, Our Inheritance in the Great Pyramid, London,Isbister, 1880, p. 583
»Ich nehme an, Ihr Autor legt dar, daß die Höhe der Cheopspyramide gleich der Quadratwurzel aus der Zahl ist, die sich aus der Gesamtfläche ihrer Seiten ergibt. Natürlich sind die Maße in Fuß zu nehmen, was der ägyptischen und hebräischen Elle näherkommt, und nicht in Meter, denn das Meter ist ein abstraktes Maß, erfunden in der modernen Zeit. Die ägyptische Elle beträgt umgerechnet 1,728 Fuß. Wenn wir nicht die genauen Höhen haben, müssen wir uns auf das Pyramidion beziehen, die kleine Pyramide, die oben auf der Großen stand und ihre Spitze bildete. Sie war aus Gold oder anderem Metall, das in der Sonne glänzte. Nehmen Sie also die Höhe des Pyramidions, multiplizieren Sie sie mit der Höhe der ganzen Pyramide, multiplizieren Sie alles mit zehn hoch fünf, und Sie erhalten die Länge des Äquators. Damit nicht genug, wenn Sie den Umfang der Basis nehmen und ihn mit vierundzwanzig hoch drei geteilt durch zwei multiplizieren, erhalten Sie den mittleren Radius der Erde. Und die von der Basis der Pyramide bedeckte Fläche multipliziert mit sechsundneunzig mal zehn hoch acht ergibt hundert- sechsundneunzig Millionen achthundertzehntausend Quadratmeilen, also die Oberfläche der Erde. Ist es so?«
Belbo liebte es, seine Verblüffung mit einer Formel zu äußern, die er in der Cinemathek gelernt hatte, als dort die Originalfassung von Yankee Doodle Dandy mit James Cagney lief. »I'm flabbergasted!« Und so sprach er nun. Offensichtlich kannte Agliè auch das kolloquiale Englisch recht gut, denn er konnte seine Befriedigung nicht verhehlen, ohne sich dieses Aktes der Eitelkeit zu schämen. »Liebe Freunde«, erklärte er, »wenn ein Herr, dessen Name mir nicht bekannt ist, ein Opus über die Geheimnisse der Pyramiden zusammenschreibt, kann er darin nichts anderes sagen, als was jedes Kind heute weiß. Es hätte mich sehr gewundert, wenn er etwas Neues vorgebracht hätte.«
»Demnach...«, Belbo zögerte, »sagt dieser Herr lediglich gesicherte Wahrheiten?«
»Wahrheiten?« Agliè lachte auf und bot uns erneut von seinen köstlichen krummen Zigarren an. » Quid est veritas, wie einer meiner Bekannten vor vielen Jahren sagte. Zum Teil handelt es sich um einen Haufen Dummheiten. Zunächst einmal, wenn man die genaue Basis der Pyramide durch das genaue Doppel ihrer Höhe teilt und auch die Stellen hinter dem Komma mitzählt, erhält man nicht die Zahl n, sondern 3,1417254. Eine kleine, aber wichtige Differenz. Ferner berichtet ein Schüler von Piazzi Smyth, Flinders Petrie, der auch Stonehenge vermessen hat, er habe den Meister eines Tages dabei überrascht, wie er, um auf die richtigen Zahlen zu kommen, an den Granitvorsprüngen im Vorraum des Königsgrabes herumfeilte... Dummes Geschwätz vielleicht, aber Piazzi Smyth war kein Mann, der Vertrauen einflößte, man brauchte nur einmal zu sehen, wie er sich die Krawatte band. Gleichwohl gibt es unter all diesen Dummheiten auch unbestreitbare Wahrheiten. Meine Herren, wollen Sie mir bitte ans Fenster folgen?«
Er riss theatralisch die Flügel auf, bat uns hinauszuschauen und zeigte uns in der Ferne, an der Ecke zwischen der Seitenstraße und der Allee, einen hölzernen Kiosk, in dem vermutlich die Lose der staatlichen Lotterie verkauft wurden.
»Sehen Sie jenen Kiosk dort«, sagte er. »Ich lade Sie ein, nachher hinzugehen und ihn zu vermessen. Sie werden sehen, daß die Breite des Bodens 149 Zentimeter beträgt, also ein Hundertmilliardstel der Entfernung von der Erde zur Sonne. Die Höhe der Rückwand geteilt durch die Breite des Fensters ergibt 176 : 56 = 3,14, die Zahl n. Die vordere Höhe beträgt 19 Dezimeter, soviel wie die Zahl der Jahre des griechischen Mondzyklus. Die Summe der Höhen der beiden vorderen und der beiden hinteren Kanten macht 190 x 2 + 176 x 2 = 732, das Datum der Schlacht von Poitiers. Die Dicke des Bodens beträgt 3,10 Zentimeter und die Breite des Fensterrahmens 8,8 Zentimeter. Ersetzt man die Zahlen vor dem Komma durch die entsprechenden Buchstaben des Alphabets, so erhält man C10H8, die Formel des Naphthalins.«
»Fantastisch«, sagte ich, »haben Sie das gemessen?«
»Nein«, sagte Agliè. »Das hat ein gewisser Jean-Pierre Adam an einem anderen Kiosk getan. Ich nehme an, daß alle Kioske der staatlichen Lotterie mehr oder minder dieselben Maße haben. Mit den Zahlen kann man machen, was man will. Wenn ich die heilige Zahl 9 habe und will auf 1314 kommen, das Datum des Märtyrertodes von Jacques de Molay — ein teures Datum für jeden, der sich, wie ich, der Tradition des Tempelrittertums verpflichtet weiß —, was tue ich dann? Ich multipliziere mit 146, dem Schicksalsdatum der Zerstörung Karthagos. Wie bin ich zu dem Ergebnis gekommen? Ganz einfach, ich habe 1314 durch zwei, durch drei und so weiter geteilt, bis ich auf ein befriedigendes Datum gestoßen bin. Ich hätte auch 1314 durch 6,28 teilen können, das Doppelte von 3,14, und wäre auf 209 gekommen. Und was ist 209? Das Jahr der entscheidenden Wende des Zweiten Punischen Krieges. Zufrieden?«
»Demnach glauben Sie an keinerlei Zahlenkunde?« fragte Diotallevi enttäuscht.
»Ich? Ich glaube fest daran, ich glaube, daß das Universum ein wunderbares Konzert von Zahlenkorrespondenzen ist und daß die Lektüre der Zahl und ihre symbolische Deutung ein privilegierter Weg zur Erkenntnis sind. Doch wenn die Welt, die untere und die obere, ein System von Entsprechungen ist, in dem tout se tient, so ist es nur natürlich, daß der Kiosk und die Pyramide, die beide von Menschen erbaut sind, in ihrer Struktur unbewusst die Harmonien des Kosmos reproduzieren. Diese sogenannten Pyramiedologen entdecken mit unglaublich komplizierten Mitteln eine ganz einfache Wahrheit, die sehr viel älter und seit langem bekannt ist. Das Perverse ist die Logik der Forschung und der Entdeckung, denn sie ist die Logik der Wissenschaft. Die Logik der Weisheit hat keine Entdeckungen nötig, da sie schon weiß. Wozu beweisen, was gar nicht anders sein könnte? Wenn es ein Geheimnis gibt, liegt es sehr viel tiefer. Diese Ihre Autoren bleiben immer nur an der Oberfläche. Vermutlich tischt uns der hier auch all die Kindereien über die Ägypter und die Elektrizität auf... «
»Ich frage Sie nicht mehr, wie Sie das erraten konnten.«
»Sehen Sie? Diese Leute begnügen sich mit der Elektrizität, wie irgendein Ingenieur Marconi. Weniger kindisch wäre die Hypothese der Radioaktivität. Eine interessante Annahme, die im Gegensatz zur Elektrizitätshypothese auch den viel beschrienen Fluch des Tutanchamun erklären würde. Wie haben die Ägypter es angestellt, die schweren Steine der Pyramiden zu heben? Kann man Steine mit Stromstößen heben, bringt man sie durch Kernspaltung zum Fliegen? Die Ägypter hatten das Mittel gefunden, die Schwerkraft aufzuheben, sie besaßen das Geheimnis der Levitation. Eine andere Form von Energie... Man weiß, daß die chaldäischen Priester imstande waren, heilige Maschinen durch bloße Töne in Gang zu setzen, und daß die Priester von Karnak und Theben die Pforten eines Tempels durch den Klang ihrer Stimme aufspringen lassen konnten — und worauf sonst wohl bezieht sich, überlegen Sie einmal, die Sage vom Sesam-öffne- dich?«
»Und weiter?« fragte Belbo.
»Da liegt der Hund begraben, mein Freund. Elektrizität, Radioaktivität, Atomenergie — der wahre Initiierte weiß: das alles sind nur Metaphern, oberflächliche Hüllen, konventionelle Lügen, bestenfalls klägliche Surrogate einer viel älteren und vergessenen Kraft, die der Initiierte sucht und die er eines Tages auch finden wird. Wir müssten vielleicht... « — er zögerte einen Moment — »von den tellurischen Strömen sprechen.«
»Wovon?« fragte, ich weiß nicht mehr, wer von uns Dreien.
Agliè schien enttäuscht. »Sehen Sie? Schon hoffte ich, daß unter Ihren Kunden jemand aufgetaucht wäre, der mir etwas Interessanteres sagen könnte. Nun, es ist spät geworden. Also gut, meine Freunde, der Pakt ist geschlossen, das Übrige waren Abschweifungen eines alten Gelehrten.«
Während er uns die Hand reichte, kam der Diener herein und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Oh, die liebe Freundin!« rief Agliè. »Das hatte ich ganz vergessen! Sie soll einen Augenblick warten... , nein, nicht im Salon, im türkischen Zimmer.«
Aber die liebe Freundin musste mit dem Hause gut vertraut sein, denn sie erschien bereits in der Tür und ging sicheren Schrittes, ohne uns im Dämmerlicht des erlöschenden Tages zu sehen, direkt zu Agliè, streichelte ihm neckisch die Wange und sagte: »Simon, du wirst mich doch nicht im Vorzimmer warten lassen!« Es war Lorenza Pellegrini.
Agliè wich einen Schritt zurück, küsste ihr die Hand und sagte, auf uns deutend: »Meine liebe, meine zarte Sophia, Sie wissen, daß Sie in jedem Hause, das Sie erleuchten, zu Hause sind. Aber ich war gerade dabei, diese meine Gäste zu verabschieden.«
Lorenza bemerkte uns und winkte fröhlich — ich kann mich nicht erinnern, sie jemals verlegen oder von irgend etwas überrascht gesehen zu haben. »O wie schön!« rief sie. »Auch ihr kennt also meinen Freund! Hallo Jacopo, wie geht's.« (Sie fragte nicht, wie es ihm ginge, sie sagte es einfach so.)
Ich sah Belbo erbleichen. Wir begrüßten sie. Agliè zeigte sich erfreut über die gemeinsame Bekanntschaft. »Ich erachte unsere gemeinsame Freundin als eine der natürlichsten, unverfälschtesten Kreaturen, die ich jemals kennenzulernen das Glück hatte. In ihrer Frische verkörpert sie, gestatten Sie mir diese Fantasie eines alten Weisen, die auf diese Erde herab exilierte Sophia. Aber, meine zarte Sophia, ich habe es Ihnen nicht rechtzeitig sagen können, der versprochene Abend ist um ein paar Wochen verschoben worden. Ich bin untröstlich.«
»Macht nichts«, sagte Lorenza, »dann warte ich eben. Ihr geht in die Bar?« fragte sie oder vielmehr befahl sie uns. »Gut, ich bleib noch ein halbes Stündchen, ich möchte, daß Simon mir eins von seinen Elixieren gibt, das müsstest du mal probieren, Jacopo, aber er sagt, es wär nur für die Auserwählten. Ich komme dann nach.«
Agliè lächelte mit der Miene eines nachsichtigen Onkels, ließ sie Platz nehmen und geleitete uns zur Tür.
Wir fanden uns auf der Straße wieder und machten uns auf den Weg zu Pilade, in meinem Wagen. Belbo schwieg. Wir sagten während der ganzen Fahrt kein Wort. Doch an der Theke musste der Zauber gebrochen werden.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht in die Hände eines Irren geführt«, sagte ich.
»Nein«, sagte Belbo. »Der Mann ist bei klarem Verstand. Und feinsinnig. Nur lebt er in einer anderen Welt als wir.« Dann fügte er düster hinzu: »Oder beinahe.«
49
Die Traditio Templi postuliert per se die Tradition einer templerischen Chevalerie, einer spirituellen und initiatischen Ritterschaft...
Henry Corbin, Temple et contemplation, Paris, Flammarion, 1980, p. 373
»Ich glaube Ihren Agliè verstanden zu haben, Casaubon«, sagte Diotallevi, nachdem er bei Pilade einen Bianco frizzante bestellt hatte, woraufhin wir alle um seine geistige Gesundheit bangten. »Er ist ein Liebhaber der Geheimwissenschaften, der den Schwätzern und Dilettanten misstraut. Aber wie wir heute ungebührlicherweise mitgehört haben, hört er sie an, während er sie verachtet, und kritisiert sie und sagt sich nicht von ihnen los.«
»Dieser Herr, dieser Graf oder Markgraf Agliè oder was immer er sein mag, hat heute ein Schlüsselwort ausgesprochen«, sagte Belbo. »Spirituelle Ritterschaft. Er verachtet diese Leute, aber er fühlt sich mit ihnen durch das Band einer spirituellen Ritterschaft verbunden. Auch ich glaube ihn zu verstehen.«
»In welchem Sinne?« fragten wir.
Belbo war inzwischen beim dritten Gin Martini angelangt (Whisky am Abend, pflegte er zu sagen, denn er beruhigt und verleitet zur Träumerei, Gin Martini am späten Nachmittag, denn er macht munter und unternehmungslustig). Er begann, von seiner Kindheit in *** zu erzählen, wie er es schon einmal mir gegenüber getan hatte.
»Es war zwischen 1943 und 1945, ich meine in den Jahren des Übergangs erst vom Faschismus zur Demokratie und dann wieder zur Diktatur der ›Sozialrepublik‹ von Salò, aber mit dem Partisanenkrieg in den Bergen. Ich war zu Anfang dieser Geschichte elf Jahre alt und lebte im Hause meines Onkels Carlo. Wir wohnten in der Stadt, aber 1943 waren die Bombardierungen schlimmer geworden, und meine Mutter hatte beschlossen, uns zu evakuieren, wie man damals sagte. In *** wohnten Onkel Carlo und Tante Caterina. Onkel Carlo kam aus einer Großbauernfamilie und hatte das Haus in *** geerbt, mit Land, das an einen gewissen Adelino Canepa verpachtet war, zur Halbpacht. Die Halbpächter beackerten das Land, ernteten das Korn, kelterten den Wein und überwiesen die Hälfte der Einkünfte an die Besitzer. Natürlich war das eine gespannte Situation, die Halbpächter fühlten sich ausgebeutet und die Besitzer auch, weil sie nur die Hälfte der Erträge ihres Landes bekamen. Die Besitzer hassten die Halbpächter, und die Halbpächter hassten die Besitzer. Aber sie lebten zusammen, im Haus meines Onkels Carlo. Onkel Carlo hatte sich 1914 freiwillig zu den Alpini gemeldet. Von rauer piemontesischer Wesensart, ganz Pflicht und Vaterland, war er erst Leutnant, dann Hauptmann geworden. Und dann, in einer der blutigen Schlachten am Isonzo, befand er sich zufällig neben einem idiotischen Soldaten, der eine Granate in der Hand explodieren ließ — warum hieße sie sonst auch Handgranate? Na jedenfalls, er sollte gerade ins Massengrab geworfen werden, da bemerkte ein Sanitäter, daß er noch lebte. Sie brachten ihn in ein Feldlazarett, nahmen ihm ein Auge ab, das nur noch an Fäden aus der Höhle hing, amputierten ihm einen Arm und pflanzten ihm, nach Auskunft von Tante Caterina, auch eine Metallplatte unter den Skalp, weil er ein Stück von der Schädeldecke verloren hatte. Kurz, ein chirurgisches Meisterwerk auf der einen Seite und ein Held auf der anderen. Silbermedaille, Ritterkreuz der italienischen Krone und nach dem Krieg ein sicherer Posten als Staatsbeamter. Onkel Carlo wurde schließlich Leiter des Finanzamts in ***, wo er den Familienbesitz geerbt hatte und hingezogen war, um im Haus seiner Ahnen zu leben, zusammen mit Adelino Canepa und dessen Familie.«
Onkel Carlo als Chef des Finanzamts gehörte zu den örtlichen Honoratioren. Und als Kriegsversehrter und Ritter der italienischen Krone konnte er nicht umhin, ein Sympathisant der Regierung zu sein, sei diese auch die faschistische Diktatur. War Onkel Carlo Faschist?
»In dem Maße, wie — wie man Achtundsechzig sagte — der Faschismus die Kriegsveteranen aufgewertet, mit Dekorationen behängt und in der Karriere vorangebracht hatte, können wir sagen, war Onkel Carlo ein moderater Faschist.
Genug jedenfalls, um von Adelino Canepa gehasst zu werden, der ein überzeugter Antifaschist war, aus sehr klaren Gründen. Er musste sich jedes Jahr zu ihm ins Amt begeben, um seine Steuererklärung auszufallen. So kam er dann ins Büro mit komplizenhafter und dreister Miene, nachdem er Tante Caterina mit ein paar Dutzend Eiern zu verführen versucht hatte, und sah sich Onkel Carlo gegenüber, der nicht nur als Held unkorrumpierbar war, sondern auch besser als jeder andere wusste, wie viel ihm der Canepa im Laufe des Jahres gestohlen hatte, wovon er ihm keinen Centesimo verzieh. Adelino Canepa betrachtete sich als Opfer der Diktatur und begann, verleumderische Gerüchte über Onkel Carlo zu verbreiten. Sie wohnten im selben Haus, der eine in der Beletage, der andere im Erdgeschoss, sie begegneten sich morgens und abends, aber sie grüßten einander nicht mehr. Den Kontakt hielt Tante Caterina aufrecht, und nach unserer Ankunft meine Mutter — der Adelino Canepa sein tiefes Mitgefühl und volles Verständnis für den Umstand versicherte, daß sie mit einem Monstrum verschwägert war. Der Onkel kam heim, jeden Abend um sechs, in seinem üblichen grauen Zweireiher, mit Schlapphut und einer noch ungelesenen Stampa in der Hand. Ging aufrecht wie ein Alpino, das graue Auge in die Ferne auf den zu erklimmenden Gipfel gerichtet. Stapfte vorbei an Adelino Canepa, der um diese Zeit die Abendfrische auf einer Bank im Garten genoss, und es war, als ob sie einander nicht sähen. Dann traf er die Signora Canepa an der Tür zum Erdgeschoss und zog feierlich den Hut. So ging es jeden Abend, Jahr für Jahr.«
Es war bereits acht, Lorenza war immer noch nicht erschienen, und Belbo war beim fünften Martini.
»Es kam das Jahr 43. Eines Morgens erschien Onkel Carlo bei mir im Zimmer, weckte mich mit einem dicken Kuss und sagte: Mein Junge, willst du die größte Neuigkeit des Jahres hören? Sie haben Mussolini gestürzt! Ich habe nie begriffen, ob Onkel Carlo darunter gelitten hat Er war ein höchst integrer Bürger und Staatsdiener. Wenn er litt, gab er es nicht zu erkennen, er schwieg und leitete das Finanzamt weiter für die Regierung Badoglio. Dann kam der 8. September, unsere Gegend fiel unter die Kontrolle der Repubblica di Salò, Onkel Carlo fügte sich drein und erhob nun die Steuern für Mussolinis Rumpfstaat. Unterdessen rühmte sich Adelino Canepa seiner Kontakte mit den ersten Partisanengruppen in den Bergen und versprach exemplarische Rache. Wir Kinder wussten noch nicht, was Partisanen waren. Man erzählte sich fabelhafte Dinge über sie, aber noch niemand hatte einen gesehen. Man sprach von einem Chef der Badoglianer, einem gewissen Terzi (natürlich war das ein nom de guerre, wie damals üblich, und viele sagten, er hätte sich nach dem Terzi in den Dick-Fulmine-Comics genannt, dem Freund des Helden). Er war ein Ex-Maresciallo der Carabinieri, der in den ersten Schlachten gegen die Faschisten und die SS ein Bein verloren hatte und der nun alle Brigaden auf den Hügeln rings um *** kommandierte. Und dann geschah es. Eines Tages zeigten die Partisanen sich im Ort. Sie waren aus den Hügeln heruntergekommen und stolzierten durch die Straßen, noch ohne bestimmte Uniformen, nur mit blauen Halstüchern, und ballerten MP-Salven in die Luft, um ihre Anwesenheit zu bekunden. Die Nachricht verbreitete sich im Nu, alle schlossen sich in ihren Häusern ein, man wusste ja noch nicht, was für Leute das waren. Tante Caterina äußerte eine leichte Besorgnis, immerhin hieß es, das wären Freunde von Adelino Canepa, oder jedenfalls nannte sich Adelino Canepa ein Freund von ihnen, sie würden doch wohl dem Onkel nichts tun? Sie taten. Wir wurden informiert, daß gegen elf ein Trupp Partisanen mit vorgehaltener MP das Finanzamt gestürmt hatte, sie hätten den Onkel verhaftet und an einen unbekannten Ort verschleppt. Tante Caterina warf sich aufs Bett, fing an, einen weißlichen Schaum zu spucken, und schrie, Onkel Carlo würde umgebracht werden. Es genüge ein Schlag mit dem Gewehrkolben, und wegen der Metallplatte unter der Schädelhaut würde er auf der Stelle tot sein. Angelockt vom Geschrei der Tante, kam Adelino Canepa mit seiner Frau und den Kindern gelaufen. Die Tante schrie, er wäre ein Judas, er sei es gewesen, der den Onkel bei den Partisanen denunziert hätte, weil er die Steuern für Mussolini erhebe, Adelino Canepa schwor bei allem, was ihm heilig war, daß er's nicht gewesen sei, aber man sah, daß er sich schuldig fühlte, weil er zu viel herumerzählt hatte. Die Tante jagte ihn fort. Adelino Canepa brach in Tränen aus, appellierte an meine Mutter, erinnerte sie an die vielen Male, wo er ihr ein Karnickel oder ein Hähnchen für eine lächerliche Summe überlassen hätte, meine Mutter hüllte sich in ein würdiges Schweigen, Tante Caterina spuckte weiter weißlichen Schaum. Ich heulte. Schließlich, nach zwei Stunden Heulen und Zähneklappern, hörten wir draußen Rufe, und Onkel Carlo erschien auf einem Fahrrad, das er mit seinem einen Arm lenkte, und es sah aus, als käme er von einer Spazierfahrt heim. Er sah sofort ein Durcheinander im Garten und hatte die Stirn zu fragen, was passiert sei. Er hasste Dramen, wie alle Leute in unserer Gegend. Er eilte hinauf, trat ans Schmerzenslager von Tante Caterina, die immer noch zappelte mit ihren mageren Beinen, und fragte, wieso zum Teufel sie sich so aufregte.«
»Und was war passiert?«
»Nun, vermutlich hatten die Partisanen die Gerüchte von Adelino Canepa gehört, hatten Onkel Carlo als einen örtlichen Repräsentanten des Regimes identifiziert und gefangen genommen, um ihm und dem ganzen Ort eine Lektion zu erteilen. Er war auf einem Lastwagen abtransportiert worden und hatte sich dann vor Terzi wiedergefunden, der schimmernd im Glanz seiner Orden vor ihm stand, die MP in der Rechten, die Linke auf seine Krücke gestützt. Und Onkel Carlo — aber ich glaube wirklich nicht, daß es Schläue war, es war eher Instinkt, Gewohnheit, ritterliches Ritual — hatte die Hacken zusammengeschlagen und salutiert: Major der Alpini Carlo Covasso, Kriegsveteran und Schwerinvalide, Silbermedaille. Und Terzi hatte gleichfalls die Hacken zusammengeschlagen und salutiert: Maresciallo Rebaudengo von den Königlichen Carabinieri, Kommandant der Badoglianischen Brigade Bettino Ricasoli, Bronzemedaille. Wo? hatte Onkel Carlo gefragt. Und Terzi in Habachtstellung: Am Pordoi, Herr Major, Höhe 327. Teufel auch, hatte Onkel Carlo gesagt, ich war auf Höhe 328, drittes Regiment, Sasso di Stria! Die Schlacht am Sonnwendtag? Jawoll, die Schlacht am Sonnwendtag, Und die Kanonade bei den Fünf Fingern? Gottverdammich, wenn ich das nicht mehr wüsste! Und dieser Sturmangriff mit gezücktem Bajonett am Abend vor San Crispino? Potzblitzsakrament! — Naja, solche Sachen. Dann, der eine einarmig, der andere einbeinig, hatten sie beide wie ein Mann einen Schritt vorgetan und sich umarmt. Terzi hatte gesagt: Sehen Sie, Cavaliere, sehen Sie, Herr Major, uns ist hinterbracht worden, daß Sie Steuern eintreiben für das faschistische Regime im Dienst der deutschen Besatzer. Sehen Sie, Herr Kommandant, hatte Onkel Carlo gesagt, ich habe Familie und beziehe mein Gehalt von der Zentralregierung, die eben ist, wie sie ist, ich habe sie nicht gewählt, was würden Sie an meiner Stelle tun? Lieber Major, hatte Terzi geantwortet, ich an Ihrer Stelle würde genauso handeln wie Sie, aber lassen Sie's wenigstens etwas langsamer angehen, nehmen Sie sich Zeit. Ich werde sehen, hatte Onkel Carlo gesagt, ich habe nichts gegen euch, auch ihr seid Söhne Italiens und wackere Kämpfer... Kurzum, ich glaube, die beiden haben sich so gut verstanden, weil beide das Wort Patria mit einem großen P aussprachen. Terzi hatte befohlen, dem Herrn Major ein Fahrrad zu geben, und so war Onkel Carlo nach Hause geradelt. Adelino Canepa ließ sich einige Monate lang nicht mehr blicken... Das war's, was ich meinte, ich weiß nicht, ob diese Sache hier spirituelle Ritterschaft ist, aber sicherlich gibt es Bande, die jenseits und über allen Parteiungen fortbestehen.«
50
Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Geehrte und die Gehaßte. Ich bin die Heilige und die Hure.
Fragment aus Nag Hammadi, 6, 2
Endlich erschien Lorenza. Belbo betrachtete die Decke und bestellte einen letzten Martini. Eine knisternde Spannung lag in der Luft, und ich machte Anstalten, mich zu erheben. Lorenza hielt mich zurück »Nein, kommt alle mit mir. Heute Abend wird die neue Ausstellung von Riccardo eröffnet, er inauguriert einen ganz neuen Stil! Er ist fantastisch, du kennst ihn doch, Jacopo.«
Ich wusste, wer Riccardo war, er hing immer bei Pilade herum, aber damals begriff ich nicht, wieso Belbo sich noch intensiver auf die Decke konzentrierte. Jetzt, nachdem ich seine files gelesen habe, weiß ich, daß Riccardo der Mann mit der Narbe war, mit dem Belbo nicht den Mut gehabt hatte, einen Streit anzufangen.
Lorenza insistierte, die Galerie sei ganz in der Nähe, sie hätten ein richtiges Fest organisiert, eine wahre Orgie. Diotallevi war entsetzt und sagte sofort, er müsse nach Hause, ich war unschlüssig, aber es war klar, daß Lorenza mich mit dabeihaben wollte, und auch das machte Belbo leiden, da er den Moment des Zwiegesprächs mit ihr entschwinden sah. Aber ich konnte mich der Einladung nicht entziehen, und so machten wir uns auf den Weg.
Ich mochte diesen Riccardo nicht besonders. Zu Beginn der sechziger Jahre hatte er sehr langweilige Bilder produziert, kleinteilige Muster in Schwarz und Grau, sehr geometrisch, ein bisschen Op-art, die einem vor den Augen flimmerten. Sie hatten Titel wie Composition 15, Parallaxe 17, Euklid X. Kaum hatte dann Achtundsechzig begonnen, machte er Ausstellungen in besetzten Häusern, er hatte die Farbpalette ein wenig geändert, jetzt waren es scharfe Schwarz-Weiß-Kontraste, nicht mehr ganz so kleinteilig, und die Titel lauteten C’est n’est qu’un début, Molotow oder Hundert Blumen. Als ich aus Brasilien zurückkam, hatte ich ihn in einem Zirkel ausstellen sehen, wo man den Doktor Wagner verehrte. Er hatte das Schwarz eliminiert und arbeitete nur noch mit weißen Strukturen, in denen sich die Kontraste lediglich durch die Dicke des Farbauftrags auf einem porösen Büttenpapier ergaben, so daß die Bilder, wie er erklärte, verschiedene Profile je nach dem Lichteinfall produzierten. Sie hießen jetzt Eloge der Ambiguität, A/Traverso, Ça, Bergstraße und Denegation 15.
Als ich an jenem Abend in die neue Galerie kam, sah ich sofort, daß Riccardos Kunstbegriff eine tief greifende Evolution durchgemacht hatte. Die Ausstellung nannte sich Megale Apophasis. Riccardo war zum Figurativen übergegangen, mit einer leuchtenden Farbenpalette. Er spielte mit Zitaten, und da er, glaube ich, nicht zeichnen konnte, arbeitete er vermutlich mit Diaprojektionen berühmter Gemälde — die Auswahl bewegte sich zwischen Fin-de-siecle-Naturalisten und Symbolisten der frühen Moderne. Die Linien der originalen Zeichnung zog er dann mit einer Punktierungstechnik in feinsten Farbabstufungen nach, wobei er Punkt für Punkt das ganze Spektrum durchging, so daß er jedes Mal mit einem flammend leuchtenden Kern begann und im absoluten Schwarz endete — oder umgekehrt, je nach dem mystischen oder kosmologischen Konzept, das er ausdrücken wollte. Es gab Gebirge, die Lichtstrahlen aussandten, zerlegt in eine Wolke zart pastellfarbener Kügelchen, man ahnte konzentrische Himmel, bevölkert von angedeuteten Engeln mit transparenten Flügeln, ähnlich dem Paradies von Doré. Die Titel lauteten Beatrix, Mystica Rosa, Dante Gabriele 33, Fedeli d'Amore, Athanòr, Homunculus 666 — aha, dachte ich, daher Lorenzas Leidenschaft für die Homunculi. Das größte Bild hieß Sophia und zeigte eine Art Engelsturz mit schwarzen Engeln, der unten zerlief und eine weiße Kreatur erzeugte, die von großen fahlgrauen Händen gestreichelt wurde, ein Abklatsch der beiden Hände, die sich in den Himmel von Guernica recken. Die Mischung war dubios, und aus der Nähe sah man, daß die Ausführung ziemlich roh war, aber aus zwei bis drei Metern Entfernung war der Effekt sehr lyrisch.
»Ich bin ein Realist alter Schule«, flüsterte Belbo mir zu, »ich kapiere nur Mondrian. Was soll ein nichtgeometrisches Bild darstellen?«
»Früher war er geometrisch«, sagte ich.
»Das war keine Geometrie. Das war Fliesendekoration für Badezimmer.«
Inzwischen war Lorenza zu Riccardo gelaufen, um ihn zu umarmen, und er und Belbo hatten sich einen Gruß zugewinkt. Es war knallvoll, die Galerie präsentierte sich wie ein Loft in New York, rundum weißgekalkt, die Heizungs- oder Wasserrohre nackt an der Decke. Musste einen Haufen gekostet haben, sie so roh herzurichten. Eine Stereoanlage in einer Ecke betäubte die Anwesenden mit orientalischer Musik, so etwas mit Sitar, wenn ich mich recht erinnere, die Sorte, bei der man die Melodie nicht erkennt. Alle gingen achtlos an den Bildern vorbei, um sich am Büffet im hinteren Teil zu versammeln und sich einen Pappbecher zu sichern. Wir waren zu vorgerückter Stunde gekommen, die Luft war voller Rauchschwaden, ab und zu deuteten ein paar Mädchen in der Mitte des Saales Tanzschritte an, aber alle waren noch damit beschäftigt zu plaudern und das Büffet zu plündern, das tatsächlich sehr reichhaltig war. Ich setzte mich auf ein Sofa, neben dem eine große, noch halb volle Schüssel mit Obstsalat auf dem Boden stand. Ich wollte mir gerade etwas davon nehmen, denn ich hatte noch nichts gegessen, da schien mir, als entdeckte ich darin den Abdruck eines Fußes, der die Fruchtwürfel in der Mitte zusammengepresst und zu einem homogenen Brei vermanscht hatte. Das war nicht unmöglich, denn der Boden war inzwischen glitschig von Weißweinpfützen, und manche der Eingeladenen bewegten sich schon etwas mühsam.
Belbo hatte sich einen Becher geschnappt und ging träge, scheinbar ziellos umher, mal diesem, mal jenem auf die Schulter tippend. Er suchte nach Lorenza.
Aber nur wenige standen still. Die Menge befand sich in einer zirkulären Bewegung, wie ein Bienenschwarm, der nach einer noch unbekannten Blüte sucht. Ich suchte nichts, war aber trotzdem aufgestanden und ließ mich von den Impulsen der Menge treiben. Ein paar mal sah ich Lorenza vorbeikommen, die herumstreunte und leidenschaftliches Wiedererkennen mit diesem und jenem fingierte: Kopf hoch, Blick gewollt kurzsichtig, Brust und Schultern gerade über einem wiegenden Giraffengang.
An einem bestimmten Punkt blockierte mich der natürliche Fluss in einer Ecke hinter einem Tisch, im Rücken von Lorenza und Belbo, die sich endlich getroffen hatten, vielleicht per Zufall, und gleichfalls blockiert waren. Ich weiß nicht, ob sie meine Anwesenheit bemerkt hatten, aber bei dem allgemeinen Lärm hörte ohnehin niemand mehr, was die anderen sagten. Sie betrachteten sich als allein miteinander, und ich war gezwungen, ihr Gespräch mit anzuhören.
»Also«, sagte Belbo, »wo hast du deinen Agliè kennengelernt?«
»Meinen? Auch deinen, nach dem, was ich heute gesehen habe. Du meinst wohl, nur du darfst Simon kennen und ich nicht. Na bravo!«
»Wieso nennst du ihn Simon? Weil er dich Sophia nennt?«
»Ach, das ist doch ein Spiel! Ich hab ihn bei Freunden kennengelernt, okay? Und ich finde ihn faszinierend. Er küsst mir die Hand, als ob ich eine Prinzessin wäre. Und er könnte mein Vater sein.«
»Pass auf, daß er nicht dein Kindsvater wird.«
Mir war, als hörte ich mich mit Amparo reden, in Bahia. Lorenza hatte recht — Agliè wusste, wie man einer jungen Frau die Hand küsst, die diesen Ritus nicht kennt.
»Wieso Simon und Sophia?« beharrte Belbo. »Heißt er Simon?«
»Also das ist 'ne tolle Geschichte. Hast du gewusst, daß unser Universum durch einen Irrtum entstanden ist und daß es ein bisschen meine Schuld war? Sophia war der weibliche Teil von Gott, weil damals war Gott mehr Frau als Mann, und ihr seid es dann gewesen, die ihm den Bart verpasst habt und ihn Er genannt habt. Ich war seine gute Hälfte. Simon sagt, ich wollte die Welt hervorbringen, ohne um Erlaubnis zu fragen, ich, die Sophia, die sich auch, warte mal... Ja: die Ennoia nennt. Ich glaube, mein männlicher Teil wollte nicht kreieren — vielleicht hatte er nicht den Mut dazu, vielleicht war er impotent —, na jedenfalls ich, statt mich mit ihm zusammenzutun, wollte die Welt alleine machen, ich konnte nicht widerstehen, ich glaube, es war aus zu großer Liebe, ja wirklich, ich liebe dieses ganze chaotische Universum. Deswegen bin ich die Seele dieser Welt. Sagt Simon.«
»Wie nett. Sagt er so was allen?«
»Nein, Dummkopf, nur mir. Weil er mich besser versteht als du, weil er nicht versucht mich nach seinem Idealbild zurechtzustutzen. Er begreift, daß ich das Leben auf meine Art leben muß. Und genauso hat's die Sophia gemacht, sie hat nicht lange gefragt sondern hat einfach angefangen, die Welt zu machen. Sie hat sich mit der Urmaterie besudelt, die ekelhaft war, ich glaub, die benutzte noch keine Deodorants, und es war nicht mit Absicht — aber ich glaube, sie war's, die Sophia, die dann den Dingsda gemacht hat, den Demo... wie heißt er noch gleich?«
»Meinst du den Demiurg?«
»Ja genau, den. Ich weiß nicht mehr, ob dieser Demiurg, ob den jetzt die Sophia gemacht hat oder ob er schon da war und sie ihn bloß aufgestachelt hat: He, Blödmann, los, mach die Welt, daß wir uns amüsieren können! Der Demiurg muß ein Chaot gewesen sein, er hat nämlich nicht gewusst, wie er die Welt ordentlich machen sollte, und er hätte sie eigentlich gar nicht machen dürfen, denn die Materie ist schlecht, und er war nicht befugt, die Hände da reinzustecken. Na jedenfalls hat er dann zusammengepfuscht, was er eben zusammengepfuscht hat, und die Sophia ist drin stecken geblieben. Als Gefangene der Welt.«
Lorenza redete schnell und trank viel. Alle paar Minuten, während in der Mitte des Saales schon viele mit geschlossenen Augen wippten und zuckten, kam Riccardo vorbei und goss ihr nach. Belbo versuchte ihn daran zu hindern, sagte, Lorenza hätte genug getrunken, aber Riccardo lachte und schüttelte bloß den Kopf, und sie rebellierte und behauptete, sie vertrüge den Alkohol besser als Jacopo, weil sie jünger sei.
»Okay, okay«, sagte Belbo. »Hör nicht auf Opa. Hör lieber auf Simon. Was hat er dir noch gesagt?«
»Na eben, daß ich die Gefangene dieser Welt bin, oder genauer, der bösen Engel... In dieser Geschichte sind nämlich die Engel böse und haben dem Demiurg geholfen, all das Chaos anzurichten... Und diese bösen Engel also, die halten mich fest und wollen mich nicht loslassen und quälen mich. Aber ab und zu gibt's einen Menschen, der mich erkennt. Wie Simon. Er sagt, das wär ihm schon mal passiert, vor tausend Jahren... Weil, das hab ich dir noch nicht gesagt, Simon ist praktisch unsterblich, wenn du wüsstest, was der alles schon erlebt hat...
»Sicher, sicher. Aber jetzt hör auf zu trinken.«
»Ssst.. Simon hat mich einmal getroffen, da war ich 'ne Prostituierte in einem Bordell von Tyrus, und er nannte mich Helena... «
»Das sagt dieser Herr zu dir? Und du bist ganz glücklich darüber? Gestatten, daß ich Ihnen die Hand küsse, Sie Flittchen meines Scheißuniversums... Feiner Gentleman!«
»Das Flittchen war höchstens diese Helena. Und außer dem, wenn man damals Prostituierte sagte, meinte man eine freie Frau, eine Frau ohne Fesseln, eine Intellektuelle, eine, die nicht Hausfrau sein wollte, du weißt doch selber, daß eine Prostituierte damals eine Kurtisane war, eine, die einen Salon führte, heute würde sie Public Relations machen, nennst du eine PR-Dame eine Hure, als wär sie 'ne billige Nutte, die's den Lastwagenfahrern besorgt?«
In diesem Moment kam Riccardo von neuem vorbei, fasste Lorenza am Arm und sagte: »Komm tanzen.«
Sie gingen in die Saalmitte, stellten sich voreinander auf und deuteten schleppende, etwas verträumte Bewegungen an, als schlügen sie auf eine Trommel. Aber hin und wieder zog er sie an sich und legte ihr eine Hand auf den Nacken, besitzergreifend, und sie folgte ihm mit geschlossenen Augen, das Gesicht glühend, den Kopf zurückgeworfen, so daß ihre Haare frei und senkrecht hinunterfielen. Belbo steckte sich eine Zigarette nach der andern an.
Nach einer Weile fasste Lorenza Riccardo an den Hüften und schob ihn langsam in unsere Richtung, bis sie nur noch einen Meter von Belbo entfernt waren. Ohne ihren Tanz zu unterbrechen, nahm Lorenza ihm den Pappbecher aus der Hand. Hielt Riccardo mit der Linken, den Becher in der Rechten, sah mit feucht glänzenden Augen zu Belbo und schien zu weinen, aber sie lächelte... Und sprach zu ihm.
»Und es war nicht das einzige Mal, weißt du?«
»Das einzige Mal was?« fragte Belbo.
»Daß er Sophia getroffen hat. Viele Jahrhunderte später war Simon auch Guillaume Postel.«
»Hat er Briefe ausgetragen?«
»Idiot. Das war ein Gelehrter in der Renaissance, der fließend jüdisch las... «
»Hebräisch.«
»Von mir aus. Er las es, wie die Jungs heute Mickymaus lesen. Kapierte es auf Anhieb. Na, und in einem Hospital in Venedig, da trifft er auf eine alte analphabetische Dienerin, seine Johanna, er sieht sie an und sagt: klarer Fall, das ist die neue Inkarnation der Sophia, der Ennoia, das ist die Große Mutter des Universums, herniedergestiegen zu uns, um die ganze Welt zu erlösen, die eine weibliche Seele hat. Und so nimmt der Postel die Johanna zu sich, alle erklären ihn für verrückt, aber er lässt sich nicht beirren, er betet sie an, er will sie aus der Gefangenschaft der Engel befreien, und als sie stirbt, bleibt er eine Stunde lang an ihrem Bett sitzen und starrt in die Sonne, und tagelang sitzt er so da, ohne zu essen und zu trinken, bewohnt von Johanna, die nicht mehr da ist, aber es ist, als ob sie noch da wäre, denn sie ist immer da, sie bewohnt die Welt, und ab und zu taucht sie wieder auf, um sich, wie sagt man, zu inkarnieren... Ist das nicht eine Geschichte zum Heulen?«
»Ich zerfließe in Tränen. Und dir gefällt es so sehr, seine Sophia zu sein?«
»Aber ich bin doch auch deine, Liebster! Weißt du, daß du, ehe du mich gekannt hast, ganz schreckliche Krawatten hattest und Schuppen hinten auf dem Jackett?«
Riccardo hielt sie wieder im Nacken. »Darf ich mich an der Konversation beteiligen?«
»Du sei still und tanz weiter. Du bist das Werkzeug meiner Lust«
»Is mir auch recht.«
Belbo sprach weiter, als ob der andere nicht existierte. »Also dann bist du seine Prostituierte, seine feministische PR-Dame, und er ist dein Simon?«
»Ich heiße nicht Simon«, sagte Riccardo, schon etwas lallend.
»Von dir reden wir nicht«, sagte Belbo. Seit ein paar Minuten hatte ich mir Sorgen um ihn gemacht. Er, der gewöhnlich so sehr darauf bedacht war, seine Gefühle für sich zu behalten, machte ihr eine Eifersuchtsszene vor einem Zeugen, ja einem Rivalen. Aber an diesem letzten Satz wurde mir klar, daß er, indem er sich vor dem anderen entblößte — während der wahre Gegner noch ein ganz anderer war —, in der einzigen Weise, die ihm vergönnt war, seinen Besitzanspruch auf Lorenza erneuerte.
Unterdessen antwortete ihm Lorenza, nachdem sie sich einen weiteren Schluck von jemandem genommen hatte: »Aber doch nur zum Spaß. Ich liebe doch dich.«
»Bin ja schon froh, wenn du mich nicht hasst. Hör zu, ich möchte jetzt gern nach Hause, ich hab eine Magenverstimmung. Ich bin leider noch Gefangener der niederen Materie. Mir hat Simon nichts versprochen. Kommst du mit?«
»Ach lass uns doch noch ein bisschen bleiben. Es ist grad so schön. Amüsierst du dich nicht? Und außerdem, ich hab mir die Bilder noch gar nicht richtig angesehen. Hast du gesehn, Riccardo hat auch eins über mich gemacht.«
»Was würd ich nicht alles gern über dich machen!« sagte Riccardo.
»Du bist vulgär. Nimm die Pfoten weg, ich rede mit Jacopo. Herrgott, Jacopo, darfst denn bloß du intellektuelle Spielchen mit deinen Freunden treiben und ich nicht? Wer ist es denn, der mich wie eine Prostituierte aus Tyrus behandelt? Du!«
»Na klar doch. Ich. Ich bin es, der dich alten Herren in die Arme treibt.«
»Er hat nie versucht, mich in die Arme zu nehmen. Er ist kein Lüstling. Es stört dich wohl, daß er nicht mit mir ins Bett will, sondern mich als eine intellektuelle Partnerin betrachtet.«
»Animierdame.«
»Das hättest du jetzt nicht sagen dürfen. Riccardo, bring mich irgendwohin, wo's noch was zu trinken gibt.«
»Nein, warte«, sagte Belbo. »Sag mir jetzt, ob du ihn ernst nimmst, ich will endlich kapieren, ob du verrückt bist oder nicht. Und hör auf zu trinken. Sag mir verdammt noch mal, ob du ihn ernst nimmst?«
»Aber Liebster, das ist doch ein Spiel zwischen mir und ihm. Und dann, das Schöne an der Geschichte ist: wenn die Sophia kapiert, wer sie ist, und sich aus der Tyrannei der Engel befreit, dann kann sie sich frei von Sünde bewegen... «
»Hast du aufgehört zu sündigen?«
»Ach bitte, überleg's dir noch mal«, sagte Riccardo und küsste sie schamhaft auf die Stirn.
»Im Gegenteil«, antwortete sie Belbo, ohne den Maler zu beachten. »Alle diese Sachen da sind jetzt keine Sünde mehr, man kann alles machen, was man will, um sich vom Fleisch zu befreien, man ist jenseits von Gut und Böse.«
Mit einem Stoß schob sie Riccardo weg und rief laut in den Saal: »Ich bin die Sophia, und um mich von den Engeln zu befreien, muß ich alle Sünden prepetieren... prerpuetieren... per-pe-trieren, auch die allerschönsten!«
Sie ging leicht schwankend in eine Ecke, wo ein ganz in Schwarz gekleidetes Mädchen mit dicken Lidschatten und sehr blassem Teint saß, zog es in die Mitte des Saales und begann mit ihm zu tanzen. Die beiden tanzten fast Bauch an Bauch, mit schlaff herunterhängenden Armen. »Ich kann auch dich lieben«, sagte Lorenza. Und küsste sie auf den Mund.
Die anderen bildeten einen Halbkreis um sie, ein bisschen erregt, und jemand rief etwas. Belbo hatte sich hingesetzt und betrachtete die Szene mit einem undurchdringlichen Ausdruck, wie ein Impresario, der einer Theaterprobe zuschaut. Er schwitzte und hatte ein nervöses Zucken am linken Auge, das ich noch nie an ihm bemerkt hatte. Dann plötzlich, als Lorenza schon mindestens fünf Minuten lang tanzte und ihre Bewegungen immer lasziver wurden, straffte er sich und sagte scharf. »Komm jetzt her!«
Lorenza blieb stehen, spreizte die Beine auseinander, streckte die Arme nach vorn und schrie: »Ich bin die Heilige und die Hure!«
»Du bist ein Haufen Scheiße«, sagte Belbo, stand auf, ging geradewegs auf sie zu, packte sie hart am Handgelenk und zog sie zur Tür.
»Lass mich!« schrie sie. »Was erlaubst du dir... « Dann brach sie in Schluchzen aus und warf ihm die Arme um den Hals. »Liebster, ich bin doch deine Sophia! Du wirst dich doch nicht wegen so was aufregen...«
Belbo legte ihr sanft den Arm um die Schultern, küsste sie auf die Schläfe und strich ihr die Haare aus der Stirn, dann sagte er in den Saal: »Entschuldigt, sie ist es nicht gewohnt, so viel zu trinken.«
Ich hörte ein paar Leute kichern. Ich glaube, auch Belbo hatte es gehört. Er entdeckte mich auf der Türschwelle und machte etwas, von dem ich bis heute nicht weiß, ob es für mich, für die anderen oder für ihn selbst bestimmt war. Er machte es gedämpft, mit halblauter Stimme, als die anderen sich schon abgewandt hatten.
Den Arm immer noch um Lorenzas Schultern, drehte er sich halb zum Saal herum und machte leise, wie jemand, der eine Selbstverständlichkeit sagt: »Kikerikiii.«
51
Wann derohalben ein kabbalistischer Großkopfeter dir etwas sagen will, so denke nicht, er sage dir etwas Frivoles, etwas Vulgäres, etwas Gemeines: sondern ein Geheimnis, ein Orakel...
Thomaso Garzoni, Il Theatro de vari e diverse cervelli mondani, Venedig, Zanfretti, 1583, Discorso XXXVI
Das Bildmaterial, das ich in Mailand und Paris gefunden hatte, genügte nicht. Signor Garamond genehmigte mir eine Reise nach München, zum Deutschen Museum.
Ich verbrachte einige Abende in den Bars von Schwabing — soll heißen in jenen immensen Krypten, wo ältere Herren mit Schnauzbart und kurzen Lederhosen Blechmusik oder Hackbrett spielen, während die Paare, dicht gedrängt eins neben dem andern sitzend, sich durch Rauchschwaden voller Schweinsbratendunst über riesigen Maßkrügen zulächeln — und die Nachmittage im Lesesaal mit der Durchsicht des Fotoarchivs. Ab und zu ging ich ins Museum hinüber, wo alles nachgebaut worden ist, was je ein menschliches Hirn hat erfinden können: Man drückt auf einen Knopf, und Dioramen von Ölfeldern beleben sich mit stampfenden Pumpen, man spaziert durch ein echtes Unterseeboot, man lässt die Planeten kreisen, man spielt Chemiefabrik und Atomkraftwerk... Ein weniger gotisches und ganz auf die Zukunft ausgerichtetes Conservatoire, bewohnt von lärmenden Schulklassen, die das Ingenium der Ingenieure lieben lernen.
Im Deutschen Museum lernt man auch alles über den Bergbau: Man steigt eine Treppe hinunter und betritt ein richtiges Bergwerk, komplett mit Stollen, Fahrkörben für Menschen und Pferde, engen Schläuchen, in denen ausgemergelte Kinder (aus Wachs, hoffe ich) kriechend ihre Fronarbeit verrichten. Man wandert durch endlose finstere Gänge, schaut in einen Brunnen ohne Boden, spürt die Kälte in den Knochen und meint beinahe das Grubengas zu riechen. Alles im Maßstab eins zu eins.
Ich gelangte in einen Seitengang, verlor schon die Hoffnung, das Tageslicht jemals wiederzusehen, und entdeckte am Rande eines Abgrunds jemanden, der mir bekannt vorkam. Das Gesicht hatte ich schon irgendwo gesehen, faltig und grau, mit weißem Haar und Eulenblick, aber mir war, als müsste er anders gekleidet sein, als hätte ich dieses Gesicht über einer Art Uniform gesehen, wie wenn man einen Priester nach langer Zeit in Zivil wiedersieht oder einen Kapuziner ohne Bart. Auch er sah mich an, auch er zögernd. Und wie es in solchen Fällen geschieht, nach einem Duell kurzer Blicke ergriff er die Initiative und begrüßte mich auf italienisch. Mit einem Mal konnte ich ihn mir in seiner Berufskleidung vorstellen — er brauchte nur einen langen gelblichen Kittel zu tragen und wäre der Signor Salon gewesen. A. Salon, Taxidermist, derselbe, der sein Labor direkt neben meinem Büro hatte, am selben Flur in der aufgelassenen Fabrik, wo ich den Marlowe des Wissens spielte. Ich war ihm ein paar mal auf der Treppe begegnet, und wir hatten uns kurz gegrüßt.
»Kurios«, sagte er, während er mir die Hand reichte, »da sind wir nun so lange schon Nachbarn und stellen uns hier in den Eingeweiden der Erde vor, tausend Meilen entfernt.«
Wir wechselten ein paar höfliche Sätze. Ich hatte den Eindruck, daß er recht genau wusste, was ich tat, und das war nicht wenig, bedenkt man, daß ich es nicht einmal selbst genau wusste. »Was tun Sie denn hier in einem Museum der Technik? In Ihrem Verlag beschäftigt man sich doch eher mit geistigen Dingen, scheint mir.«
»Woher wissen Sie das?«
»Och... « Er machte eine vage Geste. »Die Leute reden, ich bekomme viel Besuch... «
»Was für Leute kommen denn so zu einem Tierausstopfer? Pardon: zu einem Taxidermisten?«
»Alle möglichen. Sie werden sagen, wie's alle tun, das sei kein alltäglicher Beruf. Aber es mangelt mir nicht an Kunden, und sie kommen von überall her. Museumsleute, private Sammler.«
»Es passiert mir nicht oft, daß ich ausgestopfte Tiere in privaten Häusern sehe«, sagte ich.
»Nein? Das hängt davon ab, welche Häuser Sie frequentieren... Oder welche Keller.«
»Hält man sich ausgestopfte Tiere im Keller?«
»Manche tun es. Nicht alle Krippen stehen im Licht der Sonne — oder des Mondes. Ich misstraue zwar solchen Kunden, aber Sie wissen ja, die Arbeit... Ich misstraue den Untergründen.«
»Und deshalb spazieren Sie hier durch die Untergründe?«
»Ich kontrolliere. Ich misstraue den Untergründen, aber ich will sie begreifen. Es gibt ja nicht allzu viele Möglichkeiten. Die Katakomben von Rom, werden Sie sagen. Da gibt's kein Geheimnis mehr, die sind voller Touristen und kontrolliert von der Kirche. Es gibt die Kloaken von Paris... Sind Sie mal da gewesen? Man kann sie montags, mittwochs und an jedem letzten Samstag im Monat besichtigen, der Eingang ist beim Pont de l'Alma. Auch das ein Touristenziel. Natürlich gibt's in Paris auch die Katakomben, und die unterirdischen Höhlen. Zu schweigen von der Metro. Waren Sie je an Nummer 145 der Rue La Fayette?«
»Ich muß gestehen, nein.«
»Ein bisschen abseits, zwischen der Gare de l'Est und der Gare du Nord. Auf den ersten Blick ein unscheinbares Gebäude. Nur wenn man genauer hinsieht, entdeckt man, daß die Türen zwar aussehen wie aus Holz, aber in Wahrheit aus bemaltem Eisen sind, und die Zimmer hinter den Fenstern sind seit Jahrhunderten unbewohnt. Nie brennt da ein Licht. Aber die Leute gehen vorbei und wissen nicht«
»Wissen nicht was?«
»Daß das Haus nur vorgetäuscht ist Es ist nur Fassade, eine Hülle ohne Dach, ohne Inneres. Leer. Es kaschiert die Mündung eines Kamins. Dient zur Be- und Entlüftung der Metro. Und wenn Sie das begreifen, haben Sie das Gefühl, vor dem Eingang der Unterwelt zu stehen, als würden Sie, wenn Sie nur in diese Mauern eindringen könnten, ins unterirdische Paris gelangen. Ich habe manchmal Stunden um Stunden vor diesen Scheintüren verbracht, die das Tor der Tore maskieren, den Abfahrtsbahnhof zur Reise ins Zentrum der Erde. Warum, meinen Sie, hat man das gemacht?«
»Um die Metro zu belüften, sagten Sie doch.«
»Dafür hätten ein paar Luken genügt. Nein, es sind diese Untergründe, vor denen ich Verdacht zu schöpfen begann. Verstehen Sie mich?«
Das Reden über die Dunkelheit schien ihn aufzuheitern. Ich fragte ihn, weshalb er die Untergründe so verdächtig fand.
»Nun, weil die Herren der Welt, wenn es sie gibt, nur unter der Erde sein können. Das ist eine Wahrheit, die alle ahnen, aber nur wenige auszusprechen wagen. Der einzige, der den Mut besaß, es in klaren Worten zu sagen, war vielleicht Saint-Yves d'Alveydre. Kennen Sie ihn?«
Vielleicht hatte ich den Namen schon irgendwann von einem der Diaboliker gehört, aber ich erinnerte mich nicht genau.
»Er ist es, der von Agarttha gesprochen hat, von der unterirdischen Residenz des Königs der Welt, dem verborgenen Zentrum der Synarchie«, sagte Salon. »Er hatte keine Angst, er fühlte sich seiner selbst sicher. Doch alle, die ihm öffentlich gefolgt sind, wurden eliminiert, weil sie zu viel wussten.«
Wir setzten unseren Gang durch die Stollen fort, und Salon warf beim Sprechen zerstreute Blicke umher, spähte in die Einmündung anderer Stollen, in die Tiefe anderer Brunnen, als suchte er im Halbdunkel nach einer Bestätigung seines Verdachts.
»Haben Sie sich jemals gefragt, warum alle großen modernen Metropolen sich Ende des vorigen Jahrhunderts so beeilten, Untergrundbahnen zu bauen?«
»Um Verkehrsprobleme zu lösen. Oder nicht?«
»Als es noch gar keinen Autoverkehr gab und nur Pferdedroschken durch die Straßen rollten? Von einem Mann Ihres Geistes hätte ich mir eine subtilere Erklärung erwartet!«
»Und haben Sie eine?«
»Vielleicht«, sagte Signor Salon, und es schien, als sagte er es mit abwesender und gedankenversunkener Miene. Doch es war eine Art, das Gespräch abzublocken. Und tatsächlich bemerkte er nun, er müsse jetzt gehen. Dann, nachdem er mir erneut die Hand gereicht hatte, blieb er noch einen Augenblick stehen, als fiele ihm gerade noch etwas ein: »Apropos, dieser Oberst... wie hieß er doch gleich, der damals vor Jahren zu Garamond gekommen war, um Ihnen von einem Schatz der Templer zu erzählen? Haben Sie nie wieder von ihm gehört?«
Ich stand wie vom Schlag gerührt vor dieser brüsken und indiskreten Enthüllung von Kenntnissen, die ich für intim und begraben gehalten hatte. Ich wollte ihn fragen, woher er das wisse, aber ich fürchtete mich davor. So sagte ich nur mit möglichst indifferenter Miene: »Ach, eine alte Geschichte, hatte ich ganz vergessen... Aber apropos, warum haben Sie ›apropos‹ gesagt?«
»Habe ich ›apropos‹ gesagt? Ach ja, gewiss, mir schien, als hätte er etwas in einem Untergrund gefunden... «
»Woher wissen Sie das?«
»Weiß nicht mehr. Kann mich nicht mehr erinnern, wer mir davon erzählt hat. Vielleicht ein Kunde. Aber ich horche immer auf, wenn Untergründe erwähnt werden. Eine Altersmanie. Guten Abend.«
Er ging davon, und ich blieb stehen, um dieser Begegnung nachzusinnen.
52
In gewissen Regionen des Himalaja, zwischen den zweiundzwanzig Tempeln, welche die zweiundzwanzig Arcana des Hermes darstellen und die zweiundzwanzig Buchstaben einiger heiliger Alphabete, bildet Agarttha die mystische Null, das unauffindbare Alles und Nichts — alles für die Synarchie, nichts für die Anarchie... Der Leser stelle sich ein kolossales Schachbrett vor, das sich unterirdisch erstreckt, durch fast alle Regionen des Erdballs.
Saint -Yves d’Alveydre, Mission de l’Inde en Europe, Paris,Calmann-Lévy, 1886, p. 54 und 65
Zurück in Mailand, erzählte ich Belbo und Diotallevi von meinem Erlebnis, und wir stellten verschiedene Hypothesen auf. Salon, ein Exzentriker und Schwätzer, der sich in gewisser Weise an Mysterien delektierte, hatte Ardenti getroffen, und das war alles. Oder: Salon wusste etwas über Ardentis Verschwinden und arbeitete für die, die ihn hatten verschwinden lassen. Oder auch: Salon war ein Informant der Polizei...
Dann sahen wir andere Diaboliker, und Salon vermischte sich mit seinesgleichen.
Ein paar Tage später hatten wir Agliè zu Besuch, der uns über einige Manuskripte referierte, die Belbo ihm zur Begutachtung zugesandt hatte. Er beurteilte sie präzise, streng und mit Nachsicht. Agliè war scharfsinnig, es hatte ihn nicht viel gekostet, das Doppelspiel Garamond-Manuzio zu durchschauen, und wir hatten ihm die Wahrheit nicht länger verschwiegen. Er schien zu verstehen und zu verzeihen. Er vernichtete einen Text mit wenigen schneidenden Sätzen, dann fügte er mit sanftem Zynismus hinzu, für Manuzio sei er gerade recht.
Ich fragte ihn, was er uns über Agarttha und Saint-Yves d'Alveydre sagen konnte.
»Saint-Yves d'Alveydre...«, begann er. »Ein bizarrer Geselle, ohne Zweifel, seit früher Jugend frequentierte er die Anhänger von Fabre d'Olivet. Er war nur ein Angestellter im Innenministerium, aber ambitioniert... Freilich fand seine Ehe mit Marie-Victoire nicht unseren Beifall... «
Agliè hatte nicht widerstanden. Er war zur ersten Person übergegangen. Er rief sich Erinnerungen ins Gedächtnis.
»Wer war Marie-Victoire? Ich liebe Klatschgeschichten«, sagte Belbo.
»Marie-Victoire de Risnitch, eine strahlende Schönheit, als sie noch Busenfreundin der Kaiserin Eugenie war. Aber als sie Saint-Yves begegnete, hatte sie die Fünfzig bereits überschritten. Er war in den Dreißigern. Eine Mesalliance für sie, das ist nur natürlich. Aber damit nicht genug, um ihm einen Titel zu verschaffen, kaufte sie ihm auch Ländereien von einem gewissen Marquis d'Alveydre, und so konnte sich unser Bruder Leichtfuß nun mit diesem Titel schmücken, und in Paris sang man Couplets über den ›Gigolo‹. Da er jetzt von der Rendite leben konnte, überließ er sich seinen Träumen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, eine politische Formel zu finden, die imstande wäre, eine harmonischere Gesellschaft herbeizuführen. Synarchie als das Gegenteil von Anarchie. Eine gesamteuropäische Gesellschaft, regiert von drei Räten als Repräsentanten der ökonomischen Macht, der Justiz und der geistigen Mächte, das heißt der Kirchen und der Wissenschaften. Eine aufgeklärte Oligarchie, die mit den Klassenkämpfen Schluss machen sollte. Wir haben schon Schlimmeres gehört.«
»Und Agarttha?«
»Er sagte, eines Tages sei er von einem mysteriösen Afghanen besucht worden, einem gewissen Hadji Scharipf, der kein Afghane gewesen sein konnte, da der Name ganz klar albanisch ist... Und dieser Mann habe ihm das Geheimnis der Residenz des Königs der Welt verraten, wenn auch Saint- Yves diesen Ausdruck nie benutzt hat, das haben dann die anderen getan: Agarttha, das Unauffindbare.«
»Aber wo hat er denn diese Dinge gesagt?«
»In Mission de l'Inde en Europe, einem Werk, das große Teile des zeitgenössischen politischen Denkens beeinflusst hat. In Agarttha gibt es unterirdische Städte, unter deren Boden und weiter hinunter in Richtung des Erdmittelpunktes gibt es fünftausend Pandits, die sie regieren — selbstverständlich erinnert die Zahl fünftausend an die hermetischen Wurzeln der vedischen Sprache, wie Sie zweifellos wissen. Und jede Wurzel ist ein magisches Hierogramm, verbunden mit einer himmlischen Macht und mit der Sanktion einer höllischen Macht. Die zentrale Kuppel von Agarttha wird von oben erleuchtet durch besondere Spiegel, die das Licht nur durch die enharmonische Farbskala eintreten lassen, von welcher das Sonnenspektrum unserer Physiklehrbücher nur die diatonische Skala darstellt. Die Weisen von Agarttha studieren alle heiligen Sprachen, um zur Universalsprache zu gelangen, dem Vattan. Wenn sie allzu tiefe Geheimnisse angehen, erheben sie sich von der Erde und schweben nach oben und würden sich den Schädel an der Kuppelwölbung einschlagen, wenn ihre Brüder sie nicht zurückhielten. Sie präparieren die Blitze, lenken die zyklischen Ströme der interpolaren und intertropikalen Flüsse, die interferentiellen Derivationen in den diversen Längen- und Breitenzonen der Erde. Sie selektionieren die Arten und Gattungen, sie haben kleine Tiere geschaffen, die jedoch außergewöhnliche psychische Tugenden besitzen, Tiere mit einem Schildkrötenpanzer und einem gelben Kreuz auf dem Rücken und einem Auge und einem Mund an jeder Extremität, vielfüßige Tiere, die sich in jeder Richtung bewegen können. Nach Agarttha haben sich vermutlich die Templer zurückgezogen, als sie aufgelöst worden sind, und dort erfüllen sie nun Überwachungsaufgaben. Noch was?«
»Aber... meinte er das im Ernst«? fragte ich.
»Ich glaube, er nahm die Geschichte wörtlich. Zu Anfang hielten wir ihn für einen exaltierten Schwärmer, dann wurde uns klar, daß er, vielleicht in visionärer Weise, auf eine verborgene Lenkung der Geschichte anspielte. Sagt man nicht, die Geschichte sei ein blutiges, sinnloses Rätsel? Unmöglich, es muß einen Plan in ihr geben. Es muß eine Vernunft in ihr walten, ein Geist. Deshalb haben verständige Männer im Laufe der Jahrhunderte an Herren der Welt oder an einen König der Welt gedacht, vielleicht nicht an eine Person im physischen Sinne, eher an eine Rolle, eine kollektive Rolle, an die von Mal zu Mal stets nur provisorische Inkarnation eines Stabilen Willens. Etwas, womit gewiss die großen verschwundenen Priester- und Ritterorden in Kontakt waren.«
»Glauben Sie daran?« fragte Belbo.
»Besonnenere Leute als er suchen nach den Unbekannten Oberen.«
»Und finden sie?«
Agliè lachte still vor sich hin. »Was wären das für Unbekannte Obere, wenn sie sich jedem Hergelaufenen zu erkennen gäben? Meine Herren, wir müssen arbeiten. Ich habe noch ein Manuskript, und wie's der Zufall will, ist es genau eine Abhandlung über Geheimgesellschaften.«
»Brauchbar?«
»Wo denken Sie hin? Aber für Manuzio könnte es gehen.«
53
Da sie die irdischen Geschicke nicht unverhüllt lenken kann, weil die Regierungen sich widersetzen würden, kann diese mysteriöse Vereinigung nur vermittels Geheimgesellschaften agieren... Diese Geheimgesellschaften, die je nach Bedarf geschaffen wurden, zerfallen in verschiedene und scheinbar entgegengesetzte Gruppen, die von Mal zu Mal die unterschiedlichsten Meinungen vertreten, um getrennt und mit Vertrauen zueinander sämtliche religiösen, politischen, ökonomischen und literarischen Parteien zu lenken, und sie verbinden sich, um eine gemeinsame Richtung daraus zu empfangen, mit einem unbekannten Zentrum, in dem die mächtige Triebfeder verborgen ist, welche auf diese Weise unsichtbar alle Szepter der Erde zu bewegen trachtet.
J. M. Hoene-Wronski, zit. in P. Sédir, Histoire et doctrine des Rose-Croix, Rouen 1932
Eines Tages sah ich Signor Salon in der Tür seines Laboratoriums stehen. Er stand im Halbdunkel, und ich erwartete schon, daß er gleich den Ruf eines Käuzchens ausstoßen würde. Er begrüßte mich wie einen alten Freund und fragte, wie es mir »dort unten« ergangen sei. Ich machte eine vage Geste und ging lächelnd vorbei.
Unwillkürlich fiel mir dabei Agarttha ein. Wie Agliè uns die Ideen von Saint-Yves geschildert hatte, mussten sie einem Diaboliker faszinierend vorkommen, aber nicht beunruhigend. Dennoch hatte ich neulich in München eine gewisse Unruhe in Salons Worten und Blicken gespürt.
So beschloss ich, als ich aus dem Haus trat, einen Sprung in die Bibliothek zu machen und nach der Mission de linde en Europe zu suchen.
Im Katalogsaal und am Bestellschalter war das übliche Gedränge. Mit Ellbogenstößen gelang es mir endlich, den gesuchten Karteikasten in die Hand zu bekommen, ich fand den Titel, füllte den Leihschein aus und gab ihn dem Angestellten am Schalter. Er teilte mir mit, der Band sei ausgeliehen, und wie es in Bibliotheken vorkommt, schien er sich darüber zu freuen. Doch im selben Moment ertönte hinter mir eine Stimme: »Sehen Sie nach, er muß da sein, ich habe ihn gerade zurückgegeben.« Ich drehte mich um. Es war der Kommissar De Angelis.
Ich erkannte ihn, und er erkannte mich — zu schnell, wie mir schien. Ich hatte ihn unter für mich außergewöhnlichen Umständen kennengelernt, er mich bei einer Routineuntersuchung. Außerdem trug ich damals ein Bärtchen und die Haare länger. Was für ein Auge!
Hatte er mich womöglich seit meiner Rückkehr überwacht? Oder war er bloß ein guter Physiognomiker? Polizisten müssen den Spürsinn kultivieren, sich Gesichter und Namen gut merken können...
»Sieh da, der Signor Casaubon! Und wir lesen dieselben Bücher!«
Ich reichte ihm die Hand. »Jetzt bin ich Doktor, schon seit einer Weile. Vielleicht bewerbe ich mich bei der Polizei, um nichts zu versäumen, wie Sie's mir damals geraten haben. Dann krieg ich die Bücher zuerst.«
»Man braucht bloß als erster zu kommen«, sagte er. »Aber jetzt ist das Buch wieder da, Sie können sich's später holen. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
Die Einladung verwirrte mich, aber ich konnte sie nicht ablehnen. Wir setzten uns in ein nahes Café. Er fragte, wieso ich mich für die Mission Indiens interessierte, und ich war versucht, sofort zurückzufragen, wieso er sich dafür interessierte, aber ich beschloss, mir erst einmal Rückendeckung zu verschaffen. Sagte also, ich ginge in der Freizeit weiter meinen Studien über die Templer nach — laut Wolfram von Eschenbach hätten die Templer damals Europa verlassen und wären nach Indien gegangen, und nach Ansicht mancher ins Reich von Agarttha. Nun war es an ihm, aus der Deckung zu kommen. »Die Frage ist eher«, sagte ich, »wieso Sie sich dafür interessieren.«
»Och, wissen Sie«, antwortete er, »seit Sie mir damals dieses Buch über die Templer empfohlen haben, versuche ich, mich über das Thema ein bisschen zu informieren, und Sie wissen ja besser als ich, daß man von den Templern ganz automatisch auf Agarttha kommt.« Touché, Volltreffer! Dann fügte er hinzu: »Nein, ich mache nur Spaß. Ich habe das Buch aus anderen Gründen gesucht. Nämlich weil...«, er zögerte, »weil ich in meiner Freizeit gerne in Bibliotheken gehe. Um keine Maschine zu werden, oder um kein Bulle zu bleiben, suchen Sie sich selber die nettere Formel aus. Aber erzählen Sie mir von sich.«
Ich gab ihm einen autobiografischen Kurzbericht, bis zum wunderbaren Abenteuer der Metalle.
»Aber in dem Verlag da«, fragte er, »und in dem andern daneben, machen Sie da nicht Bücher über mysteriöse Wissenschaften?«
Woher wusste er von Manuzio? Informationen aus der Zeit, als er Belbo überwachte, vor Jahren? Oder war er noch immer hinter Ardenti her?
»Nach all diesen Typen wie Oberst Ardenti, die bei Garamond aufgekreuzt sind und die Garamond dann auf Manuzio abzuladen versucht hat«, sagte ich, »hat Signor Garamond nun beschlossen, diesen Zweig zu kultivieren. Scheint daß es sich lohnt. Wenn Sie Typen wie den alten Oberst suchen, die finden Sie da in rauen Mengen.«
»Ja schon«, sagte er. »Aber Ardenti ist verschwunden. Die anderen, hoffe ich, nicht«
»Noch nicht, und ich möchte fast sagen: leider. Aber verzeihen Sie meine Neugier, Herr Kommissar: Ich stelle mir vor, daß Sie mit Leuten, die verschwinden oder noch Schlimmeres, in Ihrem Beruf jeden Tag zu tun haben. Beschäftigen Sie sich mit allen so... lange?«
Er sah mich amüsiert an. »Und was bringt Sie auf den Gedanken, daß ich mich noch immer mit Ardenti beschäftige?«
Okay, er spielte und begann eine neue Runde. Ich musste den Mut haben, sehen zu wollen, und er würde seine Karten aufdecken müssen. Ich hatte nichts zu verlieren. »Also hören Sie, Kommissar«, sagte ich, »Sie wissen alles über Garamond und Manuzio, Sie sind hier, um ein Buch über Agarttha zu suchen... «
»Wieso? Hatte Ardenti über Agarttha gesprochen?«
Wieder getroffen. Tatsächlich hatte Ardenti, soweit ich mich erinnerte, auch über Agarttha gesprochen. Aber ich parierte gut: »Nein, aber er hatte eine Geschichte über die Templer, Sie werden sich erinnern.«
»Richtig«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Aber Sie dürfen nicht glauben, wir verfolgten immer nur einen Fall, bis er gelöst ist. Das passiert nur im Fernsehen. Die Arbeit des Polizisten ist wie die eines Zahnarztes: ein Patient kommt, man macht ihm eine Plombe, verarztet ihn, er kommt nach zwei Wochen wieder, und in der Zwischenzeit hat man hundert andere Patienten. Ein Fall wie der des Oberst Ardenti kann zehn Jahre im Archiv liegen bleiben, dann plötzlich, im Verlauf eines anderen Falles, durch das Geständnis von irgendwem, kommt ein Indiz zutage, peng, mentaler Kurzschluss, und man denkt neu drüber nach... Bis es zu einem weiteren Kurzschluss kommt, oder auch zu keinem mehr, und dann gute Nacht.«
»Und was haben Sie kürzlich entdeckt, das so einen Kurzschluss bei Ihnen ausgelöst hat?«
»Eine indiskrete Frage, meinen Sie nicht? Aber da gibt's keine Geheimnisse, glauben Sie mir. Der Oberst ist mir ganz zufällig wieder eingefallen. Wir haben einen Typ überwacht, aus ganz anderen Gründen, und fanden heraus, daß er den Club Picatrix frequentierte, Sie werden davon gehört haben...«
»Nein, ich kenne bloß die Zeitschrift, nicht den Verein. Was geht denn da vor?«
»Och nichts, gar nichts, das sind ruhige Leutchen, vielleicht ein bisschen exaltiert. Aber mir ist eingefallen, daß auch der Ardenti da verkehrte — die ganze Geschicklichkeit des Polizisten besteht darin, sich zu erinnern, wo er einen Namen schon mal gehört, ein Gesicht schon mal gesehen hat, auch noch nach zehn Jahren. Und da habe ich mich gefragt, was wohl bei Garamond vorgeht. Das ist alles.«
»Und was hat der Club Picatrix mit der Politischen Polizei zu tun?«
»Es mag ja die Impertinenz des reinen Gewissens sein, aber Sie kommen mir unheimlich neugierig vor.«
»Sie waren es, der mich zu einem Kaffee eingeladen hat.«
»Stimmt, und wir sind beide nicht im Dienst. Sehen Sie, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet hat in dieser Welt alles mit allem zu tun.« Ein schönes hermetisches Philosophem, dachte ich. Aber er fügte sofort hinzu: »Womit ich nicht sagen will, diese Leute hätten mit der Politischen Polizei zu tun, aber wissen Sie... Früher suchten wir die Roten Brigaden in den besetzten Häusern und die Schwarzen Brigaden in den diversen Kampfsportvereinen, heute könnte es genau umgekehrt sein. Wir leben in einer bizarren Welt. Ich versichere Ihnen, mein Beruf war vor zehn Jahren leichter. Heute gibt's auch bei den Ideologen keine Religion mehr. Manchmal habe ich Lust, ins Rauschgiftdezernat überzuwechseln. Ein Dealer ist wenigstens noch ein Dealer, da gibt's nichts zu diskutieren. Da hat man's mit sicheren Werten zu tun.«
Er schwieg ein Weilchen, unsicher, glaube ich. Dann zog er ein Notizbuch aus der Tasche, das wie ein Messbuch aussah. »Hören Sie, Casaubon, Sie frequentieren beruflich seltsame Leute, Sie gehen in Bibliotheken, um sich noch seltsamere Bücher auszuleihen. Helfen Sie mir. Was wissen Sie über die Synarchie?«
»Da muß ich leider passen. So gut wie nichts. Ich hab davon reden hören, im Zusammenhang mit Saint-Yves. Das ist alles.«
»Und was redet man so darüber?«
»Wenn man was darüber redet, dann ohne mein Wissen. Offen gesagt, mir stinkt die Sache nach Faschismus.«
»In der Tat, viele dieser Thesen wurden seinerzeit von der Action Française aufgegriffen. Und wenn's dabei geblieben wäre, sähe ich ja noch klar: Wenn ich eine Gruppe finde, die von Synarchie redet, kann ich sie einordnen. Aber ich bin dabei, mich über das Thema zu informieren, und erfahre, daß um 1929 eine gewisse Vivian Postel du Mas und eine Jeanne Canudo die Gruppe Polaris gegründet haben, die sich am Mythos eines Königs der Welt inspirierte, und dann propagierten sie ein synarchisches Projekt: sozialer Dienst gegen kapitalistischen Profit, Beseitigung des Klassenkampfs durch genossenschaftliche Bewegungen... Scheint eine Art Sozialismus fabianischer Prägung gewesen zu sein, eine personalistische und kommunitäre Bewegung. Tatsächlich wurden sowohl Polaris wie auch die irischen Fabianer beschuldigt, Emissäre eines synarchischen Komplotts unter jüdischer Leitung zu sein. Und wer hat sie dessen beschuldigt? Eine Revue internationale des sociétés secrètes, die von einer jüdisch-freimaurerisch-bolschewistischen Verschwörung faselte. Viele ihrer Mitarbeiter gehörten zu einer noch geheimeren rechten Integralistenvereinigung, der Sapinière. Und sie behaupteten, alle revolutionären politischen Organisationen seien nur die Fassade eines teuflischen Komplotts, das von einem okkultistischen Geheimbund gesteuert werde. Nun werden Sie sagen, okay, wir haben uns geirrt, Saint- Yves hat am Ende linksreformistische Gruppen inspiriert, die Rechte macht aus jeder Mücke einen Elefanten und sieht überall Ableger einer Demo-Pluto-Sozial-Judäokratie. Auch Mussolini hat es so gemacht. Aber wieso wird dann diesen Gruppen vorgeworfen, sie würden von okkultistischen Zirkeln beherrscht? Nach dem bisschen, was ich davon weiß — gehen Sie nur mal hin und schauen Sie sich Picatrix an —, sind das Leute, die mit der Arbeiterbewegung wenig im Sinn haben.«
»So dünkt es auch mich, o Sokrates. Und weiter?«
»Danke für den Sokrates, aber je mehr ich über das Thema lese, desto weniger sehe ich klar. Anfang der vierziger Jahre entstehen verschiedene Gruppen, die sich synarchisch nennen, und sie reden von einer neuen europäischen Ordnung unter der Führung einer Regierung von überparteilichen Weisen. Und wo konvergieren dann all diese Gruppen? Im Umkreis der Kollaborateure von Vichy. Jetzt werden Sie sagen, wir hätten uns erneut geirrt, die Synarchie stehe eben rechts. Vorsicht! Nachdem ich so viel gelesen habe, wird mir klar, daß alle sich nur in einem Punkt einig sind: Die Synarchie existiert und regiert insgeheim die Welt. Aber nun kommt das Aber... «
»Aber?«
»Am 24. Januar 1937 wurde Dimitri Navachine, ein Freimaurer und Martinist (ich weiß nicht genau, was Martinisten sind, aber mir scheint, eine von diesen Sekten), damals Berater der Volksfrontregierung in Wirtschaftsfragen, nachdem er zuvor Direktor einer Moskauer Bank gewesen war, ermordet von einer Organisation secrète d’action révoluti-onnaire et nationale, besser bekannt als La Cagoule, finanziert von Mussolini. Damals hieß es, die Cagoule werde von einer geheimen Synarchie geleitet und Navachine sei ermordet worden, weil er ihre Geheimnisse aufgedeckt habe. Später, während der deutschen Besatzung, behauptet ein aus Kreisen der Linken hervorgegangenes Dokument, verantwortlich für die französische Niederlage sei ein synarchischer Pakt des Reiches, und dieser Pakt sei die Manifestation eines lateinischen Faschismus vom portugiesischen Typ. Aber dann kommt heraus, daß der Pakt von den Polaris- Gründerinnen Postel du Mas und Canudo verfasst worden war und Ideen enthielt, die sie längst publiziert und überall verbreitet hatten. Keine Spur von Geheimnis. Aber als geheim, ja top secret werden diese Ideen dann 1946 von einem gewissen Husson enthüllt, der einen linksrevolutionären synarchischen Pakt anprangert, und das in einem Text namens Synarchie, panorama de 25 années d’activité occulte, gezeichnet mit — warten Sie, ja, hier: Geoffroy de Charnay.«
»Das ist jetzt schön«, sagte ich, »Geoffroy de Charnay war der Gefährte von Jacques de Molay, dem Großmeister der Templer. Sie starben zusammen auf dem Scheiterhaufen. Hier hätten wir also einen Neotempler, der die Synarchie von rechts attackiert. Aber die Synarchie ist doch in Agarttha entstanden, dem Refugium der Templer!«
»Was habe ich gesagt? Sehen Sie, Sie geben mir eine weitere Spur. Dummerweise macht sie die Konfusion nur noch größer: Demnach wird von rechts ein synarchischer Pakt des Reiches angeprangert, ein sozialistischer und geheimer, der alles andere als geheim ist, und derselbe geheime synarchische Pakt wird auch von links angeprangert. Und nun kommen wir zu einer neuen Interpretation: Die Synarchie ist eine Verschwörung der Jesuiten zum Umsturz der Dritten Republik. So die These von Roger Mennevée, einem Linken. Um mich zu beruhigen, sagt mir meine Lektüre auch, daß 1943 in einigen Militärkreisen von Vichy, pétainistischen zwar, aber antideutschen, Dokumente zirkulierten, die bewiesen, daß die Synarchie ein Komplott der Nazis war: Hitler war ein Rosenkreuzer, beeinflusst von den Freimaurern, die mithin von der jüdisch-bolschewistischen zur deutsch- imperialen Verschwörung übergegangen sind.«
»Womit wir alles beisammen hätten.«
»Wenn's nur das wäre. Hier noch eine weitere Enthüllung: Die Synarchie ist ein Komplott der internationalen Technokraten. Das behauptet 1960 ein gewisser Villemarest in Le 14ème complot du 13 mai. Das techno-synarchische Komplott will die Regierungen destabilisieren und deshalb provoziert es Kriege, unterstützt und schürt Staatsstreiche, begünstigt interne Spannungen, um die Parteien zu spalten... Erkennen Sie die Melodie?«
»Mein Gott, das ist der SIM, der Imperialistische Staat der Multinationalen Konzerne, von dem die Roten Brigaden vor ein paar Jahren sprachen!«
»Genau! Und was macht nun der Kommissar De Angelis, wenn er irgendwo einen Hinweis auf die Synarchie findet? Er fragt Doktor Casaubon, den Experten für Templer.«
»Und der sagt, es gibt einen Geheimbund mit Verzweigungen in aller Welt, der Komplotte schmiedet, um das Gerücht zu verbreiten, es gebe ein Universales Komplott.«
»Sie scherzen, aber ich... «
»Ich scherze nicht. Kommen Sie mal vorbei und lesen die Manuskripte, die bei Manuzio eintreffen. Aber wenn Sie eine schlichtere Interpretation haben wollen: Das Ganze ist wie der Witz von dem Stotterer, der sagte, sie hätten ihn nicht als Radiosprecher genommen, weil er nicht in der Partei war. Man muß die eigenen Fehler immer anderen zuschreiben, Diktaturen brauchen immer einen äußeren Feind, um ihre Anhänger um sich zu scharen. Wie sagte doch gleich, ich weiß nicht mehr, wer es war: Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung, und die ist die falsche.«
»Und wenn ich eine Bombe in einem Zug finde, eingewickelt in ein Flugblatt, das von Synarchie spricht, begnüge ich mich dann damit zu sagen, das sei eine einfache Lösung für ein komplexes Problem?«
»Wieso? Haben Sie Bomben in Zügen gefunden, die... Nein, entschuldigen Sie. Das wäre wirklich nicht meine Sache. Aber warum sprechen Sie dann mit mir darüber?«
»Weil ich hoffte, Sie wüssten darüber mehr als ich. Weil es mich womöglich erleichtert zu sehen, daß auch Sie damit nicht klarkommen. Sie sagen, Sie müssten zu viele Texte von Verrückten lesen, und halten das für Zeitverschwendung. Ich nicht, für mich sind die Texte Ihrer Verrückten — Ihrer, also der für die normalen Leute Verrückten — wichtige Texte. Vielleicht erklärt mir der Text eines Verrückten, wie jemand denkt, der Bomben in Züge legt. Oder fürchten Sie, ein Polizeispitzel zu werden?«
»Nein, Ehrenwort. Im Grunde ist es mein Beruf, Ideen in Karteikästen zu suchen. Wenn ich auf den richtigen Hinweis stoße, werde ich an Sie denken.«
Während er aufstand, ließ er die letzte Frage fallen: »Und haben Sie unter Ihren Manuskripten nie einen Hinweis auf... etwas namens Tres gefunden?«
»Was ist das?«
»Ich weiß nicht. Muss eine Vereinigung sein oder etwas in der Art, ich weiß nicht mal, ob es wirklich existiert. Ich habe nur davon reden hören, und jetzt ist es mir im Zusammenhang mit den Verrückten eingefallen. Grüßen Sie Ihren Freund Belbo von mir. Sagen Sie ihm, daß ich nicht auf seiner Spur bin. Und daß ich einen scheußlichen Beruf ausübe, der mir scheußlicherweise auch noch gefällt.«
Auf dem Heimweg fragte ich mich, wer von uns beiden das Spiel gewonnen hatte. Er hatte mir eine Menge erzählt, ich nichts. Wenn ich argwöhnisch sein wollte: vielleicht hatte er mir etwas aus der Nase gezogen, ohne daß ich es gemerkt hatte. Aber wer argwöhnisch sein will, gerät leicht in die Psychose des synarchistischen Komplotts.
Als ich Lia von dem Gespräch erzählte, sagte sie: »Also mir scheint, er war ehrlich zu dir. Er wollte sich mal aussprechen. Meinst du, im Polizeipräsidium findet er jemanden, der ihm zuhört, wenn er ihn fragt, ob Jeanne Canudo rechts oder links war? Er wollte bloß rausfinden, ob er's ist, der nichts kapiert, oder ob die Geschichte wirklich zu schwierig ist. Und du bist nicht imstande gewesen, ihm die einzige richtige Antwort zu geben.«
»Und die wäre?«
»Daß es da nichts zu kapieren gibt. Die Synarchie ist Gott.«
»Gott?«
»Ja. Die Menschheit kann den Gedanken nicht ertragen, daß die Welt per Zufall entstanden ist, durch einen Irrtum, bloß weil vier unvernünftige Atome auf der nassen Autobahn ineinandergerast sind. Also muß sie eine kosmische Verschwörung suchen. Gott, die Engel oder die Teufel. Die Synarchie erfüllt dieselbe Funktion, nur in kleinerem Maßstab.«
»Also hätte ich ihm erklären sollen, daß die Leute Bomben in Züge legen, weil sie Gott suchen?«
»Vielleicht.«
54
The prince of darkness is a Gentleman.
(Der Fürst der Finsternis ist ein Edelmann.)
Shakespeare, King Lear, 3, 4, 140
Es wurde Herbst. Eines Morgens ging ich in die Via Marchese Gualdi hinüber, um mir von Signor Garamond die Erlaubnis zu holen, einige Farbdias aus dem Ausland zu bestellen. Im Büro der Signora Grazia sah ich Agliè, über das Autorenverzeichnis von Manuzio gebeugt. Ich störte ihn nicht, da ich mich verspätet hatte und Signor Garamond mich erwartete.
Am Ende unserer Besprechung fragte ich ihn, was Agliè im Sekretariat machte.
»Oh, der ist ein Genie«, sagte Garamond. »Ein Mann von ganz außergewöhnlichem Feingefühl und enormer Bildung. Vorgestern Abend habe ich ihn mit einigen unserer Autoren zum Essen ausgeführt, und er hat mir große Ehre gemacht. Welch eine Konversation, welch ein Stil! Ein echter Gentleman alten Schlages, ein richtiger Herr, von einer Noblesse, wie man sie heute kaum noch findet. Welche Gelehrtheit, welche Kultiviertheit, ich sage noch mehr, welche Informiertheit! Er hat köstliche Anekdoten erzählt über Leute von vor hundert Jahren, ich schwöre es Ihnen, als hätte er sie persönlich gekannt! Und wissen Sie, was für eine glänzende Idee er mir auf dem Heimweg gesteckt hat? Er hatte meine Gäste auf den ersten Blick durchschaut und kannte sie inzwischen besser als ich. Er meinte, wir sollten nicht warten, daß die Autoren der Entschleierten Isis von alleine kämen. Das sei Zeitvergeudung, erst das Palaver, dann die Lektüre der Manuskripte, und dann weiß man nicht, ob sie bereit sind, zu den Unkosten beizutragen. Statt dessen hätten wir eine Goldmine zum Ausbeuten: die Kartei aller Manuzio- Autoren der letzten zwanzig Jahre! Verstehen Sie? Man schreibt einfach an diese unsere ruhmreichen alten Autoren, oder jedenfalls an diejenigen, die auch die Restbestände aufgekauft haben: Lieber Herr, wissen Sie, daß wir eine neue Buchreihe begonnen haben, die sich der traditionellen Weisheit von höchster Spiritualität widmen soll? Müsste es einen Autor von Ihrer Subtilität nicht reizen, in diese Terra incognita einzudringen undsoweiterundsofort... Ein Genie, sage ich Ihnen! Ich glaube, er möchte uns alle am Sonntagabend bei sich haben. Er will uns in ein Schloss führen, in eine Burg, ich sage noch mehr, eine prächtige Villa in den Turiner Hügeln. Scheint, daß da außergewöhnliche Dinge stattfinden werden, ein Ritus, eine Zeremonie, ein Hexensabbat, wo jemand Gold oder Quecksilber oder so etwas fabrizieren wird. Das ist eine ganz neu zu entdeckende Welt, Casaubon, auch wenn ich, Sie wissen es, die größte Achtung vor jener Wissenschaft hege, der Sie sich mit solcher Passion verschrieben haben, ja, ja, ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit — ich weiß, die kleine finanzielle Zulage, auf die Sie mich angesprochen hatten, ich hab's nicht vergessen, wir werden zu gegebener Zeit noch darüber sprechen. Agliè hat mir gesagt, daß auch diese junge Dame dort sein wird, diese schöne Dame — nun, vielleicht ist sie nicht gerade bildschön, aber rassig, sie hat etwas im Blick — ich meine, diese Freundin von Belbo, wie heißt sie doch gleich... «
»Lorenza Pellegrini.«
»Richtig. Ist da was zwischen ihr und unserem Belbo, eh?«
»Ich glaube, sie sind gute Freunde.«
»Ah! So antwortet ein Gentleman. Bravo, Casaubon. Aber es war nicht aus Neugier, es ist vielmehr, weil ich mich für Sie alle hier wie ein Vater fühle und... nun ja, lassen wir das, à la guerre comme à la guerre… Adieu, mein Lieber.«
Wir hatten tatsächlich ein Rendezvous mit Agliè im Turiner Hügelland, bestätigte mir Belbo. Ein doppeltes Rendezvous. Erst am Sonntagabend ein Fest im Schloss eines sehr wohlhabenden Rosenkreuzers, danach würde Agliè uns zu einem Ort ein paar Kilometer weiter führen, woselbst, natürlich um Mitternacht, ein druidischer Ritus stattfinden sollte, über den er sich nur sehr vage geäußert hatte.
»Aber ich dachte mir«, fügte Belbo hinzu, »wir müssten ohnehin letzte Hand an die Geschichte der Metalle legen, und hier sind wir immer zu sehr gestört. Wie wär's, warum fahren wir nicht schon am Samstag los und verbringen das Wochenende in meinem alten Haus in ***? Es ist ein schöner Ort, Sie werden sehen, die Hügel lohnen sich. Diotallevi ist einverstanden, und vielleicht kommt auch Lorenza mit. Natürlich... bringen Sie mit, wen Sie wollen.«
Er kannte Lia nicht, aber er wusste, daß ich eine Freundin hatte. Ich sagte, ich würde alleine kommen. Seit zwei Tagen hatte ich Streit mit Lia. Es war bloß eine Dummheit gewesen, und nach einer Woche war dann auch tatsächlich alles wieder im Lot, aber ich verspürte das Bedürfnis, mich für zwei Tage aus Mailand zu entfernen.
So fuhren wir nach ***, das Trio von Garamond und Lorenza Pellegrini. Bei der Abfahrt hatte es einen Moment der Spannung gegeben. Lorenza war pünktlich zum Treffpunkt gekommen, aber als sie gerade einsteigen wollte, hatte sie plötzlich gesagt: »Vielleicht bleib ich doch lieber hier, dann könnt ihr in Ruhe arbeiten. Ich komm dann mit Simon nach.«
Belbo, der am Steuer saß, hatte die Arme ausgestreckt und starr vor sich hinblickend leise gesagt: »Steig ein.« Lorenza war eingestiegen, vorn neben ihm, und hatte während der ganzen Fahrt die Hand in Belbos Nacken gehalten, der schweigend fuhr.
*** sei noch immer der kleine Marktflecken, den er während des Krieges gekannt habe, erklärte uns Belbo, als wir näher kamen. Wenige Neubauten, die Landwirtschaft im Niedergang, die Jungen in die Stadt abgewandert. Er zeigte auf einige flache Hänge, die jetzt Weideland waren, und sagte, früher seien sie gelb von Weizenfeldern gewesen. Das Städtchen erschien unversehens nach einer Kurve, am Fuß eines Hügels, auf dem Belbos Haus stand. Der Hügel war niedrig, und man sah hinter ihm die Höhen von Monferrat in einem leichten, leuchtenden Dunst. Während wir hinauffuhren, zeigte uns Belbo einen fast kahlen Hügel gegenüber, auf dessen Gipfel eine Kapelle stand, flankiert von zwei Pinien. »Der Bricco«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Macht nichts, wenn euch der Name nichts sagt. Dort ging man Ostern rauf, um das ›Engelspicknick‹ zu machen, am Ostermontag. Heute ist man in fünf Minuten mit dem Auto oben, aber damals ging man zu Fuß, und es war eine Wallfahrt.«
55
Ich nenne Theater [den Ort, an dem] alle Handlungen von Worten und Gedanken sowie die Einzelheiten einer Rede und der Argumente vorgezeigt werden wie in einem öffentlichen Theater, wo man Tragödien und Komödien aufführt.
Robert Fludd, Utriusque Cosmi Historia, Tomi Secundi Tractatus Primi Sectio Secunda, Oppenheim (?) 1620 (?), p. 55
Wir kamen zur Villa — Villa nur sozusagen: es war ein Landhaus mit herrschaftlichem Oberstock, aber unten lagen die großen Kellerräume, in denen Adelino Canepa — der aufmüpfige Halbpächter, der Onkel Carlo bei den Partisanen denunziert hatte — den Wein aus den Gütern der Familie Covasso gekeltert hatte. Man sah, daß es seit langem unbewohnt war.
In einem kleinen Häuschen nebenan lebte noch eine Alte, sagte uns Belbo, die Tante von Adelino — die anderen seien längst alle gestorben, die Cavassos ebenso wie die Canepas, nur noch die Hundertjährige sei übrig geblieben, mit ihrem Gärtchen, ihren vier Hühnern und einem Schwein. Das Land sei verkauft worden, um die Erbschaftssteuer zu bezahlen, oder die Schulden, wer könne das heute noch wissen. Er ging hin und klopfte an die Tür des Häuschens, die Alte erschien und brauchte ein Weilchen, bis sie den Besucher erkannte, dann brach sie in große Ehrbezeigungen aus. Sie wollte uns alle zu sich hereinbitten, doch Belbo stoppte ihren Wortschwall, nachdem er sie umarmt und getröstet hatte.
Wir betraten die Villa, und Lorenza stieß kleine Freudenschreie aus, als sie Treppen, Flure und schattige Zimmer mit alten Möbeln entdeckte. Belbo blieb bei seinem Understatement und murmelte nur, jeder habe eben das Donnafugata, das er sich leisten könne, aber er war sichtlich bewegt. Er komme dann und wann her, sagte er, nur leider sei es recht selten.
»Aber man kann hier sehr gut arbeiten, im Sommer ist es frisch, und im Winter schützen die dicken Mauern vor Kälte, und es gibt überall Öfen. Natürlich, als ich klein war, damals im Krieg, als wir evakuiert waren, da wohnten wir nur in den zwei Zimmern dort am Ende des großen Flurs. Jetzt hab ich den herrschaftlichen Flügel in Besitz genommen. Ich arbeite hier im Arbeitszimmer von Onkel Carlo.« Er zeigte uns einen schönen alten Sekretär, so einen mit wenig Platz zum Ablegen von Papieren, aber mit vielen Schubladen und Geheimfächern. »Hier oben könnte ich Abulafia nicht gut aufstellen«, sagte er. »Aber die wenigen Male, wenn ich hier rauf komme, schreibe ich gern mit der Hand, wie früher.« Er deutete auf einen majestätischen Wandschrank. »Da drinnen, merkt euch das, für wenn ich tot bin, da drinnen ist meine ganze literarische Produktion aus der Jugendzeit, die Gedichte, die ich mit sechzehn geschrieben habe, die Skizzen zu einer Familiensaga in sechs Bänden, die ich mit achtzehn verfasste... naja und so weiter... «
»Herzeigen, herzeigen!« rief Lorenza, klatschte in die Hände und lief katzengleich zu dem Schrank.
»Halt«, sagte Belbo. »Da gibt's nichts zu sehen. Nicht mal ich selber schaue da noch rein. Und wenn ich tot bin, werde ich kommen und alles verbrennen.«
»Dies hier ist sicher ein schöner Ort für Gespenster, hoffe ich«, sagte Lorenza.
»Jetzt schon. Zu den Zeiten von Onkel Carlo nicht, da war's hier sehr heiter. Es war idyllisch, georgisch im Sinne Vergils. Heute komme ich extra deswegen her, wegen dieser bukolischen Stimmung. Es ist schön, am Abend zu arbeiten, wenn drunten im Tal die Hunde bellen.«
Er zeigte uns die Zimmer, wo wir schlafen sollten — ich, Diotallevi und Lorenza. Lorenza sah sich in ihrem Zimmer um, befühlte das alte Bett, auf dem eine große weiße Decke lag, beschnupperte das Laken und sagte, sie komme sich vor wie bei Großmuttern, weil es so nach Lavendel rieche. Belbo widersprach, das sei nur die Feuchtigkeit, die so rieche, Lorenza meinte, das mache nichts, und dann, an die Wand gelehnt, die Hüften und den Unterleib leicht vorgestreckt, als müsste sie den Flipper besiegen, fragte sie: »Aber schlafe ich hier allein?«
Belbo schaute in eine andere Richtung, aber da standen wir, er schaute wieder in eine andere Richtung, dann wandte er sich zur Tür und sagte: »Darüber sprechen wir noch. Auf jeden Fall hast du hier ein Refugium ganz für dich allein.« Diotallevi und ich gingen hinaus, doch wir hörten, wie Lorenza ihn fragte, ob er sich wegen ihr schäme. Er antwortete, wenn er ihr das Zimmer nicht gegeben hätte, hätte sie ihn gefragt, wo er wohl glaube, daß sie schlafen solle. »Ich habe den ersten Schritt getan, so hast du keine Wahl«, sagte er. »Schlaufuchs!« antwortete sie. »Dann schlafe ich eben in meinem Zimmerchen.« — »Schlaf, wo du willst«, sagte er ärgerlich, »aber die andern sind hier, um zu arbeiten, gehen wir auf die Terrasse.«
Und so arbeiteten wir auf einer großen Terrasse im Schutz einer Pergola, bei kalten Säften und viel Kaffee. Alkohol war bis zum Abend verboten.
Von der Terrasse aus sah man den Bricco und darunter, am Fuß des Hügels, einen großen schmucklosen Bau mit einem Hof und einem Fußballfeld. Das Ganze belebt mit kleinen bunten Gestalten, Kindern, wie mir schien. Belbo kam ein erstes Mal darauf zu sprechen: »Das ist das Oratorium der Salesianer. Da hat mir Don Tico spielen beigebracht. In der Blaskapelle.«
Mir fiel die Trompete ein, die Belbo nicht bekommen hatte, damals nach seinem Traum. Ich fragte: »Trompete oder Klarinette?«
Er hatte einen Anflug von Panik: »Woher wissen Sie... Ach ja, stimmt, ich hatte Ihnen von dem Traum mit der Trompete erzählt. Nein, Don Tico hat mir Trompetespielen beigebracht, aber in der Kapelle spielte ich das Baryton.«
»Was ist ein Baryton?«
»Kindergeschichten. Jetzt arbeiten wir.«
Doch während wir arbeiteten, warf er immer wieder kurze Blicke zum Oratorium hinüber. Ich hatte den Eindruck, daß er extra, um hinüberschauen zu können, ab und zu die Diskussion unterbrach und von anderen Dingen erzählte: »Hier hat es eine der wildesten Schießereien am Ende des Krieges gegeben. In *** herrschte damals so etwas wie ein Abkommen zwischen Partisanen und Faschisten. Im Frühling kamen die Partisanen aus den Bergen herunter, um das Tal zu besetzen, und die Faschisten ließen sie ungestört machen. Die Faschisten waren nicht aus dieser Gegend, die Partisanen stammten alle von hier. Bei Zusammenstößen wussten sie, wie man sich in den Maisfeldern, in den Wäldchen, zwischen den Hecken bewegt. Die Faschisten verschanzten sich in der Hauptstadt und kamen nur zu Razzien her. Im Winter war's für die Partisanen schwieriger, sich im Tal zu bewegen, man konnte sich nicht verstecken, man wurde von weitem im Schnee gesehen, und für ein MG war man noch auf einen Kilometer erreichbar. Also stiegen die Partisanen weiter hinauf. Da waren sie dann wieder mit dem Gelände vertraut und kannten die Hänge und Schlupflöcher. Die Faschisten kamen und kontrollierten das Tal. Aber damals, im Frühjahr 45, waren wir kurz vor der Befreiung. Die Faschisten waren noch hier, aber ich glaube, sie trauten sich nicht mehr zurück in die Hauptstadt, weil sie irgendwie ahnten, daß dort der letzte Schlag geführt werden würde, wie's ja dann kurz vor dem 25. April auch geschah. Ich glaube, es gab stillschweigende Übereinkünfte, die Partisanen warteten ab, sie wollten die offene Konfrontation vermeiden, sie hatten das sichere Gefühl, daß bald etwas geschehen würde, nachts sendete Radio London immer ermutigendere Nachrichten, immer öfter kamen Sonderdurchsagen »für die Franchi« — die Franchi war eine der bestorganisierten Einheiten der badoglianischen Partisanen, kommandiert von Edgardo Sogno, der sich Franchi nannte, und die Durchsagen meldeten: ›Morgen regnet es wieder‹ oder ›Onkel Pietro hat das Brot gebracht‹ oder solche Sachen, Diotallevi, du hast sie vielleicht gehört... Kurz, es muß dann ein Missverständnis gegeben haben, die Partisanen sind runtergekommen, als die Faschisten noch da waren, Tatsache ist jedenfalls, daß eines Tages meine kleine Schwester hier auf der Terrasse war und dann reingelaufen kam und sagte, da draußen sind zwei Jungs, die spielen Fangen mit Maschinenpistolen. Wir wunderten uns nicht weiter, es waren ja alles junge Kerle, die gerne mit Waffen spielten, um die Zeit totzuschlagen. Einmal hatten zwei zum Spaß wirklich geschossen, und die Kugel hatte sich in den Stamm eines Baumes gebohrt, an dem meine Schwester gerade lehnte. Sie hatte es nicht mal gemerkt, die Nachbarn hatten es uns erzählt, und da war ihr beigebracht worden, daß sie weglaufen sollte, wenn sie zwei Jungs mit Maschinenpistolen spielen sah. Jetzt spielen sie wieder hatte sie gerufen, als sie reinkam, um uns zu zeigen, daß sie gehorsam war. Und in dem Moment hörten wir die erste Salve. Nur daß dann gleich eine zweite folgte und eine dritte, und dann waren es viele Salven, wir hörten die trockenen Schüsse der Karabiner, das Tatata der MPs, ein paar dumpfere Schläge, vielleicht Handgranaten, und schließlich das Bellen des Maschinengewehrs. Da begriffen wir, daß es diesmal kein Spiel war. Aber wir hatten keine Zeit mehr, darüber zu diskutieren, weil man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Boing Wumm Krach Ratatata. Wir hockten uns unter das Waschbecken, ich, meine Schwester und die Mama. Nach einer Weile kam Onkel Carlo durch den Flur gerobbt, um uns zu sagen, daß wir auf unserer Seite zu exportiert wären, wir sollten rüberkommen zu ihnen. So sind wir rübergekrochen in den anderen Flügel, wo Tante Caterina heulte, weil die Großmutter noch draußen war... «
»War das damals, als Ihre Großmutter auf dem Maisfeld lag, zwischen den beiden Feuerlinien?« fragte ich.
»Woher wissen Sie das?«
»Sie haben es mir 1973 erzählt, am Tag nach dieser Demonstration.«
»Gott, was für ein Gedächtnis! Bei Ihnen muß man gut aufpassen, was man erzählt... Ja, das war damals. Aber auch mein Vater war draußen. Wie wir später erfuhren, war er im Zentrum der Stadt gewesen, er hatte sich unter einen Torbogen geflüchtet und konnte nicht raus, weil sie auf der Straße einander beschossen, von einem Ende zum andern, und vom Turm des Rathauses bestrich ein Trupp Schwarze Brigaden den Platz mit einem Maschinengewehr. In den Torbogen hatte sich auch der faschistische Ex-Bürgermeister geflüchtet. Nach einer Weile sagte er, jetzt könnte er's schaffen, nach Hause zu rennen, er müsse nur um die Ecke. Er wartete eine Pause ab, stürzte raus, erreichte die Ecke und wurde von hinten niedergemäht von dem MG auf dem Rathausturm. Die einzige Gefühlsregung meines Vaters, der schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, war: besser im Torbogen bleiben.«
»Ein Ort voll süßer Erinnerungen, das hier«, bemerkte Diotallevi.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Belbo, »aber sie sind wirklich sehr süß. Und sie sind das einzige Wahre, an das ich mich erinnere.«
Die anderen begriffen nicht, was er meinte, ich ahnte es und jetzt weiß ich's. Besonders in jenen Monaten, als wir in den Lügen der Diaboliker schwammen, und nachdem er jahrelang seine Enttäuschung in romanhafte Lügen gekleidet hatte, erschienen ihm die Tage von *** in der Erinnerung wie eine Welt, in der alles klar und eindeutig ist, eine Kugel war eine Kugel, entweder sie ging daneben oder sie traf, und die beiden Seiten hoben sich klar voneinander ab, gekennzeichnet durch ihre Farben, Rot und Schwarz oder Khaki und Graugrün, ohne Zweideutigkeiten — zumindest schien es ihm damals so. Ein Toter war ein Toter war ein Toter war ein Toter. Nicht wie der Oberst Ardenti, der bloß irgendwie verschwunden war. Ich dachte, vielleicht sollte ich ihm von der Synarchie erzählen, die schon in jenen Kriegsjahren umging. War es nicht synarchisch gewesen, wie Onkel Carlo und Terzi einander begegnet waren, als Gegner auf entgegengesetzten Fronten, doch beide erfüllt vom selben Ritterideal? Aber warum sollte ich ihm sein Combray nehmen? Seine Erinnerungen waren süß für ihn, weil sie ihm von der einzigen Wahrheit sprachen, die er je gekannt hatte, und die Zweifel waren erst später gekommen. Nur daß er — er selber hatte es mir zu verstehen gegeben — sogar in den Tagen der Wahrheit bloß zugeschaut hatte. Er betrachtete in der Rückschau die Zeit, als er die Geburt des Gedächtnisses anderer beobachtet hatte, die Geburt der Geschichte und all der vielen Geschichten, die andere dann schreiben würden.
Oder hatte es doch einen Moment der Größe und der Entscheidung gegeben? Denn nun sagte er: »Und dann vollbrachte ich an jenem Tag die Heldentat meines Lebens.«
»O mein John Wayne!« rief Lorenza. »Erzähl!«
»Och, es war nichts Besonderes. Nachdem wir in den andern Flügel rübergekrochen waren, versteifte ich mich darauf, im Flur stehen zu bleiben. Das Fenster war am Ende, wir waren im ersten Stock, hier kann mich niemand treffen, sagte ich. Und fühlte mich wie der Kapitän, der aufrecht auf der Brücke steht, während ihm die Kugeln um die Ohren pfeifen. Dann wurde Onkel Carlo wütend, packte mich am Schlafittchen und zog mich rein, ich heulte los, weil das Vergnügen zu Ende war, und im selben Moment hörten wir drei scharfe Schläge und Scherbenklirren und eine Art Aufprall, als ob jemand draußen im Flur mit einem Tennisball spielte. Eine Kugel war durchs Fenster eingedrungen, war von einem Wasserrohr abgeprallt und hatte sich in den Boden gebohrt, genau an der Stelle, wo ich noch eben gestanden hatte. Wenn ich noch draußen gewesen wäre, hätte sie mich vielleicht gelähmt. Mindestens.«
»O Gott, ich hätte dich nicht gerne lahm gehabt«, rief Lorenza.
»Wer weiß, vielleicht wäre ich jetzt froh darüber«, sagte Belbo. Tatsächlich hatte er auch bei jener Gelegenheit keine Entscheidung getroffen. Er hatte sich von seinem Onkel reinziehen lassen.
Ein Stündchen später schweifte er wieder ab. »Nach einer Weile ist dann Adelino Canepa nach oben gekommen. Er meinte, im Keller würden wir sicherer sein. Er und der Onkel hatten seit Jahren kein Wort miteinander gesprochen, ich hab's euch erzählt. Aber im Moment der Tragödie war Adelino wieder ein menschliches Wesen geworden, und der Onkel drückte ihm sogar die Hand. So verbrachten wir eine Stunde im Dunkeln zwischen den Fässern, in einem Geruch unzähliger Weinlesen, der uns ein bisschen zu Kopf stieg, und draußen krachten die Schüsse. Dann wurden die Salven spärlicher, das Krachen kam immer gedämpfter herauf. Wir begriffen, daß jemand auf dem Rückzug war, nur wussten wir noch nicht, wer. Bis wir dann schließlich durch ein Fenster, eben über unseren Köpfen, das zu einem Feldweg rausging, eine Stimme hörten, die im Dialekt sagte: ›Monssu, i’è d’la repubblica bele si?‹«
»Was heißt das?« fragte Lorenza.
»Na ungefähr: ›Mein Herr, würden Sie bitte die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, ob wir uns hier noch in den Gefilden der Repubblica Sociale Italiana befinden?‹ In jenen Zeiten, müsst ihr wissen, war repubblica ein hässliches Wort. Ein Partisan hatte einen Passanten gefragt, oder jemanden, der zum Fenster raussah, und folglich war der Feldweg wieder passierbar geworden und die Faschisten hatten sich verdrückt. Es wurde allmählich dunkel. Nach einer Weile erschienen sowohl mein Vater wie meine Großmutter, um jeder sein Abenteuer zu erzählen. Meine Mutter und Tante Caterina machten etwas zu essen, während Onkel Carlo und Adelino Canepa wieder feierlich schwiegen. Den ganzen restlichen Abend lang hörten wir in den Hügeln noch ferne Schüsse. Die Partisanen verfolgten die Flüchtenden. Wir hatten gesiegt.«
Lorenza küsste ihn auf die Haare, und Belbo schniefte. Er wusste, daß er bloß durch kämpfende Mittelspersonen gesiegt hatte. In Wirklichkeit hatte er nur einen Film gesehen. Doch für einen Augenblick, als er den Querschläger draußen im Flur riskierte, hatte er in dem Film mitgespielt. Nur eben mal rasch, wie in Hellzapoppin', wenn die Rollen vertauscht werden und ein Indianer zu Pferd auf einem Tanzfest erscheint und fragt, wohin sie gelaufen sind, und jemand sagt »dahin«, und er verschwindet in eine andere Geschichte.
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Im aufschwingen aber hat sie so kräfftig in ihr schöne Posaunen gestossen, das der gantze Berg davon erhallet, vnnd ich fast ein Viertelstund hernach mein eygen wort kaum mehr gehöret.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 2, p. 21
Wir waren beim Kapitel über die Wunder der Wasserleitungen, und in einem frühbarocken Stich aus den Spiritalia von Heron sah man eine Art Altar mit einem Roboter darauf, der — kraft einer sinnreichen Dampfvorrichtung — Trompete spielte.
Ich brachte Belbo erneut auf seine Kindheitserinnerungen: »Aber sagen Sie, wie war das mit diesem Don Ticho Brahe oder wie der hieß, der Ihnen das Trompetespielen beigebracht hatte?«
»Don Tico. Ich habe nie erfahren, ob das ein Spitzname war oder ob er wirklich so hieß. Ich bin nie mehr ins Oratorium gegangen. Hingekommen war ich per Zufall — die Messe, der Katechismus, die vielen Spiele, und wer gewonnen hatte, kriegte ein Bildchen des seligen Domenico Savio, jenes Burschen mit zerknitterten Hosen aus grobem Leinen, der bei den Statuen immer an die Soutane von Don Bosco geklammert steht, die Augen zum Himmel gerichtet, um nicht die Zoten zu hören, die seine Kameraden erzählen. Nun, ich entdeckte, daß Don Tico eine Blaskapelle zusammengestellt hatte, aus lauter Jungs zwischen zehn und vierzehn Jahren. Die Kleinen spielten Klarinette, Piccoloflöte und Sopransaxofon, die Größeren schafften das Bombardon und die Große Trommel. Sie hatten Uniformen, Khaki-Jacken und blaue Hosen, dazu Schirmmützen. Ein Traum, ich wollte dabei sein. Don Tico sagte, er könnte ein Baryton brauchen.«
Belbo musterte uns überlegen und dozierte: »Das Baryton ist eine Art kleine Tuba, ähnlich dem eher bekannten Tenorhorn in B. Es ist das dümmste Instrument in der ganzen Kapelle. Es macht Umpa-Umpa-Umpapaa, wenn der Marsch losgeht, und nach dem Parapapaa-Parapapaa geht es zu raschen Stößen über und macht Pa-Pa-Pa-Pa-Pa... Aber es ist leicht zu erlernen, es gehört zur Familie der Blechblasinstrumente wie die Trompete, und seine Mechanik ist die gleiche wie bei der Trompete. Die Trompete erfordert mehr Atem und einen guten Ansatz — ihr wisst schon, diese kleine runde Schwiele, die sich auf den Lippen bildet, wie bei Louis Armstrong. Mit einem guten Ansatz spart man Atem, und der Ton kommt klar und sauber heraus, ohne daß man das Pusten hört, andererseits darf man auf keinen Fall die Backen aufblasen, wehe, das gibt's nur beim Vortäuschen und in den Karikaturen.«
»Und was war mit der Trompete?«
»Die Trompete hab ich allein gelernt, an den Sommernachmittagen, wenn keiner im Oratorium war und ich mich im Parkett des kleinen Theaters versteckte... Aber ich hab sie aus erotischen Gründen gelernt. Seht ihr die kleine Villa dort unten, etwa einen Kilometer vom Oratorium entfernt? Dort wohnte Cecilia, die Tochter der Wohltäterin des Salesianer- Ordens. Naja, und so kam es, daß jedes Mal, wenn die Kapelle aufspielte, zu den Festen, nach der Prozession, im Hof des Oratoriums und vor allem im Theater, bevor die Laienspielgruppe auftrat, dann saß Cecilia da mit ihrer Mama, vorn in der ersten Reihe auf den Ehrensitzen, neben dem Dompropst. Und die Kapelle spielte dann immer einen Marsch, der hieß Buon Principio und wurde von den Trompeten eröffnet, den Es-Trompeten aus Gold und Silber, die extra für diesen Anlass blank geputzt worden waren. Die Trompeter standen auf und spielten ein Solo. Dann setzten sie sich wieder hin, und die Kapelle legte los. Trompete zu spielen war die einzige Art, mich Cecilia bemerkbar zu machen.«
»Die einzige?« fragte Lorenza gerührt.
»Ja, es gab keine andere. Denn erstens war ich dreizehn und sie dreizehneinhalb, und ein Mädchen von dreizehnein- halb ist eine Frau und ein Junge von dreizehn ein Rotzbengel. Und zweitens liebte sie ein Altsaxofon, einen gewissen Papi, einen grässlichen Kerl mit grindigem Haar, wie mir schien, und sie hatte nur Augen für ihn, der lasziv blökte, denn das Saxofon, wenn es nicht von Ornette Coleman gespielt wird, sondern in einer Blaskapelle — noch dazu von einem so grässlichen Kerl wie dem Papi — , dann ist es (so jedenfalls schien es mir damals) ein meckerndes und obszönes Instrument, es klingt sozusagen wie ein Mannequin, das zu saufen angefangen hat und auf den Strich geht.«
»Wie klingen denn Mannequins, die auf den Strich gehen? Was weißt du darüber?«
»Na, kurz und gut, Cecilia wusste nicht einmal, daß ich existierte. Sicher, wenn ich abends den Hügel raufstieg, um die Milch beim Bauern zu holen, dachte ich mir wunderschöne Geschichten aus, mit ihr, wie sie von den Schwarzen Brigaden geraubt wurde und ich hinlief, um sie zu retten, während die Kugeln mir um die Ohren pfiffen und tschakt-tschak machten, wenn sie in die Stoppeln fielen, und ich enthüllte ihr, was sie nicht wissen konnte, nämlich daß ich unter falschem Namen die Resistenza im ganzen Monferrat leitete, und sie gestand mir, daß sie es immer gehofft hatte, und dann schämte ich mich, weil ich etwas wie Honig in meinen Adern fließen fühlte — ich schwöre euch, mir wurde nicht mal die Vorhaut feucht, es war was anderes, etwas viel Schrecklicheres und Grandioseres —, und ich rannte nach Hause, um zu beichten... Ich glaube, Sünde, Liebe und Ruhm sind genau dies: Wenn du dich an zusammengeknüpften Bettlaken aus dem Fenster des Folterzentrums der SS herab- lässt, und die Geliebte hängt dir am Hals, im Leeren schwebend, und sie flüstert dir ins Ohr, sie hätte schon immer von dir geträumt. Der Rest ist bloß Sex, Kopulation, Perpetuierung der infamen Saat... Na jedenfalls, wenn ich Trompete gespielt hätte, hätte Cecilia mich nicht übersehen können, ich stehend und strahlend, das elende Saxofon sitzend. Die Trompete ist kriegerisch, engelhaft, apokalyptisch, siegreich, sie bläst zur Attacke, das Saxofon lässt Vorstadtbubis mit Brillantinehaar tanzen, Wange an Wange mit schwitzenden Mädchen. Also lernte ich Trompeten, lernte wie ein Verrückter, bis ich schließlich vor Don Tico hintrat und sagte, hören Sie zu, und ich spielte wie Oscar Levant bei der ersten Probe am Broadway mit Gene Kelly. Und Don Tico sagte: Du bist ein Trompeter. Aber... «
»Wie dramatisch!« sagte Lorenza. »Erzähl weiter! Spann uns nicht so auf die Folter!«
»Aber ich musste jemanden finden, der mich am Baryton ersetzte. Sieh zu, wie du's schaffst, hatte Don Tico gesagt, arrangier dich. Und ich arrangierte nich. Ihr müsst nämlich wissen, meine lieben Kinderlein, in *** lebten damals zwei törichte Knaben, Klassenkameraden von mir, obschon sie zwei Jahre älter waren als ich, was euch einiges über ihre Lernfähigkeiten sagt. Diese beiden Esel hießen Annibale Cantalamessa und Pio Bo. Eins: historisch.«
»Was?« fragte Lorenza.
Ich erklärte, komplizenhaft: »Wenn Emilio Salgari in einem seiner Romane eine wahre Tatsache berichtet (oder eine, die er für wahr hielt) sagen wir, daß Sitting Bull nach der Schlacht am Little Big Horn das Herz des Generals Custer verzehrte —, dann macht er am Ende der Episode eine Fußnote, und die lautet: 1. Historisch.«
»Genau«, sagte Belbo. »Und es ist historisch gesichert, daß Annibale Cantalamessa und Pio Bo so hießen, und das war nicht mal das Schlimmste an ihnen. Sie waren Faulpelze, sie klauten Comics am Zeitungskiosk, sie klauten Patronenhülsen von denen, die sich eine schöne Sammlung angelegt hatten, und sie legten das Salamibrötchen auf das Buch der Abenteuer zu Land und zur See, das man ihnen geborgt hatte, nachdem man es gerade erst nagelneu zu Weihnachten geschenkt gekriegt hatte. Der Cantalamessa nannte sich Kommunist, der Bo Faschist, aber beide waren bereit, sich für eine Zwille an den Gegner zu verkaufen, sie erzählten schlüpfrige Geschichten, mit ungenauen anatomischen Kenntnissen, und sie stritten sich um die Wette, wer am Abend zuvor länger masturbiert hätte. Sie waren zu allem bereit, warum also nicht auch zum Baryton? So beschloss ich, sie zu verführen. Ich pries die Uniform der Musikanten vor ihnen, ich nahm sie mit zu den Auftritten, ich versprach ihnen amouröse Erfolge bei den Töchtern Mariens... Sie gingen ins Netz. Ich verbrachte die Tage mit ihnen im kleinen Theater, mit einem langen dünnen Rohrstock, wie ich ihn in den Illustrationen der frommen Bändchen über die Missionare gesehen hatte, und gab ihnen kleine Schläge auf die Finger, wenn sie eine Note falsch spielten — das Baryton hat nur drei Ventile, man bewegt die drei mittleren Finger, aber ansonsten ist alles eine Frage des richtigen Ansatzes, wie ich schon sagte. Nun, ich will euch nicht länger hinhalten, meine lieben kleinen Zuhörer: Es kam der Tag, da ich Don Tico zwei Barytonisten präsentieren konnte, sie waren nicht gerade perfekt, aber zumindest beim ersten Vorspiel, das wir an end- und schlaflosen Nachmittagen eingeübt hatten, waren sie akzeptabel. Don Tico nahm sie, steckte sie in die Uniform und gab mir die Trompete. Und noch in derselben Woche beim Fest der Maria Ausiliatrice zur Eröffnung der Theatersaison mit dem Stück Der kleine Pariser, vor geschlossenem Vorhang und vor den versammelten Autoritäten der Stadt, stand ich auf und spielte den Anfang von Buon Principio.«
»Fantastisch!« rief Lorenza, das Gesicht ostentativ überströmt von zärtlicher Eifersucht. »Und Cecilia?«
»War nicht da. Vielleicht war sie krank, was weiß ich? Sie war nicht da.«
Belbo sah auf und ließ den Blick über sein Publikum schweifen, denn jetzt fühlte er sich als Barde oder als Gaukler. Er kalkulierte die Pause, dann fuhr er fort: »Zwei Tage später ließ Don Tico mich rufen und eröffnete mir, daß Annibale Cantalamessa und Pio Bo den ganzen Abend ruiniert hätten. Sie hätten das Tempo nicht halten können, sie hätten sich in den Pausen mit Witzchen und Mätzchen zerstreut und danach den Einsatz verpasst. ›Das Baryton‹, sagte Don Tico, ›ist das Rückgrat der Blaskapelle, es ist ihr rhythmisches Gewissen, ihre Seele. Die Kapelle ist wie eine Herde, die Instrumente sind die Schafe, der Kapellmeister ist der Hirte, aber das Baryton ist der treue, knurrende Hund, der die Schafe zusammenhält. Der Kapellmeister schaut vor allem zum Baryton, und wenn ihm das Baryton folgt, dann folgen ihm auch die Schafe. Jacopo, mein Junge, ich muß dich um ein großes Opfer bitten, du musst wieder ans Baryton, zusammen mit diesen beiden. Du hast Sinn für Rhythmus, du musst sie mir zusammenhalten. Ich schwöre dir, sobald sie selbstständig werden, kannst du wieder Trompete spielen.‹ Ich verdankte Don Tico alles. Ich sagte ja. Und beim nächsten Fest standen die Trompeter wieder auf und spielten den Anfang von Buon Principio vor Cecilia, die wieder vorn in der ersten Reihe saß. Ich war im Dunkeln, ein Baryton unter Barytonen. Was die beiden Esel betraf, sie wurden nie selbstständig. Ich kam nicht wieder an die Trompete. Der Krieg war vorbei, wir zogen zurück in die Stadt, ich gab die Blechblasinstrumente auf, und von Cecilia wusste ich nicht mal — und erfuhr ich auch nie — den Nachnamen.«
»Mein armer Schatz«, sagte Lorenza und umarmte ihn von hinten. »Aber ich bin dir doch geblieben.«
»Ich dachte, du magst Saxofone«, sagte Belbo. Drehte dann leicht den Kopf und küsste sie auf die Hand. Und wurde wieder ernst. »An die Arbeit! Wir haben eine Geschichte der Zukunft zu machen, nicht eine Chronik der verlorenen Zeit.«
Am Abend feierten wir dann die Aufhebung des Alkoholverbots. Belbo schien seine elegische Stimmung vergessen zu haben und maß sich mit Diotallevi. Sie dachten sich absurde Maschinen aus, um bei jedem Schritt zu entdecken, daß sie schon erfunden waren. Um Mitternacht, nach einem erfüllten Arbeitstag, beschlossen wir alle auszuprobieren, was man empfindet, wenn man in den Hügeln schläft.
Ich ging in mein Zimmer und kroch in die klammen Laken, die noch feuchter waren als am Nachmittag. Belbo hatte uns mit Nachdruck geraten, rechtzeitig den »Priester« reinzutun, einen Bettwärmer in Gestalt eines Topfes voll Glut, den man in einem ovalen Drahtgestell unter die Decke schiebt, und sicher hatte er es getan, um uns die Freuden des Landlebens voll genießen zu lassen. Doch wenn die Feuchtigkeit latent ist, macht der Priester sie manifest: man spürt eine köstliche Wärme, aber die Laken fühlen sich an wie aus dem Wasser gezogen. Nun ja. Ich knipste eine Stehlampe an, so eine mit Fransen am Schirm, wo die Eintagsfliegen flügelschlagend verenden, wie es der Dichter will, und versuchte einzuschlafen, indem ich Zeitung las.
Nach ein bis zwei Stunden hörte ich Schritte im Flur, ein Auf- und Zuklappen von Türen, und beim letzten Mal (beim letzten, das ich hörte) eine heftig zugeschlagene Tür. Lorenza war offenbar dabei, Belbos Nerven auf die Probe zu stellen.
Ich war gerade am Einschlafen, da hörte ich ein Kratzen an meiner Tür. Es klang wie von einem Tier (aber ich hatte weder Hunde noch Katzen in der Villa gesehen), und mir kam es wie eine Einladung vor, eine Aufforderung, ein Köder. Vielleicht war es Lorenza, die da kratzte, weil sie wusste, daß Belbo sie beobachtete. Vielleicht auch nicht Bisher hatte ich Lorenza immer als Belbos Eigentum betrachtet — jedenfalls in Bezug auf mich —, und seit ich mit Lia zusammenlebte, war ich taub für andere Reize geworden. Die maliziösen und oft komplizenhaften Blicke, die Lorenza mir manchmal im Büro oder in der Bar zuwarf, wenn sie Belbo auf den Arm nahm, Blicke wie auf der Suche nach einem Verbündeten oder Zeugen, gehörten — so hatte ich immer gedacht — zu einem Gesellschaftsspiel. Außerdem konnte Lorenza jeden beliebigen so ansehen, als wollte sie seine amourösen Fähigkeiten testen — aber auf eine kuriose Art, als wollte sie sagen: »Ich will dich, aber nur um dir zu zeigen, daß du Angst vor mir hast«... An jenem Abend hingegen, als ich dieses Scharren hörte, dieses Kratzen mit den Fingernägeln auf dem Türlack, hatte ich ein anderes Gefühl: Mir wurde klar, daß ich Lorenza begehrte.
Ich zog das Kissen über den Kopf und dachte an Lia. Ich möchte ein Kind mit ihr haben, sagte ich mir. Und ihm (oder ihr) werde ich sofort Trompetespielen beibringen, kaum daß es pusten kann.
57
Der Weg aber, so zum Schlosse gieng, war zu beiden seiten... mit schönen Bäumen von allerley Früchten besetzet, auch allweg drey Bäum auff beiden seiten, daran Laternen gehefftet, darinnen schon allbereit alle Lichter durch ein schön Jungfraw... im Blawen Kleyd mit einer herrlichen Fackel angezündt worden. Das war so herrlich vnd Meisterlich anzusehen, daß ich mich wider die notturft etwas länger auffgehalten.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 2, p. 21
Gegen Mittag erschien Lorenza lächelnd auf der Terrasse und verkündete uns, sie habe einen prächtigen Zug gefunden, der um halb eins in *** vorbeikomme und sie mit nur einmal Umsteigen am frühen Nachmittag nach Mailand zurückbringen würde. Ob wir sie zum Bahnhof brächten.
Belbo blätterte weiter in unseren Papieren und sagte, ohne aufzuschauen: »Mir schien, daß Agliè auch dich erwartet, mir schien sogar, daß er den ganzen Ausflug nur für dich organisiert hat.«
»Pech für ihn«, sagte Lorenza. »Wer bringt mich runter?«
Belbo erhob sich und sagte: »Bin gleich zurück. Dann können wir noch zwei Stündchen hierbleiben. Lorenza, hattest du eine Tasche?«
Ich weiß nicht, ob sie sich während der Fahrt zum Bahnhof noch anderes sagten. Belbo war nach zwanzig Minuten zurück und ging wieder an die Arbeit, ohne den Zwischenfall zu erwähnen.
Um zwei Uhr fanden wir ein gemütliches Restaurant am Marktplatz, und die Wahl der Speisen und Weine erlaubte Belbo, weitere Kindheitserinnerungen zu evozieren. Aber er sprach, als zitierte er aus der Biografie eines anderen. Er hatte die Erzählfreude und den glücklichen Ton vom Vortag verloren. Gegen drei machten wir uns auf den Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt mit Agliè und Garamond.
Belbo fuhr in südwestlicher Richtung, während die Landschaft sich allmählich Kilometer um Kilometer veränderte. Waren die Hügel um *** eher sanft und auch im Herbst noch lieblich gewesen, so wurde der Horizont nun immer weiter, obwohl nach jeder Kurve höhere Gipfel erschienen, auf denen sich Burgen und kleine Dörfer verschanzten. Doch zwischen den Gipfeln taten sich endlose Horizonte auf — jenseits des Heckenzaunes, wie Diotallevi bemerkte, der unsere Entdeckungen in wohlgesetzte Worte fasste. So öffneten sich, während wir im dritten Gang eine Steigung hinauffuhren, bei jeder Kehre weite Ebenen mit einem wenigen Profil, das am Horizont in einem fast schon winterlichen Nebel verschwamm. Es wirkte wie eine von Dünen modulierte Ebene und war doch schon halb das Gebirge. Als hätte die Hand eines ungeschickten Demiurgen Gipfel, die ihm zu hoch geraten vorkamen, zu einem buckligklumpigen Quittenmus zerdrückt, das sich ohne Halt bis zum Meer hinunter erstreckte oder, wer weiß, bis hinauf zu den Hängen rauerer und markanterer Höhen.
Wir erreichten das Dorf, wo uns Agliè und Garamond in der Bar an der Piazza erwarteten. Daß Lorenza nicht mitgekommen war, nahm Agliè zur Kenntnis, ohne sich seine Enttäuschung anmerken zu lassen: »Unsere exquisite Freundin möchte die Geheimnisse, die ihr Wesen definieren, nicht mit andern teilen. Eine singuläre Schamhaftigkeit, die ich schätze«, sagte er. Das war alles.
Wir fuhren durch weitere Täler und Hügel, Garamonds Mercedes voran und Belbos Renault hinterher, bis wir, als es bereits zu dämmern begann, hoch oben auf einem steilen Berg ein seltsames Bauwerk erblickten, eine Art Barockschlösschen, gelb getönt, von welchem sich Stufen den Hang herabsenkten, Terrassen, wie mir von weitem schien, mit Blumen und Bäumen in üppiger Pracht trotz der Jahreszeit.
Als wir am Fuß des Hanges ankamen, fanden wir uns auf einem weiten Parkplatz, wo bereits viele Autos standen. »Hier halten wir«, sagte Agliè. »Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Die Dämmerung ging schon in Dunkelheit über. Der Anstieg lag vor uns im Licht zahlreicher Fackeln, die längs des Weges entzündet waren.
Es ist seltsam, doch alles, was dann geschah, von jenem Moment an bis in die tiefe Nacht, habe ich gleichzeitig klar und verschwommen in Erinnerung. Vorgestern Abend im Periskop rief ich es mir ins Gedächtnis zurück und empfand dabei eine Art von Familienähnlichkeit zwischen den beiden Erfahrungen. Siehst du, sagte ich mir, jetzt bist du hier, in einer unnatürlichen Situation, ein bisschen betäubt vom leichten Modergeruch alten Holzes, ein bisschen argwöhnend, du befändest dich in einem Grab oder im Bauch eines Gefäßes, in dem sich eine Verwandlung vollzieht. Würdest du nur den Kopf hinausstrecken, du würdest da draußen Gegenstände, die dir vorhin noch reglos erschienen, im Halbdunkel sich bewegen sehen wie eleusinische Schatten zwischen den Dämpfen eines Zaubergebräus. So ähnlich war es auch an jenem Abend im Schloss gewesen: Die Lichter, die Überraschungen während des Aufstiegs, die Worte, die ich hörte, und später gewiss auch die Weihrauchdünste, alles tat sich zusammen, um mich glauben zu machen, ich wäre in einem Traum, aber auf seltsame Weise, so wie man dem Erwachen nahe ist, wenn man träumt, daß man träumt.
Eigentlich dürfte ich mich an nichts erinnern. Doch ich erinnere mich an alles, als hätte ich es nicht selbst erlebt, sondern es mir von einem anderen erzählen lassen.
Ich weiß nicht, ob das, woran ich mich mit solch konfuser Deutlichkeit erinnere, an jenem Abend wirklich geschah, oder ob ich nur wünschte, es wäre geschehen, aber sicher war es an jenem Abend, daß der Große Plan in unseren Köpfen Gestalt annahm, als Wille, jener unförmigen Erfahrung eine Form zu geben, indem wir die Fantasie, die jemand dort hatte Wirklichkeit sein lassen wollen, in fantasierte Wirklichkeit umwandelten.
»Der Aufstieg ist rituell«, erklärte Agliè, als wir uns auf den Weg machten. »Dies hier sind hängende Gärten, die gleichen (oder beinahe), die Salomon de Caus für den Schlosspark in Heidelberg entworfen hatte — ich meine, für den pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. im großen Jahrhundert der Rosenkreuzer. Das Licht ist schwach, doch so muß es sein, denn ahnen ist besser als sehen: Unser Gastgeber hat den Entwurf von de Caus nicht originalgetreu nachgebaut, sondern auf engeren Raum konzentriert. Der Hortus palatinus imitierte den Makrokosmos; der ihn hier nachbaute, hat nur jenen Mikrokosmos imitiert. Sehen Sie die Grotte dort, mit dem Muschelwerk à rocaille... Dekorativ, ohne Zweifel. Aber de Caus hatte jenes Emblem der Atalanta Fugiens von Michael Maier vor Augen, in dem die Koralle der Stein der Weisen ist. De Caus wusste, daß man durch die Form der Gärten die Gestirne beeinflussen kann, denn es gibt Zeichen, die durch ihre Konfiguration die Harmonie des Universums nachahmen.«
»Wunderbar«, sagte Garamond. »Aber wie kann ein Garten die Gestirne beeinflussen?«
»Es gibt Zeichen, die sich zueinander beugen, einander betrachten und sich umarmen, und sie zwingen zur Liebe. Sie haben keine bestimmte, determinierte Form, sie dürfen keine haben. Jedes von ihnen, je nachdem, wie es ihm sein Furor gebietet oder der Elan seines Geistes, erprobt bestimmte Kräfte, wie es mit den Hieroglyphen der Ägypter geschah. Es kann keine andere Beziehung zwischen uns und den göttlichen Wesen geben als durch Siegel, Figuren, Gestalten und Zeremonien. Aus demselben Grunde sprechen die Gottheiten zu uns durch Träume und Rätsel. Und nichts anderes sind diese Gärten. Jedes Element dieser Terrasse reproduziert ein Geheimnis der alchimistischen Kunst, nur sind wir leider nicht mehr imstande, es zu lesen, nicht einmal unser Gastgeber. Eine singuläre Hingabe an das Verborgene, das müssen Sie zugeben, beherrscht diesen Mann, der alles ausgibt, was er jahrelang akkumuliert hat, um Ideogramme zeichnen zu lassen, deren Sinn er nicht kennt«
Wir stiegen weiter hinauf, und von Terrasse zu Terrasse änderte sich die Gestalt der Gärten. Einige waren als Labyrinth angelegt, andere hatten die Form eines Emblems, doch zu erkennen war die Anlage einer Terrasse immer nur von der nächsthöheren aus, und so entdeckte ich von oben die Umrisse einer Krone und vielerlei andere Symmetrien, die ich nicht bemerkt hatte, als wir sie durchschnitten, und die ich in jedem Fall nicht entziffern konnte. Jede Terrasse ließ, wenn man sich auf ihr zwischen den Hecken bewegte, perspektivisch einige Bilder erkennen, doch wenn man sie dann erneut von der nächsthöheren aus betrachtete, gab sie neue Enthüllungen preis, womöglich mit entgegengesetzter Bedeutung — und so sprach jede Stufe dieser grandiosen Treppe zwei verschiedene Sprachen im selben Moment.
Wir entdeckten, während wir weiter hinaufstiegen, auch kleine Bauten. Einen Brunnen in Form eines Phallus, der unter einer Art Torbogen oder kleinem Portiko aufragte, mit einem Neptun, der einen Delfin niedertrat; ein Portal mit irgendwie assyrisch wirkenden Säulen; und einen Triumphbogen von unpräziser Form, als hätte man Dreiecke und Polygone auf Polygone gehäuft, wobei sich auf jedem Giebel die Statue eines Tieres erhob, ein Elch, ein Affe, ein Löwe...
»Und all dies enthüllt etwas?« fragte Garamond.
»Ohne Zweifel! Lesen Sie nur einmal den Mundus Symbolicus von Picinelli, ein Werk, das Alciato mit singulärer prophetischer Kraft vorweggenommen hatte. Der ganze Garten ist lesbar wie ein Buch, oder wie ein Zauberspruch, was im übrigen dasselbe ist. Sie könnten, wenn Sie ihn verstanden, die Worte, die dieser Garten sagt, leise aussprechen und wären damit in der Lage, durch jedes von ihnen eine der zahllosen Kräfte zu lenken, die in der sublunaren Welt tätig sind. Der Garten ist ein Apparat zur Beherrschung des Universums.«
Agliè zeigte uns eine Grotte. Ein Geschlinge aus Algen und Skeletten von Seetieren, ich weiß nicht, ob natürlichen oder aus Gips oder Stein... Man sah eine Najade auf einem Stier mit geschupptem Schwanz nach Art des großen biblischen Fisches, benetzt von einem Wasserstrahl, der aus einer Muschel kam, die ein Triton wie eine Amphora hielt.
»Ich möchte, daß Sie in tieferen Sinn dieses Brunnens erfassen, der andernfalls nur ein banales Wasserspiel wäre. De Caus wusste, daß, wenn man ein Gefäß mit Wasser füllt und es oben verschließt, das Wasser auch dann nicht herauskommt, wenn man unten ein Loch bohrt. Doch bohrt man dann oben ein zweites Loch, so fließt oder schießt das Wasser unten heraus.«
»Ist das nicht selbstverständlich?« fragte ich. »Im zweiten Fall kommt die Luft oben rein und drückt das Wasser nach unten.«
»Eine typisch szientistische Erklärung, bei der die Ursache mit der Wirkung verwechselt wird oder umgekehrt. Sie müssen sich nicht fragen, warum das Wasser im zweiten Fall austritt. Sie müssen sich fragen, warum es im ersten nicht austreten will.«
»Und warum will es nicht?« fragte Garamond.
»Weil, wenn es austräte, im Gefäß ein Vakuum bliebe, und die Natur verabscheut das Vakuum. Nequaquam vacui lautete ein Prinzip der Rosenkreuzer, das die moderne Wissenschaft vergessen hat.«
»Eindrucksvoll«, sagte Garamond. »Casaubon, in unserer wunderbaren Geschichte der Metalle müssen diese Dinge herauskommen, denken Sie dran. Und sagen Sie mir nicht, das Wasser sei kein Metall. Fantasie ist gefragt«
»Entschuldigen Sie«, sagte Belbo zu Agliè, »aber Sie argumentieren nach dem Muster post hoc ergo ante hoc. Das, was nachher kommt, verursacht das, was vorher kam.«
»Man darf nicht in linearen Abfolgen denken. Das Wasser dieses Brunnens tut es nicht. Die Natur tut es nicht, die Natur ignoriert die Zeit. Die Zeit ist eine Erfindung des Okzidents.«
Während wir aufstiegen, begegneten wir auch anderen Gästen. Angesichts einiger von ihnen gab Belbo Diotallevi leichte Rippenstöße, und Diotallevi kommentierte halblaut:»Ja ja, facies hermetica.«
Genau unter diesen Pilgern mit facies hermetica, ein wenig abseits, auf den Lippen ein bitternachsichtiges Lächeln, erblickte ich den Signor Salon. Er lächelte mir zu, ich lächelte ihm zu.
»Sie kennen Salon?« fragte mich Agliè.
»Sie kennen Salon?« fragte ich ihn. »Für mich ist es normal, wir wohnen im selben Haus. Was halten Sie von ihm?«
»Ich kenne ihn kaum. Einige vertrauenswürdige Freunde sagen, er sei ein Polizeispitzel.«
Sieh an, also deshalb wusste Salon von Garamond und von Ardenti. In welcher Beziehung mochte er zu De Angelis stehen? Ich begnügte mich jedoch mit der Frage: »Und was macht ein Polizeispitzel auf einem Fest wie diesem?«
»Polizeispitzel gehen überallhin«, sagte Agliè. »Jede Erfahrung ist für sie nützlich, um vertrauliche Nachrichten zu erfinden. Bei der Polizei wird man um so mächtiger, je mehr man weiß oder zu wissen vorgibt. Und dabei ist es ganz unerheblich, ob die Nachrichten stimmen. Wichtig ist nur, vergessen Sie das nie, ein Geheimnis zu haben.«
»Aber warum wird Salon hierher eingeladen?«
»Mein Freund«, antwortete mir Agliè, »vermutlich weil unser Gastgeber jene goldene Regel des esoterischen Denkens befolgt, nach der jeder Irrtum der verkannte Träger der Wahrheit sein kann. Die wahre Esoterik hat keine Angst vor Gegensätzen.«
»Sie meinen, am Ende sind sich die alle hier untereinander einig?«
»Quod ubique, quod ab omnibus et quod semper. (Was überall, was von allen und was immer [geglaubt worden ist, kann als höchst glaubwürdig angesehen werden]). Die Initiation ist die Entdeckung einer Philosophia perennis.«
So philosophierend gelangten wir schließlich zur obersten Terrasse, wo wir einen Pfad betraten, der uns durch einen weiten Garten zum Eingang des Schlösschens führte. Im Licht einer besonders großen Fackel, die auf einer Säule befestigt war, sahen wir eine junge Frau in einem blauen, mit Sternen besäten Kleid, die eine lange Trompete in der Hand hielt, so eine von der Art, wie sie in Opern von Herolden geblasen werden. Ähnlich wie in jenen Krippenspielen, wo die Engel ein Gefieder aus Krepppapier tragen, hatte die Frau an den Schultern zwei große weiße Flügel, dekoriert mit mandelähnlichen Formen, die einen Punkt in der Mitte trugen, so daß man sie mit ein wenig gutem Willen für Augen halten konnte.
Wir sahen Professor Camestres, einen der ersten Diaboliker, der uns im Verlag besucht hatte, den Gegner des Ordo Templi Orientis. Er war kaum wiederzuerkennen, da er sich in einer Weise verkleidet hatte, die uns einzigartig erschien, aber die Agliè als dem Ereignis durchaus angemessen bezeichnete: Er trug einen weißen Leinenrock, gegürtet mit einem roten, kreuzweise über Brust und Rücken geführten Band, sowie einen barocken Dreispitz, auf den er vier rote Rosen gesteckt hatte. Er kniete vor der jungen Frau mit der Trompete nieder und sagte ein paar Worte.
»Wahrhaftig«, murmelte Garamond, »es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden... «
Wir traten durch ein reich mit Figuren geschmücktes Portal, das mich an den Staglieno-Friedhof in Genua erinnerte. Hoch oben, über einer verschlungenen klassizistischen Allegorie, prangten in Stein gemeißelt die Worte CONDOLEO ET CONGRATULOR. (Ich kondoliere und gratuliere.)
Innen wimmelte es von angeregt schwatzenden Gästen, die sich um ein Büffet in einer weiten Eingangshalle drängten, von der zwei breite Treppen zu den oberen Stockwerken führten. Ich entdeckte noch andere bekannte Gesichter, darunter den Professor Bramanti sowie — Überraschung — den Commendatore De Gubernatis, den von Garamond bereits ausgebeuteten AEK, der aber anscheinend noch nicht mit der grässlichen Möglichkeit konfrontiert worden war, daß alle Exemplare seines Meisterwerkes im Reißwolf enden könnten, denn er begrüßte meinen Arbeitgeber mit Ausdrücken der Verehrung und Dankbarkeit. Seine Verehrung Agliè zu entbieten, kam ein schmächtiges Männlein mit glühenden Augen gelaufen. An seinem unverwechselbaren Akzent erkannten wir Pierre, den Franzosen, den wir in Agliès Villa durch die Vorhangtür belauscht hatten, als er Bramanti der Hexerei beschuldigte.
Ich trat ans Büffet. Da standen Karaffen mit buntfarbenen Getränken, die ich nicht zu identifizieren vermochte. Ich goss mir etwas Gelbes ein, das aussah wie Wein, es war nicht übel, es schmeckte nach altem Rosolio, doch es war sicherlich alkoholisch. Vielleicht enthielt es auch noch etwas anderes, denn mir begann sich der Kopf zu drehen. Rings um mich drängten sich facies hermeticae neben strengen Gesichtern von Präfekten im Ruhestand, ich schnappte Gesprächsfetzen auf...
»... im ersten Stadium müsste es dir gelingen, mit anderen Geistern zu kommunizieren, dann Gedanken und Bilder in andere Wesen zu projizieren, die Orte mit Affekten aufzuladen und Autorität über das Reich der Tiere zu gewinnen. In der dritten Phase versuchst du, ein Double von dir in einen Punkt des Raumes zu projizieren: Bilokation, wie die Yogis, du müsstest gleichzeitig in mehreren Gestalten erscheinen. Danach geht es darum, zur übersinnlichen Erkenntnis der vegetabilischen Essenzen vorzudringen. Schließlich versuchst du's mit der Dissoziation, dabei geht es darum, das tellurische Gefüge des Körpers zu durchdringen, sich an einem Ort aufzulösen und an einem anderen zu rematerialisieren — ganz und gar, meine ich, nicht bloß mit einem Double. Das letzte Stadium ist dann die Verlängerung des physischen Lebens... «
»Nicht die Unsterblichkeit?«
»Noch nicht gleich.«
»Aber du?«
»Nun ja, das erfordert einige Konzentration. Ich verhehle dir nicht, daß es mühsam ist. Ich bin ja nicht mehr zwanzig... « Ich kondoliere und gratuliere.
Ich fand meine Gruppe wieder. Sie trat gerade in einen Saal mit weiß getünchten Wänden und abgerundeten Ecken. Im Hintergrund erhoben sich, ähnlich wie in einem Musée Grévin — aber das Bild, das mir an jenem Abend unwillkürlich in den Sinn kam, war das des Altars, den ich in dem Umbanda-Tempel in Rio gesehen hatte —, zwei nahezu lebensgroße Figuren aus Wachs, bekleidet mit einem glitzernden Zeug, das mir aus der billigsten Requisitenkammer zu stammen schien. Die eine war eine Dame auf einem Thron in einem (fast) makellos weißen Kleid mit goldglänzenden Pailletten. Über ihr hingen an Fäden diverse Geschöpfe von unbestimmter Form, die mir aus Stoffresten oder Filz gemacht schienen, ähnlich jenen kitschigen Puppen, mit welchen die feinen Damen in den dreißiger Jahren gern ihre Sofas dekorierten. Aus einem Lautsprecher in einer Ecke kam ferne Trompetenmusik, diesmal von guter Qualität, vielleicht war es etwas von Gabrieli, jedenfalls war der klangliche Effekt geschmackssicherer als der visuelle. Rechts neben dem Thron stand eine zweite Frauenfigur, gekleidet in ein karmesinrotes Samtgewand mit weißem Gürtel, auf dem Kopf einen Lorbeerkranz und in der Hand eine vergoldete Waage. Agliè erklärte uns die verschiedenen Bedeutungen, aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, ich hätte ihm viel Aufmerksamkeit geschenkt. Was mich interessierte, war der Gesichtsausdruck vieler Gäste, die mit ehrfürchtiger und ergriffener Miene von einem Standbild zum anderen wandelten.
»Im Grunde sind die hier nicht anders als jene Gläubigen, die nach Lourdes oder Fatima pilgern, um die Schwarze Madonna in einem mit silbernen Herzen bestickten Kleid zu sehen«, sagte ich zu Belbo. »Denken die etwa, das wäre die Muttergottes in Fleisch und Bein? Nein, aber sie denken auch nicht das Gegenteil. Sie genießen die Ähnlichkeit, sie empfinden das Spektakel als Vision und die Vision als Realität.«
»Ja«, sagte Belbo, »aber das Problem ist nicht, ob diese hier besser oder schlechter sind als die, die nach Lourdes oder Fatima pilgern. Ich fragte mich gerade, wer eigentlich wir sind. Wir, die wir Hamlet für wahrer halten als unseren Hausmeister. Habe ich das Recht, diese hier zu verurteilen, ich, der ich herumlaufe auf der Suche nach Madame Bovary, um ihr eine Szene zu machen?«
Diotallevi schüttelte den Kopf und sagte leise zu mir, man dürfe sich kein Bildnis von den göttlichen Dingen machen und dies hier seien alles Epiphanien des Goldenen Kalbes. Aber er amüsierte sich.
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Deswegen ist die Alchimie eine keusche Hure, die viele Liebhaber hat, aber alle enttäuscht und keinem ihre Umarmung gewährt. Sie verwandelt die Dummen in Schwachsinnige, die Reichen in Bettler, die Philosophen in Schwätzer und die Betrogenen in eloquente Betrüger.
Trithemius, Annalium Hirsaugensium Tomi II, Sankt Gallen 1690, 141
Plötzlich erlosch das Licht im Saal, und die Wände begannen zu leuchten. Ich bemerkte, daß sie zu drei Vierteln mit einem halbkreisförmigen Projektionsschirm bedeckt waren, auf dem jetzt Bilder erschienen. Dabei zeigte sich, daß ein Teil der Decke und des Bodens aus reflektierendem Material bestand, und als reflektierend erwiesen sich auch einige der Objekte, die mich vorher durch ihre grobe Machart so frappiert hatten: die Pailletten, die Waage, ein Schild und einige kupferne Schalen. Wir fanden uns eingetaucht in eine wässrige, wellig flutende Atmosphäre, in der die Bilder sich vervielfachten, sich brachen und mit den Silhouetten der Anwesenden verschmolzen, der Boden reflektierte die Decke, die Decke den Boden und beide zusammen die Figuren, die an den Wänden erschienen. Zugleich mit der Musik verbreiteten sich zarte Gerüche durch den Raum, erst indische Weihrauchdüfte, dann andere, unbestimmtere, bisweilen auch unangenehme.
Zuerst ging das Dämmerlicht in tiefste Finsternis über, dann, während ein dumpfes Grollen ertönte, ein schmatzendes Blubbern wie von kochender Lava, waren wir in einem Krater, wo eine zähflüssige dunkle Masse Blasen trieb im zuckenden Lichtschein gelber und bläulicher Flammen.
Ein dickes klebriges Wasser verdampfte nach oben, um als Tau oder Regen wieder herabzusinken, und ein Modergeruch von fauliger Erde stieg auf. Ich atmete Grabesluft, roch den Tartaros, den Abgrund der Finsternis, mich umströmte eine giftige Jauche, die gurgelnd dahinschoss zwischen Landzungen aus Dung, Kot, Kompost, Kohlenstaub, Blei, Borke, Abschaum, Menstruum, Rauch, Schlamm, Schlacke, Teer, schwärzer als das schwärzeste Schwarz, das nun heller wurde, um zwei Reptilien erscheinen zu lassen, welche — das eine bläulich, das andere rötlich — sich zu einer Art von Kopulation vereinten, bei der sie einander in den Schwanz bissen, so daß sie eine einzige Kreisfigur bildeten.
Es war, als hätte ich zu viel Alkohol getrunken, ich sah meine Gefährten nicht mehr, sie waren im Dämmerdunkel verschwunden, ich erkannte die Gestalten nicht, die sich neben mir regten, und empfand sie wie aufgelöste, fließende Schemen... Da fühlte ich plötzlich, wie jemand mich an der Hand ergriff. Jetzt weiß ich, daß es nicht stimmte, doch damals wagte ich nicht, mich umzudrehen, um nicht zu entdecken, daß es eine Täuschung war. Aber ich roch das Parfüm von Lorenza, und erst in diesem Moment begriff ich, wie sehr ich sie begehrte. Es musste Lorenza sein. Sie war zurückgekommen, um jenen Dialog aus leisem Scharren und Nägelkratzen an meiner Tür wieder aufzunehmen, den sie in der Nach zuvor nicht beendet hatte. Schwefel und Quecksilber schienen sich zu einer feuchten Wärme zu verbinden, die mir die Lenden erbeben ließ, aber sanft, ohne Ungestüm.
Ich erwartete den Rebis, den androgynen Knaben, das Salz der Weisen, die Krönung des Weißen Werkes.
Mir war, als wüsste ich alles. Vielleicht kamen mir Dinge in den Sinn, die ich in den letzten Monaten gelesen hatte, vielleicht übertrug mir Lorenza ihr Wissen durch die Berührung ihrer Hand, die sich ein wenig feucht anfühlte.
Und ich ertappte mich dabei, obskure Namen zu murmeln — Namen, die einst, ich wusste es, die Alchimisten dem Weißen gegeben hatten, aber mit denen ich nun zitternd — vielleicht — Lorenza rief — oder die ich vielleicht auch nur vor mich hin murmelte wie eine Versöhnungslitanei: Agnus immaculatus, Abendstern, Aibathest, Alborach, Aqua benedicta, Mercurium purificatum, Auripigment, Azoch, Baurach, Cambar, Caspa, Cerussa, Cera, Clair de lune, Comerisson, Elektrum Euphrat, Eva, Fada, Favonius, Fundamentum Artis, Diamant, Narziss, Lilie, Hermaphrodit, Hae, Hyle, Hypostase, Jungfrauenmilch, Lapis Unica, Lebendiges Öl, Legumen, Mutter, Ei, Phlegma, Punkt, Radix, Wurzelsaft, Salz der Erde, Terra foliata, Tevos, Tincar, Vapor, Ventus, Virago Vitrum Pharaonis, Zephyr, Zibach, Ziva, Geier, Kinderurin, Plazenta, Menstruum, Servus fugitivus, Manus sinistra, Sperma Metallorum, Spiritus, Sulfur unctuosum...
In der Pechschwärze, die nun grau wurde, zeichnete sich ein Horizont aus Felsen und verdorrten Bäumen ab, hinter dem eine schwarze Sonne versank. Dann zuckte jäh ein fast blendendes Licht, und gleitende Bilder erschienen, die einander in allen Richtungen reflektierten, so daß ein Kaleidoskop-Effekt entstand. Die Ausdünstungen waren jetzt liturgisch, kirchlich, und mir begann der Kopf zu dröhnen, ich spürte etwas Schweres auf meine Stirne drücken, ich sah einen prächtigen Saal, mit goldgewirkten Wandteppichen geschmückt, vielleicht ein Hochzeitsbankett, mit einem prinzlichen Bräutigam und einer weiß gekleideten Braut, sodann einen alten König und eine Königin auf dem Thron nebst einem Krieger und einem weiteren König, der dunkelhäutig war. Vor dem alten Königspaar stand ein kleiner Altar, auf dem ein mit schwarzem Samt bezogenes Buch lag und eine Kerze auf einem elfenbeinernen Leuchter brannte. Neben diesem standen ein rotierender Globus und eine Uhr mit einem kleinen kristallenen Springbrunnen oben darauf, aus dem eine blutrote Flüssigkeit lief. Über dem Brunnen schließlich mochte ein Totenkopf sein, in dessen Augen sich eine weiße Schlange ringelte...
Lorenza hauchte mir einige Worte ins Ohr. Aber ich konnte ihre Stimme nicht hören.
Die Schlange ringelte sich im Rhythmus einer langsamen Trauermusik. Das alte Königspaar legte schwarze Kleider an, und vor ihm standen nun sechs schwarz verhängte Särge. Tiefe Tubatöne erklangen, und es erschien ein großer Mann in kohlschwarzer Kapuze. Zuerst war es eine hieratische Exekution, wie im Zeitraffer, der sich der alte König mit schmerzlicher Freude fügte, indem er gehorsam das Haupt niederbeugte. Dann schwang der Kapuzenmann seine Axt wie eine Sense, und es war wie das Sausen eines Pendels, der Axthieb vervielfachte sich auf jeder reflektierenden Fläche, in jeder Fläche und durch jede Fläche, und so waren es tausend Köpfe, die rollten, und von diesem Moment an folgten die Bilder einander so schnell, daß ich nicht mehr genau mitbekam, was geschah. Ich glaube, es wurden nacheinander alle Personen, einschließlich des schwarzen Königs, enthauptet und in die Särge gelegt, dann verwandelte sich der ganze Saal in ein Meeres- oder Seeufer, und wir sahen sechs erleuchtete Schiffe anlegen, auf welche die Särge gebracht wurden, wonach die Schiffe wieder ablegten und sich auf dem Wasserspiegel in die Nacht entfernten, und all das vollzog sich, während die Weihrauchschwaden immer dichter wurden, so daß ich für einen Augenblick fürchtete, selbst unter den Verurteilten zu sein, und viele rings um mich murmelten: »Die Hochzeit, die chymische Hochzeit...«
Ich hatte den Kontakt mit Lorenza verloren und wagte erst jetzt, mich umzudrehen, um sie unter den Schatten zu suchen.
Der Saal war jetzt eine Krypta geworden, oder ein prächtiges Grab, mit einem Gewölbe, das von einem enormen Karfunkelstein erleuchtet wurde.
Aus allen Ecken erschienen Frauen in jungfräulich weißen Gewändern und scharten sich um einen Kessel, der die Form eines Schlösschens hatte, zweistöckig, mit einem ovalen steinernen Unterbau auf Säulen, der ein Ofen zu sein schien, und mit zwei seitlichen Türmen, aus denen zwei Destillierkolben ragten, die in einer eiförmigen Kugel endeten, sowie einem dritten Turm in der Mitte, der oben als Brunnen endete...
Im Unterbau des Schlösschens sah man die Leichen der sechs Enthaupteten liegen. Eine der Frauen trug ein Kästchen, aus dem sie ein rundes Objekt nahm, das sie in eine Bogenöffnung des mittleren Turmes legte, woraufhin sofort das Wasser oben aus dem Brunnen zu sprudeln begann. Ich konnte das Objekt gerade noch rechtzeitig erkennen, es war der Kopf des Mohren, der nun wie ein Holzscheit brannte und das Wasser des Brunnens zum Sieden brachte. Dämpfe, Fauchen, Brodeln...
Lorenza legte mir diesmal die Hand in den Nacken und kraulte ihn, wie sie es mit Belbo im Auto getan hatte. Die Frau brachte eine goldene Kugel herein, öffnete einen Hahn am Unterbau des Kesselschlösschens und ließ eine dicke rote Flüssigkeit in die Kugel fließen. Dann wurde die Kugel geöffnet, und statt der roten Flüssigkeit enthielt sie ein schönes großes, schneeweißes Ei. Die Frauen nahmen es heraus und legten es auf den Boden, wo es in einem Häufchen gelben Sandes ruhte, bis es aufplatzte und ein kleiner Vogel herauskam, noch ganz blutig und ungestalt. Doch genährt mit dem Blut der Enthaupteten, wuchs er rasch vor unseren Augen und wurde herrlich und schön.
Dann köpften sie auch den Vogel und verbrannten ihn auf einem kleinen Altar zu Asche. Einige kneteten die Asche mit Wasser zu einem dünnen Teig, gossen den Teig in zwei Formen und taten die Formen in einen Ofen, dessen Feuer sie mit Blasrohren entfachten. Schließlich wurden die Formen geöffnet, und es erschienen zwei blasse und zarte, fast durchsichtige Gestalten, ein Knabe und ein Mädchen, nicht größer als vier Zoll, weich und fleischig wie lebende Wesen, aber mit glasigen, mineralischen Augen. Sie wurden auf zwei Kissen gelegt, und ein alter Mann goss ihnen Blutstropfen in den Mund...
Dann erschienen weitere Frauen mit langen goldglänzenden Trompeten, die mit grünen Kränzen geschmückt waren, und sie reichten eine davon dem Alten, der sie den beiden Kreaturen an den Mund hielt, die noch zwischen pflanzlicher Lethargie und sanftem tierischem Schlaf verharrten, und der Alte begann, Odem in ihre Leiber zu hauchen... Der Saal füllte sich mit Licht, das Licht verdämmerte zu einem Halbdunkel, dann zu einer Finsternis, die von orangenen Blitzen durchzuckt wurde, dann war es eine gewaltige Morgenröte, während Trompeten hoch und strahlend ertönten, und es war ein Gleißen wie von Rubinen, unerträglich. Und in diesem Moment verlor ich Lorenza erneut und begriff, daß ich sie niemals wiederfinden würde.
Alles überzog sich mit einem flammenden Rot, das langsam zu Indigo und Violett verglomm, und der Schirm erlosch. Das Hämmern in meiner Stirn war unerträglich geworden.
»Mysterium Magnum«, sagte Agliè neben mir, nun wieder mit seiner normalen, ruhigen Stimme. »Die Wiedergeburt des neuen Menschen durch Tod und Leidenschaft. Gute Performance, muß ich sagen, auch wenn die Lust am Allegorischen vielleicht ein bisschen die Präzision der Phasen beeinträchtigt hat. Was Sie gesehen haben, war eine Darstellung, versteht sich, aber sie handelte von einer Sache, einem realen Ding. Und dieses Ding behauptet unser Gastgeber nun erzeugt zu haben. Kommen Sie, gehen wir uns das vollbrachte Wunder ansehen.«
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Und wenn solche Monster erzeugt werden, muß man denken, es seien Werke der Natur, auch wenn sie verschieden vom Menschen erscheinen.
Paracelsus, De Homunculis, in Operum Volumen Secundum, Genf, De Tournes, 1658, p. 475
Agliè führte uns in den Garten hinaus, und sofort fühlte ich mich besser. Ich wagte die anderen nicht zu fragen, ob Lorenza wirklich wiedergekommen war. Ich hatte geträumt. Doch nach wenigen Schritten traten wir in ein Gewächshaus, und erneut betäubte mich die erstickende Wärme. Zwischen den Pflanzen, die zumeist tropisch waren, standen sechs Glasgefäße in Form von Birnen — oder von Tränen — , jedes hermetisch verschlossen mit einem Siegel und angefüllt mit einer hellblauen Flüssigkeit. In jedem von ihnen schwamm ein etwa zwanzig Zentimeter großes Wesen. Wir erkannten den grauhaarigen König, die Königin, den Mohren, den Krieger und das lorbeerbekränzte Kinderpaar, er blau und sie rosa... Sie bewegten sich mit graziösen Schwimmbewegungen, als wären sie in ihrem Element.
Es war schwer zu entscheiden, ob es sich um Modelle aus Plastik oder Wachs handelte oder um lebende Wesen, auch weil die leichte Trübung der Flüssigkeit nicht erkennen ließ, ob das sanfte Atmen, das sie belebte, eine optische Täuschung oder Wirklichkeit war.
»Es scheint, daß sie von Tag zu Tag größer werden«, sagte Agliè. »Jeden Morgen werden die Gefäße unter frischem Pferdemist vergraben, der die richtige Wärme zum Wachsen liefert. Deshalb finden Sie bei Paracelsus Rezepte, in denen es heißt, Homunculi müsse man in der Temperatur des Pferdebauchs züchten. Unserem Gastgeber zufolge reden diese Homunculi mit ihm, teilen ihm Geheimnisse mit sagen ihm die Zukunft voraus, der eine enthüllt ihm die Maße des Salomonischen Tempels, der andere lehrt ihn, wie man Dämonen austreibt... Ehrlich gesagt, ich habe sie noch nie reden hören.«
Sie hatten enorm bewegliche Gesichter. Der König sah die Königin zärtlich an und hatte einen sehr sanften Blick.
»Unser Gastgeber hat mir erzählt, eines Morgens hätte er den blauen Knaben draußen gefunden, wer weiß wie seinem Käfig entsprungen, während er gerade versuchte, das Glas seiner Gefährtin zu öffnen... Doch er war außerhalb seines Elements, er atmete schwer, und sie konnten ihn gerade noch rechtzeitig wieder in seine Flüssigkeit setzen.«
»Schrecklich«, meinte Diotallevi. »Ich hätte nicht gern so eine Verantwortung. Dauernd muß man dieses Gefäß mit sich rumschleppen und überall, wo man hingeht, diesen Pferdemist finden. Und was macht man im Sommer mit ihnen? Lässt man sie beim Hausmeister?«
»Nun, vielleicht«, schloss Agliè, »sind es ja nur Kartesische Teufelchen. Oder Automaten.«
»Teufel, Teufel!« sagte Garamond. »Sie enthüllen mir da eine ganz neue Welt, Herr Doktor Agliè. Wir müssten alle viel demütiger werden, liebe Freunde. Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden... Aber schließlich, à la guerre comme à la guerre...«
Garamond war einfach hingerissen. Diotallevi bewahrte sich eine neugierig-zynische Miene, was Belbo anging, so zeigte er keinerlei Gefühlsregung.
Ich wollte mich von jedem Zweifel befreien und sagte zu ihm: »Schade, daß Lorenza nicht mitgekommen ist, sie hätte sich amüsiert.«
»Ja, sicher«, antwortete er abwesend.
Lorenza war nicht gekommen. Und mir ging es wie Amparo in Rio. Mir war elend zumute. Ich fühlte mich wie überrumpelt. Und man hatte mir kein Agogõ gegeben.
Ich verließ die Gruppe, ging wieder ins Haus und drängte mich durch die Menge, kam ans Büffet, nahm mir etwas zu trinken und fürchtete, es könnte ein Zaubertrank sein. Ich suchte eine Toilette, um mir die Stirn und den Nacken zu kühlen, fand eine und fühlte mich besser. Doch als ich hinaustrat, erblickte ich eine Wendeltreppe und konnte der Versuchung des neuen Abenteuers nicht widerstehen. Vielleicht, obwohl ich glaubte, mich wieder erholt zu haben, suchte ich immer noch nach Lorenza.
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Armer Tor! Bist du so einfältig zu glauben, wir würden dich offen das größte und wichtigste aller Geheimnisse lehren? Ich versichere dir, wer im gewöhnlichen Buchstabensinn der Worte erklären will, was die Hermetischen Philosophen schreiben, wird sich in den Mäandern eines Labyrinthes finden, aus dem er nicht zu entkommen vermag, und wird keinen Faden der Ariadne haben, der ihn hinausführt.
Artephius
Ich gelangte in einen unterirdischen Saal, spärlich erleuchtet, mit Wänden in Rocaille wie die Brunnen im Park. In einer Ecke entdeckte ich eine Öffnung, ähnlich dem Trichter eines gemauerten Schachts, und schon von weitem hörte ich Geräusche daraus hervorkommen. Ich trat näher, und die Geräusche wurden klarer unterscheidbar, bis ich einzelne Sätze verstand, deutlich artikuliert, als würden sie neben mir gesprochen. Ein Horchrohr, ein Ohr des Dionysios!
Das Rohr führte offensichtlich zu einem der oberen Säle, und so hörte ich die Reden derer, die an seiner Mündung vorbeikamen.
»Gnädige Frau, ich will Ihnen sagen, was ich noch niemandem gesagt habe. Ich bin müde... Ich habe mit Zinnober und mit Quecksilber experimentiert, ich habe alle Arten von Spiritus sublimiert, Fermente, Eisen-und Stahlsalze und ihre Schlacken, und ich habe den Stein nicht gefunden. Dann habe ich Scheidewasser bereitet, ätzende Wasser, brennende Wasser, aber das Ergebnis war immer dasselbe. Ich habe Eierschalen, Schwefel, Vitriol und Arsen benutzt, Salmiak, Glassalz, Alkalisalz, Kochsalz, Steinsalz, Salpeter, Natronsalz, Attincarsalz, Weinsteinsalz, Alembrotsalz, aber glauben Sie mir, hüten Sie sich vor all diesen Stoffen. Meiden Sie die unvollkommenen Rotmetalle, sonst werden Sie so getäuscht, wie ich getäuscht worden bin. Ich habe alles probiert: das Blut, die Haare, die Seele Saturns, die Markasiten, das Aes ustum, den Mars-Safran, die Späne und Schlacken des Eisens, das Bleioxyd, das Antimon — nichts. Ich habe mit allen Mitteln versucht, das Öl und das Wasser aus dem Silber zu kriegen, ich habe das Silber mit präpariertem Salz und ohne Salz kalziniert, auch mit Aquavit, und habe nur ätzende Öle gewonnen. Ich habe Milch, Wein und Lab verwendet, das Sperma der Sterne, das auf die Erde fällt, das Schellkraut, die Plazenta und eine Unzahl anderer Dinge, ich habe das Quecksilber mit den Metallen vermischt und sie zu Kristallen reduziert, ich habe sogar in der Asche gesucht... Schließlich... «
»Schließlich?«
»Nichts auf dieser Welt erfordert mehr Vorsicht als die Wahrheit. Sie zu sagen ist, wie wenn man sich einen Aderlass am Herzen macht... «
»Genug, genug, Sie erregen mich... «
»Nur Ihnen wage ich mein Geheimnis anzuvertrauen. Ich bin aus keiner Epoche und keinem Ort. Außerhalb der Zeit und des Raumes lebe ich meine ewige Existenz. Es gibt Menschen, die keine Schutzengel mehr haben: ich bin einer von ihnen... «
»Aber warum haben Sie mich hierhergeführt?«
Eine andere Stimme mischte sich ein: »Lieber Balsamo, spielen wir immer noch mit dem Unsterblichkeitsmythos?«
»Dummkopf! Die Unsterblichkeit ist kein Mythos. Sie ist eine Tatsache.«
Ich wollte gerade weitergehen, gelangweilt von dem Geschwätz, da hörte ich den Signor Salon. Er redete leise und aufgeregt, als hielt er jemanden am Arm zurück. Ich erkannte die Stimme von Pierre.
»Also hören Sie«, sagte Salon, »Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, auch Sie wären hier wegen dieser alchimistischen Posse. Und sagen Sie nicht, Sie wären hergekommen, um frische Luft im Garten zu schnappen. Wissen Sie, daß Salomon de Caus, nachdem er in Heidelberg war, eine Einladung des Königs von Frankreich angenommen hatte, um sich mit der Säuberung von Paris zu befassen?«
»Les façades?«
»Er war nicht Malraux. Ich vermute, es handelte sich um die Kanalisation. Interessant, nicht wahr? Dieser Herr erfand symbolträchtige Orangenhaine und Obstgärten für die Kaiser, aber was ihn wirklich interessierte, waren die Untergründe von Paris. Zu jener Zeit gab es in Paris noch kein richtiges Kanalnetz. Es war nur eine Mischung aus offenen und gedeckten Gräben, über die man sehr wenig wusste. Die alten Römer wussten schon seit der republikanischen Zeit alles über ihre Cloaca Maxima, und fünfzehnhundert Jahre später weiß man in Paris nichts von dem, was unter der Erde vorgeht. Und de Caus nimmt die Einladung des Königs an, weil er mehr darüber wissen möchte. Was wollte er herausfinden? Nach de Caus schickte Colbert zur Reinigung der gedeckten Kanäle — das war der Vorwand, doch bedenken Sie, wir sind jetzt in der Zeit der Eisernen Maske! — Sträflinge in die Kloaken, aber die wateten durch den Kot und folgten dem Strom bis zur Seine und fuhren auf einem Boot davon, ohne daß jemand wagte, sie zurückzuhalten, diese entsetzlich stinkenden Kreaturen, eingehüllt in Wolken von Fliegen... Daraufhin postierte Colbert Gendarmen an den Ausgängen zur Seine, und die Sträflinge verreckten in den Stollen. In drei Jahrhunderten sind in Paris kaum drei Kilometer Kanäle abgedeckt worden. Aber im achtzehnten Jahrhundert hat man sechsundzwanzig Kilometer geschafft, und das am Vorabend der Revolution. Sagt Ihnen das nichts?«
»Oh, vous savez, ça...«
»Der Grund ist, daß jetzt neue Leute an die Macht kamen, die etwas wussten, was die früheren nicht gewusst hatten. Napoleon schickte Arbeitstrupps unter die Erde, die in der Dunkelheit vorrückten, zwischen den menschlichen Abfällen der Metropole. Ich sage Ihnen, wer damals den Mut hatte, dort unten zu arbeiten, konnte viel finden. Ringe, Gold, Halsketten, Juwelen — was war nicht alles seit wer-weiß-wann in jene Gräben gefallen! Es genügten Leute, die den Magen hatten, das Zeug zu verschlucken, um dann herauszukommen, ein Abführmittel zu nehmen und reich zu werden. Man hat auch entdeckt, daß viele Häuser einen unterirdischen Gang hatten, der direkt zu den Kloaken führte.«
»Ça alors...«
»Wozu wohl, in einer Zeit, als man den Nachttopf einfach aus dem Fenster entleerte? Und warum gibt es seit damals Kanäle mit einer Art Gehsteig daneben und mit Eisenringen in den Mauern, an denen man sich festhalten kann? Diese Gänge entsprachen genau jenen tapis francs, in denen die kriminelle Unterwelt — la pègre, wie man sie damals nannte — ihre Versammlungen abhielt: Orte, wo man geschützt und sicher war, und wenn die Polizei erschien, konnte man verschwinden und anderswo wieder auftauchen.«
»C'est du roman-feuilleton...«
»Ach ja? Wen wollen Sie damit decken? Tatsache ist: unter Napoleon III. verpflichtete Baron Haussmann alle Pariser Haushalte per Gesetz, eine eigene Sickergrube zu bauen, und von da einen unterirdischen Gang zu den allgemeinen Kloaken... Einen Tunnel von zwei Meter dreißig Höhe und einem Meter dreißig Breite. Stellen Sie sich das vor! Jedes Haus in Paris durch einen unterirdischen Gang mit den Kanälen verbunden. Und wissen Sie, wie lang die Pariser Kanäle heute sind? Zweitausend Kilometer, auf mehreren Ebenen. Und all das hat angefangen mit dem, der in Heidelberg diese Gärten entworfen hat... «
»Et alors?«
»Ich sehe, Sie wollen partout nicht reden. Aber Sie wissen etwas, das Sie mir nicht sagen wollen.«
» S’il vous plait, laissez moi, es ist spät, man erwartet mich für eine Réunion.« Geräusch von Schritten.
Ich begriff nicht, worauf Salon hinauswollte. Ich sah mich um, eingeengt zwischen der Muschelwand und der Ohrmuschel, und fühlte mich im Untergrund, auch ich unter einem Gewölbe, und mir schien, als wäre die Mündung dieses Horchkanals nichts anderes als der Eingang zu einem Abstieg in finstere Gänge, hinunter ins Zentrum der Erde, ins Reich der Nibelungen. Mich fröstelte. Gerade wollte ich gehen, als ich erneut eine Stimme hörte: »Kommen Sie mit. Wir fangen gleich an. Im geheimen Saal. Rufen Sie die andern.«
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Dieses Goldene Vlies wird bewacht von einem dreiköpfigen Drachen, dessen erster Kopf aus dem Wasser stammt, der zweite aus der Erde und der dritte aus der Luft. Es ist unabdingbar, daß diese drei Köpfe in einem einzigen übermächtigen Drachen enden, der alle anderen Drachen verschlingen wird.
Jean d’Espagnet, Arcanum Hermeticae Pilosophiae Opus, 1623, 138
Ich fand meine Gruppe wieder und sagte Agliè, ich hätte jemanden von einer Versammlung reden hören.
»Ah, wir sind neugierig!« sagte Agliè. »Aber ich verstehe Sie. Wer sich in die hermetischen Geheimnisse vorwagt, der will alles darüber wissen. Nun denn, heute Abend soll, soviel ich weiß, die Initiation eines neuen Mitglieds des Alten und Angenommenen Rosenkreuzordens stattfinden.«
»Kann man das sehen?« fragte Garamond.
»Man kann nicht. Man darf nicht. Man dürfte nicht. Man könnte nicht. Aber machen wir's wie jene Personen des griechischen Mythos, die sahen, was sie nicht sehen durften, und stellen wir uns dem Zorn der Götter. Ich erlaube Ihnen, einen Blick darauf zu werfen.« Er führte uns eine Treppe hinunter in einen dunklen Gang, hob einen Vorhang hoch, und durch eine Scheibe sahen wir in den tiefer liegenden Saal, der von etlichen Kohlebecken erleuchtet wurde. Die Wände waren mit Damast tapeziert und mit Lilien bestickt, im Hintergrund erhob sich ein Thron unter einem vergoldeten Baldachin. Rechts und links neben dem Thron leuchteten, aus Karton oder Plastik geschnitten und auf Dreifüße gestellt, eine Sonne und ein Mond, eher grob ausgeführt, aber mit Stanniolpapier oder Blech überzogen, natürlich gold-und silberglänzend und nicht ohne einen gewissen Effekt, denn jedes Himmelslicht wurde direkt von den Flammen eines Kohlebeckens angestrahlt. Über dem Baldachin hing ein enormer Stern von der Decke, glitzernd von Edelsteinen oder Glasimitationen. Die Decke war mit blauem Damast bespannt, auf dem große silberne Sterne glänzten.
Vor dem Thron stand ein langer Tisch, dekoriert mit Palmwedeln, auf dem ein Degen lag, und direkt vor dem Tisch erhob sich ein ausgestopfter Löwe mit aufgerissenem Rachen. Jemand musste ihm eine rote Lampe in den Kopf getan haben, denn die Augen glühten feuerrot, und der Rachen schien Flammen zu speien. Ich dachte sofort an die Handwerkskunst des Signor Salon und begriff endlich, auf welche kuriosen Kunden er damals in München angespielt hatte.
Am Tisch saß Professor Bramanti, angetan mit einer roten Tunika und gestickten grünen Paramenten, einem weißen Umhang mit goldenem Saum, einem schimmernden Kreuz auf der Brust und einem Hut in Form einer Mitra, geschmückt mit einem rot-weißen Federbusch. Vor ihm, in hieratischer Haltung, etwa zwanzig Personen, gleichfalls in roter Tunika, doch ohne Paramente. Alle trugen etwas Goldenes auf der Brust, das mir irgendwie bekannt vorkam. Es erinnerte mich an ein Renaissanceporträt, an eine große Habsburgernase, an jenes seltsame Lamm mit herunterhängenden Beinen, das an der Taille aufgehängt ist. Ja, das war's, diese Leute schmückten sich mit einer akzeptablen Imitation des Goldenen Vlieses.
Bramanti sprach mit erhobenen Armen, als rezitierte er eine Liturgie, und die Anwesenden respondierten im Chor. Nach einer Weile hob Bramanti den Degen, und alle zogen etwas wie ein Stilett oder einen Brieföffner aus der Tunika und hielten es hoch. In diesem Moment ließ Agliè den Vorhang fallen. Wir hatten schon zu viel gesehen.
Wir entfernten uns leise (auf Pink Panthers Pfoten, wie Diotallevi präzisierte, erstaunlich gut informiert über die Perversionen der modernen Welt) und fanden uns draußen im Garten wieder, ein wenig außer Atem.
Garamond war bestürzt. »Sind das... Freimaurer?«
»Oh«, sagte Agliè, »was heißt Freimaurer? Es sind die Adepten eines Ritterordens, der sich auf die Rosenkreuzer beruft und indirekt auf die Templer.«
»Dann hat das alles gar nichts mit Freimaurerei zu tun?« fragte Garamond noch einmal.
»Wenn es eine Gemeinsamkeit gibt zwischen dem, was Sie gesehen haben, und der Freimaurerei, dann die Tatsache, daß auch Bramantis Ritus ein Hobby für Provinzhonoratioren und Politikaster ist. Aber so war's von Anfang an, die Freimaurerei war noch nie etwas anderes als eine schwächliche Anknüpfung an die Templerlegende. Und dies hier ist die Karikatur einer Karikatur. Nur daß diese Herren sie fürchterlich ernst nehmen. Leider! Die Welt wimmelt von Rosenkreuzern und Templern wie denen, die Sie heute Abend hier gesehen haben. Nicht von ihnen dürfen Sie eine Offenbarung erwarten, auch wenn gerade sie es sind, unter denen man einen glaubwürdigen Initiierten antreffen könnte.«
»Aber schließlich«, fragte Belbo, und er fragte es ganz ohne Ironie, ohne Argwohn, als beträfe die Frage ihn persönlich, »schließlich verkehren doch Sie hier. An wen glauben Sie... Pardon: glaubten Sie unter all diesen hier?«
»An niemanden selbstverständlich. Sehe ich aus wie ein gläubiger Mensch? Ich betrachte sie mit dem kühlen Blick, dem Verständnis und dem Interesse, mit welchen ein Theologe die neapolitanischen Massen betrachten kann, die voller Erregung auf das Wunder von San Gennaro warten. Diese Massen bezeugen einen Glauben, ein tiefes Bedürfnis nach Gläubigkeit, und der Theologe bewegt sich unter diesen schwitzenden und schreienden Leuten, weil er unter ihnen den unbekannten Heiligen antreffen könnte, den Träger einer höheren Wahrheit, der eines Tages imstande sein könnte, ein neues Licht auf das Mysterium der allerheiligsten Trinität zu werfen. Doch die allerheiligste Trinität ist nicht San Gennaro.«
Er war nicht zu packen. Ich wusste nicht, wie ich seine Haltung definieren sollte, diesen hermetischen Skeptizismus, diesen liturgischen Zynismus, diese höhere Ungläubigkeit, die ihn dazu brachte, die Würde jedes von ihm verachteten Aberglaubens anzuerkennen.
»Es ist doch ganz einfach«, sagte er zu Belbo. »Wenn die Templer, ich meine die wahren, ein Geheimnis hinterlassen und eine Kontinuität gestiftet haben, dann muß man nach ihren Erben suchen, und das in denjenigen Kreisen, in denen sie sich am besten verbergen könnten, wo sie womöglich selber Riten und Mythen erfinden, um sich unbemerkt bewegen zu können wie Fische im Wasser. Was macht die Polizei, wenn sie den genialen Ausbrecher sucht, das Genie des Bösen? Sie wühlt in den bas fonds, im Bodensatz der Gesellschaft, in den Spelunken, wo sich die kleinen Strolche herumtreiben, die niemals soweit gelangen werden, die grandiosen Verbrechen des Gesuchten auch nur zu konzipieren. Was macht der Stratege des Terrorismus, um seine künftigen Anhänger zu rekrutieren, um sich mit den Seinen zu treffen und sie zu erkennen? Er geht in die Lokale der Pseudo-Aussteiger, wo viele, die nie wirklich aussteigen werden, weil sie viel zu schwach dazu sind, ostentativ die vermeintlichen Verhaltensweisen ihrer Idole mimen. Wo sucht man das verlorene Licht? In den Bränden sucht man es, oder im Unterholz, wo nach dem Brand die Flammen weiterschwelen unter den toten Wurzeln, dem Fettschlamm, dem halbverbrannten Laub. Und wo könnte sich der wahre Templer besser verbergen als in der Menge seiner Karikaturen?«
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Wir betrachten als druidische Gesellschaften per definitionem diejenigen Gesellschaften, die sich als druidisch in ihrem Namen oder in ihren Zielen bezeichnen und Initiationen gewähren, die sich auf das Druidentum berufen.
M. Raoult, Les druides. Les sociétés initiatiques celtes cont poraines, Paris, Rocher, 1983, p. 18
Mitternacht rückte näher, und nach Agliès Programm erwartete uns die zweite Überraschung des Abends. Wir verließen die palatinischen Gärten und machten uns erneut auf die Fahrt durch die Hügel.
Nach einer Dreiviertelstunde ließ Agliè die beiden Wagen am Rand einer Waldung halten. Wir müssten jetzt ein Gestrüpp durchqueren, sagte er, um zu einer Lichtung zu gelangen, und es gebe dorthin weder Straßen noch Wege.
Wir stapften auf einem leicht ansteigenden Trampelpfad durch das Unterholz. Es war nicht feucht, aber die Sohlen rutschten auf einer Schicht fauliger Blätter und glitschiger Wurzeln. Agliè knipste ab und zu eine Taschenlampe an, um gangbare Wege zu finden, aber er machte sie jedes Mal gleich wieder aus, weil es — wie er sagte — nicht nötig sei, daß unser Kommen den Zelebranten signalisiert werde. Einmal setzte Diotallevi zu einem Kommentar an, ich weiß nicht mehr genau, was er sagte, vielleicht war es etwas von Rotkäppchen und dem Wolf, doch Agliè bat ihn mit einer gewissen Strenge zu schweigen.
Schon als wir aus den Autos gestiegen waren, hatten wir ferne Stimmen gehört. Endlich gelangten wir an den Rand der Lichtung, die nun von diffusen Lichtern beleuchtet erschien, von kleinen Fackeln oder Funzeln, die am Boden glommen, ein mattes Silbergefunkel, als glühte da eine gasförmige Substanz mit chemischer Kälte in Seifenblasen, die über den Grasboden tanzten. Agliè hieß uns stehen bleiben, wo wir standen, noch im Schutz des Gebüschs, und dort zu warten, ohne uns bemerkbar zu machen.
»In Kürze werden die Priesterinnen erscheinen. Besser gesagt, die Druidinnen. Es geht um eine Beschwörung der großen kosmischen Jungfrau Mikil — Sankt Michael ist eine volkstümlich-christliche Adaptation von ihr, nicht zufällig ist er ein Engel, mithin androgyn, so daß er den Platz einer weiblichen Gottheit einnehmen konnte... «
»Wo kommen die her?« flüsterte Diotallevi.
»Aus verschiedenen Gegenden, aus der Normandie, aus Norwegen, Irland... Es handelt sich um ein ziemlich singuläres Ereignis, und dies hier ist ein besonders geeigneter Ort für den Ritus.«
»Warum?« fragte Garamond.
»Manche Orte sind eben magischer als andere.«
»Aber was für Leute sind das... im Leben?«
»Nun, Leute eben. Sekretärinnen, Versicherungsagentinnen, Dichterinnen. Leute, denen Sie morgen auf der Straße begegnen könnten, ohne sie wiederzuerkennen.«
Wir sahen jetzt eine kleine Schar in die Mitte der Lichtung strömen. Ich begriff, daß die kalten Lichter, die ich gesehen hatte, kleine Lampen waren, die die Priesterinnen in der Hand trugen, und daß sie mir deshalb so flach über dem Boden schwebend erschienen waren, weil die Lichtung auf dem Gipfel eines Hügels lag und ich die Druidinnen an den Rändern des Hochplateaus hatte auftauchen sehen. Sie trugen weiße Gewänder, die im leichten Wind flatterten. Sie ordneten sich zu einem Kreis, und drei von ihnen traten in die Mitte.
»Das sind die drei hallouines von Lisieux, von Clonmacnois und von Pino Torinese«, flüsterte Agliè. Belbo fragte, warum gerade die, aber Agliè straffte die Schultern und sagte: »Still, warten Sie ab. Ich kann Ihnen nicht in drei Worten das Ritual und die Hierarchie der nordischen Magie erklären. Begnügen Sie sich mit dem, was ich Ihnen sage. Wenn ich nicht mehr sage, liegt es daran, daß ich nicht mehr weiß... oder nicht mehr sagen darf. Ich muß einige Diskretionsregeln beachten... «
Im Zentrum der Lichtung lag ein Haufen Steine, der vage an einen Dolmen erinnerte. Vermutlich war die Lichtung gerade deswegen ausgesucht worden. Eine Priesterin stieg auf den Dolmen und blies in eine Trompete. Das Instrument glich noch mehr als das, welches wir vor ein paar Stunden gesehen hatten, einer Fanfare im Triumphmarsch der Aida. Doch es erklang ein weicher und dunkler Ton, der von sehr weither zu kommen schien. Belbo fasste mich am Arm: »Das ist das Ramsinga, das Alphorn der Thugs beim heiligen Banyan... «
Ich war taktlos. Ich begriff nicht, daß er den Scherz nur gemacht hatte, um damit andere Analogien zu verdrängen, und stieß das Messer in die Wunde: »Sicher war's mit dem Baryton nicht so suggestiv.«
Belbo nickte. »Die sind genau deswegen hier, weil sie kein Baryton wollen«, sagte er. Ich frage mich, ob es nicht an jenem Abend war, daß er eine Verbindung zu sehen begann, einen Zusammenhang zwischen seinen Träumen und dem, was in jenen Monaten mit ihm geschah.
Agliè hatte unseren Dialog nicht verfolgt, uns aber flüstern hören. »Es handelt sich weder um eine Warnung noch um einen Appell«, sagte er. »Es ist eine Art Ultraschallsignal, um Kontakt mit den unterirdischen Wellen herzustellen. Sehen Sie, jetzt halten sich die Druidinnen alle im Kreis an den Händen. Sie bilden eine Art lebendigen Akkumulator, um die Erdvibrationen aufzufangen und zu bündeln. Jetzt müsste die Wolke erscheinen... «
»Welche Wolke?« flüsterte ich.
»Die Tradition nennt sie grüne Wolke. Warten Sie... «
Ich erwartete keinerlei grüne Wolke. Aber fast jählings erhob sich aus der Erde ein weicher Dunst — ein Nebel, hätte ich gesagt, wenn es eine uniforme Masse gewesen wäre. Es war eine flockige Masse, die sich an einem Punkt zusammenklumpte und dann, vom Wind getrieben, wie ein Gewölle aus Zuckerwatte aufstob, um durch die Luft zu schweben und sich an einem anderen Punkt der Lichtung niederzulassen. Der Effekt war einzigartig, bald tauchten die Bäume im Hintergrund auf, bald vermischte sich alles in einem weißlichen Dunst, bald wirbelte das Geflocke ins Zentrum der Lichtung, nahm uns die Sicht auf das, was geschah, ließ aber sowohl die Ränder frei als auch den Himmel, an dem der Mond weiterhin schien. Die Flocken bewegten sich ruckartig, unerwartet, als gehorchten sie den Stößen einer launischen Brise.
Ich dachte zuerst an einen chemischen Kunstgriff, dann überlegte ich: Wir befanden uns auf etwa sechshundert Meter Höhe, es konnten durchaus echte Nebelschwaden sein. Waren sie im Ritus vorgesehen, womöglich von ihm evoziert? Nein, das wohl nicht, aber die Priesterinnen hatten damit gerechnet, daß sich auf dieser Höhe, unter günstigen Umständen, solche über den Boden irrenden Schwaden bilden könnten.
Es war schwer, sich dem Zauber der Szenerie zu entziehen, auch weil die weißen Gewänder der Priesterinnen mit dem Weiß der Schwaden verschmolzen und ihre Gestalten aus der milchigen Dunkelheit aufzutauchen und wieder in sie zu versinken schienen, als würden sie von ihr erzeugt.
Es gab einen Moment, in dem die Wolke das ganze Zentrum der Wiese erfüllte und einige Streifen, die zerfasernd aufstiegen, fast den Mond verdeckten, wenn auch nicht so sehr, daß sie die ganze Lichtung verdunkelten, denn an den Rändern blieb sie immer noch hell. In diesem Moment sahen wir eine Druidin aus der Wolke hervorkommen und direkt auf uns zulaufen, schreiend, mit vorgestreckten Armen, so daß ich schon dachte, sie hätte uns entdeckt und schleudere uns Flüche entgegen. Doch als sie dicht vor uns angelangt war, änderte sie ihre Richtung und begann, im Kreis um die Wolke zu laufen, verschwand nach links im weißlichen Dunst, um nach ein paar Minuten von rechts wieder zu erscheinen und uns erneut sehr nahe zu kommen, so daß ich ihr Gesicht sehen konnte. Es war das Gesicht einer Wahrsagerin mit großer dantesker Nase über einem schmalen, schlitzdünnen Mund, der sich öffnete wie eine unterseeische Blüte, zahnlos bis auf zwei Schneidezähne und einen asymmetrischen Eckzahn. Der Blick war beweglich, adlerscharf, stechend. Ich hörte, oder glaubte zu hören, oder glaube jetzt, mich zu erinnern, gehört zu haben — und lege über diese Erinnerung andere Erinnerungsbilder — zusammen mit einer Reihe von Worten, die ich damals für gälisch hielt, einige Beschwörungen in einer Art von Latein, etwas wie: »O pegnia (oh, e oh! intus) et eee uluma!!!«, und mit einem Schlag war der Nebel so gut wie verschwunden, die Lichtung klärte sich wieder, und ich sah, daß sie von einem Rudel Schweine erfüllt worden war, Schweine mit Ketten aus sauren Äpfeln um die gedrungenen Hälse. Die Druidin, die vorhin die Trompete geblasen hatte, zückte, immer noch auf dem Dolmen stehend, ein Messer.
»Gehen wir«, sagte Agliè trocken. »Es ist zu Ende.«
Die Wolke war plötzlich über uns und hüllte uns ein, so daß ich meine Nachbarn kaum noch sehen konnte.
»Was heißt zu Ende?« protestierte Garamond. »Mir scheint, das Beste fangt gerade erst an!«
»Zu Ende ist das, was Sie sehen konnten. Mehr gibt es nicht. Respektieren wir den Ritus. Gehen wir.«
Wir traten zurück in den Wald, dessen Feuchtigkeit uns sofort umfing. Wir bewegten uns fröstelnd, stolpernd und rutschend auf faulendem Laub, keuchend und ungeordnet wie eine Armee auf der Flucht. Schließlich fanden wir uns auf der Straße wieder. Wir könnten in knapp zwei Stunden in Mailand sein, sagte Agliè. Bevor er zu Garamond in den Mercedes stieg, verabschiedete er sich mit den Worten: »Verzeihen Sie bitte, wenn ich das Schauspiel unterbrochen habe. Ich wollte Ihnen etwas zeigen, jemanden, der um uns lebt und für den im Grunde auch Sie mittlerweile arbeiten. Aber mehr gab es nicht zu sehen. Als ich über dieses Ereignis informiert wurde, musste ich versprechen, die Zeremonie nicht zu stören. Unsere Anwesenheit hätte die folgenden Phasen negativ beeinflusst«
»Aber was ist mit den Schweinen? Und was passiert jetzt?« fragte Belbo.
»Was ich sagen konnte, habe ich gesagt.«
63
»Woran erinnert dich dieser Fisch?« »An andere Fische.« »Woran erinnern dich die anderen Fische?« »An andere Fische.«
Joseph Heller, Catch22, New York, Simon & Schuster, 1961, XXVII
Ich kam mit vielen Gewissensbissen aus Piemont zurück. Aber kaum sah ich Lia wieder, vergaß ich alle Begierden, die mich gestreift hatten.
Allerdings hatte der Ausflug andere Spuren in mir hinterlassen, und ich finde es jetzt beunruhigend, daß sie mich damals nicht beunruhigt hatten. Ich war dabei, die Bilder für die Geschichte der Metalle Kapitel für Kapitel definitiv zu ordnen, und es gelang mir nicht mehr, mich dem Dämon der Ähnlichkeit zu entziehen, wie seinerzeit in Rio. Worin unterschieden sich dieser zylindrische Ofen von Reaumur, 1750, dieser Brutkasten zum Eierausbrüten und dieser barocke Athanor, ein Mutterleib, ein obskurer Uterus zum Ausbrüten von wer weiß was für mystischen Metallen? Es war, als hätte man das Deutsche Museum in jenem piemontesischen Schloss installiert, das ich eine Woche zuvor besucht hatte.
Es fiel mir immer schwerer, die Welt der Magie von dem zu trennen, was wir heute das Universum der Präzision und Exaktheit nennen. Ich fand Personen wieder, die mir in der Schule als Träger des Lichts der Mathematik und Physik inmitten der Finsternis des Aberglaubens nahegebracht worden waren, und entdeckte, daß sie bei ihrer Arbeit im Laboratorium mit einem Fuß in der Kabbala gestanden hatten. War ich womöglich dabei, die ganze Geschichte mit den Augen unserer Diaboliker neu zu lesen? Ich riss mich zusammen, aber dann fand ich unverdächtige Texte, die mir erzählten, wie die positivistischen Physiker, sobald sie abends die Universität verließen, eiligst hingingen, um sich in telepathische Séancen und astrologische Tafelrunden zu stürzen, und wie Newton zu den Gesetzen der universalen Gravitation gelangt war, weil er an die Existenz okkulter Kräfte glaubte (was mich an seine Ausflüge in die rosenkreuzerische Kosmologie erinnerte).
Ich hatte mir die Ungläubigkeit zu einer wissenschaftlichen Pflicht gemacht, aber nun musste ich auch den Meistern misstrauen, die mich gelehrt hatten, ungläubig zu werden.
Ich bin wie Amparo, sagte ich mir: ich glaube nicht daran, aber ich falle darauf herein. Und ich ertappte mich beim Nachdenken darüber, daß die Höhe der Großen Pyramide im Grunde ja wirklich ein Milliardstel der Entfernung Erde-Sonne betrug, oder daß es ja tatsächlich Analogien zwischen keltischer und indianischer Mythologie gab. Und so begann ich, alles und jedes, was mich umgab, zu befragen, die Häuser, die Firmenschilder, die Wolken am Himmel und die Abbildungen in den Büchern, um ihnen nicht ihre eigene Geschichte, sondern eine andere zu entlocken, eine, die sie gewiss verbargen, aber die sie letztlich gerade aufgrund und kraft ihrer mysteriösen Ähnlichkeiten enthüllten.
Es rettete mich Lia, jedenfalls für den Moment.
Ich hatte ihr alles (oder fast alles) von unserem Ausflug nach Piemont erzählt, und jeden Abend kam ich mit neuen kuriosen Entdeckungen heim, um sie in meine Kartei der Querverweise einzutragen. »Iss, du bist dünn wie ein Nagel«, lautete ihr Kommentar. Eines Abends setzte sie sich seitlich neben mich an den Schreibtisch, teilte die Mähne in der Mitte der Stirn, um mir gerade in die Augen zu sehen, und legte die Hände in den Schoß, wie es Hausfrauen tun. So hatte sie sich noch nie hingesetzt: die Beine gespreizt, so daß der Rock sich über den Knien spannte. Nicht sehr anmutig, dachte ich. Aber dann sah ich in ihr Gesicht, und es schien mir zu leuchten, übergossen von einer zarten Färbung. Und ich hörte ihr — noch ohne zu wissen warum — mit Respekt zu.
»Pim«, sagte sie, »mir gefällt die Art nicht, wie du mit dieser Manuzio-Geschichte umgehst. Erst hast du Fakten gesammelt, wie andere Leute Muscheln sammeln. Jetzt scheint es, als ob du Lottozahlen ankreuzt.«
»Das ist bloß, weil ich mich mit denen mehr amüsiere.«
»Du amüsierst dich nicht. Du bist fasziniert. Das ist was anderes. Pass auf, die machen dich krank.«
»Jetzt übertreib nicht. Krank sind höchstens die selber. Man wird nicht verrückt, wenn man als Pfleger in der Klapsmühle arbeitet.«
»Das wäre erst noch zu beweisen.«
»Ich habe den Analogien immer misstraut, das weißt du. Und jetzt bin ich auf einmal mitten in einem Fest von Analogien, einem Coney Island, einem Ersten Mai in Moskau, einem Heiligen Jahr der Analogien, und dabei stelle ich fest, daß einige besser als andere sind, und frage mich, ob es dafür nicht zufällig einen Grund gibt«
»Pim«, sagte Lia, »ich hab mir deine Karteikarten angesehen. Ich bin es ja, die sie hinterher wieder ordnen muß. Was immer deine Diaboliker auch entdecken, es ist alles schon hier, schau her«, und sie klopfte sich auf den Bauch, an die Hüften, auf die Schenkel und an die Stirn. So wie sie dasaß, breitbeinig, mit gestrafftem Rock, frontal vor mir, erschien sie mir wie eine stämmige, blühende Amme — sie, die so zart und biegsam war —, denn eine ruhige Klugheit erleuchtete sie von innen mit matriarchalischer Autorität.
»Pim, es gibt keine Archetypen, es gibt nur den Körper. Das Innen ist schön, weil da drinnen im Bauch das Kind heranwächst, dein Piephahn schlüpft da fröhlich hinein, und die gute, wohlschmeckende Speise sinkt da hinunter, und darum sind schön und wichtig die Höhle, die Schlucht, der Gang, der Untergrund und sogar das Labyrinth, das genauso beschaffen ist wie unsere guten und heiligen Eingeweide, und wenn jemand was Wichtiges erfinden muß, dann lässt er's von da drinnen kommen, weil auch du von da drinnen gekommen bist am Tage deiner Geburt, und die Fruchtbarkeit ist immer in einem Loch, wo erst etwas verfault, und dann siehe da, ein kleiner Chinese, eine Dattelpalme, ein Affenbrotbaum. Aber oben ist besser als unten, weil wenn du auf dem Kopf stehst, fließt dir das Blut in den Kopf, weil die Füße stinken und die Haare weniger, weil es besser ist, auf einen Baum raufzuklettern, um Früchte zu pflücken, als unter der Erde zu liegen, um die Würmer zu mästen, weil du dir selten weh tust, wenn du dich aufrichtest (du musst schon wirklich unter dem Dach sein), und gewöhnlich tust du dir weh, wenn du irgendwo runterfällst, und deswegen ist das Oben himmlisch und das Unten teuflisch. Aber weil ja auch wahr ist, was ich zuerst über meinen Bauch gesagt habe, ist eben beides wahr, das Unten und Drinnen ist im einen Sinn schön, und im anderen Sinn ist das Oben und Draußen schön, und das hat nichts mit dem Geist des Merkur und dem universalen Widerspruch zu tun. Das Feuer hält warm, und die Kälte bringt dir eine Lungenentzündung ein, besonders wenn du ein Gelehrter vor viertausend Jahren bist, und folglich hat das Feuer geheimnisvolle Kräfte, auch weil es dir das Suppenhuhn gar macht. Aber die Kälte konserviert dir das Huhn, und wenn du das Feuer berührst, macht es dir eine böse Brandblase. Also wenn du an eine Sache denkst, die sich seit Jahrtausenden hält, wie die Weisheit, dann musst du sie auf einem Berg denken, hoch oben (was gut ist, wie wir gesehen haben), aber oben in einer Höhle (was genauso gut ist) und in der ewigen Kälte des tibetanischen Schnees (was optimal ist). Und wenn du dann wissen willst, wieso die Weisheit aus dem Orient kommt und nicht aus den Schweizer Alpen — na, ganz einfach, weil der Körper deiner Urahnen morgens früh, wenn er aufwachte und es noch dunkel war, nach Osten schaute in der Hoffnung, daß die Sonne dort wieder aufging und es nicht regnen würde, verdammter Mist.«
»Ja, Mama.«
»Ja sicher, mein Kind. Die Sonne ist gut, weil sie dem Körper guttut und keine Zicken macht, sondern brav jeden Tag wieder aufgeht, und darum ist alles gut, was wiederkehrt und nicht bloß einmal vorbeischaut und dann ade, auf Nimmerwiedersehen. Und die beste Art, an einen Ort zurückzukehren, ohne denselben Weg zweimal zu gehen, ist im Kreis zu gehen, und weil das einzige Tier, das sich im Kreise ringelt, die Schlange ist, deshalb gibt es so viele Schlangenkulte und -mythen, denn es ist schwierig, sich die Wiederkehr der Sonne mit einem geringelten Flusspferd vorzustellen. Außerdem, wenn du eine Zeremonie zur Anrufung der Sonne machen musst, tust du gut daran, dich im Kreis zu bewegen, weil wenn du dich auf einer geraden Linie bewegst, entfernst du dich, und die Zeremonie wird sehr kurz. Und es gibt noch einen anderen Grund, warum der Kreis die beste Form für einen Ritus ist, was auch die Feuerschlucker auf den Marktplätzen wissen, weil nämlich bei einem Kreis alle gleich gut sehen können, was in der Mitte passiert, während wenn ein ganzer Stamm sich auf einer geraden Linie aufstellen würde wie ein Trupp Soldaten, dann würden die weiter Entfernten nichts mehr sehen, und deswegen sind der Kreis und die Kreisbewegung und die zyklische Wiederkehr in allen Kulten und Riten fundamental.«
»Ja, Mama.«
»Ja sicher. Und jetzt zu den magischen Zahlen, die deinen Autoren so sehr gefallen. Die Eins bist du, der du einer bist und nicht zwei, eins ist dein Dingsda, und eins ist mein Dingsda, eine ist deine Nase und eins dein Herz, woran du siehst, wie viele wichtige Dinge nur einmal da sind. Und zwei sind die Augen, die Ohren, die Nasenlöcher, meine Brüste und deine Eier, die Beine, die Arme und die Pobacken. Die Drei ist magischer als alles andere, weil unser Körper sie nicht kennt, wir haben nichts, was dreimal vorkommt, und deswegen muß die Drei eine höchst geheimnisvolle Zahl sein, die wir Gott zuschreiben, egal wo wir leben. Aber wenn du's genau bedenkst, ich hab nur eine Dingsda und du hast nur einen Dingens — still, lass jetzt die Witzeleien —, und wenn wir unsere beiden Dinger zusammentun, kommt ein neues Dingelchen raus, und wir sind drei. Was meinst du, muß da erst ein Universitätsprofessor kommen, um zu entdecken, daß alle Pole ternäre Strukturen haben, Trinitäten oder solche Sachen? Aber die Religionen sind nicht mit dem Computer gemacht worden, sondern von ganz normalen Leuten, die ganz normal gevögelt haben, und all diese trinitarischen Strukturen sind kein Mysterium, sondern die Erzählung von dem, was du und ich machen und was sie gemacht haben. Klar? Also weiter. Zwei Arme und zwei Beine machen zusammen vier, und deswegen ist auch die Vier eine schöne Zahl, besonders wenn du bedenkst, daß die Tiere vier Beine haben und daß die kleinen Kinder auf vier Beinen laufen, wie schon die Sphinx wusste. Von der Fünf brauchen wir nicht zu reden, fünf sind die Finger der Hand, und mit zwei Händen hast du die andere magische Zahl, die Zehn, weshalb es notwendigerweise auch zehn Gebote sein müssen, denn stell dir vor, es wären zwölf, und der Priester sagt erstens, zweitens, drittens und zählt sie mit den Fingern auf, dann müsste er sich für die beiden letzten Gebote die Finger des Küsters ausleihen. Jetzt nimm den Körper und zähl mal alles, was aus dem Rumpf rausragt. Mit Armen, Beinen, Kopf und Penis sind es sechs Sachen, aber bei der Frau sind es sieben, und deswegen, scheint mir, ist die Sechs von deinen Autoren nie richtig ernst genommen worden, höchstens als Verdoppelung der Drei, weil sie nur bei den Männern funktioniert, die keine Sieben haben, und wenn sie kommandieren, ziehen sie's vor, die Sieben als heilige Zahl zu sehen, wobei sie vergessen, daß auch meine Titten vorspringen, aber egal. Acht — mein Gott, wir haben nichts mit acht am Leib... nein, warte, wenn man die Extremitäten nicht als je eine zählt, sondern als zwei, dann haben wir wegen der Ellbogen und der Knie acht große lange Knochen, die rausragen, und nimm diese acht plus den Rumpf, und du hast neun, und wenn du den Kopf dazunimmst, kommst du auf zehn. Und so kannst du weitermachen, immer rund um den Körper herum, und kommst auf jede Zahl, die du willst, denk nur mal an die Löcher.«
»Die Löcher?«
»Ja, wie viele Löcher hat dein Körper?«
»Hmm...« Ich zählte an mir: »Zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher, ein Mund, ein Arschloch... Acht.«
»Siehst du? Noch ein Grund, warum die Acht eine schöne Zahl ist. Aber ich habe neun! Und mit dem neunten lasse ich dich zur Welt kommen, und deshalb ist die Neun göttlicher als die Acht! Und willst du die Erklärung für weitere Figuren, die immer wiederkehren? Willst du die Anatomie der Menhire, von denen deine Autoren andauernd reden? Bei Tag steht man aufrecht und nachts liegt man flach, das gilt auch für dein Dingsda — nein, sag mir jetzt nicht, was dein Dingsda nachts macht, Tatsache ist, daß es im Stehen arbeitet und sich im Liegen ausruht. Und deswegen ist die vertikale Stellung das Leben und steht in Beziehung zur Sonne, und die Obelisken ragen genauso empor wie die Bäume, während die horizontale Stellung und die Nacht der Schlaf sind und folglich der Tod, und alle verehren Menhire und Pyramiden und Säulen, und niemand verehrt Balkone und Balustraden. Hast du jemals von einem archaischen Kult des heiligen Geländers gehört? Na bitte! Und nicht bloß, weil's der Körper dir nicht erlaubt: wenn du einen senkrechten Stein anbetest, kann jeder ihn sehen, auch wenn ihr viele seid, aber wenn du was Horizontales anbetest, dann sehen es nur die in der ersten Reihe, und die andern drängeln von hinten und rufen ich auch, ich auch, und das ist kein schönes Bild für eine magische Zeremonie... «
»Aber die Flüsse... «
»Die Flüsse werden nicht angebetet, weil sie horizontal sind, sondern weil da Wasser drin fließt, und du wirst doch nicht wollen, daß ich dir die Beziehung zwischen dem Wasser und dem Körper erkläre... Tja, siehst du, wir sind eben so gebaut, wir Menschen, wir alle, wir haben alle den gleichen Körper, und deshalb erfinden wir alle die gleichen Symbole, auch wenn wir Millionen Kilometer voneinander entfernt sind, und alles ist zwangsläufig ähnlich, und nun kapierst du auch, daß Leute mit Grips im Kopf, wenn sie den Ofen des Alchimisten sehen, der rundum zu ist und innen warm, dann denken sie an den Mutterleib, der das Kind hervorbringt, und nur deine Diaboliker sehen die Madonna mit dem Kind im Leib und denken, sie wäre eine Anspielung auf den Alchimistenofen. So haben sie Jahrtausende mit der Suche nach einer verborgenen Botschaft verbracht, und dabei war alles schon da, sie brauchten nur mal in den Spiegel zu sehen.«
»Du sagst mir immer die Wahrheit. Du bist mein Ich, und das heißt mein Sich, gesehen durch Dich. Ich möchte alle verborgenen Archetypen des Körpers entdecken.« An jenem Abend erfanden wir den Ausdruck »die Archetypen entdecken« für unsere Momente der Zärtlichkeit.
Als ich schon fast eingeschlafen war, berührte mich Lia an der Schulter. »Ich hab was vergessen«, sagte sie. »Ich bin schwanger.«
Hätte ich nur auf Lia gehört! Sie sprach mit der Klugheit derer, die wissen, woher das Leben kommt. Als wir uns in die Untergründe Agarthas wagten, in die Pyramide der Entschleierten Isis, waren wir in Geburah eingetreten, in die Sefirah des Schreckens, den Augenblick, da die Gefäße brechen und der Zorn über die Welt kommt. Hatte ich mich nicht, wenn auch nur für einen Moment, von dem Gedanken an die Sophia verführen lassen? Das Weibliche, sagt Moses Cordovero, ist zur Linken, und all seine Attribute streben zu Geburah... Es sei denn, der Mann nutzte diese Strebungen, um seine Braut zu schmücken, und wendete sie, indem er sie zähmte, zum Guten. Mit anderen Worten, jedes Verlangen muß in seinen Grenzen bleiben. Andernfalls wird Geburah das Strafgericht, der dunkle Schein, die Welt der Dämonen.
Das Verlangen bezähmen... So hatte ich's in Rio gemacht, ich hatte das Agogõ geschlagen, ich hatte am Schauspiel auf Seiten der Musiker teilgenommen und mich der Trance entzogen. So hatte ich's auch mit Lia gemacht, ich hatte das Verlangen in die Huldigung vor der Braut eingebunden und war in der Tiefe meiner Lenden dafür belohnt worden, mein Same war gesegnet gewesen.
Aber ich hatte keine Geduld gehabt. Ich war im Begriff, mich von Tifereths Schönheit verführen zu lassen.