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Zu träumen, man wohne in einer neuen und unbekannten Stadt, heißt, daß man bald sterben wird. Anderswo nämlich wohnen die Toten, und man weiß nicht, wo.
Gerolamo Cardano, Somniorum Synesiorum, Basel 1562, 1, 58
Wenn Geburah die Sefirah der Furcht und des Bösen ist, so ist Tifereth die Sefirah der Schönheit und der Harmonie. Also sprach Diotallevi: Sie ist die erhellende Spekulation, der Baum des Lebens, das Vergnügen, der purpurne Schein. Sie ist die Eintracht von Regel und Freiheit.
Und jenes Jahr war für mich das Jahr des Vergnügens, der spielerischen Umwälzung des großen Textes der Welt, das Jahr, in dem wir die Hochzeit des Überlieferten Wissens mit der Elektronischen Maschine feierten. Wir kreierten und hatten Freude daran. Es war das Jahr, in dem wir den Großen Plan erfanden.
Zumindest für mich, kein Zweifel, war es ein glückliches Jahr. Lias Schwangerschaft ging in heiterer Ruhe voran, von der Arbeit für Garamond und meiner Agentur konnten wir jetzt einigermaßen auskömmlich leben, ich hatte das Büro in der alten Fabrik am Stadtrand behalten, aber wir hatten Lias Wohnung neu eingerichtet.
Das wunderbare Abenteuer der Metalle war mittlerweile in den Händen der Drucker und Korrektoren. Und an diesem Punkt hatte Signor Garamond seine geniale Idee: »Eine illustrierte Geschichte der magischen und hermetischen Wissenschaften! Mit dem Material, das uns die Diaboliker liefern, mit der Kompetenz, die Sie drei inzwischen erworben haben, und mit der Beratung durch diesen unbezahlbaren Doktor Agliè werden Sie in einem Jährchen imstande sein, einen großformatigen Band zusammenzustellen, vierhundert reich illustrierte Seiten, mit Farbtafeln, daß es einem den Atem verschlägt. Unter Verwendung auch großer Teile des Bildmaterials für die Geschichte der Metalle.«
»Ja, aber«, wandte ich ein, »das Material ist verschieden. Was fange ich mit dem Foto eines Zyklotrons an?«
»Was Sie damit anfangen? Fantasie, Casaubon, Fantasie! Was passiert in diesen Atommaschinen, diesen megatronischen Positronen oder wie die heißen? Die Materie wird gerührt und geknetet, man streut Parmesan drauf, und raus kommen Quarks, Schwarze Löcher, zentrifugiertes Uran oder was weiß ich! Die stoffgewordene Magie, Hermes und Alkermes — na schließlich sind Sie es, der mir die Antwort geben soll! Links der alte Stich von Paracelsus, der Zauberer in seiner Alchimistenküche mit seinen Destillierkolben, auf Goldgrund, und rechts die Quasare, der Mixer für schweres Wasser, die gravitational-galaktische Antimaterie, ja muß ich denn alles selber machen? Der wahre Magier ist nicht der, der nichts kapiert und mit verbundenen Augen im Nebel herumstochert, sondern der Wissenschaftler, der der Materie ihre verborgenen Geheimnisse entreißt. Es gilt, das Wunderbare rings um uns zu entdecken, den Verdacht zu wecken, daß die Astronomen auf dem Mount Palomar mehr wissen, als sie sagen... «
Um mich zu motivieren, erhöhte er mein Gehalt in beinahe spürbarer Weise. Also machte ich mich mit Feuereifer an die Entdeckung der Miniaturen des Liber Solis von Trismosin, des Liber Mutus, des Pseudo-Lullus. Ich füllte Schnellhefter mit Drudenfüßen, Sefiroth-Bäumen, Dekanen und Talismanen. Ich streifte durch die entlegensten Säle der Bibliotheken, ich kaufte Dutzende von Büchern in jenen Läden, die früher einmal die Kulturrevolution verkauft hatten.
Unter den Diabolikern bewegte ich mich inzwischen mit der Unbefangenheit eines Psychiaters, der seinen Patienten zugetan ist und die Brisen balsamisch findet, die durch den weiten Park seiner Privatklinik wehen. Nach einer Weile beginnt er, Texte über den Wahn zu schreiben, dann wahnhafte Texte. Er merkt nicht, daß seine Kranken ihn angesteckt haben — er glaubt, er wäre ein Künstler geworden. So entstand die Idee des Großen Plans.
Diotallevi machte das Spiel mit, da es für ihn eine Form des Gebetes war. Was Belbo anging, glaubte ich damals, daß er sich genauso wie ich amüsierte. Erst jetzt begreife ich, daß er kein echtes Vergnügen daran fand. Er machte mit, so wie einer Nägel kaut.
Oder aber er spielte, um wenigstens eine jener falschen Adressen zu finden, oder jene Bühne ohne Rampe, von denen er in seinem file namens »Traum« spricht. Ersatztheologien für einen Engel, der nie ankommen wird.
Filename: Traum
Ich weiß nicht mehr, ob ich einen im andern geträumt habe, ob die Träume einander in derselben Nacht folgen, oder ob sie Nacht für Nacht alternieren.
Ich suche nach einer Frau, einer Frau, die ich kenne, mit der ich enge Beziehungen hatte, so enge, daß ich gar nicht begreifen kann, wieso ich sie gelockert habe — ich, indem ich mich nicht mehr sehen ließ. Es kommt mir ganz unbegreiflich vor, daß ich so viel Zeit habe vergehen lassen. Ich suche gewiss nach ihr, genauer: nach ihnen, die Frau ist nicht nur eine, es sind viele, die ich alle auf die gleiche Weise verloren habe, alle durch meine Nachlässigkeit — und ich bin von Zweifeln erfüllt, und eine einzige würde mir schon genügen, denn eines weiß ich: durch ihren Verlust habe ich sehr viel verloren. In der Regel kann ich das Notizbuch, in dem die Telefonnummer steht, nicht finden oder habe es nicht mehr oder kann mich nicht entschließen, es aufzuschlagen, und wenn ich's doch aufschlage, ist es, als ob ich weitsichtig wäre, ich kann die Namen nicht lesen.
Ich weiß, wo sie ist, oder besser, ich weiß nicht, an welchem Ort, aber ich weiß, wie er aussieht, ich habe eine klare Erinnerung an eine Treppe, einen Hauseingang, eine Wohnungstür. Ich laufe nicht durch die Stadt, um den Ort wiederzufinden, ich fühle mich eher erstarrt vor Angst, blockiert, ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie ich es zulassen oder gar wollen konnte, daß die Beziehung erlosch — womöglich, indem ich das letzte Rendezvous versäumte. Ich bin sicher, daß sie auf einen Anruf von mir wartet. Wenn ich nur wüsste, wie sie heißt, ich weiß sehr gut, wer sie ist, ich kann mich nur nicht mehr auf ihr Gesicht besinnen.
Manchmal, im Halbschlaf hinterher, hadere ich mit dem Traum. Denk nach, erinnere dich, sage ich mir, du kannst dich sehr gut an alles erinnern, du hast mit allem ordentlich abgeschlossen oder hattest gar nicht erst angefangen. Da ist nichts Unerledigtes in deinem Leben, nichts Verloren gegangenes, nichts, wovon du nicht wüsstest, wo es geblieben ist. Da ist nichts.
Bleibt der Verdacht, ich könnte etwas vergessen, in den Falten der Eile liegen gelassen haben, so wie man einen Geldschein oder einen Zettel mit einer wichtigen Notiz in einer Gesäßtasche oder einer alten Jacke vergisst, und erst später geht einem auf, daß gerade dies die allerwichtigste Sache war, die entscheidende, die einzige.
Von der Stadt habe ich ein klareres Bild. Es ist Paris, ich bin am linken Seine-Ufer, und ich weiß, wenn ich über den Fluss ginge, würde ich mich auf einem Platz befinden, der die Place des Vosges sein könnte... nein, offener, denn im Hintergrund steht eine Art Madeleine. Wenn ich den Platz überquere und hinter den Tempel gehe, finde ich eine Straße (mit einem Antiquariat an der Ecke), die im Bogen nach rechts abbiegt zu einer Reihe kleiner Gassen, und da bin ich bestimmt im Barrio Gótico von Barcelona. Man könnte hinausgelangen auf eine breite Allee voller Lichter, und an dieser Allee, ich erinnere mich mit einer Deutlichkeit, als ob ich es vor mir sähe, ist rechts, am Ende einer schmalen Sackgasse, das Theater.
Ungewiss bleibt, was an jenem Ort der Freuden geschieht, sicher etwas leicht und fröhlich Verruchtes, wie ein Striptease (deshalb wage ich nicht, mich zu erkundigen), etwas, worüber ich schon genug weiß, um wieder hinzuwollen, voller Erregung. Aber vergeblich, in Richtung Chatham Road geraten die Straßen durcheinander.
Ich erwache mit dem Nachgeschmack dieser verpassten Begegnung. Ich kann mich nicht damit abfinden, nicht zu wissen, was ich verloren habe.
Manchmal bin ich in einem großen Haus auf dem Land. Es ist weitläufig, aber ich weiß, daß es da noch einen anderen Flügel gibt, und ich kann ihn nicht mehr finden, als ob die Durchgänge zugemauert wären. Und in jenem anderen Flügel sind Zimmer und Zimmer, ich habe sie einmal sehr deutlich gesehen, es ist unmöglich, daß ich sie bloß in einem anderen Traum geträumt habe, Zimmer mit alten Möbeln und verblassten Stichen an den Wänden, mit Tischchen, auf denen altmodische kleine Spielzeugtheater aus bemalten Kartonpapier stehen, und Sofas, auf denen große bestickte Decken liegen, und Regale voller Bücher, alle Jahrgänge des Illustrierten Journals der Reisen und Abenteuer zu Land und zur See, es stimmt gar nicht, daß sie völlig zerlesen sind und die Mama sie dem Lumpensammler gegeben hat. Ich frage mich, wer die Treppen und Korridore durcheinandergebracht haben mag und warum es gerade hier ist, wo ich mir gern mein Buen Retiro erbauen würde, in diesem Geruch von kostbarem altem Trödel.
Warum kann ich nicht wie alle andern von der Abiturprüfung träumen?
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Es war ein quadratischer Apparat von zwanzig Fuß Seitenlänge in der Mitte des Raumes. Die Oberfläche bestand aus lauter würfelförmigen Holzstückchen in verschiedener Größe, die durch dünne Drähte miteinander verbunden und auf jeder Seite mit Papier beklebt waren. Auf diesem Papier standen alle Wörter ihrer Sprache in ihren verschiedenen Modi, Konjugationen und Deklinationen, aber ohne jede Ordnung... Auf ein Kommando des Professors ergriffen die Schüler nun jeder eine der vierzig eisernen Kurbeln, die rings um den Rahmen angebracht waren, und gaben ihr eine rasche Drehung, so daß sich die Ordnung der Wörter schlagartig änderte. Alsdann befahl der Professor sechsunddreißig Schülern, die Zeilen zu lesen, so wie sie auf dem Rahmen erschienen, und wenn sie drei oder vier zusammenhängende Wörter fänden, die einen Satzteil bilden könnten, sie den vier anderen Schülern zu diktieren...
Jonathan Swift, Gullivers Reisen, III, 5
Ich glaube, daß Belbo beim Nachsinnen über den Traum erneut auf den Gedanken der versäumten Gelegenheit gekommen war, und damit auf sein Verzichtgelöbnis als Strafe für seine Unfähigkeit, den richtigen Augenblick — falls es ihn je gegeben hatte — zu ergreifen. Den Großen Plan begann er, weil er sich damit abgefunden hatte, fiktive Augenblicke zu konstruieren.
Ich hatte ihn nach einem Text gefragt, ich weiß nicht mehr welchem, und er hatte auf seinem Schreibtisch gekramt, in einem Stapel von abenteuerlich hochgetürmten, ohne Rücksicht auf Schwere und Größe übereinandergehäuften Manuskripten. Nach einer Weile hatte er den gesuchten Text entdeckt und versucht, ihn herauszuziehen, wobei der ganze Stapel ins Kippen geraten und vom Tisch gestürzt war. Die Mappen waren aufgegangen, und die losen Blätter hatten sich kunterbunt durcheinander über den Boden verstreut.
»Wär's nicht besser gewesen, Sie hätten erst mal die obere Hälfte abgehoben?« fragte ich ihn. Verlorene Liebesmüh, er machte es immer so.
Und er antwortete unweigerlich: »Das sammelt Gudrun heute Abend auf. Sie muß schließlich eine Aufgabe im Leben haben, sonst verliert sie ihre Identität«
Diesmal war ich jedoch persönlich an der Rettung der Manuskripte interessiert, da ich nun zum Hause gehörte. »Aber Gudrun ist nicht imstande, sie wieder richtig zu ordnen. Sie wird die falschen Blätter in die falschen Ordner legen.«
»Wenn Diotallevi Sie hörte, würde er frohlocken. So kommen andere Bücher zustande, eklektische, zufällige. Das liegt in der Logik der Diaboliker.«
»Aber wir wären in der Situation der Kabbalisten. Jahrtausende, um die richtige Kombination zu finden. Mit Ihrer Methode setzen Sie einfach Gudrun an die Stelle des Affen, der in Ewigkeit auf der Schreibmaschine herumhackt. Der Unterschied liegt nur in der Dauer. Vom Standpunkt der Evolution aus hätten wir nichts gewonnen. Gibt es kein Programm, das Abulafia befähigt, diese Arbeit zu tun?«
Inzwischen war Diotallevi hereingekommen.
»Klar gibt es eins«, sagte Belbo, »und theoretisch erlaubt es die Eingabe von bis zu zweitausend Daten. Man muß sich nur hinsetzen und sie schreiben. Angenommen, die Eingabedaten sind Verse möglicher Gedichte. Das Programm fragt, wie viele Verse ein Gedicht haben soll, und Sie entscheiden zehn, zwanzig, hundert. Dann nimmt das Programm die Zahl der Sekunden aus der Uhr im Computer und randomisiert sie, was in einfachen Worten heißt: es gewinnt daraus eine Formel für immer neue Kombinationen. Mit zehn Versen können Sie Tausende und Abertausende von Zufallsgedichten bekommen. Gestern habe ich ein paar Verse eingegeben, solche wie Füllest wieder Busch und Tal, Schwer sind meine Lider, Krächzt der Rabe: Nimmermehr, Wenn die Aspidistra wollte, Reich mir die Hand, mein Leben und dergleichen. Hier ein paar Resultate.«
Ich zähle die Nächte, es tönt das Sistrum Jenseits des Heckenzaunes Jenseits des Heckenzaunes... Wenn die Aspidistra wollte...
Aus dem Herzen der Dämmrung (o Herz), du linkischer Albatros (wenn die Aspidistra wollte... ) Jenseits des Heckenzaunes.
Füllest wieder Busch und Tal, ich zähle die Nächte, es tönt das Sistrum, krächzt der Rabe: Nimmermehr Füllest wieder Busch und Tal.
»Natürlich gibt es Wiederholungen, das war nicht zu vermeiden, es sieht so aus, als würde das Programm sonst ein bisschen zu kompliziert. Aber auch die Wiederholungen haben einen poetischen Sinn.«
»Interessant«, meinte Diotallevi. »Das versöhnt mich mit deiner Maschine. Demnach, wenn ich ihr die ganze Torah eingeben und dann befehlen würde, sie — wie heißt der Ausdruck? — zu randomisieren, dann würde sie echte Temurah machen und die Verse des Buches ganz neu kombinieren?«
»Sicher, ist nur eine Frage der Zeit. In ein paar Jahrhunderten wärst du fertig.«
»Aber«, sagte ich, »wenn man statt dessen ein paar Dutzend Kernsätze aus den Werken der Diaboliker eingibt, zum Beispiel Die Templer sind nach Schottland geflohen, oder Das Corpus hermeticum gelangte 1460 nach Florenz, und dazu ein paar Verbindungsfloskeln wie es ist evident, daß, oder dies beweist, daß, dann könnten wir aufschlussreiche Sequenzen bekommen. Man brauchte nur noch die Lücken zu füllen, oder man wertet die Wiederholungen als Wahrsagungen, Anregungen, Ermahnungen. Schlimmstenfalls erfinden wir auf diese Weise ein ganz neues Kapitel der Geschichte der Magie.«
»Genial«, sagte Belbo. »Fangen wir gleich an.«
»Nein, es ist schon sieben. Morgen.«
»Ich mach's gleich heute Abend. Helfen Sie mir noch einen Moment. Nehmen Sie aufs Geratewohl zwei Dutzend dieser Blätter vom Boden, lesen Sie mir den ersten Satz vor, auf den Ihr Blick fällt, und den gebe ich dann als Datum ein.«
Ich bückte mich und nahm ein Blatt: »Joseph von Arimathia bringt den Gral nach Frankreich.«
»Hervorragend, ist notiert. Weiter!«
»Nach der templerischen Tradition hat Gottfried von Bouillon in Jerusalem das Großpriorat von Zion gestiftet. Debussy war ein Rosenkreuzer.«
»Entschuldigung«, sagte Diotallevi, »aber man muß auch ein paar neutrale Daten einfügen, zum Beispiel: Der Koala lebt in Australien, oder: Papin ist der Erfinder des Dampfkochtopfs.«
»Minnie ist die Verlobte von Mickymaus«, schlug ich vor.
»Übertreiben wir nicht.«
»Doch, übertreiben wir. Wenn wir anfangen einzuräumen, daß auch nur eine einzige Gegebenheit im Universum existieren könnte, die nicht etwas anderes enthüllt, sind wir schon außerhalb des hermetischen Denkens.«
»Stimmt. Also rein mit Minnie. Und wenn ihr gestattet, ich würde ein fundamentales Grunddatum einfügen: Die Templer sind immer im Spiel.«
»Keine Frage«, bestätigte Diotallevi.
Wir machten noch ein halbes Stündchen so weiter. Dann war es wirklich spät. Aber Belbo sagte, wir sollten ruhig gehen, er werde allein weitermachen. Gudrun kam herein, um zu sagen, sie werde jetzt abschließen, Belbo teilte ihr mit, daß er noch arbeiten wolle, und bat sie, die Papiere vom Boden aufzulesen. Gudrun grummelte einige Laute, die ebenso gut zum flexionslosen Latein wie zum entlegensten Cheremis gehören konnten und wohl in beiden Missbilligung und Verdruss ausdrückten — ein Zeichen für die universale Verwandtschaft aller Sprachen, die allesamt von einer einzigen adamitischen Ursprache abstammen. Doch sie gehorchte und randomisierte besser als jeder Computer.
Am nächsten Morgen empfing uns Belbo strahlend. »Es funktioniert«, rief er. »Es funktioniert und erbringt unverhoffte Resultate. Hier, bitte sehr.« Er reichte uns den gedruckten Output.
Die Templer sind immer im Spiel. Das Folgende ist nicht wahr: Jesus ist unter Pontius Pilatus gekreuzigt worden. Der weise Hormus gründete in Ägypten die Rosenkreuzer. Es gibt Kabbalisten in der Provence. Wer vermählte sich auf der Hochzeit zu Kana? Minnie ist die Verlobte von Mickymaus. Daraus folgt, daß Wenn Die Druiden verehrten schwarze Jungfrauen, Dann Simon Magus erkennt die Sophia in einer Prostituierten von Tyrus. Wer vermählte sich auf der Hochzeit zu Kana? Die Merowinger nannten sich Könige von Gottes Gnaden. Die Templer sind immer im Spiel.
»Ein bisschen konfus«, meinte Diotallevi.
»Du musst die Verbindungen sehen. Und bitte beachte die zweimal auftauchende Frage: Wer vermählte sich auf der Hochzeit zu Kana? Die Wiederholungen sind magische Schlüssel. Natürlich hab ich's ein bisschen vervollständigt, aber die Wahrheit zu vervollständigen ist das Recht des Initiierten. Hier also meine Interpretation: Jesus ist nicht gekreuzigt worden, und deshalb spuckten die Templer auf das Kruzifix. Die Sage des Joseph von Arimathia enthält eine tiefere Wahrheit: Jesus, und nicht der Gral, ist in Frankreich bei den provenzalischen Kabbalisten gelandet. Jesus ist die Metapher des Königs der Welt, des wirklichen Gründers der Rosenkreuzer. Und mit wem ist Jesus in Frankreich gelandet? Mit seiner Gattin! Warum wird in den Evangelien nicht gesagt, wer sich auf der Hochzeit zu Kana vermählte? Nun, weil es die Hochzeit Jesu war, eine Hochzeit, von der man nicht sprechen durfte, weil er eine öffentliche Sünderin ehelichte, nämlich Maria Magdalena. Deshalb suchen seither alle Erleuchteten, von Simon Magus bis zu Guillaume Postel, das Prinzip des Ewig Weiblichen in den Bordellen. Und deshalb ist Jesus der wahre Stammvater des französischen Königshauses.«
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Wenn unsere Hypothese zutrifft, war der Heilige Gral... das Geschlecht und die Nachkommenschaft Jesu, das »Sang real« oder »Königsblut«, dessen Hüter die Templer waren... Zugleich mußte der Heilige Gral im Wortsinne das Gefäß sein, welches das Blut Jesu aufgenommen und enthalten hatte. In anderen Worten, er mußte der Schoß der Magdalena sein.
M. Baigent, R. Leigh, H. Lincoln, The Holy Blood and the Holy Grail, London, Cape, 1982, XIV
»Hm«, machte Diotallevi, »niemand würde dich ernst nehmen.«
»Im Gegenteil, man könnte ein paar hunderttausend Exemplare davon verkaufen«, sagte ich düster. »Die Geschichte existiert wirklich, sie ist so geschrieben worden, mit winzigen Abweichungen. Es handelt sich um ein Buch über das Mysterium des Grals und die Geheimnisse von Rennes-le Château. Statt immer nur Manuskripte zu lesen, sollten Sie auch mal Bücher lesen, die anderswo schon erschienen sind.«
»Heilige Seraphim!« rief Diotallevi. »Ich hab's doch gesagt, diese Maschine sagt immer nur, was alle schon wissen.« Sprach's und ging unversöhnt hinaus.
»Und sie nützt doch!« sagte Belbo pikiert. »Mir ist eine Idee gekommen, die auch andere schon hatten? Na und? Wir sind eben bei der literarischen Polygenese. Signor Garamond würde sagen, das ist der Beweis für die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe. Diese Autoren müssen jahrelang über dem Problem gebrütet haben, und ich hab's an einem Abend gelöst.«
»Ich stehe auf Ihrer Seite, das Spiel ist der Mühe wert, es hat etwas Zündendes. Aber ich glaube, die Regel ist, daß man viele Daten einfügen muß, die nicht von den Diabolikern stammen. Das Problem ist nicht, okkulte Verbindungen zwischen Debussy und den Templern zu finden. Das tun alle. Das Problem ist, okkulte Beziehungen zwischen, sagen wir, der Kabbala und den Zündkerzen im Auto zu finden.«
Ich hatte das nur so hingesagt, aber es brachte Belbo auf eine Spur. Am nächsten Morgen erzählte er mir davon.
»Sie hatten ganz recht. Jede Gegebenheit wird bedeutsam, wenn man sie mit einer andern verbindet Die Verbindung ändert die Perspektive. Sie bringt einen auf den Gedanken, daß alle Erscheinungen in der Welt, jede Stimme, jedes geschriebene oder gesprochene Wort nicht das bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen, sondern von einem Geheimnis sprechen. Das Kriterium ist simpel: Man muß argwöhnen, immer nur argwöhnen. Geheime Botschaften kann man auch aus einem Einbahnstraßenschild herauslesen.«
»Sicher. Manichäischer Moralismus. Abscheu vor der Reproduktion. Durchfahrt verboten, weil sie eine Täuschung des Demiurgen ist. Nicht auf diesem Wege wird man den Rechten Weg finden.«
»Gestern Abend ist mir ein altes Lehrbuch für die Führerscheinprüfung in die Hände gefallen, so eins mit technischen Erläuterungen über den Aufbau des Automobils. Es mag am Dämmerlicht gelegen haben oder an dem, was Sie mir gesagt hatten, jedenfalls kam mir sofort der Verdacht, daß diese Seiten insgeheim etwas anderes besagten. Wie, wenn das Automobil nur als eine Metapher der Schöpfung existierte? Freilich darf man sich nicht auf das Äußere beschränken oder auf das Trugbild des Armaturenbretts, man muß auch sehen können, was nur der Artifex sieht, nämlich das, was sich darunter verbirgt. Das Untere ist wie das Obere. Das Automobil ist der Sefiroth-Baum.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Nicht ich sage das, es selber sagt es. Erstens ist die Motorwelle, die ja nicht zufällig in so vielen Sprachen arbor heißt (arbre moteur, albero motore etc.), wie das Wort sagt, eben ein Baum. Gut, jetzt nehmen Sie den Motor als Kopf, die zwei Vorderräder, die Kupplung, das Getriebe, zwei Gelenke, das Differenzial und die zwei Hinterräder. Zehn Gliederungen, wie die Sefiroth.«
»Aber die Positionen stimmen nicht überein.«
»Wer sagt das? Diotallevi hat uns erklärt, daß Tifereth in manchen Versionen nicht die sechste, sondern die achte Sefirah war, unter Nezach und Hod. Mein Baum ist eben der von Belboth, eine andere Tradition.«
»Fiat.«
»Nun folgen wir der Dialektik des Baumes. Oben ist der Motor, omnia movens, der Allbeweger, oder sagen wir: der Kreative Born. Der Motor überträgt seine kreative Energie auf die zwei Höheren Räder — das Rad des Verstandes und das Rad der Weisheit.«
»Ja, wenn das Auto Frontantrieb hat... «
»Das Schöne am Baum von Belboth ist, daß er metaphysische Alternativen erlaubt. Er ist das Bild eines spirituellen Kosmos mit Frontantrieb, in dem der vorne liegende Motor seinen Willen unverzüglich auf die zwei Höheren Räder überträgt, und er ist in der materialistischen Version das Bild eines degradierten Kosmos, in dem die Bewegung von einem Fernen Beweger auf die zwei Niederen Räder übertragen wird — aus den Tiefen der kosmischen Emanation werden die niederen Kräfte der Materie freigesetzt.«
»Und bei einem Heckmotor mit Hinterradantrieb?«
»Satanisch. Koinzidenz des Höchsten mit dem Niedrigsten. Gott identifiziert sich mit den Impulsen der rohen hinteren Materie. Gott als ewig frustriertes Streben nach Göttlichkeit. Muss wohl am Bruch der Gefäße liegen.«
»Nicht am Bruch des Auspufftopfs?«
»Das in den Fehlgeschlagenen Universen, wo sich der giftige Atem der Archonten im Kosmischen Äther ausbreitet. Aber verlieren wir uns nicht auf Abwege. Nach dem Motor und den beiden Rädern kommt die Kupplung, das heißt die Sefirah der Gnade, die jenen Strom der Liebe herstellt oder unterbricht, der den Rest des Baumes mit der Himmlischen Energie verbindet. Eine Scheibe, ein Mandala, das ein anderes Mandala streichelt. Dann der Schrein des Wandels — oder das Wechselgetriebe, wie die Positivisten sagen —, der das Prinzip des Bösen ist, da er dem menschlichen Willen erlaubt, den kontinuierlichen Fortgang der Emanation zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Deshalb sind automatische Schaltungen teurer, da es bei ihnen der Baum selber ist, der nach dem Prinzip des Souveränen Gleichmaßes entscheidet. Dann kommt ein Gelenk, das bezeichnenderweise den Namen eines Magiers aus der Renaissance trägt, Cardano, und danach ein Kegelradpaar — beachten Sie bitte den Gegensatz zur Vierfalt der Zylinder im Motor —, in dem es einen Kranz gibt (also eine Corona: Kether Minor), der den Antrieb auf die irdischen Räder überträgt. Und hier zeigt sich ganz evident die Funktion der Sefirah der Differenz, auch Differenzial genannt, die mit majestätischem Sinn für die Schönheit die kosmischen Kräfte auf die beiden Räder des Ruhmes und Sieges verteilt, dieselben, die in einem nicht fehlgeschlagenen Kosmos (mit Frontantrieb) der Bewegung folgen, die von den zwei Erhabenen Rädern diktiert wird.«
»Die Deutung ist schlüssig. Und das Herz des Motors, der Ort des Einen, die Krone?«
»Lesen Sie's nur einmal mit den Augen des Initiierten. Der Höchste Beweger lebt von einer Wechselbewegung der In-und Exhalation. Ein komplexen göttlicher Atem, bei dem die Zahl der Einheiten, auch Zylinder genannt (ein evidenter geometrischer Archetyp), ursprünglich zwei war, dann erzeugten sie aus sich heraus einen dritten, und schließlich betrachten und bewegen sie sich durch wechselseitige Liebe in der Glorie des vierten. Bei diesem Atmen nun geht im Ersten Zylinder — doch keiner von ihnen ist Erster aufgrund einer Hierarchie, sondern stets nur durch wunderbar alternierenden Positions-und Beziehungswechsel —, geht nun, wie gesagt, der Kolben (in den westlichen Weltsprachen piston genannt nach Pistis Sophia) vom Oberen Totpunkt zum Unteren Totpunkt, wobei der Zylinder sich mit Energie im Reinzustand füllt. Ich vereinfache, denn hier kämen noch Hierarchien von Engeln ins Spiel, Distributionsagenten oder Verteiler, die, wie das Lehrbuch hier sagt ›das Öffnen und Schließen der Ventile erlauben, die das Innere des Zylinders in Kommunikation mit den Ansaugrohren für das Gemisch bringen‹... Die interne Zentrale des Motors kann mit dem Rest des Kosmos nur durch diese Vermittlung kommunizieren, und hier enthüllt sich vielleicht — doch ich möchte nichts Häretisches sagen — die originäre Grenze des Einen, der in gewisser Weise, um kreativ sein zu können, die Großen Exzentriker braucht. Man müsste den Text noch einer genaueren Prüfung unterziehen. Jedenfalls, wenn der Zylinder sich dann mit Energie gefüllt hat, steigt der Kolben wieder zum Oberen Totpunkt empor und realisiert so die Maximale Kompression. Das Zimzum. Und an diesem Punkt erfolgt der gloriose Big Bang, der Urknall und die Expansion. Ein Funke glimmt auf, das Gemisch entzündet sich und verpufft, und dies ist, sagt das Lehrbuch, die einzige Aktive Phase des Zyklus. Und wehe, wehe, wenn sich in das Gemisch die Schalen einschleichen, die Qelippoth, Tropfen unreiner Materie wie Wasser oder Coca-Cola, dann kommt die Explosion nicht zustande oder erfolgt mit rülpsenden Fehlzündungen... «
»Heißt Shell nicht so was wie Qelippoth? O je, dann müssen wir uns davor hüten! Von jetzt an nur noch Jungfrauenmilch... «
»Wir werden das überprüfen. Es könnte sich um eine Machenschaft der Sieben Schwestern handeln, jener inferioren Prinzipien, die den Fortgang der Schöpfung kontrollieren wollen... Jedenfalls, nach der Explosion kommt das Große Göttliche Ausatmen, das bereits in den ältesten Texten ›Entladung‹ genannt worden ist. Der Kolben steigt erneut zum Oberen Totpunkt empor und stößt die unförmige, nun verbrannte Materie hinaus. Nur wenn diese Reinigungsoperation gelingt, kann der Neue Zyklus wieder beginnen. Der, wenn man's genau bedenkt, zugleich auch der neuplatonische Mechanismus des Exodos und des Parodos ist — wunderbare Dialektik des Weges nach Oben und des Weges nach Unten.«
»Quantum mortalia pectora caecae noctis habent! (Wie viel an dunkler Nacht doch die Sterblichen haben! [Ovid]) Und die Kinder der Materie haben es nie gemerkt!«
»Deshalb lehren die Meister der Gnosis, daß man nicht den Hylikern trauen darf, sondern stets nur den Pneumatikern und warum wohl, meinen Sie, nennt man den Reifen auch Pneu?«
»Fantastisch! Für morgen bereite ich eine mystische Auslegung des Telefonbuchs vor.«
»Immer ambitioniert, unser Casaubon. Bedenken Sie, daß Sie dann das unergründliche Problem des Einen und der Vielen lösen müssen. Gehen Sie lieber in Ruhe vor. Untersuchen Sie erst mal den Mechanismus der Waschmaschine.«
»Der spricht doch für sich. Eine alchimistische Transformation: vom Schwarzen Werk zum Werk im weißer als weißesten Weiß.«
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Da Rosa, nada digamos agora...
(Von der Rose reden wir nicht mehr...)
Sampayo Bruno, Os Cavaleiros do Amor, Lissabon, Guimarães, 1960, p. 155
Wenn man einmal Verdacht geschöpft hat, lässt man keine Spur mehr außer acht. Nach den Fantastereien über den »Motorbaum« war ich bereit, in allem und jedem, was mir in die Finger kam, Enthüllungen zu erblicken.
Ich hatte Kontakte zu meinen brasilianischen Freunden gehalten, und in jenen Tagen fand in Coimbra ein Kongress über die lusitanische Kultur statt. Mehr im Wunsch, mich wiederzusehen, als um meine Kompetenz zu ehren, gelang es den Freunden aus Rio, mir eine Einladung zu beschaffen. Lia kam nicht mit, sie war im siebten Monat, zwar hatte die Schwangerschaft ihre grazile Linie noch kaum verändert und sie allenfalls zu einer zarten flämischen Madonna gemacht, aber sie wollte die Reise lieber nicht antreten.
Ich verbrachte drei fröhliche Abende mit den alten Genossen, und als wir im Bus nach Lissabon zurückfuhren, kam eine Diskussion über die Frage auf, ob wir in Fatima oder in Tomar haltmachen sollten. Tomar war die Burg, in der die portugiesischen Templer sich verschanzt hatten, nachdem die Güte des Königs und des Papstes sie vor Prozess und Zerschlagung bewahrt hatte — durch den einfachen Trick, sie in den Orden der Christusritter umzubenennen. Eine Templerburg konnte ich mir nicht entgehen lassen, und zum Glück waren die anderen keine Fatima-Enthusiasten.
Wenn ich mir je eine Templerburg vorgestellt hatte, war's eine wie Tomar. Man steigt auf einer befestigten Straße hinauf, die sich um die äußeren Bastionen windet, zwischen kreuzförmigen Schießscharten, und vom ersten Moment an atmet man Kreuzzugsluft. Jahrhundertelang hatten die Christusritter an diesem Ort prosperiert — die Überlieferung will, daß sowohl Heinrich der Seefahrer wie Christoph Columbus aus ihren Reihen stammten, und in der Tat hatten sie sich auf die Eroberung der Meere verlegt und damit Portugal reich gemacht. Das lange und glückliche Dasein, das sie dort genossen, hat dazu geführt, daß die Burg im Lauf der Jahrhunderte mehrmals umgebaut und vergrößert worden ist, so daß ihr mittelalterlicher Kern jetzt von Renaissance-und Barockflügeln eingefasst wird. Mit einem Gefühl der Bewegung trat ich in die Kirche der Templer, deren achteckige Rotunde die der Grabeskirche in Jerusalem nachbildet. Mir fiel auf, daß die Form des Templerkreuzes in den Kirchen je nach Region differiert — ein Problem, das sich mir schon bei der Arbeit an meiner Dissertation gestellt hatte, als ich die konfuse Ikonografie zum Thema durchsah. Während das Malteserkreuz mehr oder weniger immer dasselbe geblieben ist, scheint das der Templer viel stärker den Einflüssen des Jahrhunderts oder der örtlichen Tradition unterworfen. Deshalb genügt es den Templer-Jägern, irgendwo ein beliebiges Kreuz zu entdecken, und schon haben sie eine Spur...
Nach der Kirchenbesichtigung zeigte der Führer uns auch das Manuelinische Fenster, die janela par excellence, ein rautenförmiges Gitterwerk, eingefasst von einer wildwuchernden Collage aus Meeresfunden, Algen, Muscheln, Ankern, Tauen und Ketten, zur Feier des Ruhmes der Ritter auf den Ozeanen. Doch zu beiden Seiten des Fensters, auf dem steinernen Gürtel um die beiden turmartigen Säulen, die es einrahmten, sah man die Insignien des Hosenbandordens. Was tat das Symbol eines englischen Ordens in diesem befestigten portugiesischen Kloster? Der Führer konnte es uns nicht sagen, aber wenig später, auf einer anderen Seite, ich glaube an der nordwestlichen, zeigte er uns das Wappen des Goldenen Vlieses. Ich musste unwillkürlich an das feine Spiel der Allianzen denken, das den Hosenbandorden mit dem Orden des Goldenen Vlieses verband, das Goldene Vlies mit den Argonauten, die Argonauten mit dem Gral und den Gral mit den Templern. Die Fantastereien des Oberst Ardenti kamen mir in den Sinn, auch einige Stellen aus den Manuskripten der Diaboliker... Ich zuckte zusammen, als der Führer uns in einen Nebenraum führte, einen niedrigen Saal mit Gewölbedecke und mehreren Schlusssteinen. Es waren kleine Rosetten, doch auf einigen sah ich in Stein gehauen ein bärtiges, bocksähnliches Gesicht. Der Baphomet!
Wir stiegen in eine Krypta hinunter. Nach sieben Stufen gelangt man auf einen nackten Steinboden, der zur Apsis führt, in der sich ein Altar erheben könnte oder der Thron des Großmeisters. Doch auf dem Wege dorthin geht man unter sieben Gewölbeschlusssteinen hindurch, deren jeder die Form einer Rose hat, eine größer als die andere, und die letzte, am weitesten entfaltete, hängt über einem Brunnen. Das Kreuz und die Rose, hier in einem Templerkloster! Und in einem Saal, der sicher vor dem Erscheinen der Rosenkreuzer-Manifeste erbaut worden ist! Ich fragte den Führer danach, und er lächelte: »Wenn Sie wüssten, wie viele Anhänger der okkulten Wissenschaften hierhergepilgert kommen... Es heißt, dies hier sei der Saal der Initiation... «
Zufällig trat ich in einen noch nicht restaurierten Raum, der nur wenige staubige Möbel enthielt und fand ihn vollgestellt mit Kartons. Ich kramte ein bisschen darin herum, und da fielen mir Blätter mit hebräischer Schrift in die Hände, vermutlich aus dem siebzehnten Jahrhundert. Was machten die Juden hier in Tomar? Der Führer sagte mir, die Ritter hätten gute Beziehungen mit der jüdischen Gemeinde am Ort gehabt Er bat mich ans Fenster und zeigte mir einen Garten im französischen Stil, der wie ein elegantes kleines Labyrinth angelegt war. Das Werk eines jüdischen Architekten aus dem achtzehnten Jahrhundert, sagte er, eines gewissen Samuel Schwartz.
Das zweite Treffen in Jerusalem... Und das erste in einer Burg! Hatte so nicht die Geheimbotschaft aus Provins gelautet? Mein Gott, der »Donjon« in jener »Ordonation«, die Ingolf gefunden hatte, das war nicht der unwahrscheinliche Montsalvat der Gralsromane, das Hyperboreische Avalon. Welchen Ort hätten die Templer von Provins, wenn sie einen ersten Treffpunkt festlegen mussten, gewählt haben können — sie, die doch eher gewohnt waren, Komtureien zu leiten als Romane der Artusrunde zu lesen? Tomar natürlich, die Burg der Christusritter! Einen Ort, an dem die Überlebenden des Ordens volle Freiheit genossen, mit unveränderten Garantien, und wo sie zudem in Kontakt mit den Agenten der zweiten Gruppe standen!
Ich verließ Tomar und Portugal mit entflammtem Geist. Endlich begann ich, die Botschaft, die uns der Oberst Ardenti gebracht hatte, ernst zu nehmen. Die Templer hatten, als sie sich zum Geheimorden konstituierten, einen Plan ausgeheckt, der sechshundert Jahre dauern und in unserem Jahrhundert zum Abschluss gelangen sollte. Die Templer waren ernsthafte Leute. Wenn sie von einer Burg sprachen, meinten sie einen realen Ort. Der Plan nahm seinen Ausgang von Tomar. Also wie hätte er dann weitergehen müssen? Was für Orte mussten die anderen fünf Treffpunkte sein? Orte, an denen die Templer auf Freundschaft, Protektion, Komplizität zählen konnten. Der Oberst hatte von Stonehenge, Avalon und Agarttha gesprochen... Alles Quatsch. Die Botschaft musste ganz neu interpretiert werden.
Natürlich, sagte ich mir auf der Heimreise, natürlich handelt es sich nicht darum, das Geheimnis der Templer zu entdecken, sondern es zu konstruieren.
Belbo schien nicht sehr begeistert von der Idee, auf das Dokument zurückzukommen, das der Oberst ihm hinterlassen hatte, und fand es erst nach widerwilligem Kramen in der untersten Schreibtischschublade. Doch er hatte es immerhin aufgehoben. Wir holten Diotallevi hinzu, und selbdritt lasen wir von neuem die Botschaft aus Provins. Nach so vielen Jahren.
Sie begann mit dem nach Trithemius chiffrierten Satz: Les XXXVI inuisibles separez en six bandes. Dann folgte:
a la ... Saint Jean
36 p charrete de fein
6 … entiers avec saiel
P ... les blancs mantiax
r ... s ... chevaliers de Pruins pour la ... j. nc.
6 foiz 6 en 6 places
chascune foiz 20 a .... 120 a ....
iceste est l'ordonation
al donjon li premiers
it li secunz joste iceus qu i... pans
it al refuge
it a Nostre Dame de l'altre part de l'iau
it a l'hostel des popelicans
it a la pierre
3 foiz 6 avant la feste ... la Grant Pute.
»In der Johannisnacht (des Jahres 1344), sechsunddreißig Jahre nach dem Heuwagen, sechs versiegelte Botschaften für die weißen Mäntel, die rückfälligen Ritter von Provins, bereit zur Rache. Sechsmal sechs an sechs Orten, jedes Mal zwanzig Jahre in zusammen je hundertzwanzig Jahren, das ist der Plan. Die ersten zur Burg, dann die zweiten zu denen, die das Brot aßen, dann zum Refugium, dann zu Notre-Dame auf der anderen Seite des Flusses, dann zum Haus der Popelicans und dann zum Stein. Na bitte, im Jahre 1344 sagt die Botschaft, daß die ersten zur Burg gehen sollen. Und tatsächlich haben sich die Templer 1357 in Tomar installiert. Jetzt müssen wir uns fragen, wohin die von der zweiten Gruppe gehen sollten. Los, stellen Sie sich vor, Sie wären Templer auf der Flucht. Wohin würden Sie gehen, um den zweiten Kern zu bilden?«
»Tja, also... Wenn es stimmt, daß die auf dem Heuwagen nach Schottland geflohen sind... Aber wieso sollte man in Schottland das Brot gegessen haben?«
Was Assoziationsketten betraf, war ich inzwischen unschlagbar geworden. Mir genügte ein beliebiger Ausgangspunkt, und schon legte ich los. Schottland, Highlands, druidische Riten, Johannisnacht, Goldener Zweig... Das war eine Spur, wenn auch nur eine sehr schmale: über Johannisfeuer hatte ich etwas in Frazers Goldenem Zweig gelesen.
Ich rief Lia an. »Liebes, tu mir einen Gefallen, hol mal den Goldenen Zweig und sieh nach, was da über Johannisfeuer steht.«
In solchen Sachen war Lia nicht zu übertreffen. Sie fand das Kapitel sofort. »Was willst du wissen? Es handelt sich um einen uralten Ritus, der in fast allen europäischen Ländern gefeiert wird. Man feiert damit den Moment, in dem die Sonne den höchsten Punkt ihres Laufes erreicht hat. Johannes ist erst später hinzugefügt worden, um den Brauch zu christianisieren... «
»Wird dabei irgendein Brot gegessen, in Schottland?«
»Lass mal sehen... Scheint nicht so... Ah, doch, hier ist was, aber das Brot wird nicht in der Johannisnacht gegessen, sondern in der Nacht auf den Ersten Mai, der Nacht der Feuer von Beltane, einem Fest druidischer Herkunft, besonders in den schottischen Highlands...«
»Na bitte! Und warum wird das Brot gegessen?«
»Man knetet einen Teig aus Mehl und Hafer, formt ihn zu einem Laib und backt ihn in der Glut.. Dann folgt ein Ritus, der an die antiken Menschenopfer erinnert... Es sind Fladen, die bannock genannt werden...«
»Wie? Buchstabier das mal.« Sie buchstabierte es, ich dankte ihr und sagte, sie sei meine Beatrice, meine Fee Morgana und andere liebevolle Sachen. Dann rief ich mir meine Dissertation in Erinnerung: Der geheime Kern des Ordens flüchtete sich, so die Legende, nach Schottland zu König Robert the Bruce, dem die Templer dann halfen, die Schlacht von Bannock Burn zu gewinnen. Zur Belohnung machte der König sie zum Kern des neuen Ordens der Ritter des heiligen Andreas von Schottland.
Ich holte mir ein großes englisches Lexikon aus dem Regal und suchte: bannok im Altenglischen (altsächsisch bannuc, von gälisch bannach) ist eine Art Fladenbrot, in der Pfanne oder auf einem Rost gebacken, aus Gerste oder Hafer oder anderem Getreide. Burn ist ein Wildbach. Man brauchte das nur so zu übersetzen, wie es die französischen Templer übersetzt haben mussten, wenn sie Nachrichten aus Schottland an ihre Brüder in Provins schickten, und heraus kam etwas wie der Bach des Fladens oder des Brotes. »Die das Brot aßen« sind also die, die am Bach des Brotes gesiegt haben, also der schottische Kern des Ordens, der sich zu jener Zeit vielleicht schon über die ganzen Britischen Inseln ausgedehnt hatte. Logisch: von Portugal nach England, das war der kürzeste Weg, viel kürzer jedenfalls als Ardentis Reise vom Nordpol nach Palästina.
68
Deine Kleider seien weiß... Wenn es Nacht wird, zünde viele Lichter an, bis alles hell erglänzt... Dann beginne, einige oder viele Lettern zu kombinieren, vertausche sie und verschiebe sie, bis dein Herz warm wird. Achte auf ihre Bewegung und auf das, was sich bei dir aus ihr ergibt. Und wenn du spürst, daß dein Herz warm geworden ist, und du siehst, daß du durch die Kombination der Lettern neue Dinge erfassen kannst, die du nicht von allein oder mit Hilfe der Tradition hättest erkennen können, wenn du bereit bist, den Influxus der göttlichen Kraft in dich aufzunehmen, dann richte die ganze Tiefe deines Denkens darauf, dir den Namen Gottes und Seine höchsten Engel in deinem Herzen so vorzustellen, als wären sie Menschen, die um dich herumstünden oder säßen.
Abraham Abulafia, Sefer Chaje 'Olam ha-Ba
»Macht Sinn«, sagte Belbo. »Und was wäre dann das Refugium?«
»Nun, die sechs Gruppen sollen sich an sechs Orte begeben, aber nur einer davon wird Refugium genannt. Eigenartig. Das heißt, daß die Templer an den fünf anderen Orten, wie in Portugal oder in England, ungestört leben konnten, wenn auch unter anderem Namen, während sie sich an diesem einen verbergen mussten. Ich würde sagen, das Refugium ist der Ort, wohin sich die Pariser Templer geflüchtet haben, als sie untertauchen mussten. Und da es mir auch ökonomisch scheint, daß der Weg von England nach Frankreich geht, warum sollen wir also nicht annehmen, daß die Templer sich ein Refugium direkt in Paris geschaffen hatten, an einem geheimen und sicheren Ort? Sie waren gute Politiker und stellten sich vor, daß die Lage in zweihundert Jahren anders sein würde, entspannter, so daß sie dann offen auftreten könnten, oder fast.«
»Einverstanden, also sagen wir Paris. Und was machen wir mit dem vierten Ort?«
»Der Oberst hatte an Chartres gedacht, aber wenn wir Paris an die dritte Stelle gesetzt haben, können wir Chartres nicht an die vierte setzen, denn der Plan soll ja offenkundig alle Zentren Europas betreffen. Also lassen wir jetzt mal die mystische Fährte beiseite, um eine politische zu entwerfen. Die Verlagerung scheint einer Wellenlinie zu folgen, von Portugal rauf nach England und wieder runter nach Frankreich, demnach müssten wir jetzt wieder rauf und kämen dann in den Norden von Deutschland. Na, und jenseits des Flusses oder des Wassers, also jenseits des Rheins, auf deutschem Boden, da gab es zwar keine Kirche Notre-Dame, aber eine Stadt Unserer Lieben Frau. In der Nähe von Danzig gab es eine Stadt der Jungfrau Maria, nämlich Marienburg.«
»Und wieso ein Treffen in Marienburg?«
»Weil es die Hauptstadt der Deutschordensritter war! Die Beziehungen der Templer zu den Deutschordensrittern waren nicht so vergiftet wie die zu den Johannitern, die wie die Geier nur darauf warteten, daß der Tempel zerschlagen wurde, um sich seiner Güter zu bemächtigen. Die Deutschordensritter waren in Palästina von den deutschen Kaisern als Gegengewicht zu den Templern gegründet worden, aber sie wurden bald nach Norden gerufen, um die Invasion der preußischen Barbaren zu stoppen. Und das machten sie so gut, daß sie sich im Verlauf von zwei Jahrhunderten einen eigenen Staat zusammengerafft hatten, der sich über das ganze Baltikum erstreckte, von Polen hinauf bis nach Lettland und Livland. Sie gründeten Königsberg, sie wurden nur einmal von Alexander Newski in Estland geschlagen, und ungefähr zu der Zeit als die Templer in Paris verhaftet wurden, machten sie Marienburg zur Hauptstadt ihres Reiches. Wenn es einen Welteroberungsplan der spirituellen Ritterschaft gab, dann haben sich Tempelherren und Deutschordensherren die Einflusssphären geteilt«
»Wissen Sie was?« sagte Belbo. »Ich mache mit. Jetzt die fünfte Gruppe. Wo sind diese Popelicans.«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich.
»Sie enttäuschen mich, Casaubon. Vielleicht sollten wir Abulafia fragen.«
»Kommt nicht in Frage!« protestierte ich. »Abulafia muß uns auf Zusammenhänge, auf ungeahnte Verbindungen bringen. Aber die Popelicans sind ein Faktum, keine Verbindung, und Fakten sind das Geschäft von Sam Spade. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit.«
»Ich gebe Ihnen zwei Wochen«, sagte Belbo. »Wenn Sie mir in zwei Wochen nicht die Popelicans liefern, liefern Sie mir eine Flasche Ballantine's, 12 Years Old.«
Zu teuer für meinen Geldbeutel. Nach eher Woche lieferte ich meinen gefräßigen Partnern die Popelicans.
»Alles klar. Bitte folgen Sie mir, wir müssen nämlich ins vierte Jahrhundert zurückgehen, an die östlichen Ränder des frühen byzantinischen Reiches, in die Zeit, als sich im Mittelmeerraum bereits diverse manichäische Bewegungen tummeln. Beginnen wir mit den Archontikern, einer gnostischen Sekte in Armenien, gegründet von einem gewissen Peter von Capharbarucha, was, wie Sie zugeben müssen, ein ganz prächtiger Name ist. Stark antijüdisch eingestellt, identifizieren sie den Teufel mit Zebaoth, dem Gott der Juden, der im siebenten Himmel wohnt. Um die Große Mutter des Lichtes im achten Himmel zu erreichen, muß sowohl Zebaoth wie auch die Taufe abgelehnt werden. Okay?«
»Okay, lehnen wir sie ab«, sagte Belbo.
»Aber die Archontikern sind noch vergleichsweise brave Gesellen. Im fünften Jahrhundert tauchen die Messalianer auf, die in Thrakien bis zum elften Jahrhundert fortleben. Die Messalianer sind keine Dualisten, sondern Monarchianer. Aber sie mischen im Schlamm der höllischen Kräfte mit, weshalb sie in einigen Texten auch Borboriten genannt werden, von borboros, Schlamm, wegen der unaussprechlichen Sachen, die sie machten.«
»Was machten sie denn?«
»Och, das Übliche. Männer und Frauen hoben auf ihren Händen den eigenen Unflat zum Himmel empor, also Sperma oder Menstrualblut, und dann verspeisten sie es und sagten, es sei der Leib Christi. Und wenn einer zufällig seine Frau geschwängert hatte, fuhren sie ihr im rechten Moment mit der Hand in den Leib, zogen den Embryo raus, zerstampften ihn in einem Mörser, verrührten ihn mit Honig und Pfeffer und fraßen das Zeug.«
»Ekelhaft«, sagte Diotallevi. »Honig und Pfeffer!«
»Das also wären die Messalianer, die manche auch Stratiotiker und Phibioniten genannt haben, andere Barbeliten, bestehend aus Naasseanern und Phemioniten. Für wieder andere Kirchenväter waren die Barbeliten jedoch verspätete Gnostiker, also Dualisten, sie verehrten die Große Mutter Barbelo, und ihre Eingeweihten bezeichneten als Borboria-ner die Hyliker, das heißt die Kinder der schmierigen Materie, im Unterschied zu den Psychikern, die schon besser waren, und zu den Pneumatikern, die das kleine Häufchen der echten Auserwählten waren, sozusagen der Rotary Club in dieser ganzen Geschichte. Aber vielleicht waren die Stratiotiker auch nur die Hyliker der Mithraisten.«
»Ist das nicht alles ein bisschen konfus?« fragte Belbo.
»Natürlich. Keine von diesen Sekten hat irgendwelche Dokumente hinterlassen. Was wir über sie wissen, stammt alles nur aus dem Klatsch und Tratsch ihrer Feinde. Aber egal. Ich wollte Ihnen nur deutlich machen, was für ein Sektengewusel der östliche Mittelmeerraum damals war. Und woher die Paulizianer kamen. Die Paulizianer waren die Anhänger eines gewissen Paulus, eine im siebten Jahrhundert gegründete Sekte, mit der sich bald darauf aus Albanien vertriebene Ikonoklasten vereinten. Vom achten Jahrhundert an wachsen diese Paulizianer sehr rasch, werden von einer Sekte zu einer Gemeinde, von einer Gemeinde zu einer Kampftruppe, von einer Kampftruppe zu einer politischen Macht, und die Kaiser von Byzanz fangen an, sich Sorgen zu machen und ihre Soldaten gegen sie loszuschicken. Sie verbreiten sich bis an die Grenzen der arabischen Welt, erreichen den Euphrat und überfluten das byzantinische Reich bis zum Schwarzen Meer. Sie gründen Kolonien, wo immer sie hinkommen, und wir finden sie noch im siebzehnten Jahrhundert, als sie von den Jesuiten bekehrt werden, und es gibt sogar heute noch ein paar Gemeinden auf dem Balkan oder irgendwo da unten. Woran glauben nun diese Paulizianer? An Gott, den einen und dreifältigen, nur daß der Demiurg sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt zu erschaffen, mit den Ergebnissen, die wir vor Augen haben. Sie verwerfen das Alte Testament, verweigern die Sakramente, verachten das Kreuz und verehren auch nicht die Heilige Jungfrau, denn Christus, sagen sie, hat sich direkt im Himmel inkarniert und ist durch Maria hindurchgegangen wie durch eine Röhre. Die Bogomilen, die sich zum Teil an den Paulizianern inspirieren, werden später sagen, daß Christus bei Maria durchs eine Ohr rein-und durchs andere rausgegangen sei, ohne daß sie es überhaupt gemerkt hätte. Manche beschuldigen sie auch, die Sonne und den Teufel anzubeten und das Blut kleiner Kinder mit dem Brot und dem Wein des Abendmahls zu vermischen.«
»Wie alle.«
»Es waren Zeiten, in denen der Gang zur Messe für einen Häretiker eine Qual gewesen sein muß. Da hätte er auch gleich Moslem werden können. Aber die Leute waren halt so. Und ich erzähle Ihnen das, weil später, als die dualistischen Häretiker sich in Italien und der Provence verbreiteten, da hat man sie, um zu sagen, daß sie genau solche Leute wie die Paulizianer wären, Poplicani, Publicani oder Populicani genannt, und gallice etiam dicuntur ab aliquis Popelicant (auf Französisch wurden sie von einigen auch Popelicant genannt).«
»Da haben wir sie.«
»Genau. Die Paulizianer fahren auch im neunten Jahrhundert fort, die Kaiser von Byzanz in Rage zu bringen, bis Kaiser Basilios I. schwört, wenn er ihren Chef zu fassen kriege, einen Mann namens Chrysocheir, der die Kirche des Sankt Johannes Theologos in Ephesus gestürmt und die Pferde aus den Weihwasserbecken getränkt hatte... «
»Immer dasselbe Laster«, sagte Belbo.
»... dann werde er ihm persönlich drei Pfeile in den Kopf rammen. Er schickt seine Soldaten gegen ihn los, die fangen ihn, schneiden ihm den Kopf ab und schicken ihn dem Kaiser, der legt ihn auf einen Tisch, auf ein trumeau, einen Säulenstumpf aus Porphyr, und rammt ihm, zack zack zack, drei Pfeile rein, ich vermute, einen in jedes Auge und den dritten in den Mund.«
»Feine Leute«, sagte Diotallevi.
»Die machten das nicht aus Bosheit«, sagte Belbo. »Das waren Glaubensfragen, und Glaube ist Wesenheit erhoffter Dinge, sustanza di cose sperate. Reden Sie weiter, Casaubon, unser Diotallevi kapiert diese theologischen Feinheiten nicht, er ist ein lausiger Gottesmörder.«
»Nun, um's kurz zu machen: Die Kreuzfahrer treffen auf die Paulizianer. Sie begegnen ihnen in der Nähe von Antiochia während des ersten Kreuzzugs, als jene auf Seiten der Araber kämpfen, und sie begegnen ihnen erneut bei der Belagerung von Konstantinopel, als die Paulizianergemeinde von Philippopel versucht, die Stadt dem bulgarischen Zaren Joannitsa zu übergeben, um die Franzosen zu ärgern, so nachzulesen bei Villehardouin. Da haben Sie das Verbindungsglied zu den Templern, und damit ist unser Rätsel gelöst. Nach der Legende waren die Templer inspiriert von den Katharern, tatsächlich hatten die Templer jedoch die Katharer inspiriert. Sie waren den Paulizianern während der Kreuzzüge begegnet und hatten mysteriöse Beziehungen mit ihnen aufgenommen, ähnlich wie mit den muslimischen Mystikern und Häretikern. Im übrigen braucht man nur die Fährte unserer Ordonation zu verfolgen. Sie führt zwangsläufig über den Balkan.«
»Wieso?«
»Na, weil das sechste Treffen ganz klar in Jerusalem sein muß. Die Botschaft sagt, man solle ›zum Stein‹ gehen. Und wo bitte gibt es einen Stein, einen, der heute von den Muslimen verehrt wird, und wenn wir ihn sehen wollen, müssen wir unsere Schuhe ausziehen? Nun, genau im Zentrum der Omar-Moschee zu Jerusalem, dort, wo früher der Tempel der Templer stand. Ich weiß nicht, wer in Jerusalem warten sollte, vielleicht ein Grüppchen von überlebenden und verkleideten Templern, oder Kabbalisten, die Verbindung nach Portugal hatten, aber sicher ist, daß wenn man von Deutschland nach Jerusalem will, dann führt der logischste Weg über den Balkan, und dort wartet die fünfte Gruppe, die der Paulizianer. Sehen Sie nun, wie klar und ökonomisch der Plan auf einmal wird?«
»Zugegeben, Sie überzeugen mich«, sagte Belbo. »Aber wo auf dem Balkan warteten diese Popelicant?«
»Meines Erachtens waren die natürlichen Nachfolger der Paulizianer die bulgarischen Bogomilen, aber die Templer von Provins konnten noch nicht wissen, daß Bulgarien wenige Jahre später von den Türken überfallen wurde und fünfhundert Jahre unter türkischer Herrschaft blieb.«
»Also können wir annehmen, daß der Große Plan beim Übergang von den Deutschen zu den Bulgaren stecken geblieben ist Wann mag das gewesen sein?«
»1824«, sagte Diotallevi.
Wieso?« fragte ich.
Diotallevi nahm ein Papier und schrieb:
PORTUGAL ENGLAND FRANKREICH 1344 1464 1584 DEUTSCHLAND BULGARIEN JERUSALEM 1704 1824 1944 »1344 begeben sich die ersten Großmeister jeder Gruppe an die sechs vorgeschriebenen Orte. Im Verlauf von hundertzwanzig Jahren folgen einander in jeder Gruppe sechs Großmeister, und 1464 trifft sich der sechste Großmeister von Tomar mit dem sechsten Großmeister der englischen Gruppe. 1584 trifft sich der zwölfte englische Großmeister mit dem zwölften französischen Großmeister. Die Kette geht weiter so in diesem Rhythmus, und wenn das Treffen mit den Paulizianern scheitert, dann scheitert es 1824.«
»Nehmen wir an, es scheitert«, sagte ich. »Aber dann verstehe ich nicht, warum so kluge und weit denkende Männer, wenn sie bereits vier Sechstel der Botschaft in Händen hielten, sie nicht rekonstruieren konnten, indem sie den Rest ergänzten. Oder warum sie, wenn das Treffen mit den Bulgaren geplatzt war, nicht Kontakt zur nächstfolgenden Gruppe aufnahmen.«
»Casaubon«, sagte Belbo, »glauben Sie etwa, die Planer von Provins wären Stümper gewesen? Wenn sie wollten, daß die Enthüllung sechs Jahrhunderte lang verborgen blieb, werden sie ihre Vorkehrungen getroffen haben. Jeder Großmeister einer jeden Gruppe weiß nur, wo er den Großmeister der folgenden Gruppe finden kann, aber nicht, wo die anderen zu finden sind, und keiner der anderen weiß, wo er die Meister der vorigen Gruppe finden kann. Es genügt, daß die Deutschen die Bulgaren verloren haben, und sie werden nie erfahren, wo sie die nächste Gruppe finden können, also die Jerusalemer, während die Jerusalemer nicht wissen, wo sie irgendeine der vorigen Gruppen finden können. Und was die Rekonstruktion einer Botschaft aus unvollständigen Fragmenten angeht, so hängt sie ganz davon ab, wie diese Fragmente aufgeteilt worden sind. Sicher nicht in einer logischen Abfolge. Es braucht nur ein einziges Teilstück zu fehlen, und die ganze Botschaft ist unverständlich. Und wer das fehlende Teilstück hat, weiß nichts damit anzufangen.«
»Denkt nur mal«, sagte Diotallevi, »wenn jenes Treffen nicht geklappt hat, dann ist Europa heute der Schauplatz eines geheimen Balletts zwischen Gruppen, die einander suchen und nicht finden können, und jede weiß, daß ein Nichts genügen würde, um Herr der Welt zu werden. Wie hieß doch gleich dieser Einbalsamierer, von dem Sie gesprochen haben, Casaubon? Wer weiß, vielleicht gibt es das Komplott ja wirklich, und die ganze Geschichte ist nichts anderes als das Resultat dieser Schlacht um die Rekonstruktion einer verlorenen Botschaft. Wir sehen sie nicht, aber sie sind, als Unsichtbare, rings um uns zugange.«
Belbo und mir kam offenkundig dieselbe Idee, und wir begannen gleichzeitig zu reden: Uns fehle doch gar nicht mehr viel, um die richtige Verbindung herzustellen. Immerhin hätten wir erfahren, daß mindestens zwei Elemente der Botschaft von Provins, nämlich der Hinweis auf die sechsunddreißig Unsichtbaren, geteilt in sechs Gruppen, und die Frist der hundertzwanzig Jahre, auch in der Debatte über die Rosenkreuzer auftauchten!
»Und die waren schließlich Deutsche«, schloss ich. »Ich werde sofort die Rosenkreuzer-Manifeste nachlesen.«
»Aber Sie sagten doch, die wären falsch«, sagte Belbo.
»Na und? Auch wir machen hier eine Fälschung.«
»Stimmt«, sagte er. »Das hatte ich ganz vergessen.«
69
Elles deviennent le Diable: débiles, timorées, vaillantes à des heures exceptionelles, sanglantes sans cesse, lacrymantes, caressantes, avec des bras qui ignorent les lois... Fi! Fi! Elles ne valent rien, elles sont faites d’un côté, d’un os courbe, d’une dissimulation rentrée... Elles baisent le serpent...
(Sie werden der Teufel: kraftlos, ängstlich, tapfer zu außergewöhnlichen Stunden, ohne Unterlass blutend, heulend, liebkosend mit Armen, die kein Gesetz kennen... Pfui! Pfui! Sie taugen nichts, sie sind aus einer Rippe gemacht, aus einem gekrümmten Knochen, aus einer eingeübten Verstellung... Sie küssen die Schlange...)
Jules Bois, Le satanisme et la magie, Paris, Chailley, 1895, p. 12
Er vergaß es mehr und mehr, heute weiß ich es. Und aus jener Zeit stammt gewiss dieser kurze, benebelte Text.
Filename: Ennoia
Du warst überraschend zu mir nach Hause gekommen. Und du hattest dieses Gras, ich wollte nichts davon, denn ich erlaube keiner pflanzlichen Substanz, sich in die Funktionsweise meines Gehirns einzuschalten (aber ich lüge: ich rauche Tabak und ich trinke Destillate aus Korn). Jedenfalls, die paar Male zu Anfang der sechziger Jahre, wenn mich jemand nötigte, an einer Joint-Runde teilzunehmen, mit diesem aufgeweichten, speichelgetränkten Papier, und der letzte Zug mit der Nadel, dann musste ich immer lachen.
Aber gestern warst du's, die mir einen anbot, und ich dachte, das wäre vielleicht deine Art, dich anzubieten, und so rauchte ich gläubig. Wir tanzten eng, wie man es seit Jahren nicht mehr tut, und das — welche Schande — während die Vierte von Mahler lief. Mir war, als hielte ich ein antikes Geschöpf in den Armen, ein leichtes und schwebendes Wesen mit dem sanften Runzelgesicht einer alten Gemse, eine Schlange, die aus der Tiefe meiner Lenden aufstieg, und ich betete dich an wie eine uralte, universale Muhme. Vermutlich tanzte ich weiter eng an deinen Körper geschmiegt, aber ich spürte, wie du dich zum Fluge erhobst, dich in Gold verwandeltest, geschlossene Türen öffnetest und Dinge in der Luft schweben ließest. Ich war dabei, in deinen dunklen Bauch einzudringen, Megale Apophasis. Gefangene der Engel.
Bist du's vielleicht gar nicht, die ich suchte? Vielleicht bin ich hier, um immer auf dich zu warten. Habe ich dich immer wieder verloren, weil ich dich nicht erkannte? Habe ich dich immer wieder verloren, weil ich dich erkannte und mich nicht getraute? Habe ich dich immer wieder verloren, weil ich, während ich dich erkannte, schon wusste, daß ich dich wieder verlieren sollte?
Wo bist du gestern Abend geblieben? Heute morgen wachte ich auf und hatte Kopfschmerzen.
70
Obwol wir (die jüngeren) bisher gar nicht wußten, wann unser geliebter Vater R.C. gestorben..., wußten wir uns doch wol noch einer Heimlichkeit zu erinnern, so A., des D. Successor (der letzte auß dem andern Reyen, der mit vielen auß uns gelebt) durch verborgene Reden von den 120 Jahren uns dem dritten Reyen vertrawet.
Fama Fraternitatis, in Allgemeine und General Reformation, Kassel, Wessel, 1614
Ich stürzte mich auf die Lektüre der beiden Rosenkreuzer-Manifeste, der Fama und der Confessio, und warf auch einen Blick in die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz von Johann Valentin Andreae, weil Andreae als Verfasser der Manifeste gilt.
Die beiden Manifeste waren in Deutschland zwischen 1614 und 1616 erschienen. Also drei Jahrzehnte nach dem Treffen von 1584 zwischen den Engländern und den Franzosen, aber gut ein Jahrhundert vor dem geplanten Treffen der Franzosen mit den Deutschen.
Ich las die Manifeste mit dem Vorsatz, nicht zu glauben, was sie besagten, sondern sie gegen den Strich zu lesen, als besagten sie etwas anderes. Ich wusste, daß man, um sie etwas anderes besagen zu lassen, Absätze überspringen und manche Aussagen höher als andere bewerten musste. Aber genau das war es, was uns die Diaboliker und ihre Meister lehrten. Wer sich im subtilen Tempo der Enthüllungen bewegen will, darf nicht den sturen, pedantischen Ketten der Logik und ihrem monotonen Eins-nach-dem-andern folgen. Andererseits, wenn man die Manifeste wörtlich nahm, waren sie eine Anhäufung von Absurditäten, Rätseln und Widersprüchen.
Also konnten sie nicht besagen, was sie zu sagen schienen, und folglich waren sie weder ein Appell zu einer tief greifenden spirituellen Reform noch die Geschichte des armen Christian Rosencreutz. Sie waren verschlüsselte Botschaften, die man nur lesen konnte, wenn man ein Raster über sie legte, und ein Raster lässt bestimmte Felder frei und bedeckt andere. Wie die chiffrierte Botschaft aus Provins, in der nur die Anfangsbuchstaben zählten. Ich hatte kein Raster, aber ich brauchte nur eins vorauszusetzen, und um es vorauszusetzen, musste ich mit Argwohn lesen.
Daß die Manifeste von dem Plan aus Provins sprachen, stand außer Zweifel. In der Grabkammer des C. R (Allegorie auf die Grange-aux-Dimes, die Nacht des 23. Juni 1344!) hatte man einen Schatz verborgen, auf daß die Nachgeborenen ihn entdeckten, einen Schatz, »für 120 Jahre den Augen der Welt entzogen«. Daß dieser Schatz nicht pekuniärer Art war, lag ebenso klar auf der Hand. Nicht nur polemisierte man heftig gegen die primitive Goldgier der Alchimisten, man sagte auch offen, daß es bei dem, was verheißen war, um einen großen historischen Wandel gehe. Und für den Fall, daß jemand immer noch nicht verstanden hatte, wiederholte das zweite Manifest, man dürfe ein Angebot nicht übersehen, das die miranda sextae aetatis betreffe (die Wunder des sechsten und letzten Treffens!), und betonte mehrmals: »Wenn es Gott nun gefallen hätte, das sechste Candelabrum uns allein anzuzünden?... Wäre es nicht ein köstlich Ding, wenn du alles in einem einzigen Buche lesen und beim Lesen alles verstehen und behalten könntest, was jemals geschehen ist.. Wie lieblich wäre es, wenn du so singen könntest, daß du durch den Gesang (der laut gelesenen Botschaft!) anstatt der Steinfelsen (lapis exillis!) eitel Perlen und Edelgestein an dich brächtest... « Und wiederum war von Arkana und Heimlichkeiten die Rede, von einer Regierung, die in Europa installiert werden würde, und von einem »großen Werk«, das es zu verrichten gelte...
In der Fama hieß es, daß C. R. nach Spanien gegangen sei (oder nach Portugal?), um den Gelehrten dort unten zu zeigen, »woraus die wahren indicia der folgenden Jahrhunderte zu entnehmen« seien, doch vergebens. Wieso vergebens? Wieso machte eine deutsche Templergruppe zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts ein bisher eifersüchtig gehütetes Geheimnis publik, als gälte es, an die Öffentlichkeit zu treten, um auf eine Blockierung des Übermittlungsprozesses zu reagieren?
Niemand konnte leugnen, daß die Manifeste versuchten, die Etappen des Planes zu rekonstruieren, so wie Diotallevi ihn resümiert hatte. Der erste Bruder, auf dessen Tod angespielt wurde, oder auf die Tatsache, daß er an eine Grenze gelangt war, die er »nicht überschreiten« konnte, war Bruder I.O., der in England starb. Also war jemand erfolgreich zum ersten Treffen gekommen. Und es wurde ein zweiter und dritter »Reigen« von Brüdern erwähnt, also eine zweite und dritte Generation oder Nachfolgelinie. Und bis dahin hätte so weit alles nach Plan gelaufen sein müssen: Die zweite Linie, die englische, trifft die dritte, die französische, im Jahre 1584, und Leute, die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts schreiben, können nur über das sprechen, was den drei ersten Gruppen widerfahren ist. In der Chymischen Hochzeit, die Andreae in seinen Jugendjahren geschrieben hat, also vor den Manifesten (auch wenn sie erst 1616 erscheint), werden drei majestätische Tempel erwähnt: zweifellos die drei Orte, die schon bekannt sein mussten.
Mir schien jedoch, daß die beiden Manifeste zwar in denselben Begriffen davon sprachen, aber so, als hätte sich in der Zwischenzeit etwas Beunruhigendes ereignet.
Wieso zum Beispiel betonten sie dauernd mit solchem Nachdruck, daß die Zeit gekommen und der Moment erreicht sei, obwohl der Feind all seine Listen eingesetzt habe, um zu verhindern, daß die Gelegenheit wahrgenommen werde? Welche Gelegenheit? Es hieß, das Endziel von C. R. sei Jerusalem gewesen, aber er habe es nicht erreichen können. Wieso nicht? Die Araber wurden gelobt, weil sie Erkenntnisse und Erfahrungen untereinander austauschten, während die Gelehrten in Deutschland einander nicht zu helfen wüssten. Und es wurde auf eine größere Gruppe angespielt, die »die Weide allein abfressen« wolle. Hier war nicht mehr nur die Rede von jemandem, der den Plan zu verzerren suchte, um eigene Interessen zu verfolgen, hier ging es um eine effektive Verzerrung.
In der Fama hieß es, zu Anfang habe jemand eine magische Schrift ersonnen (natürlich, die Botschaft von Provins), doch Gottes Uhr schlage alle Minuten, während die unsere »kaum die ganzen Stunden anzeigt«. Wer hatte da die Schläge der göttlichen Uhr verpasst, wer war da nicht imstande gewesen, im rechten Moment an einen bestimmten Punkt zu gelangen? Angespielt wurde auf eine erste Gruppe von Brüdern, die eine geheime Philosophie hätten aufdecken können, aber beschlossen hatten, sich in die Welt zu zerstreuen.
Die Manifeste ließen ein Unbehagen erkennen, eine Ungewissheit, ein Gefühl der Verlorenheit. Die Brüder der ersten Generation hätten dafür gesorgt, daß jeder von ihnen »mit einem tauglichen Successor ersetzt« wurde, aber »sie hatten beschlossen, daß soviel immer möglich ihre Begräbnisse verborgen blieben«, weshalb man heute nicht wisse, »wo ihrer etliche geblieben«.
Worauf spielte das an? Was wusste man nicht? Von welchem »Begräbnis« fehlte die Ortsangabe? Offenkundig waren die Manifeste geschrieben worden, weil irgendeine Information verloren gegangen war und man nun diejenigen suchte, die sie zufällig kannten.
Der Schluss der Fama war unmissverständlich — »Deshalb ersuchen wir abermals alle Gelehrten in Europa... , daß sie mit wohlbedachtem Gemüt dies unser Erbitten erwägen... , die gegenwärtige Zeit mit allem Fleiß besehen und dann ihre Bedenken... uns schriftlich im Druck eröffnen. Denn obwohl weder wir noch unsere Versammlung bisher unsere Namen genannt... , soll keinem, der seinen Namen wird angeben, daraus ein Nachteil erwachsen, wenn er sich mit unsereinem entweder mündlich oder, falls ihm dies je bedenklich erscheint, schriftlich austauscht.«
Genau das war es, was der Oberst im Sinn gehabt hatte, als er seine Geschichte veröffentlichen wollte. Jemanden zwingen, aus dem Schweigen herauszutreten.
Es hatte einen Sprung gegeben, eine Unterbrechung, einen Riss im Maschengewebe. In der Grabkammer des C. R. stand nicht nur geschrieben: Post 120 annos patebo, was an den Rhythmus der Treffen erinnern sollte, es stand dort auch geschrieben: Nequaquam vacuum. Was nicht hieß: »Es gibt kein Vakuum«, sondern: »Es darf kein Vakuum geben.« Und nun hatte sich doch ein Vakuum gebildet, das gefüllt werden musste!
Warum aber, fragte ich mich ein weiteres Mal, warum wurden all diese Sachen in Deutschland gesagt, wo doch die vierte Generationslinie einfach geduldig abwarten sollte, bis sie an die Reihe kam? Die Deutschen konnten sich doch — im Jahre 1614 — nicht über ein verpasstes Treffen in Marienburg beklagen, das erst für 1704 vorgesehen war!
Nur eine Schlussfolgerung war möglich: Die Deutschen beschwerten sich darüber, daß das vorangegangene Treffen nicht stattgefunden hatte!
Das war der Schlüssel! Die Deutschen der vierten Linie beklagten sich darüber, daß die Engländer der zweiten Linie die Franzosen der dritten verpasst hatten! Natürlich, so musste es gewesen sein! Der Text enthielt Anspielungen von einer geradezu kindischen Deutlichkeit: Das Grab des C. R. wird geöffnet, und man findet darin die Unterschriften der Brüder des ersten und zweiten Zirkels, nicht aber die des dritten! Portugiesen und Engländer sind da, aber wo sind die Franzosen?
Kurzum, die beiden Manifeste der Rosenkreuzer sprachen, wenn man sie richtig zu lesen verstand, von der Tatsache, daß die Engländer die Franzosen verpasst hatten. Und nach dem, was wir inzwischen festgestellt hatten, wussten die Engländer als einzige, wo die Franzosen zu finden waren, und die Franzosen als einzige, wo die Deutschen zu finden waren. Doch selbst wenn die Franzosen dann 1704 die Deutschen gefunden hätten, wären sie nur mit einem Drittel dessen gekommen, was sie ihnen übergeben sollten.
Die Rosenkreuzer traten ans Licht der Öffentlichkeit und riskierten, was sie riskierten, da es die einzige Chance war, den Großen Plan zu retten.
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... wissen wir also nicht gewiß, ob die des andern Reyen von gleicher weißheit mit den ersten gewesen und zu allem zugelassen worden.
Fama Fraternitatis, in Allgemeine und General Reformation, Kassel, Wessel, 1614
Stolz verkündete ich meine Entdeckungen Belbo und Diotallevi. Sie stimmten zu, daß der geheime Sinn der Manifeste offen zu Tage lag, selbst für einen Okkultisten.
»Jetzt ist alles klar«, sagte Diotallevi. »Wir hatten uns in den Kopf gesetzt, daß der Plan beim Übergang von den Deutschen zu den Paulizianern stecken geblieben wäre, und dabei hatte schon 1584 der Übergang von England nach Frankreich nicht geklappt«
»Aber warum nicht?« fragte Belbo. »Haben wir einen guten Grund, warum es den Engländern 1584 nicht gelungen sein soll, das Treffen mit den Franzosen zu realisieren? Die Engländer wussten doch, wo das Refugium war, sie waren sogar die einzigen, die es wussten.«
Er wollte die Wahrheit. Und schaltete Abulafia ein. Und fragte ihn probehalber nach einer Kombination zweier blind herausgegriffener Daten. Und das Output war:
Minnie ist die Verlobte von Mickymaus. 30 Tage hat November, mit April, Juni und September
»Wie ist das zu interpretieren?« fragte Belbo. »Minnie vereinbart ein Rendezvous mit Mickymaus, aber versehentlich gibt sie den einunddreißigsten September an, und Micky... «
»Halt! Moment mal!« rief ich. »Minnie könnte sich nur geirrt haben, wenn sie das Rendezvous auf den 5. Oktober 1582 gelegt hätte!«
»Wieso?«
»Die Gregorianische Kalenderreform! Ist doch ganz klar. 1582 tritt die Gregorianische Reform in Kraft, die den julianischen Kalender korrigiert, und um das Gleichgewicht wiederherzustellen, werden zehn Tage im Oktober unterdrückt, vom 5. bis zum 14.!«
»Aber das Treffen in Frankreich ist für 1584 festgesetzt, für die Johannisnacht, also den 23. Juni«, sagte Belbo.
»In der Tat. Aber wenn ich mich richtig erinnere, ist die Reform nicht gleich überall in Kraft getreten.« Ich holte mir den Ewigen Kalender vom Regal. »Ja, hier steht es: Die Reform wurde 1582 verkündet, und es wurden die Tage vom 5. bis zum 14. Oktober unterdrückt, aber das funktionierte nur für den Papst. Frankreich übernahm die Reform erst 1583 und unterdrückte die Tage vom 10. bis 19. Dezember. In Deutschland kam es zu einer Spaltung, die katholischen Länder übernahmen die Reform 1584, wie in Böhmen, die protestantischen zum Teil erst 1775, also fast zweihundert Jahre später, ganz zu schweigen von Bulgarien, das sie — ein Datum, das wir uns merken müssen — erst 1917 übernahm. Und wie steht's mit England? Hier, England übernahm die Gregorianische Reform 1752! Natürlich, in ihrem Hass auf die Papisten widersetzten sich auch die Anglikaner fast zweihundert Jahre lang. Und jetzt kapieren Sie, was passiert ist. Frankreich unterdrückt zehn Tage im Dezember 1583, und bis Juni 1584 haben sich alle daran gewöhnt. Aber als in Frankreich der 23. Juni war, da war es in England noch der 13. Juni, und überlegen Sie mal, ob ein braver Engländer, auch wenn er Templer war, zumal in jenen Zeiten, als die Informationen noch langsam zirkulierten, ob der sich die Sache wohl klargemacht hat. Noch heute fahren sie links und ignorieren das metrische Dezimalsystem... So erscheinen die Engländer beim Refugium an ihrem 23. Juni, der für die Franzosen inzwischen der 3. Juli ist. Nun darf man wohl annehmen, daß diese Treffen nicht gerade mit Fanfarenstößen begleitet wurden, es waren verstohlene Treffen an der richtigen Ecke zur richtigen Zeit. Die Franzosen sind am 23. Juni pünktlich zur Stelle, sie warten einen Tag, zwei, drei, sieben Tage, und schließlich gehen sie wieder, in der Annahme, daß wohl etwas passiert sein muß. Womöglich resignieren sie genau am Abend des 2. Juli. Die Engländer kommen am 3. Juli und finden niemanden vor. Womöglich warten auch sie acht Tage und finden weiterhin niemanden vor. So haben die beiden Großmeister sich verloren.«
»Wunderbar!« sagte Belbo. »So ist es gelaufen. Aber warum rühren sich dann jetzt die deutschen Rosenkreuzer und nicht die englischen?«
Ich bat um einen weiteren Tag Zeit, stöberte in meiner Kartei und kam am nächsten Morgen stolzgeschwellt ins Büro. Ich hatte eine Spur gefunden, scheinbar nur eine winzige, aber so arbeitet Sam Spade, nichts ist irrelevant für seinen Falkenblick. Gegen 1584 wurde der Magier und Kabbalist John Dee, Astrologe der Königin von England, mit dem Studium der Reform des julianischen Kalenders beauftragt!
»Die Engländer haben die Portugiesen 1464 getroffen. Nach diesem Datum scheint es, als würden die Britischen Inseln von einem kabbalistischen Fieber erfasst. Man arbeitet über dem, was man erfahren hat, um sich auf das nächste Treffen vorzubereiten. John Dee ist der Anführer dieser magischen und hermetischen Renaissance. Er richtet sich eine Privatbibliothek mit viertausend Bänden ein, die von den Templern aus Provins zusammengestellt sein könnte. Sein Opus Monas Ieroglyphica scheint direkt von der Tabula smaragdina inspiriert, der Bibel der Alchimisten. Und was tut John Dee ab 1584? Er liest die Steganographia von Trithemius! Und zwar im Manuskript, denn gedruckt erscheint das Werk erst zu Beginn des nächsten Jahrhunderts. Als Großmeister der englischen Gruppe, der die Schlappe des geplatzten Treffens erlitten hat, will Dee herausfinden, was passiert ist, wo der Fehler gelegen hat Und da er auch ein großer Astronom ist, fasst er sich an die Stirn und sagt, was war ich doch für ein Idiot! Und setzt sich hin, um die Gregorianische Reform zu studieren, nicht ohne sich von Elisabeth dafür bezahlen zu lassen, um herauszufinden, wie sich der Fehler wiedergutmachen lässt. Aber ihm wird klar, daß es zu spät ist. Er weiß nicht, mit wem er in Frankreich Kontakt aufnehmen soll, aber er hat Kontakte zum mitteleuropäischen Raum. Das Prag Rudolfs II. ist ein alchimistisches Laboratorium, und tatsächlich begibt sich John Dee genau in diesen Jahren nach Prag und trifft sich dort mit Khunrath, dem Autor jenes Amphitheatrum sapientiae aeternae, dessen allegorische Tafeln später sowohl Andreae wie die Rosenkreuzer-Manifeste inspirieren sollten. Welche Beziehungen stellt John Dee her? Ich weiß nicht. Zerstört von Gewissensbissen wegen seines irreparablen Fehlers stirbt er 1608. Aber keine Angst, denn in London regt sich schon eine andere Gestalt, jemand, der nach allgemeiner Ansicht der Leute ein Rosenkreuzer war und von den Rosenkreuzern in seinem Neuen Atlantis gesprochen hat. Ich meine Francis Bacon.«
»Hat Bacon wirklich von ihnen gesprochen?« fragte Belbo.
»Nicht direkt, aber nach seinem Tod hat ein gewisser John Heydon das Neue Atlantis umgeschrieben unter dem Titel The Holy Land, und da hat er die Rosenkreuzer reingetan. Aber für unsere Zwecke genügt es auch so. Bacon nennt sie aus evidenten Gründen der Diskretion nicht offen beim Namen, aber es ist, als ob er's täte.«
»Und wer's nicht glaubt, den hole die Pest.«
»Genau. Und es ist Bacon, auf dessen Betreiben man nun die Beziehungen zwischen dem englischen und dem deutschen Milieu noch enger zu knüpfen sucht. 1613 erfolgt die Hochzeit zwischen Elisabeth, der Tochter Jakobs I., der nun auf dem Thron sitzt, mit Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz. Nach dem Tod Rudolfs II. ist Prag nicht mehr der passende Ort, jetzt wird es Heidelberg. Die Fürstenhochzeit gestaltet sich zu einem Triumphzug templerischer Allegorien. Bei den Londoner Festlichkeiten führt Bacon persönlich Regie, und dargeboten wird eine Allegorie auf die mystische Ritterschaft, mit einem Auftritt von Rittern hoch oben auf einem Hügel. Es dürfte klar sein, daß Bacon, als Nachfolger Dees, jetzt Großmeister der englischen Templer ist... «
»... und da er zweifellos auch der wahre Autor der Dramen von Shakespeare ist, müssten wir auch den ganzen Shakespeare neu lesen, der bestimmt von nichts anderem gesprochen hat als von dem Großen Plan«, sagte Belbo. »Johannisnacht = Mittsommernachtstraum...«
»Der 23. Juni ist der Tag des Sommeranfangs.«
»Dichterische Freiheit. Ich frage mich, wie es möglich ist, daß niemand bisher auf diese Symptome geachtet hat, auf diese so offenkundigen Evidenzen. Alles scheint mir von einer geradezu unerträglichen Klarheit.«
»Wir sind durch das nationalistische Denken irregeleitet worden«, sagte Diotallevi. »Ich hab's ja schon immer gesagt«
»Lass Casaubon weiterreden, mir scheint, er hat eine exzellente Arbeit geleistet.«
»Da gibt's nicht mehr viel zu sagen. Nach den Festlichkeiten in London kamen die Festlichkeiten in Heidelberg, wo Salomon de Caus für den Kurfürsten jene hängende Gärten angelegt hatte, von denen wir eine blasse Imitation in Piemont gesehen haben, Sie erinnern sich. Und im Verlauf dieser Festlichkeiten erscheint ein allegorischer Wagen, der den Bräutigam als Jason feiert, und auf den beiden Masten des Schiffes, das auf dem Wagen dargestellt ist, erscheinen die Symbole des Goldenen Vlieses und des Hosenbandordens, ich hoffe, Sie haben nicht vergessen, daß dieselben Symbole auch an den Säulen in Tomar erscheinen... Alles fügt sich zusammen. Im folgenden Jahr erscheint die Fama, dann die Confessio — die Manifeste der Rosenkreuzer sind das Signal, das die englischen Templer, nachdem sie sich der Hilfe einiger Freunde in Deutschland versichert haben, durch ganz Europa schicken, um die Fäden des unterbrochenen Planes wieder zusammenzuknüpfen.«
»Aber worauf genau wollen sie hinaus?«
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Nos inuisibles pretendus sont (à ce que l’on dit) au nombre de 36, separez en six bandes.
(Unsere angeblich Unsichtbaren sind (nach dem, was man sagt) 36 an der Zahl, geteilt in sechs Gruppen.)
Effroyables pactions faictes entre le diable & les pretendus Inuisibles, Paris 1623, p. 6
»Vielleicht versuchen sie eine doppelte Operation: einerseits ein Signal an die Franzosen zu senden und andererseits die verstreuten Teile der deutschen Gruppe wieder zusammenzufügen, die vermutlich durch die lutherische Reformation zerschlagen worden war. Vom Erscheinen der Manifeste bis etwa 1621 erhielten deren Verfasser eine Flut von Antworten... «
Ich nannte einige der zahllosen Schriften, die zum Thema erschienen waren, jene, an denen ich mich damals mit Amparo in Salvador da Bahia delektiert hatte. »Vermutlich gab es unter all diesen Leuten einige, die etwas wussten, aber sie gingen unter in einem Gewimmel von exaltierten Spinnern, von Enthusiasten, die die Manifeste wörtlich nahmen, von Provokateuren, die die Operation zu behindern suchten, von Betrügern und Schwindlern... Die Engländer versuchten, in die Debatte einzugreifen und sie zu steuern, nicht zufällig schreibt Robert Fludd, ein anderer englischer Templer, im Laufe eines einzigen Jahres drei Werke, um die richtige Interpretation der Manifeste zu suggerieren... Aber die Reaktion ist jetzt unkontrollierbar geworden, der Dreißigjährige Krieg hat angefangen, der pfälzische Kurfürst ist von den Spaniern geschlagen worden, die Pfalz und Heidelberg werden geplündert, Böhmen steht in Flammen... Die Engländer beschließen, sich nach Frankreich zurückzuziehen und es dort zu versuchen. Und so kommt es, daß sich die Rosenkreuzer 1623 in Paris mit ihren Plakaten melden, auf denen sie den Franzosen mehr oder weniger dieselben Angebote machen wie vorher den Deutschen. Und was liest man in einem der Pamphlete gegen die Rosenkreuzer in Paris, geschrieben von einem, der ihnen misstraute oder sie anschwärzen wollte? Daß sie Teufelsanbeter seien, natürlich, aber da man auch in der Verleumdung nie ganz die Wahrheit unterdrücken kann, insinuiert er, daß sie sich im Marais versammelten.«
»Na und?«
»Ja, kennen Sie denn Paris nicht? Der Marais ist das Viertel des Tempels und — welch ein Zufall! — auch das Viertel des jüdischen Ghettos! Mal ganz davon abgesehen, daß diese Pamphlete auch behaupten, die Rosenkreuzer stünden in Kontakt mit einer iberischen Kabbalistensekte, den Alumbrados! Vielleicht versuchen all diese Schmähschriften gegen die Rosenkreuzer, indem sie so tun, als ob sie die sechsunddreißig Unsichtbaren attackierten, in Wahrheit deren Identifikation zu beschleunigen... Gabriel Naudé, der Bibliothekar Richelieus, schreibt Instructions à la France sur la vérité de l'histoire des Frères de la Rose-Croix. Was für Instruktionen? Ist er ein Sprecher der Templer des dritten Kerns, ist er ein Abenteurer, der sich in ein fremdes Spiel einmischt? Einerseits scheint es, als wollte auch er die Rosenkreuzer als verrückt gewordene Teufelsanbeter hinstellen, andererseits macht er geheimnisvolle Andeutungen und sagt, es seien noch drei weitere rosenkreuzerische Kollegien zugange — und das würde ja stimmen, denn nach der dritten Gruppe kommen noch einmal drei. Er gibt Hinweise, die nahezu märchenhaft klingen (eins der Kollegien sei in Indien auf schwimmenden Inseln), aber er lässt auch durchblicken, daß eins der Kollegien sich in den Untergründen von Paris befinde.«
»Und Sie glauben«, fragte Belbo, »das alles erkläre den Dreißigjährigen Krieg?«
»Ohne jeden Zweifel«, sagte ich. »Richelieu hat spezielle Informationen von Naudé, er will in dieser Geschichte mitmischen, aber er macht alles falsch, interveniert militärisch und trübt die Wasser nur noch mehr. Aber ich würde auch zwei andere Fakten nicht vernachlässigen. Erstens: 1619 tritt das Generalkapitel der Christusritter in Tomar zusammen, nach sechsundvierzig Jahren des Schweigens. Es war zuletzt 1573 zusammengetreten, wenige Jahre vor 1584, vermutlich um die Reise nach Paris zusammen mit den Engländern vorzubereiten, und nun tritt es nach der Geschichte mit den Rosenkreuzer-Manifesten erneut zusammen, um zu entscheiden, welche Linie man einschlagen soll, ob man sich der Operation der Engländer anschließen oder andere Wege probieren soll.«
»Klar«, sagte Belbo, »inzwischen sind das alles ja Leute, die hilflos herumirren wie in einem Labyrinth. Die einen probieren diesen, die anderen jenen Weg, man lanciert Gerüchte, aber man kapiert nicht, ob die Antworten, die man hört, die Stimme von jemand anderem oder das Echo der eigenen Stimme sind... Alle tasten sich wie im Dunkeln voran. Und was machen derweil die Paulizianer und die Jerusalemer?«
»Tja, wenn man das wüsste«, sagte Diotallevi. »Aber ich würde nicht außer acht lassen, daß es genau die Zeit ist, in der die lurianische Kabbala sich verbreitet und man anfängt, vom Bruch der Gefäße zu sprechen... Und zur selben Zeit kommt die Idee von der Torah als einer unvollständigen Botschaft auf. In einer chassidischen Schrift aus Polen heißt es: Wenn sich statt dessen ein anderes Geschehnis ereignet hätte, dann wären andere Buchstabenkombinationen daraus hervorgegangen... Eins ist jedenfalls klar: Den Kabbalisten gefällt es nicht, daß die Deutschen der Zeit vorgreifen wollten. Die richtige Ordnung und Abfolge der Torah ist verborgen geblieben, sie ist nur Ihm bekannt, dem Heiligen, Er sei gelobt.. Aber lasst mich hier keine Verrücktheiten sagen. Wenn auch die heilige Kabbala in den Großen Plan mit einbezogen wird... «
»Wenn es den Großen Plan gibt, muß er alles mit einbeziehen. Entweder er ist global, oder er erklärt gar nichts«, sagte Belbo. »Aber Casaubon hatte noch ein zweites Indiz angedeutet«
»Ja. Sogar eine Reihe von Indizien. Noch ehe das Treffen von 1584 gescheitert war, hatte John Dee begonnen, sich mit kartografischen Studien zu beschäftigen und Schiffsexpeditionen zu propagieren. Und in Abstimmung mit wem? Mit Pedro Nuñez, dem Kosmografen des Königs von Portugal... John Dee beeinflusste die Entdeckungsreisen auf der Suche nach der Nordwestpassage, er investierte Geld in die Expedition eines gewissen Frobisher, der in die Nähe des Nordpols vordrang und mit einem Eskimo zurückkam, den alle für einen Mongolen hielten, er stachelte Sir Francis Drake auf und ermunterte ihn zu seiner Weltreise, er wollte, daß die Entdecker nach Osten segelten, weil der Osten der Anfang jeder okkulten Erkenntnis sei, und bei der Abfahrt von ich weiß nicht mehr welcher Expedition rief er die Engel an.«
»Und was würde das bedeuten?«
»Mir scheint, daß John Dee in Wirklichkeit gar nicht so sehr an der Entdeckung fremder Weltgegenden interessiert war, sondern an ihrer kartografischen Darstellung, und deswegen arbeitete er in Kontakt mit Mercator und Ortelius, zwei großen Kartografen. Es sieht so aus, als hätte er aus den Fragmenten der Botschaft, die er in Händen hielt, begriffen, daß die ganze Botschaft am Ende zur Entdeckung einer Karte führen musste, und so versuchte er nun, diese Karte auf eigene Faust zu entdecken. Ja, ich wäre sogar versucht, noch mehr zu sagen, wie Signor Garamond. Sollte einem Gelehrten von seinem Kaliber wirklich die Diskrepanz zwischen den beiden Kalendern entgangen sein? Was, wenn er das Treffen mit Absicht verpatzt hätte? John Dee sieht mir ganz so aus, als hätte er die Botschaft für sich allein rekonstruieren wollen, um so die fünf anderen Gruppen auszuschalten. Ich habe den Verdacht, daß mit ihm die Idee auftaucht, man könne die Botschaft mit magischen oder wissenschaftlichen Mitteln rekonstruieren, ohne zu warten, daß der Plan sich erfüllt. Syndrom der Ungeduld. Genau zu dieser Zeit entsteht der Typus des bürgerlichen Eroberers, es trübt sich das Solidaritätsprinzip, auf dem die spirituelle Ritterschaft beruhte. Und wenn John Dee so dachte, dann sicher erst recht Francis Bacon. Von nun an versuchen die Engländer, das Geheimnis zu lüften, indem sie alle Geheimnisse der neuen Wissenschaft nutzen.«
»Und die Deutschen?«
»Die Deutschen, die lassen wir lieber den Weg der Tradition beschreiten. So können wir mindestens zwei Jahrhunderte Philosophiegeschichte erklären — angelsächsischer Empirismus gegen romantischen Idealismus... «
»Wir sind dabei, schrittweise die Geschichte der Welt zu rekonstruieren«, sagte Diotallevi. »Wir sind dabei, das Buch neu zu schreiben. Das gefällt mir, das gefällt mir!«
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Ein anderer kurioser Fall von Kryptographie wurde dem Publikum 1917 von einem der besten Biographen Bacons, dem Dr. Alfred von Weber-Ebenhoff aus Wien, vorgelegt. Ausgehend von den bereits an den Werken Shakespeares erprobten Systemen, unternahm er es, sie auf die Werke von Cervantes anzuwenden... Im Verlauf dieser Untersuchung entdeckte er einen verblüffenden konkreten Beweis: die erste englische Übersetzung des Don Quijote von Shelton weist handschriftliche Korrekturen von Bacon auf. Er schloß daraus, daß diese englische Fassung das Original des Romans sei und daß Cervantes nur eine spanische Übersetzung davon veröffentlicht habe.
J. Duchaussoy, Bacon, Shakespeare ou Saint-Germain?, Paris, La Colombe, 1962, p. 122
Dass Jacopo Belbo in den folgenden Tagen gierig historische Werke über die Zeit der Rosenkreuzer verschlang, scheint mir evident. Doch als er uns dann erzählte, zu welchen Schlüssen er gelangt war, lieferte er uns von seinen Fantasien nur das nackte Faktengerüst, aus dem wir freilich wertvolle Anregungen bezogen. Heute weiß ich, daß er in Wahrheit dabei war, an Abulafia eine weit komplexere Geschichte zu schreiben, in der sich das zügellose Zitatenspiel mit seiner Privatmythologie vermischte. Angesichts der Möglichkeit, Fragmente einer Geschichte anderer zu kombinieren, fand er langsam wieder den Drang, in narrativer Form die eigene Geschichte zu schreiben. Uns sagte er das nie. Und mir bleibt der Zweifel, ob er nur mit einigem Mut seine Fähigkeiten zum Ausdruck einer Fiktion erprobte, oder ob er nicht schon dabei war, sich selbst wie irgendein Diaboliker in die Große Geschichte, die er da verdrehte, hineinzuversetzen.
Filename: Das seltsame Kabinett des Doktor Dee
Lange Zeit habe ich vergessen, dass ich Talbot bin. Spätestens seit ich beschlossen hatte, mich Kelley zu nennen. Im Grunde hatte ich nur Dokumente gefälscht, das tun alle. Die Männer der Königin sind gnadenlos. Um meine armen abgeschnittenen Ohren zu verdecken, bin ich gezwungen, diese schwarze Mütze zu tragen, und alle tuscheln, ich sei ein Magier. Sei's drum. Doktor Dee lebt gut, ja prosperierend von diesem Ruf.
Ich war nach Mortlake gefahren, um ihn zu besuchen, und fand ihn über eine Karte gebeugt. Er blieb vage, der diabolische Alte. Nur düsteres Glimmen in seinen listigen Augen, und die knochige Hand, die den Ziegenbart kraulte.
— Das ist ein Manuskript von Roger Bacon, sagte er mir. Kaiser Rudolf II. hat es mir geliehen. Kennen Sie Prag? Sie sollten es einmal besuchen. Sie könnten dort etwas finden, was Ihr Leben verändern würde. Tabula locorum rerum et thesaurorum absconditorum Menabani...
Flüchtig sah ich ein Stückchen der Transkription, die er von einem Geheimalphabet zu machen versuchte. Doch sofort verbarg er das Manuskript unter einem Stapel anderer vergilbter Papiere. Wie schön, in einer Epoche zu leben, und einer Umgebung, in der jedes Blatt, auch wenn es eben erst aus der Werkstatt des Papiermachers kommt, schon vergilbt ist...
Ich hatte dem Doktor einige Proben von mir gezeigt, vor allem meine Gedichte über die Dark Lady. Hell leuchtendes Bild meiner Kindheit; dunkel, da aufgesogen vom Schatten der Zeit und meinem Besitz entzogen... Und ein tragisches Stück von mir, die Geschichte von Surabaya-Jim, der im Gefolge von Sir Walter Raleigh nach England zurückkehrt und entdeckt daß der Vater getötet wurde, ermordet vom inzestuösen Bruder. Bilsenkraut.
— Sie haben Talent, Kelley, hatte Dee gesagt. Und Sie brauchen Geld. Da ist ein junger Mann, natürlicher Sohn von Sie wagen gar nicht zu denken wem, dem ich zu Ruhm und Ehren verhelfen will. Er hat wenig Talent, Sie werden seine geheime Seele sein. Schreiben Sie, und leben Sie im Schatten seines Ruhmes, nur Sie und ich werden wissen, daß es der Ihre ist, Kelley.
So sitze ich nun seit Jahren und schreibe die Stücke, die für die Königin und für ganz England unter dem Namen dieses blassen Jünglings laufen. If l have seen further, it is by Standing on ye sholders of a Dwarf. Ich war dreißig Jahre alt, und ich werde niemandem erlauben zu sagen, dies sei das schönste Lebensalter.
— William, sagte ich, lass dir die Haare über die Ohren wachsen, das steht dir. — Ich hatte einen Plan (mich an seine Stelle zu setzen?).
Kann man leben, indem man den Schüttelspeer hasst, der man in Wirklichkeit ist? That sweet thief which sourly robs from me. — Ruhig, Kelley, sagte Dee, im Schatten heranzuwachsen ist das Privileg dessen, der sich anschickt, die Welt zu erobern. Keepe a Lowe Profyle. William wird eine unsrer Tarnungen sein... Und er enthüllte mir (alas! nur zum Teil) das Kosmische Komplott. Das Geheimnis der Templer!
— Um was geht es dabei? fragte ich.
— Ye Globe.
Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen, jedoch eines späten Abends, um Mitternacht, stöberte ich in Dees privater Schatulle, entdeckte Formeln und wollte die Engel anrufen, wie er es in Vollmondnächten tut. Dee fand mich zusammengebrochen, mitten im Kreis des Makrokosmos, wie niedergestreckt von einem Peitschenhieb. Auf der Stirn das Pentaculum Salomonis. Nun muß ich die Mütze noch tiefer in die Stirn ziehen.
— Du weißt noch nicht, wie man das macht, sagte Dee. Sei auf der Hut, oder ich lasse dir auch die Nase abreißen, l will show you Fear in a Handful of Dust...
Er hob eine knochige Hand und sprach das schreckliche Wort: Garamond! Ich fühlte in mir eine Flamme brennen. Ich floh (in die Nacht).
Es brauchte ein Jahr, bis Dee mir verzieh und mir sein Viertes Buch der Mysterien widmete, »post reconciliationem kellianam«.
In jenem Sommer war ich von abstrakten Leidenschaften ergriffen. Dee hatte mich nach Mortlake gerufen, wir waren vollzählig bei ihm versammelt: ich, William, Spenser und ein junger Aristokrat mit fliehendem Blick, Francis Bacon. He had a delicate, lively, hazel Eie. Doctor Dee told me it was like the Eie of a Viper. Der Alte enthüllte uns einen Teil des Kosmischen Komplotts. Es ging darum, in Paris den fränkischen Flügel der Templer zu treffen und zwei Teile einer Karte zusammenzusetzen. Dee und Spenser sollten hinfahren, begleitet von Pedro Nuñez. Mir und Bacon vertraute er Dokumente an, und wir mussten schwören, sie nur zu öffnen, falls sie nicht wiederkämen.
Sie kamen wieder, einander heftig beschimpfend. — Das ist ganz unmöglich! rief Dee. Der Plan ist mathematisch exakt, er hat die astrale Perfektion meiner Monas leroglyphica. Wir mussten sie treffen, es war die Johannisnacht!
Ich hasse es, unterschätzt zu werden. Ich fragte ihn:
— Die Johannisnacht für uns oder für sie?
Dee schlug sich die Hand vor die Stirn und stieß grässliche Flüche aus. — Oh, rief er, from what power hast thou this powerful might? — Der blasse William notierte sich den Satz, der feige Plagiator. Dee konsultierte fieberhaft Kalender und Ephemeriden. — Gottverdammt, Gottverflucht, wie konnte ich nur so blöd sein?! — Er beschimpfte Pedro Nuñez und Spenser. — Muss ich denn an alles denken? Hundsfott von einem Kosmografen! brüllte er Nuñez an. Dann rief er laut: Amanasiel! Zorobabel! Und Nuñez taumelte rückwärts wie von einem unsichtbaren Widder in den Magen gestoßen, wich erbleichend ein paar Schritte zurück und brach zusammen. — Hornochse! sagte Dee.
Spenser war blass. Er stammelte mühsam: Man könnte einen Köder auswerfen. Ich beende gerade ein Poem, ein allegorisches Epos über die Feenkönigin, in das ich versucht bin, einen Ritter vom Roten Kreuz einzubringen... Lasst mich schreiben. Die wahren Templer werden einander erkennen, sie werden begreifen, daß wir Bescheid wissen, und werden Kontakt mit uns aufnehmen...
— Ich kenne dich, sagte Dee, bis du fertig geschrieben hast und die Leute dein Epos zur Kenntnis nehmen, vergeht ein Lustrum oder gar ein Dezennium. Aber die Idee mit dem Köder ist gar nicht so dumm.
— Warum kommunizieren Sie nicht durch Ihre Engel mit den Franzosen, Doktor? fragte ich ihn.
— Hornochse, sagte er nochmals, und diesmal zu mir. Hast du nicht den Trithemius gelesen? Die Engel des Empfängers intervenieren, um eine Botschaft zu entschlüsseln, wenn er sie erhält. Meine Engel sind keine reitenden Boten. Die Franzosen sind verloren. Aber ich habe einen Plan. Ich weiß, wo ich jemanden von der deutschen Linie finden kann. Wir müssen nach Prag fahren.
Wir hörten ein Geräusch, ein schwerer Damastvorhang hob sich, eine zarte Hand kam hervor, und dann erschien Sie, die Hehre Jungfrau. — Majestät, sagten wir niederkniend. — Dee, sprach Sie, ich weiß alles. Glaubt nicht, meine Vorfahren hätten die Ritter gerettet, um ihnen nun die Weltherrschaft zu überlassen. Ich fordere, versteht Ihr, ich fordere und beanspruche das Geheimnis, wenn Ihr es habt, als ein Erbteil der Krone.
— Majestät, ich will das Geheimnis haben, um jeden Preis, und ich will es für die Krone haben. Ich will die anderen Besitzer wiederfinden, wenn dies der kürzeste Weg ist, aber wenn sie mir törichterweise anvertraut haben, was sie wissen, wird es für mich ein leichtes sein, sie zu eliminieren, sei's mit dem Dolche oder mit Gift.
Auf dem Antlitz der jungfräulichen Königin erschien ein schauriges Lächeln. — Recht so, sagte sie, mein guter Dee... Ich will nicht viel, nur die Totale Macht. Euch, so Ihr erfolgreich seid, winkt der Hosenbandorden. Dir, William — und mit schlüpfriger Süße wandte sie sich an den kleinen Parasiten — ein andres Hosenband, und ein andres Goldenes Vlies. Folge mir.
Ich flüsterte William ins Ohr: Perforce l am thine, and all that is in me... William belohnte mich mit einem Blick voll triefender Dankbarkeit und folgte der Königin durch den Vorhang. Je tiens la reine!
Ich war mit Dee in der Goldenen Stadt. Wir gingen durch enge und übel riechende Gassen unweit des jüdischen Friedhofs, und Dee sagte, ich solle gut achtgeben. — Wenn die Nachricht von dem versäumten Kontakt sich verbreitet hat, sagte er, werden die anderen Gruppen bereits auf eigene Faust unterwegs sein. Ich fürchte die Juden, Kelley, die Jerusalemer haben hier in Prag zu viele Agenten...
Es war Abend. Der Schnee glitzerte bläulich. Vor dem dunklen Eingang zum Judenviertel hockten die Buden des Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell, von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bühne eines Marionettentheaters. Doch gleich danach gelangten wir unter die Bögen eines gequaderten Laubenganges, und nach einem Erzbrunnen, dessen barockes Gitter voll langer Eiszapfen hing, öffnete sich der Torbogen zu einer anderen Passage. Verwitterte Paläste zogen an uns vorüber, mit hochmütigen Portalen, an denen goldene Löwenköpfe in bronzene Ringe bissen. Manchmal fuhr ein schwaches Beben durch jene Mauern, unerklärliche Geräusche liefen über die Dächer und glitten in den Regenrinnen hernieder. Die Häuser verrieten ein spukhaftes Treiben in ihrem Innern, als wären sie die heimlichen Herren des Lebens... Ein alter Zinswucherer in einem zerschlissenen Kaftan streifte uns fast im Vorübergehen, und mir war, als hörte ich ihn murmeln: Hütet euch vor Athanasius Pernath... — Ich fürchte einen ganz anderen Athanasius, murmelte Dee. Und mit einmal waren wir in der Goldmachergasse.
Dort nun, und die Ohren, die ich nicht mehr habe, erzittern mir unter der zerschlissenen Mütze bei der Erinnerung, dort, im Dunkel eines weiteren unvermuteten Torweges, erschien jählings vor uns ein Riese, ein entsetzliches graues Geschöpf mit starrem Ausdruck, der Leib gepanzert mit einem bronzefarbenen Belag, gestützt auf einen spiralförmig gedrehten Knotenstock aus weißem Holz. Ein trüber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der Erscheinung aus. Mich packte ein tödliches Grauen, es war, als wäre mein ganzes Fühlen zu Todeserschrecken geronnen in jenem Wesen, das da vor mir stand. Und doch konnte ich den Blick nicht von dem fahlen Nebelballen abwenden, den es anstelle des Kopfes auf den Schultern trug, und mit Mühe erkannte ich das Raubvogelgesicht eines ägyptischen Ibis, und dahinter eine Vielzahl anderer Gesichter, Albträume meiner Fantasie und meiner Erinnerung. Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit, zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, als durchströmte ein langsamer mineralischer Atem die ganze Gestalt... Und — o Grausen — statt der Füße sah ich unförmige Knochenstümpfe im Schnee, von denen das Fleisch, grau und blutleer, sich zu Wülsten hochrollte.
Oh, meine gefräßigen Erinnerungen...
— Der Golem! sagte Dee. Sodann hob er beide Arme zum Himmel, und sein schwarzer Rock mit den weiten Ärmeln fiel an seiner hohen Gestalt herab, als wollte er ein Cingulum bilden — eine Nabelschnur zwischen den hocherhobenen Händen und der Oberfläche (oder den Tiefen) der Erde. — Jezebel, Malchuth, Smoke Gets in Your Eyes! sprach der Doktor. Und mit einem Schlage zerfiel der Golem wie eine Burg aus Sand, durch die ein Windstoß fährt, wir wurden fast geblendet von den Partikeln seines tönernen Leibes, die in der Luft wie Atome zerstoben, und am Ende lag vor unseren Füßen ein Häufchen verbrannter Asche. Dee beugte sich nieder, wühlte mit seinen knochigen Fingern in jenem Häufchen, zog einen Zettel heraus und barg ihn an seinem Busen.
Im selben Moment trat aus dem Dunkel ein alter Rabbi mit einer fettigen Kappe, die meiner Mütze sehr ähnlich sah. — Doctor Dee, l suppose, sagte er. — Here Comes Everybody, erwiderte Dee bescheiden. Seid mir gegrüßt, Rabbi Allevi, welche Freude... Und der andere: — Habt Ihr zufällig hier ein Wesen umgehen sehen?
— Ein Wesen? fragte Dee mit gespieltem Erstaunen. Von welcher Beschaffenheit?
— Zum Teufel, sagte Rabbi Allevi. Es war mein Golem.
— Euer Golem? Davon weiß ich nichts.
— Hütet Euch, Doktor Dee, zischte der Rabbi böse. Ihr spielt ein Spiel, das größer ist als Ihr.
— Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht, Rabbi Allevi, sagte Dee. Wir sind hier, um ein paar Unzen Gold für Euren Kaiser zu machen. Wir sind keine Drei-Groschen-Nekromanten.
— Gebt mir wenigstens den Zettel wieder, flehte Rabbi Allevi.
— Welchen Zettel? fragte Dee mit teuflischer Einfalt.
— So seid denn verflucht, Doktor Dee! sprach Rabbi Allevi. Wahrlich, ich sage Euch, Ihr werdet die Morgendämmerung des neuen Jahrhunderts nicht mehr erleben. Sprach's und entschwand in die Nacht, obskure Mitlaute ohne jeden Vokal vor sich hinmurmelnd. O Lingua Diabolica et Sancta!
Dee stand an die modrige Mauer des Torwegs gelehnt, erdfahl im Gesicht, das Haupthaar gesträubt gleich dem der Schlange. — Ich kenne diesen Rabbi Allevi, sagte er. ich werde am fünften August anno 1608 sterben, nach dem Gregorianischen Kalender. Und darum helft mir nun, Kelley, meinen Plan ins Werk zu setzen. Ihr werdet es sein, der ihn vollenden muß. Gilding pale streams with heavenly alchymy, erinnert Euch daran. — O ja, ich würde mich daran erinnern, und William mit mir (und gegen mich).
Er sagte nichts mehr. Der gelbe Nebel, der seinen Rücken an den Fensterscheiben rieb, der gelbe Rauch, der seine Schnauze an den Fensterscheiben rieb, leckte mit seiner Zunge an den Ecken des Abends. Wir waren jetzt in einer anderen Gasse, weißliche Dämpfe stiegen aus den vergitterten Kellerfenstern, durch die man in Spelunken mit schiefen Wänden sah, gestreift mit einer Skala trüber Grautöne... Ich erblickte, während er tastend eine Treppe hinunterkam (die Stufen unnatürlich rechtwinklig), die Gestalt eines Alten in verschlissenem Gehrock mit hohem Zylinder. Dee sah ihn ebenfalls. — Caligari! rief er. Auch er hier, und das im Haus der Madame Sosostris, The Famous Clairvoyante! Rasch, wir müssen uns sputen!
Wir beschleunigten unsere Schritte und gelangten zur Tür eines Häuschens in einer trübe beleuchteten Gasse.
Wir klopften, und die Tür öffnete sich wie durch Zauberhand. Wir traten in einen weiten hohen Saal, geschmückt mit siebenarmigen Leuchtern, mit Tetragrammen in Relief und Davidssternen im Strahlenkranz. Alte Geigen, schimmernd im Farbton der Lasur altmeisterlicher Gemälde, häuften sich vorn auf einem langen, perspektivisch nach hinten verjüngten Klostertisch. Ein großes Krokodil hing mumifiziert von der hohen Gewölbedecke, sanft schwingend in der Abendbrise, im flackernden Licht einer einzigen Fackel, oder vieler — oder keiner. Im Hintergrund, vor einer Art Zelt oder Baldachin, unter dem sich ein Tabernakel erhob, kniete wie im Gebet versunken, ununterbrochen blasphemisch die zweiundsiebzig Namen Gottes murmelnd, ein Greis. Ich wusste sogleich, erleuchtet durch jähen Blitzschlag des Nous, daß es Heinrich Khunrath war.
— Was ist, Dee? fragte er, sich umwendend und sein Gebet unterbrechend. Was wollt Ihr? — Er wirkte wie ein ausgestopftes Gürteltier, ein altersloser Leguan.
— Khunrath, sagte Dee, das dritte Treffen hat nicht geklappt.
Khunrath stieß eine grässliche Verwünschung aus: Lapis Exillis! Und nu?
— Khunrath, sagte Dee, Ihr könntet einen Köder auswerfen und mich in Kontakt mit der deutschen Templerlinie bringen.
— Mal sehen, sagte Khunrath. Ich könnte Maier fragen, der kennt viele Leute bei Hof. Aber Ihr müsst mir dafür das Geheimnis der jungfräulichen Milch verraten, das Geheimnis des Allergeheimsten Ofens der Philosophen.
Dee lächelte — o göttliches Lächeln jenes Sophen! Dann sammelte er sich wie zum Gebet und murmelte leise: Willst du das sublimierte Quecksilber umwandeln und in Wasser oder in Jungfrauenmilch auflösen, so tu's auf die Folie zwischen die Häufchen und die Schale mit dem sorgfältig pulverisierten DING, aber deck's nicht zu, sondern sorge dafür, daß die warme Luft an die nackte Materie gelangt, verabreiche ihm die Glut dreier Kohlen und halte es für acht Sonnentage lebendig, dann nimm's heraus und zerstampfe es gut auf dem Marmor, bis es ungreifbar geworden. Alsdann tu die Materie in einen Glaskolben und lass sie in Balneum Mariae destillieren, über einem Wasserkessel, der so postiert sein muß, daß sich der Kolben nicht mehr als zwei Fingerbreit dem Wasser nähert, sondern darüber schweben bleibt, und zugleich mache ein Feuer unter dem Bad. Dann, und erst dann wird die Materie des Silbers, obwohl sie nicht das Wasser berührt, sondern sich in diesem warmen und feuchten Bauche befindet, sich in Wasser verwandeln.
— Meister, sagte Khunrath, auf die Knie fallend und des Doktors knochige, diaphane Hand küssend. So werde ich's tun. Und du wirst bekommen, was du willst. Entsinne dich dieser zwei Worte: Rose und Kreuz. Du wirst noch davon hören.
Dee hüllte sich in seinen schwarzen Kapuzenmantel, so daß nur seine stechenden Augen daraus hervorlugten. — Gehen wir, Kelley, sagte er. Dieser Mann ist nun unser. Und du, Khunrath, halte uns den Golem vom Leibe, bis wir wieder in London sind. Danach mag ganz Prag ein einziger Scheiterhaufen sein.
Er machte Anstalten, sich zu entfernen. Khunrath kroch näher und ergriff einen Zipfel seines Mantels. — Es wird vielleicht eines Tages ein Mann zu dir kommen. Einer, der über dich schreiben will. Sei freundlich zu ihm.
— Gib mir die Macht, sagte Dee mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf seinem hageren Antlitz, und sein Glück ist gesichert.
Wir gingen hinaus. Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum, es wanderte ostwärts zu einem über Russland lagernden Maximum.
— Gehen wir nach Moskau, sagte ich.
— Nein, erwiderte er. Wir kehren nach London zurück.
— Nach Moskau, nach Moskau, murmelte ich verstört. Dabei hast du's doch genau gewusst, Kelley, du würdest niemals nach Moskau gelangen. Auf dich wartete der TURM.
Wir kamen zurück nach London, und Doktor Dee sagte: — Sie werden versuchen, vor uns zur Lösung zu gelangen. Kelley, schreib etwas für William, das sie... das sie ganz teuflisch verleumdet.
Und beim Bauche des Dämons, ich hab's getan, und dann hat William den Text verdorben und hat die ganze Geschichte aus Prag nach Venedig verlegt. Dee kochte vor Wut. Aber der blasse, schleimige William fühlte sich sicher im Schutz seiner königlichen Konkubine. Und die genügte ihm nicht. Als ich ihm eins nach dem andern seine besten Sonette übergab, fragte er mich mit schamlosem Blick nach Ihr, nach Dir, my Dark Lady. Wie entsetzlich, deinen Namen auf seinen schmierenkomödiantischen Lippen zu hören! (Ich wusste noch nicht, daß er, als doppelt verdammte Seele und Stellvertreter, für Bacon nach ihr suchte). — Jetzt reicht's, sagte ich zu ihm. Ich habe es satt, im Schatten deinen Ruhm zu errichten. Schreib du für dich selbst.
— Ich kann nicht, antwortete er mit einem Blick, als hätte er ein Gespenst gesehen. Er lässt mich nicht.
— Wer? Dee?
— Nein, der Baron Verulam. Hast du nicht gemerkt, daß er's jetzt ist, der das Spiel regelt? Er zwingt mich, die Werke zu schreiben, die er dann als die seinen ausgeben wird. Hast du verstanden, Kelley, ich bin der wahre Bacon, und die Nachgeborenen werden's nicht wissen. Oh, wie ich diesen Parasiten hasse, diesen Satansbraten!
— Bacon ist ein Schuft, aber er hat Geist, erwiderte ich. Warum schreibt er nicht eigenhändig?
Ich wusste noch nicht, daß er keine Zeit dazu hatte. Wir bemerkten es erst einige Jahre später, als Deutschland vom Rosenkreuzer-Wahn erfasst wurde. Da begriff ich, indem ich verstreute Andeutungen zusammenfügte, die er sich in unbedachten Momenten hatte entfahren lassen, daß er der Verfasser der Rosenkreuzer-Manifeste war. Er schrieb unter dem falschen Namen Johann Valentin Andreae!
Für wen der echte Andreae schrieb, hatte ich damals noch nicht begriffen. Doch jetzt, im Dunkel dieser Zelle, in welcher ich schmachte, hellsichtiger als Don Isidro Parodi, jetzt weiß ich's. Soapes hat es mir gesagt, mein Zellengenosse, ein einstiger portugiesischer Templer: Andreae schrieb einen Ritterroman für einen Spanier, der zur selben Zeit in einem anderen Gefängnis saß. Ich weiß nicht warum, aber das Projekt nützte dem infamen Bacon, der gerne als der geheime Autor der Abenteuer des Ritters von La Mancha in die Geschichte eingegangen wäre und daher Andreae gebeten hatte, ihm heimlich das Werk zu schreiben, als dessen wahrer okkulter Autor er sich dann ausgeben würde, um im Schatten (aber warum, warum?) den Triumph eines anderen zu genießen.
Doch ich schweife ab, nun, da es kalt ist in dieser Zelle und mich der Daumen schmerzt. Ich schreibe, im blakenden Licht einer verlöschenden Öllampe, die letzten Werke, die unter dem Namen Williams laufen werden.
Doktor Dee ist tot. Im Sterben murmelte er die Worte: Licht, mehr Licht, und bat um einen Zahnstocher. Zuletzt sagte er: Qualis Artifex Pereo! Es war Bacon, der ihn hatte umbringen lassen. Jahrelang hatte der Verulamius die Königin, bis sie gebrochenen Herzens und Sinnes verschied, in gewisser Weise umgarnt, ihre Züge waren bereits entstellt und ihr Leib zum Skelett abgemagert. Ihre Nahrung hatte sich auf ein Stück Weißbrot und eine Zichoriensuppe pro Tag reduziert. Sie trug immer noch einen Degen an ihrer Seite, und in Momenten der Wut stieß sie ihn heftig in die Vorhänge und die Damasttapeten an den Wänden ihrer Gemächer. (Und wenn nun jemand dahinter verborgen war, um zu lauschen? Oder eine Ratte, eine Ratte? Gute Idee, alter Kelley, muß ich mir gleich notieren.)
Der so senil gewordenen Alten konnte Bacon leicht weismachen, daß er William wäre, ihr Bastard — vor ihren Knien sitzend, sie schon erblindet, er in das Fell eines Widders gehüllt. Das Goldene Vlies! Es hieß, er spekuliere auf den Thron, aber ich wusste, daß er weit mehr wollte: Er wollte die Herrschaft über den Planeten. Zu der Zeit geschah es, daß er Viscount of Saint Albans wurde. Und sobald er sich stark genug fühlte, schaffte er Dee aus dem Wege.
Die Königin ist tot, es lebe der König... Ich war jetzt ein ungelegener Mitwisser. Er lockte mich in einen Hinterhalt, es war ein Abend, an dem die Dark Lady endlich hätte die meine sein können, und sie tanzte in meinen Armen, verloren unter der Herrschaft von Kräutern, die Visionen erzeugen können, Sie, die ewige Sophia, mit ihrem Runzelgesicht einer alten Gemse... Er trat herein mit einer Handvoll Bewaffneter, ließ mir die Augen mit einem Lappen verbinden, und jäh begriff ich: das Vitriol! Und wie Sie lachte, wie Du lachtest, Pin Ball Lady — oh maiden virtue rudely strumpeted, oh gilded honour shamefully misplac'd! — indes er dich mit seinen gierigen Händen betatschte und du ihn Simon nanntest und ihm die sinistre Narbe küsstest...
In den Tower mit ihm, in den Tower! lachte der Verulam. Und seither liege ich hier, zusammen mit dieser menschlichen Larve, die sich Soapes nennt, und die Wärter kennen mich nur als Surabaya-Jim. Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin — und leider auch Theologie! durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.
Durch eine Fensterscharte habe ich die Königshochzeit mit angesehen, samt den Rittern vom Roten Kreuz, die beim Klang der Trompeten parodierten. Ich hätte der Trompeter sein müssen, Cecilia wusste es, und ein weiteres Mal ward mir der Preis vorenthalten, das Ziel. William blies die Trompete. Ich schrieb im Schatten, für ihn.
— Ich will dir sagen, wie du dich rächen kannst, raunte Soapes mir zu, und an jenem Tage enthüllte er mir, wer er wirklich war: ein bonapartistischer Abbé, seit Jahrhunderten begraben in diesem Verlies.
— Werde ich je hier rauskommen? fragte ich ihn.
— If... , begann er zu antworten. Doch dann verstummte er. Mit dem Blechlöffel an die Mauer klopfend, in einem mysteriösen Alphabet, das er von Trithemius gelernt hatte, wie er mir anvertraute, sandte er Botschaften an jemanden, der in der Nachbarzelle saß. Der Graf von Montsalvat.
Jahre sind vergangen. Soapes hat nie aufgehört, an die Mauer zu klopfen. Inzwischen weiß ich, für wen und zu welchem Zweck. Der Empfänger heißt Noffo Dei. Und dieser Dei (kraft welcher mysteriösen Kabbala klingen die Namen Dei und Dee so ähnlich? Wer hat die Templer denunziert?), dieser Dei hat, von Soapes unterwiesen, Bacon denunziert. Was er gesagt hat, weiß ich nicht, aber vor ein paar Tagen wurde der Verulamius in den Kerker geworfen. Unter Anklage der Sodomie, weil, wie behauptet wird (und ich zittere bei dem Gedanken, daß es wahr sein könnte), weil Du, my Dark Lady, die Schwarze Jungfrau der Druiden und der Templer, nichts anderes warst und nichts anderes bist als der ewige Androgyn, hervorgegangen aus den wissenden Händen wessen, ja wessen? Jetzt, ja jetzt weiß ich's: deines Geliebten, des Grafen von Saint-Germain! Doch wer ist jener Saint-Germain, wenn nicht Bacon (wie viele Dinge weiß Soapes, dieser obskure Templer mit den vielen Leben...)?
Bacon ist aus dem Kerker entlassen worden, er hat durch magische Künste die Gunst des Monarchen zurückgewonnen. Jetzt verbringt er, sagt William, die Nächte am Ufer der Themse, in Pilad's Pub, beim Spiel an jener sonderbaren Maschine, die ihm ein Nolaner erfunden hat, den er dann in Rom auf dem Campo de' Fiori entsetzlich verbrennen ließ, nachdem er ihn zu sich nach London geholt hatte, um ihm sein Geheimnis zu entlocken, eine astrale Maschine, Verschlingerin rasender Kugeln, die er durch infinite Universen und Welten jagt, in einem Gefunkel himmlischer Lichter, indem er als triumphierende Bestie dem Gehäuse obszöne Stöße mit dem Schambein versetzt, um die Bewegungen der Himmelskörper zu fingieren im Haus der Dekane und die letzten Geheimnisse seiner Magna Instauratio zu verstehen und endlich auch das Geheimnis des Neuen Atlantis — eine Maschine, die er Gottlieb's genannt hat, zum Hohn auf die heilige Sprache der Andreae zugeschriebenen Manifeste... Ah! rufe ich aus (s'écria-t-il), nun bei klarem Bewusstsein, aber zu spät und vergebens, während das Herz mir sichtbar unter den Bändern des Wamses schlägt: darum also nahm er mir die Trompete weg, das Amulett, den Talisman, die kosmische Fessel, die den Dämonen zu befehlen vermochte! Was wird er nun aushecken in seinem Salomonischen Haus? Es ist spät, ich wiederhole mich, inzwischen hat er zu viel Macht bekommen.
Bacon soll gestorben sein, heißt es. Soapes versichert mir, daß es nicht wahr sei. Niemand habe die Leiche gesehen. Er lebe weiter unter falschem Namen am Hof des Landgrafen von Hessen, nun in die höchsten Mysterien eingeweiht und somit unsterblich geworden, bereit, seine finstere Schlacht für den Sieg des Großen Planes weiterzutreiben, in seinem Namen und unter seiner Kontrolle.
Nach diesem vermeintlichen Tod kam mich William besuchen, mit seinem heuchlerischen Lächeln, das mir die Gitterstäbe nicht zu verbergen vermochten. Er fragte mich, wieso ich ihm in Sonett III etwas von einem Färber geschrieben habe, er zitierte den Vers: To what it works in, like the dyer's hand...
— Nie habe ich diese Worte geschrieben, sagte ich. Und es stimmte... Kein Zweifel, Bacon hatte sie eingefügt, bevor er verschwand, um ein geheimes Signal an jene zu senden, die nun den Grafen von Saint-Germain an ihren Höfen aufnehmen sollen, als einen Experten für Tinkturen und Farben... Ich glaube, in Zukunft wird er versuchen, die Leute glauben zu machen, er habe die Werke Williams geschrieben. Wie hell und klar nun auf einmal alles wird, wenn man es aus dem Dunkel eines Verlieses betrachtet!
Where art thou, Muse, that thou forget'st so long? Ich fühle mich müde, krank. William erwartet neues Material von mir für seine albernen Clownerien im Globe.
Soapes schreibt. Ich schaue ihm über die Schulter. Er kritzelt eine unverständliche Botschaft: Rivverrun, past Eve and Adam's... Er verdeckt das Blatt mit den Händen, sieht mich an, sieht mich bleicher werden als ein Gespenst, liest den Tod in meinen Augen. — Ruh dich aus, sagt er leise. Hab keine Angst. Ich werde für dich schreiben.
Und so tut er's nun, als Maske einer Maske. Ich erlösche allmählich, und er entzieht mir auch noch das letzte Licht, das der Dunkelheit.
74
Obgleich er guten Willens ist, scheinen sein Geist und seine Prophezeiungen offenkundiges Teufelswerk... Sie sind imstande, viele neugierige Menschen zu täuschen und der Kirche Gottes Unseres Herrn großen Schaden und Ärger zu verursachen.
Gutachten über Guillaume Postel, an Ignatius von Loyola geschickt von den Jesuiten-Patres Salmeron, Lhoost und Ugoletto am 10. Mai 1545
Entspannt erzählte uns Belbo, was er sich ausgedacht hatte, ohne uns seine Seiten vorzulegen und ohne alle privaten Bezüge. Ja, er ließ uns sogar glauben, Abulafia habe ihm die Kombinationen geliefert. Dass Francis Bacon der wahre Verfasser der Rosenkreuzer-Manifeste gewesen sei, hatte ich schon irgendwo einmal gelesen, aber eine Bemerkung überraschte mich: dass Bacon auch Viscount of Saint Albans war.
Etwas ging mir im Kopf herum, etwas im Zusammenhang mit meiner alten Dissertation. Die folgende Nacht verbrachte ich schlaflos über meinen Karteien.
»Meine Herren«, begrüßte ich am nächsten Morgen einigermaßen feierlich meine Komplizen, »wir können gar keine Zusammenhänge erfinden. Es gibt sie. Als Bernhard von Clairvaux die Idee eines Konzils lancierte, um die Templer zu legitimieren, war unter denen, die mit der Organisation der Sache beauftragt wurden, auch der Prior von Saint Albans, der unter anderem den Namen des ersten englischen Märtyrers trug, des Evangelisators der Britischen Inseln, und der stammte genau aus Verulam, dem Familiensitz Bacons! Sankt Alban, Kelte und zweifellos Druide, war ein Initiierter genau wie Sankt Bernhard.«
»Ist das alles?« fragte Belbo.
»Warten Sie ab. Dieser Prior von Sankt Alban war zugleich auch Abt von Saint-Martin-des-Champs, dem Kloster, in welchem später das Conservatoire des Arts et Metiers installiert werden sollte!«
Belbo fuhr hoch. »Donnerwetter!«
»Und damit nicht genug. Das Conservatoire war ausdrücklich als Hommage an Francis Bacon gedacht Am 25. Brumaire des Jahres III ermächtigte der Konvent sein Comité d'Instruction Publique zum Druck der gesammelten Werke von Bacon. Und am 19. Vendemiaire desselben Jahres verabschiedete derselbe Konvent ein Gesetz zum Bau eines Hauses der Künste und Handwerke, das die Idee jenes Salomonischen Hauses realisieren sollte, von dem Bacon in seiner Nova Atlantis spricht und das er als den Ort beschreibt, an dem alle technischen Erfindungen der Menschheit versammelt sein würden.«
»Na und?« fragte Diotallevi.
»Na, und im Conservatoire hängt doch das Pendel!« sagte Belbo. Und an der Reaktion von Diotallevi sah ich, dass Belbo ihm von seinen Reflexionen über das Foucaultsche Pendel erzählt haben musste.
»Langsam, langsam«, bremste ich. »Das Pendel ist erst im vorigen Jahrhundert erfunden und installiert worden. Lassen wir das lieber erst mal beiseite.«
»Das Pendel beiseite lassen?« fragte Belbo. »Haben Sie nie einen Blick auf die Hieroglyphische Monade von John Dee geworfen, den Talisman, der alle Weisheit des Universums in sich vereinigen sollte? Sieht der nicht aus wie ein Pendel?«
Monas Ieroglyphica
aus J. V. Andrae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz, Straßburg, Zentzner, 1616, p. 5
»Na schön«, sagte ich, »nehmen wir an, dass sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Fakten herstellen lässt Aber wie gelangt man von Sankt Alban zum Pendel?«
Ich wusste es nach wenigen Tagen.
»Also, der Prior von Saint Albans war Abt von Saint-Martin-des-Champs, das infolgedessen zu einem protempletischen Zentrum wurde. Bacon stellte über seinen Stammsitz einen Initiationskontakt zu den Druiden im Gefolge von Sankt Alban her. Und jetzt aufgepasst: Genau zu der Zeit, als Bacon seine Karriere in England beginnt, endet in Frankreich die von Guillaume Postel.«
(Ich bemerkte ein winziges Zucken in Belbos Gesicht und dachte an den Dialog auf der Vernissage von Riccardo: Postel erinnerte ihn an den, der ihm Lorenza entfremdet hatte. Doch es war nur ein kurzer Augenblick.)
»Postel lernt Hebräisch und versucht zu beweisen, dass es die gemeinsame Matrix aller Sprachen sei, er übersetzt den Sohar und den Bahir, er nimmt Kontakt zu den Kabbalisten auf, lanciert ein Projekt für den Weltfrieden ähnlich dem der Rosenkreuzer, sucht den König von Frankreich für ein Bündnis mit dem Sultan zu gewinnen, bereist Griechenland, Syrien und Kleinasien, lernt Arabisch — mit einem Wort, er reproduziert den Bildungsweg des Christian Rosencreutz. Und nicht zufällig unterzeichnet er einige seiner Werke mit dem Namen Rosispergius, ›Morgentau-Sprenger‹. Und Gassendi schreibt in seinem Examen Philosophiae Fluddanae, dass Rosencreutz nicht von rosa komme, sondern von ros, also Morgentau. In einem seiner Manuskripte spricht er von einem Geheimnis, das es zu hüten gelte, bis die Zeit gekommen sei, und sagt: ›Damit die Perlen nicht vor die Säue geworfen werden.‹ Und wissen Sie, wo dieses Bibelzitat wieder auftaucht? Auf dem Frontispiz der Chymischen Hochzeit. Und Pater Marinus Mersenne sagt, um den Rosenkreuzer Fludd anzuprangern, er sei vom selben Schlage wie der atheus magnus Guillaume Postel. Andererseits scheint es, dass Dee und Postel sich anno 1550 getroffen haben, und vielleicht wussten sie da noch gar nicht und sollten es erst dreißig Jahre später wissen, dass sie die beiden Großmeister waren, die sich dem Großen Plan zufolge anno 1584 treffen sollten... Nun erklärt aber Postel, hört, hört, dass der König von Frankreich in seiner Eigenschaft als direkter Nachfahre des ältesten Sohnes von Noah — also des Stammvaters der keltischen Sippe und somit der Druidenkultur — der einzige legitime Anwärter auf den Titel des Königs der Welt sei. Jawohl, des Königs der Welt von Agarttha, und das sagt Postel drei Jahrhunderte vor Saint-Yves d'Alveydre! Lassen wir auf sich beruhen, dass er sich in eine alte Vettel namens Johanna verliebte und sie als die göttliche Sophia betrachtete, der Gute hatte wohl in dem Punkt nicht alle richtig beisammen. Beachten wir aber, dass er mächtige Feinde hatte, die ihn als elenden Hund beschimpften, als schändliches Ungeheuer, als Kloake aller denkbaren Häresien, besessen von einer Legion Dämonen. Und trotzdem, ungeachtet des Skandals mit der Johanna, betrachtete ihn die Inquisition nicht als einen Häretiker, sondern nur als amens, sagen wir: ein bisschen plemplem. Mit anderen Worten, man wagt es nicht, den Mann zu vernichten, weil man weiß, dass er der Sprecher einer ziemlich mächtigen Gruppe ist. Speziell für Diotallevi weise ich darauf hin, dass Postel auch den Orient bereist hatte und ein Zeitgenosse von Isaak Luria war, ziehen Sie daraus die Ihnen passend erscheinenden Schlüsse. Tja, und 1564 (im selben Jahr, als Dee seine Monas Ieroglyphica schreibt) widerruft Postel seine Häresien und zieht sich zurück in — na, raten Sie mal, wohin? —, in das Kloster Saint-Martin-des-Champs! Und worauf wartet er dort? Offenkundig auf das Jahr 1584.«
»Offenkundig«, bestätigte Diotallevi.
»Eben. Und ist Ihnen klar, was das heißt? Postel war der Großmeister der französischen Gruppe, der auf das Treffen mit der englischen Gruppe wartete. Aber er starb 1581, drei Jahre vor dem Treffen. Woraus zweierlei folgt: erstens, zu dem Zwischenfall von 1584 ist es gekommen, weil im entscheidenden Moment ein scharfsinniger Kopf wie Postel gefehlt hat, der imstande gewesen wäre, die Sache mit der Kalenderkonfusion zu kapieren; und zweitens, Saint-Martin war ein Ort, wo die Templer seit jeher zu Hause waren und wohin sich der Mann zurückzog, der mit der Durchführung des dritten Treffens beauftragt war. Saint-Martin-des-Champs war das Refugium!«
»Alles fügt sich zusammen wie in einem Mosaik.«
»Nun folgen Sie mir noch ein Stück weiter. Zur Zeit des versäumten Treffens ist Bacon erst zwanzig Jahre alt. Aber 1621 wird er Viscount von Saint Albans. Was findet er in dem gerbten Besitz? Geheimnis. Tatsache ist, dass er genau in dem Jahr der Korruption beschuldigt wird und für einige Zeit ins Gefängnis muß. Bacon hat etwas gefunden, das jemandem angst macht. Wem? Nun, sicher hat Bacon zu jener Zeit begriffen, dass Saint-Martin kontrolliert werden muß, und fasst die Idee, dort sein Salomonisches Haus zu errichten, das Laboratorium, das ihm erlauben soll, auf experimentellem Weg das Geheimnis zu lüften.«
»Aber was«, fragte Diotallevi, »wäre dann das Bindeglied zwischen den Erben Bacons und den revolutionären Gruppen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts?«
»Vielleicht die Freimaurerei?« meinte Belbo.
»Glänzende Idee. Im Grunde hatte Agliè sie uns schon an dem Abend im Schloss suggeriert.«
»Man müsste die Ereignisse rekonstruieren. Was genau ist damals in jenen Kreisen geschehen?«
75
Dem ewigen Schlaf... würden somit nur jene entrinnen, die es schon im Leben verstanden haben, ihr Bewußtsein auf höhere Formen auszurichten. Die Initiierten, die Adepten, stehen an der Grenze eines solchen Weges. Nachdem sie zur Erinnerung gelangt sind, zur Anamnesis nach den Begriffen Plutarchs, werden sie frei, gehen ohne Fesseln, zelebrieren gekrönt die »Mysterien« und sehen auf der Erde die Menge derer, die nicht initiiert und nicht »rein« sind, einander zertreten und in den Schlamm und die Finsternis stoßen.
Julius Evola, La tradizione ermetica, Rom, Edizioni Mediterranee, 1971, p. lll
In schöner Selbstsicherheit bewarb ich mich für eine rasche und präzise Recherche. Hätte ich sie nur nicht versprochen! Ich versank in einem Wust von Büchern, einem Morast, der historische Studien neben hermetischen Fantastereien enthielt, ohne daß es immer leicht war, die zuverlässigen Nachrichten von den gefaselten zu unterscheiden. Eine Woche lang ackerte ich wie ein Automat, und am Ende beschränkte ich mich darauf, eine krude, fast unverständliche Liste von Sekten, Logen und Geheimbünden anzulegen. Nicht ohne dabei immer wieder zusammenzuzucken, wenn ich auf bekannte Namen stieß, die ich nie in dieser Gesellschaft erwartet hätte, und auf chronologische Koinzidenzen, die mir bemerkenswert erschienen. Ich zeigte das Dokument meinen beiden Komplizen.
1645 London: Aschmole gründet, rosenkreuzerisch beeinflusst, das Invisible College. 1662 Aus dem Invisible College geht die Royal Society hervor und aus dieser, wie jeder weiß, die Freimaurerei. 1666 Paris: Académie des Sciences. 1707 Geburt von Claude-Louis de Saint-Germain, wenn er wirklich geboren wurde. 1717 Gründung der Londoner Großloge. 1721 Anderson verfasst die »Konstitutionen« der englischen Freimaurerei. Peter der Große, in London initiiert, gründet eine Loge in Russland. 1730 Montesquieu, zu Besuch in London, wird initiiert. 1737 Ramsay behauptet in seinem Discours, daß die Freimaurer von den Templern abstammten. Dies ist der Ursprung des »schottischen«, d. h. neutemplerischen Ritus, der fortan im Kampf mit der Londoner Großloge liegen wird. 1738 Friedrich II., damals noch Kronprinz von Preußen, lässt sich initiieren. Als Friedrich der Große wird er zum Beschützer der Enzyklopädisten. 1740 In Frankreich entstehen diverse »schottische« Logen: die Écossais Fidèles in Toulouse, der Souverain Conseil Sublime, die Mère Loge Écossaise du Grand Globe Français,, das Collège des Sublimes Princes du Royal Secret in Bordeaux, die Cour des Souverains Commandeurs du Temple in Carcassonne, die Philadelphes in Narbonne, das Chapitre des Rose-Croix in Montpellier, die Sublimes Élus de la Vérité... 1743 Erster öffentlicher Auftritt des Grafen von Saint-Germain. In Lyon entsteht der Grad des Ritters Kadosch, des Rächers der Templer. 1753 Willermoz gründet die Loge de la Parfaite Amitié. 1754 Martines de Pasqually gründet den Temple des Élus Cohens (nach anderen Quellen erst 1760). 1756 Baron von Hund gründet den templerischen Orden der Strikten Observanz. Manche sagen, auf Anregung Friedrichs des Großen. Zum ersten Mal ist die Rede von den Unbekannten Oberen. Jemand insinuiert, die Unbekannten Oberen seien Friedrich und Voltaire. 1758 Saint-Germain erscheint in Paris und bietet dem König seine Dienste als Chemiker und Tinkturen-Experte an. Er verkehrt im Salon der Pompadour. 1759 Bildung eines Souverain Conseil des Empereurs d’Orient et d’Occident, der drei Jahre später die Constitutions et Règlement de Bordeaux verfaßt, woraus der Alte und Angenommene Schottische Ritus hervorgegangen sein soll (der aber offiziell erst 1801 auftritt). Kennzeichnend für den Schottischen Ritus wird die Multiplikation der Hochgrade bis zu dreiunddreißig. 1760 Saint-Germain in undurchsichtiger diplomatischer Mission in Holland. Muss fliehen, wird in London verhaftet und wieder freigelassen. Dom Joseph Pernety gründet die Illuminés d'Avignon. Martines de Pasqually gründet die Chevaliers Maçons Élus de l’Univers. 1762 Saint-Germain in Russland. 1763 Casanova begegnet Saint-Germain in Belgien: der Graf lässt sich de Surmont nennen und verwandelt eine Münze in Gold. Willermoz gründet das Souverain Chapitre des Chevaliers de l'Aigle Noire Rose-Croix. 1768 Willermoz schließt sich den Élus Cohens von Pasqually an. In Jerusalem erscheinen apokryph Les plus secrets Mystères des hauts grades de la magonnerie dévoilée, ou le vrai Rose-Croix; darin heißt es, die Loge der Rosenkreuzer befinde sich auf dem Berg Heredon, sechzig Meilen von Edinburgh entfernt Pasqually begegnet Louis-Claude de Saint Martin, später bekannt als Philosophe Inconnu. Dom Pernety wird Bibliothekar des Königs von Preußen. 1771 Der Herzog von Chartres, später bekannt als Philippe Egalité, wird Großmeister des Grand Orient, später Grand Orient de France, und bemüht sich um die Vereinigung aller Logen. Widerstand seitens der Logen des Schottischen Ritus. 1772 Pasqually reist ab nach Santo Domingo. Willermoz und Saint Martin gründen ein Tribunal Souverain, aus dem später die Grande Loge Écossaise wird. 1774 Saint Martin zieht sich zurück, um Philosophe Inconnu zu werden. Ein Delegierter der Strikten Observanz verhandelt mit Willermoz. Ergebnis ist ein Schottisches Direktorium der Provinz von Auvergne. Daraus entsteht später der Rektifizierte Schottische Ritus. 1776 Saint-Germain, unter dem Namen Graf Welldone, erscheint in Potsdam und legt Friedrich dem Großen chemische Projekte vor. Bildung einer Société des Philalèthes zwecks Vereinigung aller Hermetiker. Bildung der Loge Neuf Soeurs in Paris: Mitglieder werden Guillotin und Cabanis, Voltaire und Franklin. Weishaupt gründet den Orden der Illuminaten in Bayern. Nach einigen Quellen war sein Initiator ein dänischer Kaufmann namens Kölmer, der aus Ägypten zurückkam und der mysteriöse Altotas gewesen sein soll, der Lehrer Cagliostros. 1778 Saint-Germain trifft sich in Berlin mit Dom Pernety. Willermoz gründet den Orden der Chevaliers Bienfaisants de la Cité Sainte. Die Strikte Observanz einigt sich mit dem Grand Orient auf die Anerkennung des Rektifizierten Schottischen Ritus. 1782 Großer Konvent aller Schottischen Maurerlogen in Wilhelmsbad, Ende der Strikten Observanz. 1783 Marquis Thomé gründet den Ritus von Swedenborg. 1784 Saint-Germain stirbt angeblich auf Schloss Gottorp in Schleswig beim Landgrafen Carl von Hessen-Kassel, während er für diesen eine Farbenfabrik errichtet. 1785 Cagliostro gründet den Ägyptischen Ritus, aus dem dann der Alte und Primitive Ritus von Memphis-Misraim wird, der die Zahl der Hochgrade bis auf neunzig erhöht. Aufdeckung der (angeblich von Cagliostro manipulierten) Halsbandaffäre der Marie-Antoinette. Dumas beschreibt sie als ein freimaurerisches Komplott zur Diskreditierung der Monarchie. Verbot und Verfolgung des Illuminaten-Ordens in Bayern wegen revolutionären Verschwörung. 1786 Mirabeau wird von den Illuminaten in Berlin initiiert. In London erscheint ein rosenkreuzerisches Manifest, das Cagliostro verfasst haben soll. Mirabeau schreibt einen Brief an Cagliostro und an Lavater. 1787 In Frankreich gibt es mittlerweile rund siebenhundert Logen. Es erscheint der Nachtrag von Weishaupt, der den Aufbau einer Geheimorganisation beschreibt, in der jedes Mitglied nur seinen unmittelbaren Vorgesetzten kennt. 1789 Beginn der Französischen Revolution. Krise der Logen in Frankreich. 1794 Am 8. Vendémiaire präsentiert der Abgeordnete Grégoire dem Konvent das Projekt eines Conservatoire des Arts et Métiers. Das Museum wird 1799 vom Rat der Fünfhundert in dem ehemaligen Kloster Saint-Martin-des-Champs eingerichtet. Der Herzog von Braunschweig appelliert an die Logen, sich freiwillig aufzulösen: eine giftige subversive Sekte habe sie allesamt infiziert und verdorben. 1798 Verhaftung Cagliostros in Rom. 1801 In Charleston, South Carolina, öffentliche Bekanntgabe der Gründung eines Ancient and Accepted Scottish Rite mit 33 Hochgraden. 1824 Note des Wiener Hofes an die französische Regierung, betreffend die Warnung vor italienischen Geheimbünden wie den Carbonari. 1845 Der Kabbalist F. C. Geringer behauptet, er habe Saint-Germain in Paris getroffen. 1846 Der Wiener Schriftsteller Franz Graffer publiziert den Bericht einer Begegnung seines Bruders mit Saint-Germain zwischen 1788 und 1790; Saint-Germain habe den Besucher empfangen, während er in einem Buch von Paracelsus blätterte. 1865 Gründung der Societas Rosicruciana in Anglia (nach anderen Quellen 1860 oder 1867). Mitglied wird Edgar Bulwer-Lytton, Autor des rosenkreuzerischen Romans Zanoni. 1868 Bakunin gründet die Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie, angeblich inspiriert von den bayerischen Illuminaten. 1875 Helena Petrovna Blavatsky gründet in London die Theosophische Gesellschaft. Zwei Jahre später erscheint ihre Isis Unveiled. Baron Spedalieri bekennt sich als Mitglied einer Großloge der Einsamen Brüder vom Berge, als Erleuchteter Bruder des Alten und Restaurierten Ordens der Manichäer sowie als Hoher Erleuchteter der Martinisten. 1877 Madame Blavatsky spricht von der theosophischen Rolle des Grafen von Saint-Germain: Zu seinen Inkarnationen gehörten angeblich Roger und Francis Bacon, Christian Rosencreutz, Proklos und Sankt Alban. Der Grand Orient de France schafft die Anrufung des Allmächtigen Baumeisters aller Welten ab und proklamiert die absolute Gewissensfreiheit. Er bricht alle Kontakte mit der Großloge von England ab und wird dezidiert laizistisch und radikal-liberal. 1879 Gründung der amerikanischen Societas Rosicruciana. 1880 Beginn der Aktivitäten von Saint-Yves d'Alveydre. Leopold Engel reorganisiert die bayerischen Illuminaten. 1884 Papst Leo XIII. verurteilt die Freimauererei in seiner Enzyklika Humanum Genus. Die Katholiken verlassen sie, die Rationalisten strömen in Massen hinein. 1888 Stanislas de Guaita gründet in Frankreich den Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix. In England Gründung des Hermetic Order of the Golden Dawn mit elf Graden, vom Neophyten bis zum Ipsissimus. »Imperator« ist McGregor Mathers. Dessen Schwester heiratet Bergson. 1890 Joséphin Péladan trennt sich von Guaita, gründet den Ordre de la Rose+Croix Catholique du Temple et du Graal und proklamiert sich zum Sâr Mérodak. Der Streit zwischen den Rosenkreuzem von Guaita und denen von Peladan wird später »Krieg der zwei Rosen« genannt. 1898 Aleister Crowley wird in den Golden Dawn aufgenommen. Anschließend gründet er auf eigene Rechnung den Orden von Thelema. 1905 Papus prophezeit dem Zaren in St. Petersburg die Oktoberrevolution. 1907 Aus dem Golden Dawn geht die Stella Matutina hervor, der Yeats sich anschließt. 1909 Spencer Lewis »erweckt« in Amerika den Anticus Mysticus Ordo Rosae Crucis; 1916 demonstriert er in einem Hotel mit Erfolg die Umwandlung eines Stückes Zink in Gold. Max Heindel gründet die Rosicrucian Fellowship. Mit ungesicherten Gründungsdaten folgen das Lectorium Rosicrucianum, die Frères Aînés de la Rose-Croix, die Fraternitas Hermetica und der Templum Rosae-Crucis. 1912 Annie Besant, Schülerin der Blavatsky, gründet in London den Orden vom Tempel des Rosenkreuzes. 1918 In Deutschland entsteht die Thule-Gesellschaft. 1936 In Frankreich Gründung des Prieuré des Gaules. Enrico Contardi di Rhodio spricht in den Cahiers de la fraternité polaire von einem Besuch, den ihm der Graf von Saint-Germain gemacht habe. »Was bedeutet das alles?« fragte Diotallevi.
»Fragen Sie das nicht mich. Sie wollten Daten und Fakten. Hier sind sie. Mehr weiß ich nicht.«
»Wir werden Agliè fragen müssen. Ich möchte wetten, daß nicht einmal er alle diese Organisationen kennt.«
»Na hören Sie, das ist doch sein täglich Brot. Aber wir könnten ihn ja mal auf die Probe stellen. Fügen wir doch eine nicht existierende Sekte hinzu. Eine kürzlich gegründete.«
Mir fiel die seltsame Frage von De Angelis ein, die er mir am Ende unseres letzten Gesprächs gestellt hatte: Ob ich schon einmal von einer Gruppe namens Tres gehört hätte. Und so sagte ich: »Tres.«
»Was ist das?« fragte Belbo.
»Wenn es ein Akrostichon ist, muß sich darunter ein Text verbergen«, meinte Diotallevi. »Sonst hätten meine Rabbiner nicht das Notarikon praktizieren können. Schauen wir mal... Templi Resurgentes Equites Synarchici. Wie klingt das?«
Der Name gefiel uns, und so setzten wir ihn ans Ende der Liste.
»Nach all diesen Geheimbünden war es gar nicht so leicht, noch einen weiteren zu erfinden«, sagte Diotallevi in einem Anfall von Eitelkeit.
76
Wollte man den dominanten Charakter der französischen Freimaurerei des 18. Jahrhunderts mit einem Wort definieren, so würde nur ein einziges passen: Dilettantismus.
René Le Forestier, La Franc-Maçonnerie Texplière et Occultiste aux XVIIIe et XIXe siècle, Paris, Aubier, 1970, 2
Am nächsten Abend luden wir Agliè zu Pilade ein. Obwohl die neuen Kunden der Bar zu Jackett und Schlips zurückgekehrt waren, die Anwesenheit unseres Gastes, mit seinem dunkelblauen Nadelstreifenanzug und seinem schneeweißen Hemd, die Krawatte mit einer goldenen Nadel festgesteckt, erregte doch einiges Aufsehen. Zum Glück war es bei Pilade um sechs Uhr abends noch ziemlich leer.
Agliè verwirrte Pilade mit der Bestellung eines französischen Marken-Cognacs. Natürlich gab es ihn, aber er thronte hoch oben auf dem Bord hinter dem Zinktresen, ungeöffnet vielleicht seit Jahren.
Während er sprach, betrachtete Agliè das Getränk in seinem Glas gegen das Licht um es dann mit den Händen zu wärmen, wobei er aus seinen Ärmeln goldene Manschettenknöpfe in vage ägyptischem Stil aufblitzen ließ.
Wir zeigten ihm unsere Liste und sagten, wir hätten sie aus den Manuskripten der Diaboliker zusammengestellt.
»Dass die Templer mit den traditionellen Dombauhütten zusammenhingen«, begann er, »das heißt mit den Logen der Steinmetzen, die sich auf den Bau des Salomonischen Tempels zurückführten, ist sicher. So sicher, wie dass sich diese Logenbrüder auf Hiram beriefen, den Architekten des Tempels, der einem mysteriösen Mord zum Opfer gefallen war, weshalb sie ihn zu rächen gelobten. Nach der Verfolgung durch Philipp den Schönen sind gewiss viele Tempelritter in jene Bauhandwerkerbünde geströmt, um den Mythos der Rache für Hiram mit dem der Rache für Jacques de Molay zu verschmelzen. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gab es in London noch echte Bauhütten, sogenannte operative oder Werklogen, doch allmählich kamen, angelockt von ihren traditionellen Riten, immer mehr gelangweilte, wenngleich hoch geachtete Aristokraten hinzu, und so verwandelte sich die operative oder Werkmaurerei, die eine Angelegenheit echter Maurer gewesen war, in die spekulative Maurerei, die eine Geschichte symbolischer Maurer wurde. Angeregt vom ersten Großmeister der Englischen Großloge, John Theophilus Desaguliers, einem Freund Newtons, verfasste der protestantische Pastor Anderson die Constitutions für eine Loge von Maurerbrüdern im Geist des Deismus und begann, von den Maurerbrüderschaften als von viertausend Jahre alten Zünften zu sprechen, die auf die Erbauer des Salomonischen Tempels zurückgingen. Dies sind die Gründe für den freimaurerischen Mummenschanz mit Schürze, Winkelmaß, Zirkel und Hammer. Doch vielleicht gerade deshalb wurde die Freimaurerei nun Mode, attraktiv für die Adligen wegen der Stammbäume, die sie durchblicken ließ, aber mehr noch für die Bürger, denen sie nicht nur erlaubte, von gleich zu gleich mit den Adligen zu verkehren, sondern auch den Degen zu tragen. Elend der entstehenden modernen Welt: die Adligen brauchen ein Milieu, in dem sie sich mit den neuen Kapitalproduzenten treffen können, und diese — wen wundert's? — suchen dringend nach einer Legitimation.«
»Aber die Templer kamen doch, scheint's, erst später ins Spiel.«
»Der erste, der einen direkten Zusammenhang mit den Templern herstellte, war Ramsay, von dem ich jedoch lieber nicht sprechen möchte. Ich fürchte, er war von den Jesuiten inspiriert. Aus seiner Predigt ging dann die schottische Abart der Freimaurerei hervor.«
»Schottisch in welchem Sinne?«
»Der schottische Ritus ist eine deutsch-französische Erfindung. Die Londoner Großloge hatte drei Initiationsgrade: Lehrling, Geselle und Meister. Die schottische Freimaurerei vervielfachte diese Grade, denn viele Grade bedeuteten viele Stufen der Initiation und des Geheimnisses... Die Franzosen mit ihrer angebotenen Eitelkeit haben es dann auf die Spitze getrieben... «
»Aber was war denn da für ein Geheimnis?« »Keins natürlich. Hätte es ein Geheimnis gegeben oder hätten sie es besessen, so hätte seine Komplexität die Komplexität der Initiationsgrade schon gerechtfertigt. Doch Ramsay multiplizierte die Grade, um glauben zu machen, dass er ein Geheimnis besitze. Und wir können uns vorstellen, wie die braven Kaufleute bebten bei dem Gedanken, sie könnten endlich die Fürsten der Rache werden... «
Agliè geizte nicht mit Freimaurerklatsch. Und beim Reden ging er, wie es seine Art war, allmählich zur ersten Person über. »Zu jener Zeit schrieb man in Frankreich bereits couplets über die neue Mode der Frimaçons, die Logen wucherten allenthalben, in ihnen zirkulierten Bischöfe, Mönche, Grafen und Krämer, und die Mitglieder des Königshauses wurden Großmeister. In den neutemplerischen Logen der Strikten Observanz dieses dubiosen Herrn von Hund waren Leute wie Goethe, Lessing, Mozart, Voltaire, es entstanden Logen im Militär, in den Regimentern bildeten sich Verschwörungen, um Hiram zu rächen, und man diskutierte über die bevorstehende Revolution. Für die andern war die Freimaurerei einfach eine société de plaisir, ein Club, ein Statussymbol. Da fand sich alles zusammen, Cagliostro, Mesmer, Casanova, Baron d'Holbach, d'Alembert... Aufklärer und Alchimisten, Libertins und Hermetiker. Und man sah's ja beim Ausbruch der Revolution, als die Mitglieder ein und derselben Loge sich plötzlich geteilt fanden und es schien, als trete die große Brüderschaft ein für allemal in die Krise... «
»Gab es da nicht einen Gegensatz zwischen Großem Orient und Schottischer Loge?«
»In Worten, ja. Ein Beispiel: In die Philosophenloge der Neuf Soeurs war auch Benjamin Franklin eingetreten, dem es natürlich um ihre laizistische Umwandlung ging — ihn interessierte nur die Unterstützung der amerikanischen Revolution —, aber zur selben Zeit war einer der Großmeister jener Graf von Milly, der nach einem Elixier für langes Leben suchte. Da er ein Idiot war, vergiftete er sich bei seinen Experimenten und starb. Oder denken Sie an Cagliostro: einerseits erfand er ägyptische Riten, andererseits war er in die Affäre mit dem Halsband der Königin involviert, also in einen Skandal, den die neuen bürgerlichen Schichten betrieben hatten, um das Ancien Regime zu diskreditieren. Jawohl, auch Cagliostro hatte die Finger mit drin, verstehen Sie? Versuchen Sie sich nur mal vorzustellen, mit was für Leuten man damals zusammenleben musste...«
»Muss hart gewesen sein«, sagte Belbo verständnisvoll.
»Aber was für Leute«, fragte ich, »waren diese Barone von Hund, die nach den Unbekannten Oberen suchten... «
»An den Rändern der bürgerlichen Farce waren Gruppen mit ganz anderen Zielen entstanden, die sich, um Anhänger zu gewinnen, notfalls auch mit den Freimaurerlogen zusammentaten, aber auf Höheres aus waren. An diesem Punkt kam es zur Diskussion über die Unbekannten Oberen. Leider jedoch war der Baron von Hund kein seriöser Mensch. Zuerst ließ er seine Adepten glauben, die Unbekannten Oberen seien die Stuarts. Dann erklärte er, Ziel seines Ordens sei die Wiedergewinnung der ursprünglichen Templergüter, und sammelte Gelder, wo er sie kriegen konnte. Da er nicht genug zusammenbekam, fiel er einem gewissen Starck in die Hände, der behauptete, er habe das Geheimnis der Goldfabrikation von den wahren Unbekannten Oberen erfahren, die in Petersburg säßen. Daraufhin scharten sich um von Hund und Starck allerlei Theosophen, Alchimisten, Gold- und Rosenkreuzer der letzten Stunde, und alle gemeinsam wählten als ihren Großmeister einen höchst integren Aristokraten, den Herzog Ferdinand von Braunschweig. Der freilich sofort begriff, in was für eine schlechte Gesellschaft er da geraten war. Ein anderes Mitglied der Strikten Observanz, der Landgraf Carl von Hessen-Kassel, rief den Grafen von Saint-Germain an seinen Hof, im Glauben, dieser Edelmann könne ihm Gold machen — und was wollen Sie, damals musste man sich den Launen der Herrschenden fügen... Doch jener Fürst hielt sich obendrein noch für Sankt Petrus. Ich versichere Ihnen, einmal musste der gute Lavater, als er bei dem Landgrafen zu Gast war, der Herzogin von Devonshire eine Szene machen, weil sie sich für Maria Magdalena hielt... «
»Aber all diese Willermoz und Martines de Pasqually, die eine Sekte nach der anderen gründeten... «
»Pasqually war ein Abenteurer. Er vollführte Geisterbeschwörungen in einer geheimen Kammer, die Engel erschienen ihm in Gestalt von Leuchtspuren und hieroglyphischen Zeichen. Willermoz hatte ihn ernst genommen, da er ein Enthusiast war, ehrlich, aber naiv. Er war fasziniert von der Alchimie, er dachte an das Große Werk, dem die Auserwählten sich widmen müssten, um den Verbindungspunkt der sechs edlen Metalle zu finden durch Erforschung der Maße in den sechs Lettern des ersten Namens Gottes, den Salomo seinen Erwählten kundgetan hatte.«
»Und weiter?«
»Willermoz gründete viele Obedienzen und trat in viele Logen gleichzeitig ein, wie es damals üblich war, stets auf der Suche nach einer definitiven Enthüllung und stets in der Furcht, sie könnte sich immer woanders ereignen, wie es in Wahrheit ja auch geschah — und dies ist vielleicht die einzige Wahrheit... So schloss er sich den Elus Cohens von Pasqually an. Doch 1872 verschwand Pasqually, fuhr übers Meer nach Santo Domingo und ließ alles im Stich. Wieso verdrückte er sich? Ich habe den Verdacht, dass er in den Besitz eines Geheimnisses gelangt war, das er mit niemandem teilen wollte. Jedenfalls verschwand er dann in Übersee so obskur, wie er's verdient hatte, Friede seiner Seele... «
»Und Willermoz?«
»In jenen Jahren waren alle erschüttert vom Tod Swedenborgs, eines Mannes, der den kranken Okzident vieles hätte lehren können, wenn der Okzident ihm Gehör geschenkt hätte, doch inzwischen verrannte sich das Jahrhundert immer mehr in den Wahn der Revolution, um die Ambitionen des Dritten Standes zu befriedigen... Nun, und genau in jenen Jahren hörte Willermoz von der Strikten Observanz des Möchtegerntemplers von Hund und war fasziniert. Es war ihm gesagt worden, dass ein Templer, der sich öffentlich als solcher erklärt, indem er eine öffentliche Templervereinigung gründet, kein Templer ist, aber das achtzehnte Jahrhundert war eine Epoche großer Gläubigkeit. Kurz, Willermoz probierte zusammen mit von Hund die verschiedenen Bündnisse durch, die hier auf Ihrer Liste stehen, bis der saubere Herr von Hund demaskiert wurde — ich meine, bis sich herausstellte, dass er einer von jenen Leuten war, die mit der Kasse durchbrennen — und ihn der Herzog von Braunschweig aus der Vereinigung ausschloss.«
Agliè warf einen weiteren Blick auf unsere Liste: »Ah ja, der gute Weishaupt, den hatte ich ganz vergessen. Die bayerischen llluminaten zogen anfangs mit ihrem schönen Namen viele edelgesinnte Geister an. Aber dieser Weishaupt war ein Anarchist, heute würden wir sagen, ein Kommunist, und wenn Sie wüssten, worüber man in jenen Kreisen damals schwadronierte — Staatsstreiche, Absetzung von Souveränen, Blutbäder... Wohlgemerkt, ich habe Weishaupt sehr bewundert, aber nicht wegen seiner Ideen, sondern wegen seiner sehr klaren Vorstellung von der Funktionsweise einer Geheimgesellschaft. Aber man kann glänzende organisatorische Ideen und sehr konfuse Ziele haben. Mit einem Wort, der Herzog von Braunschweig sah sich plötzlich gezwungen, die Konfusion zu verwalten, die der Baron von Hund hinterlassen hatte, und begriff, dass es in der deutschen Freimaurerei nun mindestens drei einander bekämpfende Strömungen gab: die esoterisch-okkultistische, inklusive einiger Rosenkreuzer, die rationalistisch-aufklärerische und die anarchisch-revolutionäre der llluminaten. So schlug er den verschiedenen Logen vor, sich in Wilhelmsbad bei Hanau zu einem ›Konvent‹ zu treffen, wie man das damals nannte, wir könnten auch sagen: zu einer Versammlung der freimaurerischen Generalstände. Folgende Fragen sollten beantwortet werden: Entspringt der Orden wirklich einer uralten Initiationsgemeinschaft und wenn ja, welcher? Gibt es wirklich Unbekannte Obere, Wächter der uralten Überlieferung, und wenn ja, wer sind sie? Was ist das wahre Ziel des Ordens? Ist sein Endziel die Wiederherstellung des Ordens der Templerritter? Und so weiter, bis hin zu der Frage, ob sich der Orden mit Geheimwissenschaften beschäftigen sollte. Willermoz machte begeistert mit, endlich sollte er Antworten auf die Fragen bekommen, die er sich sein Leben lang inbrünstig gestellt hatte... Und dann kam der Fall de Maistre.«
»Welcher de Maistre?« fragte ich. »Joseph oder Xavier?«
»Joseph.«
»Der Reaktionär?«
»Nun, wenn er Reaktionär war, war er's nicht gründlich genug. Er war neugierig. Bedenken Sie, dass dieser treue Sohn der katholischen Kirche genau in dem Moment, als die Päpste anfingen, Bullen gegen die Freimaurer zu erlassen, in eine Loge eintrat, unter dem Namen Josephus a Floribus. Ja, er näherte sich den Freimaurern bereits 1773, als ein päpstliches Schreiben die Jesuiten verurteilte. Natürlich näherte sich ein Mann wie de Maistre den Logen vom Schottischen Ritus, das ist klar, er war kein bürgerlicher Illuminist im Sinne der Aufklärung, sondern ein Illuminé — und bitte beachten Sie den Unterschied, denn die Italiener nennen die Jacobiner Illuministen, während man in anderen Ländern mit demselben Ausdruck die Anhänger der Tradition bezeichnet, es ist schon wirklich ein kurioses Durcheinander... «
Agliè nippte an seinem Cognac, zog ein Etui aus fast weißem Metall hervor, entnahm ihm Cigarillos von ungewöhnlicher Form (»Die beziehe ich direkt aus London«, sagte er, »von derselben Firma wie die Zigarren, die Sie neulich bei mir zu Hause probiert haben. Bitte, bedienen Sie sich, die sind ganz vorzüglich...«) und blickte versonnen in die Ferne, während er weitersprach.
»Tja, de Maistre... Ein Mann von exquisiten Manieren, ihm zuzuhören war ein Genuss. Und er hatte sich große Autorität in den Kreisen der Eingeweihten erworben. Jedoch in Wilhelmsbad enttäuschte er die Erwartungen aller. Er schickte einen Brief an den Herzog, worin er die templerische Herkunft der Freimaurerei entschieden verneinte, desgleichen die Existenz der Unbekannten Oberen und die Nützlichkeit der esoterischen Wissenschaften. Er tat das aus Treue zur katholischen Kirche, aber mit Argumenten der bürgerlichen Aufklärung. Als der Herzog den Brief im Kreise Vertrauter vorlas, wollte es keiner glauben. Weiter erklärte de Maistre, der Zweck des Ordens sei lediglich eine spirituelle Läuterung und die traditionellen Zeremonien und Riten dienten einzig dazu, den mystischen Geist wachzuhalten. Er lobte die neuen Symbole der Freimaurerei, behauptete aber, ein Bild, das mehrere Dinge zugleich darstelle, stelle gar nichts mehr dar. Was nun freilich entschuldigen Sie — ganz eindeutig im Widerspruch zur gesamten hermetischen Tradition steht, denn ein Symbol ist um so machtvoller und bedeutsamer, je vieldeutiger und flüchtiger es ist, was würde sonst aus dem Geiste des Hermes, des Gottes mit den tausend Gesichtern? Was die Templer betraf, so sagte de Maistre bündig, ihr Orden sei im Geiste der Habsucht gegründet und von der Habsucht zerstört worden, das sei alles. Der Savoyarde konnte nicht vergessen, dass der Orden mit Billigung des Papstes zerschlagen worden war. Nie darf man sich auf die katholischen Legitimisten verlassen, so glühend ihre hermetische Neigung auch sein mag. Auch seine Antwort auf die Frage nach den Unbekannten Oberen war lächerlich: Es gebe sie nicht, und der Beweis dafür sei, dass wir sie nicht kennten. Worauf ihm erwidert wurde, gewiss kennten wir sie nicht, sonst wären sie ja keine Unbekannten, und sagen Sie selbst, ob Ihnen seine Art zu argumentieren besonders logisch erscheint. Seltsam, dass ein Gläubiger seines Schlages so wenig Sinn für das Geheimnis hatte. Nach all diesen Ausführungen formulierte de Maistre seinen Schlussappell: Kehren wir zum Evangelium zurück, und lassen wir die Narreteien von Memphis! Womit er nur die altbekannte Linie der Kirche vertrat. Begreifen Sie nun, in welchem Klima sich das Wilhelmsbader Treffen vollzog? Nach dem Abfall einer Autorität wie de Maistre sah sich Willermoz in der Minderheit und konnte allenfalls noch einen Kompromiss erzielen. Der templerische Ritus wurde zwar beibehalten, aber jede Aussage über die Herkunft wurde vertagt, im ganzen also ein Fehlschlag. Auf jenem Konvent verlor das Schottentum seine Chance. Wären die Dinge anders gelaufen, hätte sich die Geschichte des Jahrhunderts vielleicht ganz anders entwickelt.«
»Und danach?« fragte ich. »Hat man nichts wieder zusammenflicken können?«
»Was gab es denn da noch zusammenzuflicken, um Ihre Terminologie zu benutzen... Drei Jahre später lag ein gewisser Lanz, ein Pfarrer, der sich dem Illuminatenorden angeschlossen hatte, vom Blitz erschlagen bei Regensburg in einem Wald. Man fand bei ihm Instruktionen des Ordens, die bayerische Regierung griff ein, man entdeckte, dass Weishaupt ein Komplott gegen die Regierung schmiedete, und im Jahr darauf wurde der Orden verboten. Und nicht nur das, man publizierte auch Schriften von Weishaupt, Schriften mit den angeblichen Projekten der Illuminaten, die das ganze deutsche und französische Neutemplertum für ein Jahrhundert diskreditierten... Beachten Sie, dass Weishaupts Illuminaten höchstwahrscheinlich auf Seiten der jakobinischen Freimaurer standen und sich in die neutemplerische Strömung eingeschleust hatten, um sie zu zerstören. Es war gewiss kein Zufall, dass jener böse Geist den Grafen Mirabeau, den Tribun der Revolution, auf seine Seite gezogen hatte. Darf ich Ihnen etwas im Vertrauen sagen?«
»Bitte.«
»Männer wie ich, die daran interessiert sind, die Fäden einer verlorenen Überlieferung wieder zusammenzuknüpfen, stehen verwirrt vor einem Ereignis wie dem Konvent zu Wilhelmsbad. Jemand muß da alles erraten, aber geschwiegen haben, jemand hat da Bescheid gewusst und gelogen. Und danach war's zu spät, erst das revolutionäre Durcheinander, dann die klaffende Meute der Okkultisten... Schauen Sie sich Ihre Liste an, eine Kirmes der Gutgläubigkeit und der Betrügerei, Intrigen, gegenseitige Exkommunikationen, Geheimnisse, die in aller Munde sind. Das Theater des Okkultismus.«
»Sie meinen, die Okkultisten sind nicht sehr vertrauenswürdig?« fragte Belbo.
»Sie müssen den Okkultismus von der Esoterik unterscheiden. Die Esoterik ist die Suche nach einem Wissen, das sich nur durch Symbole tradiert, die für Nichteingeweihte versiegelt sind. Der Okkultismus hingegen, der sich im neunzehnten Jahrhundert ausbreitet, ist nur die Spitze des Eisbergs, das wenige, was vom esoterischen Geheimnis auftaucht. Die Templer waren Initiierte, und der Beweis dafür ist, dass sie, als sie gefoltert wurden, lieber starben, als ihr Geheimnis preiszugeben. Die Kraft, mit welcher sie es verbargen, macht uns ihrer Initiation gewiss und erfüllt uns mit Sehnsucht nach dem, was sie wussten. Der Okkultist hingegen ist ein Exhibitionist, und wie Péladan sagte, ein aufgedecktes Initiationsgeheimnis ist zu nichts mehr nütze. Leider war Péladan kein Initiierter, sondern bloß ein Okkultist. Das neunzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der Angeberei. Alle bemühen sich unentwegt, irgendwelche Geheimnisse aufzudecken — die Geheimnisse der Magie, der Theurgie, der Kabbala, der Tarotkarten. Und womöglich glauben sie auch noch daran... «
Agliè überflog den Rest unserer Liste, nicht ohne da und dort mitleidig zu lächeln. »Die arme Helena Petrowna. Eine brave Frau im Grunde, aber sie hat nichts gesagt, was nicht schon auf allen Mauern geschrieben stand... De Guaita, ein süchtiger Bibliomane. Papus, na wohl bekomm's... «
Dann stutzte er plötzlich.
»Tres... Woher haben Sie das? Aus welchem Manuskript?«
Bravo, dachte ich, er hat den Zusatz bemerkt. Wir blieben vage: »Ach wissen Sie«, sagte ich, »die Liste ist beim Durchblättern verschiedener Texte zusammengestellt worden, und das meiste haben wir wieder gestrichen, weil's wirklich Unsinn war. Wissen Sie noch, woher dieses Tres kam, Belbo?«
»Glaube nicht. Du, Diotallevi?«
»Och, das war schon vor Tagen... Ist das wichtig?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, versicherte uns Agliè. »Ich frage nur, weil ich es noch nie gehört habe. Wissen Sie wirklich nicht mehr, wer das zitiert hat?«
Es tat uns sehr leid, wir konnten uns nicht erinnern.
Agliè zog seine Uhr aus der Weste. »Mein Gott, ich habe ja noch eine andere Verabredung. Entschuldigen Sie mich.«
Er eilte davon, und wir blieben noch, um die Lage zu diskutieren.
»Jetzt ist alles klar. Die Engländer haben die Idee mit der Freimaurerei lanciert, um alle Initiierten in ganz Europa um Bacons Projekt zu versammeln.«
»Aber das Projekt ist nur halb gelungen: die Idee der Baconianer war so faszinierend, das sie unerwartete Resultate erbrachte. Die sogenannte schottische Strömung missverstand den neuen Geheimbund als eine Möglichkeit zur Rekonstruktion der unterbrochenen Abfolge und nahm Kontakt zu den deutschen Templern auf.«
»Agliè findet die Sache unverständlich. Das ist klar. Nur wir können jetzt sagen, was passiert ist — was wir wollen, dass passiert sei. Also: die verschiedenen nationalen Gruppen geraten miteinander in Streit, ich würde nicht ausschließen, dass dieser Martines de Pasqually ein Agent der portugiesischen Gruppe ist, die Engländer desavouieren die Schotten, sprich die Franzosen, die Franzosen sind in zwei Lager geteilt, in das pro-englische und das pro-deutsche. Die Freimaurerei ist nur der äußere Deckmantel, der Vorwand, unter dem all diese Agenten verschiedener Gruppen — Gott weiß, wo die Paulizianer und die Jerusalemer geblieben sein mögen — sich treffen und sich bekämpfen, um sich gegenseitig ein Stückchen des Geheimnisses zu entreißen.«
»Die Freimaurerei als so was wie Ricks Café Américain in Casablanca«, sagte Belbo. »Das Gegenteil dessen, was man gemeinhin glaubt. Die Freimaurerei ist kein Geheimbund.«
»Nein, wirklich nicht, nur ein Freihafen, wie Macao. Eine Fassade. Das Geheimnis ist woanders.«
»Arme Maurer.«
»Der Fortschritt verlangt seine Opfer. Aber geben Sie zu, dass wir dabei sind, eine immanente Rationalität der Geschichte wiederzufinden.«
»Die Rationalität der Geschichte ist das Resultat einer guten Neuschrift der Torah«, sagte Diotallevi. »Und genau die betreiben wir hier, und gelobt sei der Name des Allerhöchsten immerdar.«
»Na gut«, schloss Belbo. »Jetzt haben die Baconianer also Saint-Martin-des-Champs, und der deutschfranzösische Neutemplerismus zerfällt in eine Myriade von Sekten... Aber wir haben immer noch nicht entschieden, um welches Geheimnis es eigentlich geht«
»In der Tat, das habt ihr noch nicht«, sagte Diotallevi.
»Ihr? Hier sind wir alle drei gefragt. Wenn wir das nicht ordentlich klären, stehen wir dumm da.«
»Vor wem?«
»Vor der Geschichte, vor dem Tribunal der Wahrheit.«
»Quid est veritas?« fragte Belbo.
»Wir«, sagte ich.
77
Dieses Kraut wird von den Philosophen Teufelsaustreiber genannt. Es ist experimentell erwiesen, daß nur dieser Samen die Teufel und ihre Halluzinationen vertreibt.. Man hat einem jungen Mädchen davon gegeben, das bei Nacht von einem Teufel gequält wurde, und da hat ihn das Kraut in die Flucht geschlagen.
Johannes a Rupescissa, Tratatus de quinta essentia, II
In den folgenden Tagen vernachlässigte ich den Großen Plan. Lias Schwangerschaft näherte sich dem Ende, ich blieb nun bei ihr, sooft ich konnte. Sie beruhigte mich, ich solle mir keine Sorgen machen, es sei noch nicht soweit. Sie nahm an einem Kurs für schmerzlose Geburt teil, und ich versuchte, ihre Übungen mitzumachen. Sie hatte es abgelehnt, sich von der Wissenschaft voraussagen zu lassen, welches Geschlecht das Kind haben würde. Sie wollte die Überraschung. Ich hatte ihren exzentrischen Wunsch akzeptiert. Ich tastete ihr den Bauch ab und fragte mich nicht, was da herauskommen würde, wir nannten es einfach das Kleine, das Ding.
Ich fragte sie nur, wie ich ihr bei der Geburt würde helfen können. »Es ist doch auch meins, das Kleine«, sagte ich. »Ich will nicht den werdenden Vater spielen, wie man ihn aus dem Kino kennt, der nervös auf dem Korridor hin und her rennt und sich eine Zigarette an der andern ansteckt.«
»Pim, viel mehr wirst du nicht tun können. Es kommt ein Moment, der ganz allein meine Sache ist Und außerdem rauchst du nicht und wirst dir's ja wohl nicht bei dieser Gelegenheit angewöhnen wollen.«
»Also was mache ich dann?«
»Du beteiligst dich vorher und nachher. Nachher, wenn es ein Junge ist, erziehst du ihn, bildest ihn, verschaffst ihm einen schönen Ödipus, wie sich's gehört, stellst dich dem rituellen Vatermord, wenn der Moment gekommen ist, lächelnd und ohne Geschichten zu machen, und dann zeigst du ihm eines Tages dein miserables Büro, die Karteikästen, die Druckfahnen der wunderbaren Geschichte der Metalle und sagst, mein Sohn, dies alles wird eines Tages dir gehören.«
»Und wenn es ein Mädchen ist?«
»Dann sagst du, meine Tochter, dies alles wird eines Tages deinem Nichtsnutz von Gatten gehören.«
»Und vorher?«
»Wenn die Wehen kommen, vergeht dazwischen immer eine gewisse Zeit, die man zählen muß, denn je kürzer die Zeit zwischen den Wehen wird, desto näher kommt der Moment. Wir werden zusammen zählen, und du wirst mir den Takt geben, wie beim Rudern auf den Galeeren. Es wird so sein, als ob auch du unser Kleines Ding langsam aus seiner warmen dunklen Höhle herausholst. Das Arme... Fühlst du's, jetzt geht's ihm so gut da im Dunkeln, es süffelt genüsslich Säfte wie eine Zecke, alles gratis, und dann plötzlich, peng, kommt es rausgeschossen ans Sonnenlicht, blinzelt und sagt, Teufel, wo bin ich da hingeraten?«
»Das arme Ding. Und dabei kennt es noch gar nicht den Signor Garamond. Komm, probieren wir mal zu zählen.«
Wir zählten im Dunkeln und hielten uns an den Händen. Ich fantasierte. Das Kleine Ding da in Lias Bauch, das war etwas Wahres, Echtes, das durch seine Geburt allem Unsinn der Diaboliker Sinn geben würde. Arme Diaboliker, die ihre Nächte damit verbrachten, sich chymische Hochzeiten auszudenken und sich zu fragen, ob am Ende wirklich acht-zehnkarätiges Gold herauskommen würde und ob der Stein der Weisen der lapis exillis wäre, ein kläglicher Gral aus Steingut — während mein Gral hier in Lias Bauch war.
»Ja«, sagte Lia und strich sich über die straffe Wölbung des Bauches, »in diesem Gefäß hier vergärt deine gute Prima Materia. Was dachten denn diese Leute, die du in dem Schloss gesehen hast damals, was in dem Gefäß passiert?«
»Och, die dachten, da grummelt die Melancholie, da brodelt die Schwefelerde, das schwarze Blei, das Saturnische Öl, da blubbert ein Styx aus Aufweichungen, Sättigungen, Durchtränkungen, Verflüssigungen, Vermischungen, Versenkungen, fauliger Erde, stinkigen Leichen... «
»Igitt, was waren das denn für Leute? Waren die impotent? Wussten die nicht, daß in dem Gefäß unser Kleines heranwächst, ein rundum blankes, schönes, rosiges Ding?«
»Sicher wussten sie das, aber für die ist auch dein Bauch eine Metapher voller Geheimnisse... «
»Da sind aber keine Geheimnisse, Pim. Wir wissen sehr gut, wie sich das Kleine da bildet, mit seinen Nervchen und Müskelchen und Öhrchen und Milzchen und Bauchspeicheldrüselchen... «
»Heiliger Himmel, wie viele Milzen soll es denn haben? Ist es etwa Rosemary's Baby?«
»Na, wird schon nicht so schlimm kommen. Aber wir müssen bereit sein, es so zu nehmen, wie's kommt, auch wenn es zwei Köpfe hat.«
»Warum nicht? Dann würde ich ihm beibringen, Duette zu spielen, für Trompete und Klarinette... Nein, dazu brauchte es auch vier Hände, und das wäre denn doch zu viel — obwohl, denk bloß mal, was für ein Klaviervirtuose es dann werden könnte, von wegen Konzert für die linke Hand. Brr... Und übrigens, das wissen auch meine Diaboliker, an jenem Tag in der Klinik kommt es dann auch zum Weißen Werk, es wird der Rebis geboren, der androgyne Hermaphrodit... «
»Na, der hat uns gerade noch gefehlt. Hör zu, jetzt mal im Ernst: Wir werden es Giulio oder Giulia nennen, nach meinem Großvater. Ist dir das recht?«
»Warum nicht, klingt gut.«
Es hätte genügt, wenn ich bis hierher und nicht weiter gegangen wäre. Wenn ich ein Weißbuch geschrieben hätte, ein gutes Zauberbuch für alle Adepten der Entschleierten Isis, um ihnen zu erklären, daß es nicht länger nötig war, nach dem Mysterium der Mysterien zu suchen, daß die Lektüre des Lebens keinen geheimen Sinn verbarg, daß alles schon da war, in den Bäuchen aller Lias der Welt, in den Geburtsstationen der Kliniken, auf den Strohlagern, in den Kiesbetten der Flüsse, daß die Steine aus dem Exil und der Heilige Gral nichts anderes sind als schreiende Äffchen mit herunterhängender Nabelschnur, denen der Onkel Doktor einen Klaps auf den Po gibt. Und daß die Unbekannten Oberen für unser Kleines Ding niemand anderes waren als Lia und ich, aber daß es uns dann sofort erkennen würde, ohne erst lange den alten Trottel de Maistre danach zu fragen.
Doch nein, wir — die Sardoniker — wollten ja unbedingt mit den Diabolikern Verstecken spielen und ihnen zeigen, daß, wenn sie partout ein kosmisches Komplott haben wollten, wir eins zu erfinden wussten, das kosmischer gar nicht mehr sein konnte.
Geschieht dir ganz recht, sagte ich mir vorgestern Abend im Periskop. Jetzt bist du hier, um zu warten, was unter dem Foucaultschen Pendel geschehen wird.
78
Gewiß kommt diese monströse Kreuzung nicht aus einem Mutterleib, sondern aus einem Ephialtes, einem Incubus oder anderen schrecklichen Dämon, als wäre sie von einem faulen und giftigen Pilz geboren, ein Kind von Faunen und Nymphen, ähnlicher einem Teufel als einem Menschen.
Athanasius Kircher, Mundus Subterraneus, Amsterdam, Jansson, 1665, II, p. 279-280
An jenem Tag wollte ich lieber zu Hause bleiben, ich ahnte etwas, aber Lia hatte gesagt, ich solle nicht den Prinzgemahl spielen und ganz normal zur Arbeit gehen. »Es ist noch Zeit, Pim. Es kommt noch nicht. Auch ich muß noch aus dem Haus. Geh.«
Ich war gerade vor der Tür des Büros angekommen, da öffnete sich nebenan die Tür von Signor Salon. Der Alte erschien in seinem gelben Arbeitskittel. Ich konnte nicht umhin, ihn zu grüßen, und er fragte mich, ob ich nicht für einen Moment hereinkommen wollte. Ich hatte sein Laboratorium noch nie gesehen und folgte der Einladung.
Wenn hinter der Tür eine Wohnung gewesen war, musste Salon die Trennwände entfernt haben lassen, denn was ich sah, war eine weite dämmrige Höhle. Aus unerfindlichen architektonischen Gründen hatte dieser Teil des Gebäudes ein Mansardendach, und das Licht fiel durch schräge Scheiben ein. Ich weiß nicht, ob die Scheiben schmutzig oder aus Mattglas waren oder ob Salon sie verhängt hatte, um das direkte Sonnenlicht abzuschirmen, oder ob es am Gedränge der Objekte lag, die allenthalben den Horror vacui verkündeten, jedenfalls lag die Höhle in einem fast abendlichen Dämmerlicht, auch weil der weite Raum unterteilt war durch breite Regale, wie man sie aus alten Apotheken kennt, hohe Möbel mit geschnitzten Säulen und Kolonnaden, die Durchblicke, Passagen und Perspektiven erlaubten. Die vorherrschende Farbe war braun, braun waren die Gegenstände, die Regale und Tische, die diffuse Melange aus trübem Tageslicht und dem Schein jener alten Lampen, die einige Zonen fleckig erhellten. Mein erster Eindruck war, in die Werkstatt eines Geigenbauers getreten zu sein, die seit den Zeiten von Stradivari nicht mehr benutzt worden ist, so daß sich der Staub immer dicker auf alles gelegt hat.
Dann, als meine Augen sich langsam angepasst hatten, begriff ich, daß ich mich, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, in einem erstarrten Zoo befand. Dort hinten kletterte ein kleiner Bär mit glänzenden Glasäugelchen auf einem künstlichen Ast, hier neben mir saß eine Eule reglos und feierlich, da vorn vor dem Tisch lief ein Wiesel — oder ein Marder, ein Iltis, was weiß ich —, und auf dem Tisch stand ein prähistorisches Tier, das ich im ersten Moment' nicht erkannte, es sah aus wie eine Katze, die von Röntgenstrahlen durchleuchtet wurde.
Es hätte ein Puma sein können, ein Leopard, ein großer Hund, man sah das Skelett, das zum Teil mit einer strohigen Füllung beklebt war, die von einem Drahtgestell zusammengehalten wurde.
»Der Dobermann einer reichen Dame mit butterweichem Herzen«, erklärte Salon grinsend. »Sie möchte ihn so im Gedächtnis behalten, wie er in der Zeit ihres Ehelebens war. Sehen Sie? Man zieht dem Tier das Fell ab, man behandelt das Fell auf der Innenseite mit arsenhaltiger Seife, dann legt man die Knochen frei und lässt sie bleichen... Sehen Sie dort in dem Regal die schöne Sammlung von Wirbelsäulen und Brustkörben... Schönes Ossarium, nicht wahr? Dann bindet man die Knochen mit Drähten zusammen, und ist das Skelett einmal rekonstruiert, packt man ein Gerüst mit der Füllung darauf, gewöhnlich verwende ich Heu oder Pappmaschee oder auch Gips. Am Ende zieht man das Fell darüber. Ich repariere die Schäden des Todes und der Verwesung. Sehen Sie diesen Waldkauz hier, sieht der nicht wie lebend aus?«
Von nun an würde mir jeder lebende Waldkauz wie tot erscheinen, von Signor Salon in ewige Starre versetzt. Ich sah diesem Mumifizierer tierischer Pharaonen ins Gesicht, betrachtete seine buschigen Augenbrauen, seine grauen Wangen und versuchte herauszufinden, ob er ein lebendes Wesen war oder ein Meisterwerk seiner eigenen Kunst.
Um ihn besser betrachten zu können, trat ich ein paar Schritte zurück, und plötzlich spürte ich, wie mich etwas im Nacken berührte. Ich fuhr erschrocken herum und sah, daß ich ein Pendel in Bewegung gesetzt hatte.
Ein großer ausgeweideter Vogel stak pendelnd am Ende der Lanze, die ihn durchbohrte. Sie ging durch den Kopf hinein, und in der offenen Brust sah man, daß sie genau dort hindurchging, wo einst das Herz und der Magen gewesen waren, um sich dann aufzuspalten und als umgekehrter Dreizack fortzusetzen. Der etwas dickere mittlere Zacken durchquerte die Stelle, wo der Vogel die Eingeweide gehabt hatte, und zielte wie ein Schwert nach unten, die beiden seitlichen Spieße bohrten sich längs durch die Beine und kamen symmetrisch an den Krallen heraus. Der Vogel schwankte leicht, und die drei Zacken warfen ihren Schatten auf den Boden, wo er wie ein mystisches Zeichen erschien.
»Schönes Exemplar eines Königsadlers«, sagte Salon. »Aber ich muß noch ein paar Tage daran arbeiten. Ich war gerade dabei, die Augen auszuwählen.« Er zeigte mir eine Pappschachtel voller Glasaugen, die aussah, als hätte der Folterknecht der heiligen Lucia die schönsten Trophäen seiner ganzen Karriere darin gesammelt. »Das ist nicht immer so leicht wie bei den Insekten, für die man bloß eine Nadel und eine Schachtel braucht. Die wirbellosen Tiere zum Beispiel, die müssen mit Formalin behandelt werden.«
Es roch tatsächlich nach Leichenschauhaus. »Muss eine faszinierende Arbeit sein«, sagte ich. Und dachte dabei an das lebende Ding, das in Lias Bauch heranwuchs. Ein eisiger Gedanke überfiel mich: Wenn es stürbe, sagte ich mir, will ich es selbst begraben, so daß es alle Würmer unter der Erde ernährt und die Erde fett macht. Nur so würde ich es noch als lebendig empfinden...
Mich schauderte, aber ich riss mich zusammen, denn Salon sprach weiter, während er ein seltsames Wesen aus einem seiner Regale holte. Es mochte etwa dreißig Zentimeter lang sein und war eine Art Drache, ein Reptil mit großen schwarzen, geäderten Flügeln, einem Hahnenkamm und einem weit aufgerissenem Maul voll winziger Sägezähne. »Schön, nicht wahr? Eine Komposition von mir. Ich habe dafür einen Salamander, eine Fledermaus und die Haut einer Schlange benutzt... Ein Drache der Unterwelt. Inspiriert habe ich mich hieran.« Er zeigte mir auf einem anderen Tisch ein dickes, großformatiges Buch mit kostbarem Pergamenteinband und ledernen Laschen. »Das hat mich ein kleines Vermögen gekostet. Ich bin kein Bibliophile, aber diesen Band wollte ich unbedingt haben. Es ist der Mundus Subterraneus von Athanasius Kircher, erste Auflage von 1665. Hier der Drache. Sieht doch genauso aus wie meiner, nicht wahr? Er lebt in den Schluchten der Vulkane, sagte der gute Jesuit, der alles wusste, alles Bekannte, alles Unbekannte und alles Inexistente... «
»Sie denken wohl immerzu an die Unterwelt«, sagte ich in Erinnerung an unser Gespräch in München und an die Sätze, die ich durch das Ohr des Dionysios aufgeschnappt hatte.
Er schlug eine andere Seite des Bandes auf. ein Bild der Erdkugel, die aussah wie ein geblähtes schwarzes Leibesorgan, durchzogen von einem Netzwerk leuchtender Adern, in Serpentinen und flammend. »Wenn Athanasius Kircher recht hatte, gibt es mehr Pfade im Innern der Erde als draußen auf ihrer Oberfläche. Wann immer etwas in der Natur geschieht kommt es aus der glühenden Hitze dort unten...«Ich dachte an das Schwarze Werk, an Lias Bauch, an das Kleine Ding, das da auszubrechen versuchte aus seinem sanften Vulkan.
»... und wann immer etwas in der Menschenwelt geschieht, ist es dort unten ersonnen worden.«
»Sagt das Pater Kircher?«
»Nein, er befasste sich bloß mit der Natur... Aber es ist sehr bemerkenswert, daß der zweite Teil dieses seines Buches von der Alchimie und den Alchimisten handelt und daß sich genau hier, sehen Sie, ein Angriff auf die Rosenkreuzer findet. Warum werden die Rosenkreuzer in einem Buch über die unterirdische Welt angegriffen? Nun, weil unser Jesuit es faustdick hinter den Ohren hatte, er wusste, daß die letzten Templer sich in das unterirdische Reich von Agarttha geflüchtet hatten... «
»... und anscheinend immer noch dort sind«, warf ich aufs Geratewohl ein.
»Ja, sie sind immer noch dort«, bestätigte Salon. »Nicht in Agarttha, aber in anderen Untergründen. Vielleicht direkt hier unter uns. Inzwischen hat auch Mailand seine Untergrundbahn. Wer hat sie gewollt? Wer hat ihren Bau geleitet?«
»Nun, ich denke doch spezialisierte Ingenieure?«
»Ja ja, halten Sie sich nur weiter die Augen zu. Und derweilen publizieren Sie in Ihrem Verlagshaus Bücher von wer weiß was für Leuten. Wie viele Juden haben Sie unter Ihren Autoren?«
»Wir pflegen unsere Autoren nicht nach ihrem Stammbaum zu fragen«, antwortete ich kühl.
»Halten Sie mich nicht für einen Antisemiten. Einige meiner besten Freunde sind Juden. Ich denke an eine bestimmte Sorte von Juden... «
»Nämlich?«
»Je nun... «
79
Er machte sein Köfferchen auf. In unbeschreiblichem Durcheinander lagen dort falsche Kragen, Gummibänder, Küchengeräte, Abzeichen diverser technischer Hochschulen, ja sogar das Monogramm der Zarin Alexandra Fjodorowna und das Kreuz der Ehrenlegion. Auf all dem glaubte er in seinem Wahn das Siegel des Antichrist zu erkennen, in Form eines Dreiecks oder zweier überkreuztet Dreiecke.
Alexandre Chayla, »Serge A. Nilus et les Protocoles«, La Tribune juive, 14. Mai 1921, p. 3
»Sehen Sie«, sagte er dann, »ich bin in Moskau geboren. Und genau dort sind, als ich ein Junge war, geheime jüdische Dokumente ans Licht gekommen, in denen mit klaren Worten gesagt wurde, daß, wer Regierungen stürzen will, im Untergrund arbeiten muß. Hören Sie.« Er schlug ein Heft auf, in das er sich Zitate notiert hatte: »›Zu der Zeit werden alle Städte Untergrundbahnen und unterirdische Passagen haben; aus diesen werden wir alle Städte der Welt in die Luft sprengen.‹ Protokolle der Weisen von Zion, Dokument Nummer neun!«
Einen Moment lang dachte ich, daß die Sammlung von Wirbeln, die Schachtel mit den Augen, die Häute, die er auf die Gerüste spannte, womöglich aus irgendeinem Vernichtungslager stammten. Aber nein, ich hatte es nur mit einem alten Nostalgiker zu tun, der Erinnerungen an den russischen Antisemitismus mit sich herumtrug.
»Wenn ich Sie recht verstehe, gibt es also einen Geheimbund von Juden, von ganz bestimmten Juden, nicht allen, die irgendein Komplott schmieden. Aber warum tun die das unter der Erde?«
»Das ist doch klar. Wer ein Komplott schmiedet, tut das im Dunkeln drunten, nicht oben im hellichten Sonnenschein. Das weiß doch seit Urzeiten jeder: Beherrschung der Welt heißt Beherrschung dessen, was unten ist. Beherrschung der unterirdischen Ströme.«
Ich musste an einen Satz von Agliè denken, den er in seinem Studio gesagt hatte, und an die Druidinnen in Piemont, die tellurische Vibrationen beschworen.
»Warum haben die Kelten sich Heiligtümer im Innern der Erde gegraben, mit unterirdischen Gängen zu einem heiligen Brunnen?« fuhr Salon fort. »Der Brunnen reichte in radioaktive Schichten hinunter, das ist bekannt. Wie ist Glastonbury angelegt? Und war's etwa nicht die Insel Avalon, von der die Gralssage stammt? Und wer hat den Gral erfunden, wenn nicht ein Jude?«
Schon wieder der Gral, Herrgott im Himmel! Aber welcher Gral denn bitte, es gibt doch nur einen Gral, und der ist mein Kleines Ding, in Kontakt mit den radioaktiven Schichten von Lias Uterus, und vielleicht fährt es jetzt gerade fröhlich der Mündung entgegen, vielleicht schickt es sich gerade an herauszukommen, und ich stehe hier mitten zwischen diesen einbalsamierten Käuzen — hundert Tote und einer, der vorgibt, lebendig zu sein.
»Alle Kathedralen sind dort gebaut worden, wo die Kelten ihre Menhire hatten. Warum haben die Kelten so große Steine errichtet, mit all der Mühe, die das machte?«
»Warum haben sich die Ägypter so viel Mühe mit den Pyramiden gemacht?«
»Eben! Das waren Antennen, Thermometer, Sonden, Nadeln wie die der chinesischen Ärzte, in die neuralgischen Punkte gesteckt, wo der Körper reagiert, in die Knotenpunkte. Im Zentrum der Erde gibt es einen glühenden Kern, so etwas Ähnliches wie die Sonne, oder nein, eine richtige Sonne, um die sich etwas dreht, auf verschiedenen Bahnen. Umlaufbahnen von tellurischen Strömen, auch Erdstrahlen genannt. Die Kelten wussten, wo sie zu finden sind und wie man sie beherrscht. Und Dante, was war mit Dante? Was wollte er uns erzählen mit der Geschichte von seiner Höllenfahrt? Verstehen Sie nun, lieber Freund?«
Es gefiel mir gar nicht sein lieber Freund zu sein, aber ich hörte ihm weiter zu. Giulio-Giulia, mein Rebis, war wie Luzifer ins Zentrum von Lias Bauch gepflanzt, aber Er-Sie-Es würde sich umdrehen, würde sich zum Licht wenden und irgendwie rauskommen. Unser Ding war gemacht, um aus den dunklen Innereien herauszukommen und sich in seinem klaren Geheimnis zu enthüllen, nicht um kopfüber in sie hineinzustürzen und sich ein klebriges Geheimnis zu suchen.
Salon sprach weiter, verlor sich in einen Monolog, den er auswendig zu rezitieren schien: »Wissen Sie, was die englischen leys sind? Fliegen Sie mal im Flugzeug über England, und Sie werden sehen, daß alle heiligen Orte durch gerade Linien miteinander verbunden sind, ein Netz von Linien, die sich über das ganze Land hinziehen und die heute noch sichtbar sind, weil sie den Verlauf der künftigen Straßen angezeigt haben... «
»Wenn es heilige Orte waren, waren sie durch Straßen miteinander verbunden, und die Straßen wird man so gerade wie möglich gebaut haben... «
»Ach ja? Und warum halten sich dann auch die Zugvögel an diese Linien? Und warum markieren sie die Flugstrecken der Fliegenden Untertassen? Ich sage Ihnen, dahinter steckt ein Geheimnis, das nach der römischen Invasion verloren gegangen ist, aber es gibt noch Leute, die es kennen... «
»Die Juden«, suggerierte ich.
»Die graben auch. Das erste Prinzip der Alchimisten heißt VITRIOL: Visita Interiora Terrae, Rectificando Invenies Occultum Lapidem.«
Lapis exillis. Mein Stein, der langsam herauskam aus dem Exil, aus seinem süßen, gedankenlosen, hypnotischen Exil in Lias geräumigem Bauch, ohne nach anderen Tiefen zu suchen, mein schöner weißer Stein, der an die Oberfläche will... Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause zu Lia, um mit ihr auf das Kleine zu warten, auf sein Erscheinen, Stunde um Stunde, auf den Triumph der wiedergewonnenen Oberfläche. In Salons dämmriger Höhle herrschte der Modergeruch des Untergrunds, der Untergrund ist der Ursprung, den es zu verlassen gilt, nicht das Ziel, das es zu erreichen gilt. Und doch folgte ich Salon, und mir wirbelten neue bösartige Ideen für den Großen Plan durch den Kopf. Während ich die einzige Wahrheit dieser irdischen Welt erwartete, verbohrte ich mich in die Konstruktion neuer Lügen. Blind wie die Tiere im Erdinnern.
Ich schüttelte mich. Ich musste raus aus dem Tunnel. »Ich muß gehen«, sagte ich. »Vielleicht können Sie mir Bücher zum Thema empfehlen.«
»Bah, alles, was man zu dem Thema geschrieben hat, ist falsch und erlogen, falsch wie die Seele des Judas. Was ich weiß, habe ich von meinem Vater gelernt... «
»War er Geologe?«
»O nein«, lachte Salon, »nein, wirklich nicht. Mein Vater war — kein Grund, sich zu schämen, das ist lange her —, mein Vater war bei der Ochrana. Direkt dem Chef unterstellt, dem legendären Ratschkowski.«
Ochrana, Ochrana — war das nicht so was wie der KGB, war das nicht die Geheimpolizei des Zaren? Und Ratschkowski, wer war das noch gleich? Wer hatte einen ganz ähnlichen Namen? Herrgott ja, der mysteriöse Besucher des Oberst Ardenti, der Graf Rakosky... Nein, Quatsch, ich ließ mich von Zufällen überraschen. Ich stopfte nicht tote Tiere aus, ich zeugte lebende Wesen.
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Les Philosophes disent que lorsque la blancheur survient à la matière du grand oeuvre, la vie a vaincu la mort, que leur Roi est ressuscité, que la terre & l’eau sont devenues air, que c’est le régime de la Lune, que leur enfant est né... La matiere a pour lors acquis un degré de fixité que le feu ne sauroit détruire... & lorsque l’Artiste voit la parfaite blancheur, les Philosophes disent qu’i faut déchirer les livres, parce qu’ils deviennent inutiles.
(Die Philosophen [= die Alchimisten] sagen, wenn das Weiß über die Materie des Großen Werkes kommt, dann hat das Leben den Tod besiegt, dann ist ihr König wiedererstanden, dann sind Erde und Wasser Luft geworden, dann ist es das Regime des Mondes, dann ist ihr Kind geboren... Die Materie hat dann einen solchen Festigkeitsgrad erreicht, daß das Feuer sie nicht mehr zerstören kann... Wenn der Künstler das perfekte Weiß sieht, dann, sagen die Philosophen, soll man die Bücher zerreißen, da sie nutzlos werden.)
Dom J. Pernety, Dictionnaire mytho-hermétique, Paris, Bauche, 1758, »Blancheur«
Ich stammelte hastig eine Entschuldigung, ich glaube, ich sagte so etwas wie: »Meine Freundin kriegt morgen ein Kind.« Salon wünschte mir viel Glück mit einer Miene, als wäre ihm nicht ganz klar, wer der Vater war. Ich rannte nach Hause, um frische Luft zu atmen.
Lia war nicht da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Liebster, es ist ganz plötzlich soweit. Du warst nicht im Büro. Ich nehm ein Taxi in die Klinik. Komm nach, ich fühle mich einsam.«
Panik überfiel mich, ich musste bei Lia sein, um mit ihr zu zählen, ich hätte im Büro sein müssen, ich hätte für sie erreichbar sein müssen. Alles war meine Schuld, das Kleine würde tot geboren werden, Lia würde mit ihm sterben, Salon würde beide ausstopfen.
Ich stürzte in die Klinik, als hätte ich die Labyrinthitis, fragte Leute, die von nichts wussten, rannte zweimal in die falsche Abteilung. Ich sagte zu allen, sie müssten doch wissen, wo Lia gebäre, und alle antworteten mir, ich solle mich beruhigen, alle seien hier, um zu gebären.
Schließlich, ich weiß nicht wie, fand ich mich in einem Zimmer. Lia war blass, aber von einer perlfarbenen Blässe, und sie lächelte. Jemand hatte ihr Haar hochgebunden und in eine weiße Haube gesteckt. Zum ersten Mal sah ich ihre Stirn in all ihrer blanken Pracht. Neben ihr lag etwas Kleines.
»Das ist Giulio«, sagte sie.
Mein Rebis. Auch ich hatte ihn gemacht, und nicht aus Leichenteilen und ganz ohne arsenhaltige Seife. Er war komplett, er hatte alle zehn Finger, und alle da, wo sie hingehörten.
Ich wollte ihn ganz sehen. »O was für ein schönes Pimmelchen, und was für dicke Eier es hat!« Dann beugte ich mich über Lia und küsste sie auf die weiße Stirn: »Aber das ist dein Verdienst, Liebes, das ist in dir gewachsen.«
»Na klar ist das mein Verdienst, Affe. Ich hab allein gezählt.«
»Du zählst für mich alles«, sagte ich.
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Das unterirdische Volk hat das höchste Wissen erreicht... Wenn unsere wahnsinnige Menschheit einen Krieg gegen das unterirdische Königreich beginnen sollte, so wäre dieses imstande, die ganze Oberfläche unseres Planeten in die Luft zu sprengen.
Ferdinand Ossendowski, Beasts, Men and Gods, 1924, Kap. V
Ich blieb an Lias Seite, auch als sie aus der Klinik entlassen wurde, denn kaum war sie wieder zu Hause und musste dem Kleinen die Windeln wechseln, heulte sie los und sagte, das würde sie niemals schaffen. Jemand erklärte uns später, das sei ganz normal: nach der Euphorie über die gelungene Geburt komme das Gefühl der Ohnmacht angesichts der riesigen Aufgabe. In jenen Tagen, als ich zu Hause herumhing und mich unnütz fühlte, auf jeden Fall untauglich zum Stillen, verbrachte ich lange Stunden mit der Lektüre aller erreichbaren Schriften über Erdstrahlen und tellurische Ströme.
Als ich dann wieder in den Verlag ging, sprach ich Agliè darauf an. Er machte eine übertrieben gelangweilte Geste: »Dürftige Metaphern für das Geheimnis der Schlange Kundalini. Auch die chinesischen Geomantiker suchten in der Erde nach den Spuren des Drachen, aber die tellurische Schlange stand nur für die geheime Schlange. Die Göttin liegt zusammengeringelt wie eine Schlange und schläft ihren ewigen Schlaf. Kundalini zuckt sanft vibrierend, bebt leise zischend und verbindet die schweren Körper mit den leichten. Wie ein Strudel oder ein Wirbel im Wasser, wie die Mitte der Silbe OM.«
»Aber für welches Geheimnis steht die Schlange?«
»Für die Erdstrahlen. Aber die wahren.«
»Und was sind die wahren Erdstrahlen?«
»Eine große kosmologische Metapher; und sie stehen für die Schlange.«
Zum Teufel mit Agliè, ich wusste jetzt mehr.
Ich teilte Belbo und Diotallevi mit, was ich wusste, und wir hatten nun keine Zweifel mehr. Endlich waren wir in der Lage, den Templern ein anständiges Geheimnis zu liefern. Es war die ökonomischste und eleganteste Lösung, und alle Teile unseres jahrtausendealten Puzzles fanden darin ihren Platz.
Also. Die Kelten wussten von den Erdstrahlen. Sie hatten die Kunde von den Überlebenden aus Atlantis, die nach dem Untergang ihres Kontinents zum Teil an den Nil, zum Teil in die Bretagne emigriert waren.
Die Atlantiden ihrerseits hatten die Kunde von jenen Urvätern des Menschengeschlechts, die bei ihren Wanderungen aus Avalon durch den Kontinent Mu bis in die australische Wüste gelangt waren — als alle Kontinente noch einen einzigen, zusammenhängenden Kernkontinent bildeten, das legendäre Pangäa. Noch heute brauchte man nur imstande zu sein (wie es die australischen Aborigenes sind, aber die schweigen), die geheimnisvollen Schriftzeichen auf dem Felsmassiv von Ayers Rock zu lesen, um die Erklärung für alles zu haben. Ayers Rock ist der Antipode jenes großen (unbekannten) Berges, der den wahren Nordpol darstellt, den geheimen Pol, nicht den, zu welchem jeder x-beliebige bürgerliche Forscher gelangen kann. Wie üblich — und wie evident für jeden, der sich nicht vom falschen Wissen der westlichen Wissenschaften hat verblenden lassen — ist der sichtbare Pol der, den es nicht gibt, und der, den es gibt, ist der, den niemand zu sehen vermag außer einigen Adepten, deren Lippen versiegelt sind.
Die Kelten glaubten jedoch, man brauchte nur den globalen Plan der Erdstrahlen zu entdecken. Darum stellten sie Megalithe auf. Die Menhire waren radiästhetische Apparate, so etwas wie Wünschelruten, Fühler, Sonden, elektrische Stecker, die an die Punkte gesteckt wurden, wo sich die tellurischen Ströme in verschiedene Richtungen teilten. Die Leys bezeichneten den Verlauf der bereits identifizierten Ströme. Die Dolmen waren Kammern zur Kondensation der Energie, in denen die Druiden versuchten, mit geomantischen Mitteln den globalen Plan zu erschließen, die Cromlechs und Stonehenge waren mikro-makrokosmische Observatorien, in denen man sich bemühte, am Lauf der Sterne den Lauf der Ströme zu erraten — denn wie die Tabula Smaragdina lehrt: So wie es oben ist, ist es auch unten.
Doch nicht dies war das Problem, jedenfalls nicht dies allein. Das hatte der andere Flügel der Atlantis-Emigranten begriffen. Die geheimen Kenntnisse der Ägypter waren von Hermes Trismegistos auf Moses übergegangen, der sich wohlweislich hütete, sie seinen zerlumpten Landsleuten mitzuteilen, die den Hals noch voll Manna hatten — denen hatte er die zehn Gebote gegeben, die konnten sie wenigstens verstehen. Die Wahrheit jedoch, die aristokratisch ist, die hatte Moses chiffriert im Pentateuch niedergeschrieben. Und das hatten die Kabbalisten begriffen.
»Denken Sie nur«, sagte ich. »Alles stand bereits wie in einem offenen Buch in den Maßen des Salomonischen Tempels geschrieben, und die Hüter des Geheimnisses waren jene Rosenkreuzer, welche die Große Weiße Brüderschaft konstituierten, das heißt die Essener, die bekanntlich Jesus an ihrem Geheimnis teilhaben ließen, was der Grund für die sonst unbegreifliche Tatsache ist, daß er gekreuzigt wurde...«
»Gewiss, die Passion Christi ist eine Allegorie, eine Ankündigung des Templerprozesses.«
»In der Tat. Und Joseph von Arimathia hat das Geheimnis von Jesus erfahren und ins Land der Kelten gebracht oder besser zurückgebracht. Aber noch ist das Geheimnis unvollständig, die christlichen Druiden kennen nur einen Teil davon, und dies ist die esoterische Bedeutung des Grals: Es gibt da noch etwas, aber wir wissen nicht, was es ist. Was es sein müsste, was der Tempel schon lange besagen würde, wenn man ihn nur zu lesen verstünde, vermuten nur ein paar Rabbiner, die in Palästina geblieben sind. Sie vertrauen es den muslimischen Geheimsekten an, den Sufis, den Ismaeliten, den Mutakallimun. Und von denen erfahren es dann die Templer.«
»Endlich die Templer. Ich war schon in Sorge.«
Wir formten und feilten weiter an dem Großen Plan, der sich wie weicher Ton unserer Fabulierlust fügte. Die Templer hatten das Geheimnis während jener schlaflosen Nächte entdeckt, die sie, Arm in Arm mit ihren Sattelgefährten, in der Wüste verbrachten, wo unerbittlich der Samum blies. Sie hatten es Stück für Stück denen entrissen, die das kosmische Konzentrationsvermögen des Schwarzen Steins von Mekka kannten, der ein Vermächtnis der babylonischen Magier war — denn nun war auch klar, daß der Turmbau zu Babel nichts anderes gewesen war als der Versuch, leider übereilt und zu Recht an der Hybris seiner Planer gescheitert, den größten Menhir aller Zeiten zu errichten, nur daß die babylonischen Architekten sich mit der Statik verrechnet hatten, denn hätte der Turm die geplante Höhe erreicht, so hätte sich wegen seines enormen Gewichts, wie Athanasius Kircher gezeigt hat, die Erdachse um neunzig Grad oder vielleicht noch mehr gedreht, und unser armer Planet wäre, statt aufrecht mit einer zum Himmel ragenden ithyphallischen Krone, gebeugt mit einem sterilen Appendix dagestanden, mit einer welken Mentula, einem pendelnden Affenschwanz, einer Schechinah, die sich in den schwindelnden Abgründen einer antarktischen Malchuth verlor, als schlaffe Hieroglyphe für Pinguine.
»Gut, aber worin besteht nun das von den Templern entdeckte Geheimnis?«
»Geduld, das finden wir auch noch heraus. Es hat sieben Tage gedauert, die Welt zu erschaffen. Suchen wir weiter.«
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The earth is a magnetic body; in fact, as some scientists have found, it is one vast magnet, as Paracelsus affirmed some 300 years ago.
(Die Erde ist ein magnetischer Körper; tatsächlich, wie einige Wissenschaftler entdeckt haben, ist sie ein einziger großer Magnet, wie es Paracelsus schon vor 300 Jahren behauptet hatte.)
Helene Petrovna Blavatsky, Isis Unveiled, New York, Bouton, 1877, I, p. XXIII
Wir suchten und fanden. Die Erde ist ein großer Magnet. Die Kraft und Richtung ihrer inneren Ströme werden unter anderem auch durch den Einfluß der Himmelskörper bestimmt, durch den Wechsel der Jahreszeiten, den Druck der Äquinoktien, die kosmischen Zyklen. Deshalb ist das System der Ströme veränderlich. Aber es muß sich mit ihm wie mit den Haaren auf dem menschlichen Kopf verhalten, die zwar auf der ganzen Schädeldecke wachsen, aber in Spiralen aus einem bestimmten Punkt am Hinterkopf zu kommen scheinen, aus dem Wirbel, wo sie am widerspenstigsten gegen den Kamm sind. Hat man den entsprechenden Punkt auf der Erde einmal identifiziert und die mächtigste Energiestation an ihm errichtet, so müsste man in der Lage sein, sämtliche unter-und innerirdischen Strömungen des Planeten zu kontrollieren, sie zu lenken und zu beherrschen. Die Templer hatten begriffen, daß es bei dem Geheimnis nicht nur darum ging, den globalen Plan der Erdstrahlen zu besitzen, sondern auch den kritischen Punkt zu kennen, den Omphalos, den Umbilicus Telluris oder Nabel der Welt, den Zentralen Befehlsstand.
Die ganze alchimistische Mythologie, der chthonische Abstieg des Schwarzen Werkes, die elektrische Entladung des Weißen Werkes, das alles waren nur Symbole, den Eingeweihten verständlich, für diese jahrhundertelange Auskultation des Erdballs, deren Endergebnis das Rote Werk sein müsste, die globale Erkenntnis, die strahlende Herrschaft über das planetarische Strömungssystem. Das Geheimnis, das wahre alchimistische und templerische Geheimnis bestand darin, den Quell und Ursprung jenes leisen inneren Bebens zu finden, das — sanft, erschreckend und regelmäßig vibrierend wie das Beben der Schlange Kundalini, in vielen Aspekten noch unbekannt, aber gewiss präzise wie ein Uhrwerk — den einzigen, wahren Stein kennzeichnet, der je vom Himmel ins Exil gefallen ist: die Große Mutter Erde.
Dies war es im übrigen, was Philipp der Schöne herausfinden wollte. Daher das boshafte Insistieren seiner Inquisitoren auf dem mysteriösen Kuss in posteriore parte spine dorsi. Sie wollten das Geheimnis der Kundalini. Von wegen Sodomie.
»Perfekt«, sagte Diotallevi. »Aber wenn man die tellurischen Strömungen lenken kann, was macht man dann mit ihnen? Einen Jux?«
»Na hören Sie«, sagte ich, »begreifen Sie nicht, was das heißt? Steck die größte und stärkste Akupunkturnadel in den Nabel der Welt, und du bist in der Lage, Regen-und Trockenzeiten vorauszubestimmen, Orkane zu entfesseln, Hurrikane, Erdbeben, Meeresbeben auszulösen, Kontinente zu spalten, Inseln versinken zu lassen (sicher ist Atlantis durch ein fehlgeschlagenes Experiment dieser Art versunken), Urwälder und Gebirge wachsen zu lassen... Stellen Sie sich das mal vor! Das ist was anderes als die Atombombe, die auch dem schadet, der sie abwirft. Aus der Kommandozentrale telefonieren Sie mit, was weiß ich, dem Präsidenten der USA und sagen: Mister President, bis morgen will ich eine Phantastillion Dollar, oder die Unabhängigkeit Lateinamerikas, oder Hawaii, oder die Vernichtung aller Atomwaffen, sonst bricht der San-Andreas-Graben in Kalifornien auf und Las Vegas wird eine schwimmende Spielhölle... «
»Aber Las Vegas liegt in Nevada... «
»Na wenn schon. Wer die Erdstrahlen kontrolliert, kann auch Nevada abbrechen lassen, auch Colorado. Und dann telefonieren Sie mit dem Obersten Sowjet und sagen, he, Freunde, bis Montag will ich den ganzen Kaviar von der Wolga, und dazu Sibirien als Lager für Tiefkühlware, sonst sauge ich euch den Ural weg, lasse das Kaspische Meer austrocknen, lasse Litauen und Estland abdriften und im Philippinengraben versinken... «
»Wahrhaftig«, sagte Diotallevi. »Eine ungeheure Macht. Die Erde neu schreiben wie die Torah. Japan in die Karibik verlegen... «
»Panik in Wall Street.«
»Vergesst SDI. Vergesst die Umwandlung der Metalle in Gold. Mit der richtigen Ladung treibt man das Erdinnere zum Orgasmus, lässt man die Erde in zehn Sekunden vollbringen, was sie in Milliarden von Jahren vollbracht hat, und das ganze Ruhrgebiet wird eine Diamantmine. Eliphas Levi hat gesagt, die Kenntnis der Gezeiten und Ströme des Universums sei das Geheimnis der menschlichen Omnipotenz.«
»So muß es sein«, sagte Belbo. »Es ist als verwandelte man die ganze Welt in eine Orgonkammer. Kein Zweifel, auch Wilhelm Reich war ein Templer.«
»Alle waren es, außer uns. Zum Glück haben wir's gemerkt. Jetzt kommen wir ihnen zuvor.«
Was mochte die Templer gehindert haben, ihr Wissen zu nutzen, nachdem sie das Geheimnis einmal entdeckt hatten? Sie mussten es ausbeuten, sicher. Aber vom Wissen zum Können ist es ein weiter Weg. Zuerst einmal, instruiert von dem diabolischen heiligen Bernhard, ersetzten sie überall die Menhire, diese dürftigen keltischen Akupunkturnadeln, durch die viel sensibleren und potenteren gotischen Kathedralen mit ihren unterirdischen Krypten, bewohnt von Schwarzen Jungfrauen in direktem Kontakt zu den radioaktiven Schichten, um so Europa mit einem Netz von Sende-Empfangsstationen zu überziehen, die einander die Stärken und Richtungen der unterirdischen Flüsse, die Launen und Spannungen der tellurischen Ströme mitteilten.
»Ich sage Ihnen, sie haben die Gold-und Silberminen in der Neuen Welt entdeckt, haben dort Eruptionen provoziert und dann, durch entsprechende Lenkung des Golfstroms, die Bodenschätze an die portugiesische Küste abfließen lassen. Tomar war das Steuer-und Verteilungszentrum, der Fôret d’Orient das Hauptmagazin. So kam ihr ganzer Reichtum zustande. Aber das waren alles nur winzige Häppchen. Die Templer hatten begriffen, daß sie, um ihr Geheimnis voll auszubeuten, erst eine technische Entwicklung abwarten mussten, die mindestens sechshundert Jahre dauern würde.«
Also hatten die Templer den Großen Plan so eingerichtet, daß erst ihre Nachfolger zu einer Zeit, wenn sie in der Lage sein würden, ihr Wissen gut zu gebrauchen, herausfinden könnten, wo sich der Umbilicus Telluris befand. Aber wie hatten sie die Fragmente der Enthüllung auf die in alle Welt verstreuten Sechsunddreißig verteilt? Waren es lauter Teile ein und derselben Botschaft? Wieso bedurfte es einer so komplexen Botschaft, um mitzuteilen, daß der Nabel der Welt zum Beispiel in Baden-Baden ist, oder in Cuneo, in Chattanooga?
War es eine Karte? Aber eine Karte hätte ein Zeichen auf dem gesuchten Punkt, und wer das Fragment mit dem Zeichen besäße, wüsste schon alles und bräuchte die anderen Fragmente nicht mehr. Nein, die Sache musste komplizierter sein. Wir zerbrachen uns ein paar Tage den Kopf, bis Belbo beschloss, Abulafia zu fragen. Und der Orakelspruch lautete:
Guillaume Postel stirbt 1581. Bacon ist Viscount of Saint Albans. Im Conservatoire ist das Foucaultsche Pendel.
Es wurde Zeit, eine Funktion für das Pendel zu finden.
Schon nach wenigen Tagen konnte ich eine ziemlich elegante Lösung vorschlagen. Ein Diaboliker hatte uns einen Text über das hermetische Geheimnis der Kathedralen vorgelegt. Dem Autor zufolge hatten die Erbauer der Kathedrale von Chartres eines Tages ein Senkblei an einem Gewölbeschlussstein hängen lassen und aus seinem Pendeln mühelos die Rotation der Erde erschlossen. Aha, deswegen der Prozess gegen Galilei, hatte Diotallevi bemerkt, die Kirche hatte in ihm den Templer gewittert — nein, hatte Belbo gesagt, die Kardinäle, die Galilei verurteilt hatten, waren in Rom eingeschleuste templerische Adepten, die sich beeilten, dem verdammten Toskaner das Maul zu stopfen, diesem treulosen Templer, der aus Eitelkeit alles auszuplaudern drohte, fast vierhundert Jahre vor dem Ablauf des Großen Plans.
In jedem Fall erklärte diese Entdeckung, warum jene Maurermeister auf den Boden unter das Pendel ein Labyrinth gezeichnet hatten, das stilisierte Bild des Systems der innerirdischen Ströme. Wir besorgten uns eine Abbildung des Labyrinths von Chartres, und es war eine Sonnenuhr, eine Windrose, ein Adernsystem, eine Schleimspur der schläfrigen Bewegungen Kundalinis. Eine Weltkarte der tellurischen Strömungen.
»Gut, nehmen wir an, die Templer benutzten das Pendel, um den Umbilicus Mundi anzuzeigen. Anstelle des Labyrinths, das immer noch ein abstraktes Schema ist, lege man eine Karte der Welt auf den Boden und sage zum Beispiel: Der Punkt, auf den die Pendelspitze in einem gegebenen Augenblick zeigt, ist der Umbilicus. Aber wo?«
»Der Ort ist keine Frage, es muß Saint-Martin-des-Champs sein, das Refugium.«
»Ja, aber«, wandte Belbo spitzfindig ein, »angenommen, das Pendel pendelt um Mitternacht längs einer Achse Kopenhagen-Kapstadt. Wo liegt dann der Umbilicus, in Dänemark oder in Südafrika?«
»Der Einwand ist berechtigt«, sagte ich. »Aber unser Diaboliker berichtet auch, daß es in Chartres einen Sprung in einem Chorfenster gibt, durch den zu einer bestimmten Stunde des Tages ein Sonnenstrahl hereinfallt, um immer denselben Punkt zu beleuchten, immer denselben Stein im Fußboden. Ich habe vergessen, welche Folgerung daraus zu ziehen ist, aber in jedem Fall handelt es sich um ein großes Geheimnis. Damit hätten wir den Mechanismus: im Chor von Saint-Martin gibt es ein Fenster mit einem kleinen Loch, einem herausgebrochenen Stück an der Stelle, wo zwei farbige oder mattierte Scheiben von der Bleifassung zusammengehalten werden. Es ist punktgenau kalkuliert worden, und vermutlich gibt es seit sechshundert Jahren jemanden, der sich die Mühe macht, es in Form zu halten. Bei Sonnenaufgang an einem bestimmten Tag des Jahres...«
»... der kein anderer sein kann als der 24. Juni, der Tag nach der Johannisnacht, dem Fest der Sommersonnwende... «
»... genau, an dem Tag und zu der Stunde trifft der erste Sonnenstrahl, der durch das Loch im Chorfenster einfallt, auf das Pendel, und genau an dem Punkt auf der Karte unter dem Pendel, auf den die Pendelspitze in dem Augenblick zeigt, in dem sie von dem Sonnenstrahl getroffen wird, da liegt der Umbilicus!«
»Perfekt«, sagte Belbo. »Und wenn es bewölkt ist?«
»Dann wartet man auf das nächste Jahr.«
»Entschuldigung«, wandte Belbo nochmals ein. »Das letzte Treffen ist in Jerusalem. Hängt dann das Pendel nicht eher in der Kuppel der Omar-Moschee?«
»Nein«, versicherte ich. »An bestimmten Punkten der Erde vollzieht das Pendel seinen Zyklus in sechsunddreißig Stunden, am Nordpol würde es vierundzwanzig Stunden brauchen, und am Äquator würde sich die Schwingungsebene nie ändern. Also kommt es auf den Ort an. Wenn die Templer ihre Entdeckung in Saint-Martin gemacht haben, gilt ihre Berechnung nur für Paris, denn in Palästina würde das Pendel eine andere Kurve beschreiben.«
»Und wer sagt uns, daß sie ihre Entdeckung in Saint-Martin gemacht haben?«
»Die Tatsache, daß sie Saint-Martin zu ihrem Refugium gemacht haben, daß sie es die ganze Zeit unter Kontrolle gehalten haben, vom Prior des Klosters Saint Albans über Guillaume Postel bis zum Konvent, die Tatsache, daß sie nach Foucaults ersten Experimenten das Pendel dort haben anbringen lassen... Es gibt zu viele Indizien.«
»Aber das letzte Treffen ist in Jerusalem.«
»Na und? In Jerusalem wird die Botschaft zusammengesetzt, und das geht nicht in fünf Minuten. Dann bereitet man sich ein Jahr lang vor, und am 23. Juni des nächsten Jahres treffen sich alle sechs Gruppen in Paris, um endlich zu erfahren, wo der Umbilicus ist, und sich daran zu machen, die Welt zu erobern.«
»Aber«, beharrte Belbo, »da ist noch was anderes, was mir nicht einleuchten will. Daß es bei der letzten Enthüllung um den Umbilicus gehen würde, wussten alle Sechsunddreißig. Das Pendel war schon in den Kathedralen benutzt worden, ergo war es kein Geheimnis. Was also hinderte Bacon oder Postel oder auch Foucault — denn wenn er die Sache mit dem Pendel aufgezogen hatte, muß auch er zu der Clique gehört haben —, was zum Teufel hinderte sie daran, eine Karte der Welt auf den Boden zu legen und sie nach den Kardinalpunkten auszurichten? Wir sind auf dem Holzweg.«
»Wir sind nicht auf dem Holzweg«, sagte ich. »Die Botschaft sagt etwas, das niemand wissen konnte: Was für eine Karte man nehmen musste!«
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A map is not the territory.
(Eine Karte ist nicht das Territorium.)
Alfred Korzybski, Science and Sanity, 1933; 4. ed., The International Non-Aristotelian Library, 1958, II, 4, p. 58
»Ist Ihnen der Stand des Kartenwesens zur Zeit der Templer gegenwärtig?« fragte ich, »Damals kursierten arabische Karten, die Afrika oben und Europa unten zeigten, Seekarten, die im großen ganzen schon recht genau waren, und Karten, die bereits drei-bis vierhundert Jahre alt waren, aber in den Schulen noch immer als brauchbar galten. Beachten Sie, daß man, um anzugeben, wo der Nabel der Welt ist, keine genaue Karte in dem Sinne braucht, wie wir heute den Begriff der genauen Karte verstehen. Es genügt, daß sie eine Karte ist, die, einmal ausgerichtet, den Nabel an dem Punkt zeigt, über welchem das Pendel beim ersten Sonnenstrahl am Morgen des 24. Juni aufleuchtet. Nun passen Sie auf. Nehmen wir rein hypothetisch an, der Nabel der Welt wäre in Jerusalem. Auf unseren heutigen Karten liegt Jerusalem an einem bestimmten Punkt, und der ist auch heute noch abhängig von der Projektion. Aber die Templer benutzten eine Gott weiß wie beschaffene Karte. Und warum auch nicht, was scherte es sie? Nicht das Pendel richtet sich nach der Karte, sondern die Karte richtet sich nach dem Pendel. Verstehen Sie, was ich meine? Es konnte die unsinnigste Karte der Welt sein, solange nur, wenn sie einmal unter dem Pendel lag, der erste Sonnenstrahl am Morgen des 24. Juni den Punkt traf, wo auf dieser und keiner anderen Karte Jerusalem lag.«
»Aber das löst unser Problem nicht«, sagte Diotallevi.
»Sicher nicht, und auch nicht das der sechsundreißig Unsichtbaren. Denn ohne die richtige Karte läuft gar nichts. Denken wir uns mal versuchsweise eine Karte mit der üblichen Orientierung, also mit dem Osten zur Apsis und dem Westen zum Schiff, denn so sind die Kirchen orientiert. Nun stellen wir eine beliebige Hypothese auf, beispielsweise: daß sich in dem schicksalhaften Moment das Pendel über einer Gegend irgendwo im Südosten befinden muß. Wenn es sich um eine Uhr handelte, würden wir sagen, das Pendel muß fünf vor halb sechs anzeigen. Okay? Nun sehen sie sich einmal dies hier an.«
Ich schlug eine Geschichte der Kartografie auf.
Mappa Mundi der Bibliothek Turin (12. Jh.)
aus Leon Gautier, La Chavalerie, Paris, Palme, 1884, p. 153
Mappa Mundi
aus Leon Gautier, La Chavalerie, Paris, Palme, 1884, p. 153
»Hier, Nummer eins, eine Weltkarte aus dem zwölften Jahrhundert. Folgt dem Modell der Karten in T-Form, oben Asien mit dem Irdischen Paradies, links Europa, rechts Afrika und ganz rechts, jenseits von Afrika, haben wir die Antipoden. Nummer zwei, ein Kartentyp, der sich an Macrobius' Somnium Scipionis inspiriert und in einigen Varianten bis ins sechzehnte Jahrhundert überlebt. Afrika ist ein bisschen schmal geraten, aber naja. Nun passen Sie auf. orientieren Sie die beiden Karten in gleicher Weise, und Sie werden feststellen, daß die Position fünf vor halb sechs auf der ersten Karte etwa Arabien entspricht und auf der zweiten etwa Neuseeland, denn dort sind unsere Antipoden. Wir können alles über das Pendel wissen, aber wenn wir nicht wissen, welche Karte wir nehmen sollen, sind wir verloren. Die Botschaft enthielt Angaben, höchst verschlüsselte selbstverständlich, über die richtige Karte, die womöglich extra zu dem Zweck gezeichnet worden war. Die Botschaft sagte, wo man diese Karte finden konnte, in welchem Manuskript in welcher Bibliothek, in welcher Abtei oder Burg. Und es konnte sogar sein, daß John Dee oder Bacon oder sonst jemand die Botschaft rekonstruiert hatte — wer weiß, die Botschaft sagte, die Karte findet sich da und da, aber inzwischen, nach allem, was in Europa passiert war, ist die Abtei mit der Karte abgebrannt, oder die Karte ist gestohlen worden und liegt nun Gott weiß wo versteckt. Vielleicht gibt es jemanden, der die Karte hat, aber nicht weiß, wozu sie dient, oder er ahnt, daß sie wertvoll ist, aber er weiß nicht warum, und nun reist er durch die Welt auf der Suche nach einem Käufer. Denken Sie nur, was für ein Gewimmel von Angeboten, falschen Spuren, Botschaften, die etwas ganz anderes besagen, aber gelesen werden, als sprächen sie von der Karte, und Botschaften, die von der Karte sprechen, aber gelesen werden, als handelten sie, was weiß ich, von der Goldfabrikation. Und wahrscheinlich versuchen auch einige, die Karte direkt zu rekonstruieren, anhand von Mutmaßungen.«
»Was für Mutmaßungen?«
»Zum Beispiel über mikro-makrokosmische Korrespondenzen. Hier sehen Sie noch eine dritte Karte. Wissen Sie, woher die kommt? Sie erscheint im zweiten Traktat der Utriusque Cosmi Historia von Robert Fludd. Fludd ist der Mann der Rosenkreuzer in London, vergessen wir das nicht. Und was macht nun dieser Robertus de Fluctibus, wie er sich gerne nennen ließ? Er präsentiert eine sehr eigenartige Projektion der Erdkugel, nämlich aus der Perspektive des Nordpols, des mystischen Pols natürlich, und somit aus der Perspektive eines idealen Pendels, das an einem idealen Punkt über dem Nordpol hängt. Jawohl, meine Herren, dies hier ist eine Karte, die konzipiert wurde, um unter ein Pendel gelegt zu werden! Die Beweise sind unwiderleglich, wie kommt es nur, daß niemand vor uns daran gedacht hat?«
»Die Diaboliker sind eben schrecklich langsam«, meinte Belbo.
»Wir sind eben die einzig würdigen Erben der Templer. Aber lassen Sie mich fortfahren. Sehen Sie sich das noch genauer an, Sie haben das Schema sicher erkannt, es ist eine drehbare Scheibe, so eine, wie sie Trithemius für seine chiffrierten Botschaften benutzte. Dies hier ist gar keine Karte. Es ist der Entwurf für eine Maschine zum Durchprobieren von Variationen, zum Erzeugen von alternativen Karten, bis die richtige gefunden ist. Und Robert Fludd sagt es auch in der Beischrift: ›Dies ist die Skizze für ein instrumentum, es muß noch daran gearbeitet werden.‹«
»Aber war Fludd nicht der, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die Rotation der Erde zu negieren? Wie konnte er an das Pendel denken?«
»Wir haben es mit Initiierten zu tun. Ein Initiierter negiert, was er weiß. Er leugnet, daß er es weiß. Er lügt, um ein Geheimnis zu wahren.«
»Das würde erklären«, meinte Belbo, »warum sich John Dee so angelegentlich mit der Kartographie befasste. Nicht um die ›wahre‹ Form der Welt zu erkennen. Sondern um unter all den falschen Karten diejenige zu rekonstruieren, die ihm als einzige nützte, also die einzig richtige war.«
»Nicht schlecht, nicht schlecht«, schloss Diotallevi. »Die Wahrheit zu finden, indem man einen verlogenen Text präzise rekonstruiert.«
Planiglobium cosmographicum
aus Robert Fludd, Utriusque Cosmi Historia, II, De Naturae Simia, Frankfurt a. M., de Bry, 1624, p. 545
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La principale occupation de cette Assemblée et la plus utile doibt estre, à mon avis, de travailler à l’histoire naturelle, à peu près suivant les desseins de Verulamius.
(Die Hauptbeschäftigung dieser Versammlung und die nützlichste muß nach meinem Dafürhalten sein, an der Naturgeschichte zu arbeiten, mehr oder minder gemäß den Plänen des Verulamius.)
Christian Huygens, Brief an Colbert, in Oeuvres Complètes, Den Haag 1888-1950, VI, p. 95-96
Die Wechselfälle der sechs Gruppen beschränkten sich nicht auf die Suche nach der richtigen Karte. Vermutlich hatten die Templer in den beiden ersten Teilen der Botschaft, dem der Portugiesen und dem der Engländer, auf ein Pendel angespielt, aber die Vorstellungen über Pendel waren damals noch ziemlich konfus. Ein Senkblei schwingen zu lassen ist eine Sache, etwas ganz anderes ist es, einen Präzisionsmechanismus zu konstruieren, der genau im vorgesehenen Sekundenbruchteil von einem Sonnenstrahl getroffen wird. Deshalb hatten die Templer sechs Jahrhunderte einkalkuliert. Der Baconsche Flügel machte sich also in dieser Richtung ans Werk und bemühte sich, alle Initiierten, die er verzweifelt zu kontaktieren suchte, auf seine Seite zu ziehen.
Zur gleichen Zeit, und das war sicher kein bloßer Zufall, schrieb Salomon de Caus, der Mann der Rosenkreuzer, für Kardinal Richelieu ein Traktat über Sonnenuhren. Danach begann, mit Galilei einsetzend, eine hektische Forschung über Pendel. Als Vorwand diente die Frage, wie man Pendel zur Bestimmung der Latitüden benutzen kann, aber als Huygens 1681 entdeckte, daß eine Pendeluhr, die in Paris genau gegangen war, in Cayenne nachging, begriff er sofort, daß dies von der Veränderung der Zentrifugalkraft durch die Erdrotation kommen musste. Und als er sein Pendeluhrbuch Horologium oszillatorium publizierte, in dem er Galileis Einsichten über Pendel vertiefte, wer rief ihn da nach Paris? Colbert, derselbe, der Salomon de Caus nach Paris geholt hatte, damit er sich um den Pariser Untergrund kümmerte!
Und in Italien? Als die Florentiner Accademia del Cimento 1661 die Schlussfolgerungen Foucaults vorwegnahm, löste Herzog Leopold von Toskana sie kaum fünf Jahre später auf, und sofort danach erhielt er aus Rom als geheime Belohnung einen Kardinalshut.
Aber damit nicht genug. Auch in den nächsten Jahrhunderten ging die Jagd nach dem Pendel weiter. 1742 (ein Jahr vor dem ersten belegten Auftritt des Grafen von Saint-Germain!) legte ein gewisser de Mairan der Académie Royale des Sciences eine Denkschrift über Pendel vor; und 1756 (als in Deutschland die templerische Strikte Observanz entstand!) schrieb ein gewisser Bouguer » sur la direction qu’affectent tous les fils à plomb«.
Ich fand fantasmagorische Titel, wie diesen von Jean-Baptiste Biot aus dem Jahre 1821: Recueil d’observations géodésiques, astronomiques et physiques, executées par ordre du Bureau des Longitudes de France, en Espagne, en France, en Angleterre et en Ecosse, pour déterminer la variation de la pésanteur et des degrés terrestres sur le prolongement du méridien de Paris. In Frankreich, Spanien, England und Schottland! Und bezogen auf den Meridian von Saint-Martin! Und von Sir Edward Sabine, 1823, An Account of Experiments to Determine the Figure of the Earth by Means of the Pendulum Vibrating Seconds in Different Latitudes. Und der mysteriöse Graf Fjodor Petrowitsch Litke publizierte 1836 die Ergebnisse seiner Forschungen über das Verhalten des Pendels während einer Reise um die Welt. Und das für die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in St Petersburg. Wieso jetzt auch die Russen?
Und wenn nun in der Zwischenzeit eine Gruppe, sicher eine der Baconschen Linie, beschlossen hätte, das Geheimnis der Strömungen ohne Karte und ohne Pendel zu lösen, einfach durch neues und gründliches Horchen auf den Atem der Schlange? Dann wären die Ahnungen von Salon auf einmal gar nicht mehr so abwegig, denn mehr oder weniger zur Zeit Foucaults begann die industrielle Welt, eine Schöpfung des Baconschen Flügels, mit dem Bau der Untergrundbahnen in den Herzen der europäischen Metropolen.
»Stimmt«, sagte Belbo, »das neunzehnte Jahrhundert war geradezu besessen von den Untergründen: Jean Valjean, Fantomas und Javert, Rocambole, ein einziges Hin und Her zwischen unterirdischen Gängen und Abwasserkanälen. Mein Gott, ja, und jetzt, wo ich daran denke: das ganze Werk von Jules Verne ist eine einzige initiatische Offenbarung der Geheimnisse des Untergrundes! Reise zum Mittelpunkt der Erde, zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, die Höhlen der geheimnisvollen Insel, die Stadt unter der Erde, das unterirdische Riesenreich des Schwarzen Indien! Man müsste einen Plan seiner außerordentlichen Reisen rekonstruieren, sicher fände man eine Skizze der Windungen der Großen Schlange, eine Karte der Leys, für jeden Kontinent einzeln erstellt. Jules Verne erforschte von oben und von unten das System der tellurischen Ströme!«
Ich machte mit: »Wie heißt der Held im Schwarzen Indien? John Garral, fast ein Anagramm von Graal.«
»Seien wir nicht zu kopflastig, bleiben wir auf der Erde. Jules Verne hat viel deutlichere Signale ausgesandt: Robur le Conquérant, R. C, Rosencreutz. Und Robur von hinten nach vorn gelesen ergibt Rubor, das Rot der Rose.«
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Philéas Fogg. Un nom qui est une véritable signature: EAS, en grec, a le sens de globalité (il est donc l’équivalent de pan ou de poly) et PHILEAS est donc identique à POLPHILE. Quant à Fogg, c’est »le brouillard« en anglais... Nul doute, Jules Verne appartenait bien à la Société »Le Brouillard«. Il eut même la gentillesse de nous préciser les liens de celleci avec la Rose+Croix, car enfin, qu’estce que ce noble voyageur nommé Philéas Fogg, sinon un Rose+Croix?... Et puis, n’appartientil pas au Reform-Club dont les initiales R. C. désignent la Rose+Croix réformatrice? Ce Reform-Club est élevé dans »Pall-Mall«, évoquant une fois de plus le Songe de Poliphile.
(Phileas Fogg. Ein Name, der eine Signatur ist: EAS hat im Griechischen die Bedeutung von Globalität (ist also gleichbedeutend mit pan oder poly), und PHILEAS ist somit dasselbe wie POLYPHIL. Fogg ist englisch »der Nebel«... Kein Zweifel, Jules Verne gehörte zu der Gesellschaft »Der Nebel«, Le Brouillard. Er hatte sogar die Freundlichkeit, uns deren Verbindungen zum Rosen+Kreuz zu präzisieren, denn schließlich, was ist dieser noble Reisende namens Phileas Fogg, wenn nicht ein Rosen+Kreuzer?... Und gehört er nicht zu jenem Reform-Club, dessen Initialen R. C. das reformatorische Rosen+Kreuz bezeichnen? Und dieser Reform-Club hat seinen Sitz an der »Pall-Mall«, womit er einmal mehr den Traum des Polyphil evoziert.)
Michel Lamy, Jules Verne, initié et initiateur, Paris, Payot, 1984, p. 237f
Die Rekonstruktion beanspruchte uns über Tage und Wochen, wir unterbrachen unsere Arbeiten, um uns den neuesten Zusammenhang mitzuteilen, wir lasen alles, was uns in die Finger kam, Lexika, Zeitungen, Comics, Verlagskataloge, diagonal nach möglichen Kurzschlussverbindungen durch, wir blieben an jedem Bouquinistenstand stehen, um zu kramen, schnupperten an den Zeitungskiosken, klauten unverfroren aus den Manuskripten unserer Diaboliker, stürzten mit Triumphgeschrei ins Büro und warfen den letzten Fund auf den Tisch. Wenn ich an diese Wochen zurückdenke, kommt mir das ganze Ganze blitzartig vor, rasant wie ein Film von Larry Semon, voller Slapsticks, mit Türen, die überschallschnell auf- und zugehen, Torten, die durch die Luft segeln, Fluchten über Treppen vor und zurück, Zusammenstößen von alten Autos, Zusammenbrüchen von Drugstore-Regalen zwischen Salven von Dosen, Flaschen, Weichkäsepackungen, Sodawasserfontänen, aufplatzenden Mehlsäcken. Und andererseits, wenn ich an die Zwischenräume und toten Zeiten denke — das übrige Leben, das sich um uns herum abspielte —, kann ich alles auch wie eine Geschichte in Zeitlupe lesen, mit dem Großen Plan, der allmählich Gestalt annahm, langsam wie Slow-Motion-Gymnastik, wie die zögernde Drehung des Diskuswerfers, das vorsichtige Schwingen des Kugelstoßers, das lange Zielen beim Golf, das sinnlose Warten beim Baseball. Auf jeden Fall, in welchem Rhythmus auch immer, wurden wir für unsere Mühe belohnt, denn wenn man Zusammenhänge finden will, findet man immer welche, Zusammenhänge zwischen allem und jedem, die Welt explodiert zu einem wirbelnden Netz von Verwandtschaften, in dem alles auf alles verweist und alles alles erklärt...
Zu Lia schwieg ich darüber, um sie nicht zu verstimmen, aber ich begann auch Giulio zu vernachlässigen. Es kam vor, daß ich mitten in der Nacht aufwachte und zum Beispiel an Descartes denken musste: Renatus Cartesius, Herrgott, das ergab ja R. C., und wie energisch hatte er nach den Rosenkreuzern gesucht und dann geleugnet, sie gefunden zu haben! Warum war er so besessen von der Methode? Nun, die Methode diente ihm zur Suche nach der Lösung des Geheimnisses, das mittlerweile alle Initiierten Europas faszinierte... Und wer hatte die Magie der Gotik verherrlicht? René de Chateaubriand, R. C. Und wer hatte, zur Zeit von Bacon, Steps to the Temple geschrieben? Richard Crashaw. Und was war mit Ranieri de' Calzabigi, mit René Clair, mit Raymond Chandler? Und mit Rick in Casablanca?
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Diese Wissenschaft, die nicht verlorengegangen ist, zumindest nicht in ihrem materiellen Teil, ist den religiösen Baumeistern von den Mönchen aus Citeaux beigebracht worden... Ihre Erben... kannte man im letzten Jahrhundert unter dem Namen »Compagnons du Tour de France«. An sie wandte sich Eiffel, um seinen Turm zu erbauen.
Louis Charpentier, Les mystères de la cathédrale de Chartres, Paris, Laffont, 1966, p. 55-56
Wir hatten nun bald die ganze Neuzeit durchwühlt, als fleißige Maulwürfe, die sich durch die Erde graben, um den Planeten von unten auszuspähen. Aber es musste da noch etwas anderes geben, ein Unternehmen, das die Baconianer begonnen hatten und dessen Ergebnisse, dessen Etappen offen vor aller Augen lagen, ohne daß es jemand bemerkt hatte... Denn wer den Boden durchwühlt, nähert sich zwar den Tiefenschichten, doch die Kelten und Templer hatten sich nicht darauf beschränkt, Löcher zu graben, sie hatten auch ihre Akupunkturnadeln gerade zum Himmel empor gerichtet, als Antennen, um durch sie von einem Megalithen zum anderen zu kommunizieren und die Einflüsse der Gestirne zu empfangen...
Die Idee war Belbo in einer schlaflosen Nacht gekommen. Er war ans Fenster getreten und hatte in der Ferne, über den Dächern von Mailand, die Lichter des Fernsehturms gesehen, die große Antenne der Stadt. Eine moderate und vorsichtige Version des Turms von Babel. Und da hatte er kapiert.
»Der Eiffelturm!« sagte er am nächsten Morgen. »Wie konnten wir den bloß übersehen! Der metallene Megalith, der Menhir der Menhire der letzten Kelten, die höchste Hohle Nadel aller gotischen Nadeln und Fialen! Und wozu braucht Paris ein so unnützes Monument? Nun, es ist die Himmelssonde, die Antenne zum Empfang der Informationen von allen in die Kruste der Erde gesteckten hermetischen Akupunkturnadeln — von den Statuen der Osterinseln, von Machu Picchu in Peru, von der Freiheitsstatue in New York, die der Initiierte La Fayette gewollt hatte, vom Obelisken in Luxor, vom höchsten Turm in Tomar, vom Koloss von Rhodos, der weiterhin aus den Tiefen des Hafens sendet, wo ihn niemand mehr findet, von den Tempeln im brahmanischen Dschungel, von den Wachtürmen auf der Chinesischen Mauer, vom Gipfel von Ayers Rock in Australien, von den Fialen auf dem Straßburger Münster, an denen sich der Initiierte Goethe ergötzte, von den Gesichtern am Mount Rushmore (wie vieles hatte der Initiierte Hitchcock verstanden!), von der Antenne auf dem Empire State Building (und sagt ihr mir, auf welches Imperium diese Schöpfung amerikanischer Initiierter anspielt, wenn nicht auf das von Kaiser Rudolf in Prag!). Der Eiffelturm fängt Signale aus dem Untergrund auf und konfrontiert sie mit denen, die vom Himmel herabkommen. Und wer gab uns das erste beklemmende Filmbild vom Eiffelturm? René Clair in Paris qui dort, worin ein verrückter Doktor die Metropole mit unsichtbaren Strahlen in Schlaf versetzt, und nur acht Personen entgehen den Einflüssen aus dem Untergrund, indem sie auf die Turmspitze fliehen. René Clair, R. C.«
Die ganze Geschichte der Wissenschaft und der Technik musste neu gelesen werden, sogar der Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltraum wurde nun verständlich, mit diesen wie verrückt um die Erde sausenden Satelliten, die nichts anderes tun als den Globus zu fotografieren, um darauf unsichtbare Spannungen zu identifizieren, unterseeische Flüsse, warme Luftströme. Und sie dann miteinander zu besprechen, mit dem Eiffelturm, mit Stonehenge…
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It is a remarkable coincidence that the 1623 Folio, known by the name of Shakespeare, contains exactly thirty-six plays.
(Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, daß die Folio-Ausgabe von 1623, die unter dem Namen von Shakespeare bekannt ist, genau sechsunddreißig Stücke enthält.)
W. F. C. Wigston, Francis Bacon versus Phantom Captain Shakespeare: The Rosicrucian Mask, London, Kegan Paul, 1891, p. 353
Wenn wir einander die Resultate unserer Fantastereien berichteten, schien uns — und sicher zu Recht —, daß wir mit unzulässigen Assoziationen und außergewöhnlichen Kurzschlussverbindungen operierten, denen Glauben zu schenken wir uns geschämt hätten, hätte man sie uns vorgehalten. Was uns ermunterte, war das gemeinsame Einverständnis — stillschweigend, wie es die Etikette der Ironie verlangt —, daß wir die Logik der anderen parodierten. Doch in den langen Zwischenzeiten, wenn jeder von uns Beweisstücke für die nächste Dreiersitzung sammelte, überzeugt, Mosaiksteinchen für die Parodie eines Mosaiks zu sammeln, gewöhnte sich unser Hirn allmählich daran, alles und jedes mit allem und jedem in Verbindung zu bringen, und um das automatisch tun zu können, musste es feste Gewohnheiten annehmen. Ich glaube, ab einem bestimmten Punkt macht es keinen Unterschied mehr, ob man sich daran gewöhnt, so zu tun, als ob man glaubte, oder ob man sich daran gewöhnt, wirklich zu glauben.
Es ist wie bei den Spionen. Sie schleichen sich in die gegnerischen Geheimdienste ein und gewöhnen sich daran, wie der Gegner zu denken; wenn sie überleben, so weil es ihnen gelungen ist, sich dem Gegner total anzupassen; kein Wunder also, daß sie nach einer Weile zur anderen Seite überlaufen, die nun ihre Seite geworden ist. Oder wie bei denen, die allein mit einem Hund leben. Sie reden den ganzen Tag lang mit ihm; zu Anfang bemühen sie sich, seine Logik zu verstehen, dann wollen sie, daß er ihre Logik versteht; zuerst finden sie ihn schüchtern, dann eifersüchtig, dann übelnehmerisch, und schließlich verbringen sie ihre Zeit damit, ihn zu piesacken und ihm Eifersuchtsszenen zu machen. Wenn sie sicher sind, daß er wie sie geworden ist, sind sie wie er geworden, und wenn sie stolz darauf sind, ihn vermenschlicht zu haben, haben sie sich de facto verhundet.
Vielleicht weil ich jeden Tag mit Lia und dem Kind in Berührung kam, war ich dem Spiel noch am wenigsten von uns Dreien verfallen. Ich war überzeugt, es zu beherrschen, ich fühlte mich, als schlüge ich immer noch das Agogõ während des rituellen Tanzes — du stehst auf Seiten derer, die Emotionen hervorrufen, nicht sie erleiden, sagte ich mir. Wie es bei Diotallevi war, wusste ich damals noch nicht, heute weiß ich es: Diotallevi gewöhnte seinen Körper daran, wie ein Diaboliker zu denken. Was Belbo anging, so identifizierte er sich mit dem Spiel auch auf der Bewusstseinsebene. Ich gewöhnte mich, Diotallevi zerstörte sich, Belbo bekehrte sich. Aber alle drei verloren wir langsam jene intellektuelle Klarheit, die uns erlaubt, das Ähnliche vom Identischen zu unterscheiden, die Metapher von der Sache zu trennen — jene geheimnisvolle, glänzende und wunderbare Eigenschaft, dank welcher wir sagen können, daß jemand »bestialisch« geworden ist, ohne dabei zu meinen, ihm seien tatsächlich Pranken und Hauer gewachsen, während ein Kranker das Wort »bestialisch« hört und sofort an ein bellendes oder rauchendes oder Feuer speiendes Untier denkt.
Was mit Diotallevi geschah, hätten wir sehen können, wären wir nicht so erregt gewesen. Ich würde sagen, angefangen hatte das Ganze, als der Sommer zu Ende ging. Diotallevi war magerer als gewöhnlich aus den Ferien zurückgekommen, aber es war nicht die nervöse Schlankheit dessen, der sich ein paar Wochen lang in den Bergen erholt hat. Sein zarter Albino-Teint hatte einen gelblichen Schimmer bekommen. Wenn wir es bemerkten, dachten wir wohl, er hätte die Ferien über seinen rabbinischen Schriftrollen brütend verbracht. Doch in Wahrheit dachten wir an ganz andere Dinge.
Denn in den folgenden Tagen gelang es uns, Stück für Stück auch die Gruppen außerhalb des Baconschen Flügels unterzubringen.
So betrachten zum Beispiel die gängigen Freimaurerstudien den bayerischen Illuminatenorden, der die Auflösung der Nationen und die Abschaffung des Staates anstrebte, als Inspirator nicht nur des Bakuninschen Anarchismus, sondern auch des Marxismus. Unsinn. Die llluminaten waren Provokateure, von den Baconianern in die Reihen der deutschen Templer eingeschleust, aber Marx und Engels dachten an etwas ganz anderes, als sie 1848 das Kommunistische Manifest mit dem reißerischen Satz begannen: »Ein Gespenst geht um in Europa.« Warum benutzten sie ausgerechnet eine so gotisch-schauerromantische Metapher? Nun, ganz klar, das Kommunistische Manifest spielt sarkastisch auf die gespenstische Jagd nach dem Großen Plan an, die seit einigen Jahrhunderten heimlich durch die Geschichte des Kontinents tobt. Und es schlägt sowohl den Baconianern wie den Neutemplern eine Alternative vor. Marx war Jude, vielleicht war er anfangs das Sprachrohr der Rabbiner von Gerona oder von Safed gewesen und hatte versucht, das ganze Volk Gottes in die Suche mit einzuschalten. Dann aber riss ihn der eigene Schwung mit, er identifizierte die Schechinah, das ins Reich exilierte Volk Gottes, mit dem Proletariat, er verriet die Erwartungen seiner Inspiratoren und drehte die Tendenzen des jüdischen Messianismus um. Templer aller Länder, vereinigt euch! Die Karte der Welt den Arbeitern! Wunderbar! Wo gäbe es eine bessere historische Rechtfertigung für den Kommunismus?
»Gut«, sagte Belbo, »aber auch bei den Baconianern kommt es zu Zwischenfällen, meint ihr nicht? Einige von ihnen verlieren sich unterwegs in einen szientistischen Traum und landen in einer Sackgasse. Ich meine die Einsteins und die Fermis am Ende der Dynastie, die das Geheimnis im Innern des Mikrokosmos suchen und daher die falsche Entdeckung machen. Statt die tellurische Energie, die eine saubere, natürliche, weisheitsmäßige Energie ist, entdecken sie die Atomenergie, die technologisch, schmutzig, vergiftet ist... «
»Raum-Zeit, Irrtum des Okzidents«, sagte Diotallevi.
»Verlust der Mitte. Serum und Penicillin als Karikatur des Lebenselixiers«, warf ich ein.
»Wie dieser andere Templer, Freud«, sagte Belbo. »Statt in den Labyrinthen des physischen Untergrundes zu graben, gräbt er in denen des psychischen Untergrundes, als hätten darüber nicht schon die Alchimisten alles und besser gesagt... «
»Aber du bist es doch«, meinte Diotallevi, »der dauernd die Bücher von Doktor Wagner herausbringen will. Für mich ist die Psychoanalyse nur etwas für Neurotiker.«
»Ja, und der Penis ist nur ein Phallussymbol«, schloss ich. »Lassen wir das, meine Herren, verlieren wir uns nicht in müßige Spielereien. Und verlieren wir keine Zeit. Wir wissen noch immer nicht, wohin wir die Paulizianer und die Jerusalemer tun sollen.«
Doch ehe wir uns dieser neuen Frage zuwenden konnten, stießen wir auf eine andere Gruppe. Eine, die nicht zu den sechsunddreißig Unsichtbaren gehörte, aber sich schon recht früh in das Spiel mit eingemischt und es teilweise aus dem Gleis gebracht hatte, indem sie als Störtrupp agierte. Die Jesuiten.
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The Baron Hundt, Chevalier Ramsay... and numerous others who founded the grades in these rites, worked under instructions from the General of the Jesuits... Templarism is Jesuitism.
(Der Baron Hund, Chevalier Ramsay... und zahlreiche andere, welche die Grade in diesen Riten [der Schottischen Freimaurerei] begründeten, arbeiteten unter dem Kommando des Generals der Jesuiten... Templerismus ist Jesuitismus.)
Brief an Mme. Blavatsky von Charles Sotheran, 32 .-. A. and P. R., 94.-. Memphis, K. R ♣ , K. Kadosh, M. M. 104, Eng. etc., Initiale of the modern English Brotherhood of the Rosie Cross and other secret societies, 11.1.1877; in Isis Unveiled, II, 1877, p. 390
Wir waren ihnen schon öfter begegnet, schon seit den Zeiten der allerersten rosenkreuzerischen Manifeste. Bereits 1620 war in Deutschland eine anonyme Schrift mit dem Titel Rosa Jesuitica erschienen, die daran erinnerte, daß die Symbolik der Rose katholisch und marianisch war, bevor sie rosenkreuzerisch wurde, und die behauptete, letzten Endes seien die beiden Orden — Jesuiten und Rosenkreuzer — solidarisch, und die Rosenkreuzer seien nur eine der vielen Umformulierungen der jesuitischen Mystik zum Gebrauch des Volkes im reformierten Deutschland.
Ich erinnerte mich an Salons Worte über den Groll, mit dem Pater Athanasius Kircher die Rosenkreuzer attackiert hatte, und das ausgerechnet, während er über das Innere der Erdkugel sprach.
»Pater Kircher«, sagte ich, »spielt eine zentrale Rolle in dieser Geschichte. Warum hat dieser Mann, der so oft bewiesen hatte, daß er Sinn für Beobachtung und Lust am Experimentieren besaß, seine paar guten Ideen unter Tausenden von Seiten voll abenteuerlichster Hypothesen begraben? Er korrespondierte mit den besten englischen Wissenschaftlern, und dann greift er in jedem seiner Bücher die typischen Themen der Rosenkreuzer auf, scheinbar um sie zu widerlegen, faktisch aber, um sie sich anzueignen und mit ihnen seine Version von Gegenreformation anzubieten. Im Anhang zur Erstausgabe der Fama Fraternitatis beteuerte jener Herr Haselmeyer, der wegen seiner reformatorischen Ideen ›von den Jesuittern ist auf eine Galeeren geschmiedet worden‹, wie es im Titel hieß, daß die wahren und wirklichen Jesuiten niemand anders seien als die Rosenkreuzer. Nun, und Pater Athanasius Kircher schreibt seine dreißig und mehr Bücher, um zu suggerieren, daß die wahren und wirklichen Rosenkreuzer niemand anders seien als die Jesuiten. Mit anderen Worten: die Jesuiten versuchen, den Großen Plan in die Hand zu bekommen. Sogar das Pendel will Pater Kircher studieren, und er tut es, wenn auch auf seine Weise, nämlich indem er eine planetarische Uhr erfindet, die ihm die genaue Uhrzeit in den über die ganze Welt verstreuten Ordenssitzen anzeigen sollte.«
»Aber woher wussten die Jesuiten überhaupt von der Existenz des Großen Plans, wenn doch die Templer sich lieber totschlagen ließen als etwas zu verraten?« fragte Diotallevi. Wir begnügten uns nicht mit der Antwort, daß die Jesuiten immer eins mehr als der Teufel wissen. Wir wollten eine bessere Erklärung.
Und wir fanden sie bald. Guillaume Postel, schon wieder er. Beim Durchblättern der Geschichte der Jesuiten von Crétineau-Joly (was haben wir über den Namen gelacht!) entdeckten wir, daß Postel, ergriffen von seinen mystischen Leidenschaften, von seinem Durst nach spiritueller Regeneration, im Jahre 1544 zu Ignatius von Loyola nach Rom gekommen war. Ignatius hatte ihn mit Begeisterung aufgenommen, aber Postel konnte nicht auf seine fixen Ideen verzichten, auf seine Kabbalismen, seinen Ökumenismus, auf den Mythos von seiner Johanna als Inkarnation der Sophia oder der Schechinah oder was weiß ich, und das alles konnte den Jesuiten nicht behagen, und am wenigsten behagte ihnen die fixeste seiner fixen Ideen, von der er partout nicht lassen wollte, nämlich daß der König der Welt kein anderer sein könne als der König von Frankreich. Ignatius war ein Heiliger, aber ein Spanier.
So war es nach einer Weile zum Bruch gekommen, und Postel hatte die Jesuiten wieder verlassen oder die Jesuiten hatten ihn vor die Tür gesetzt Aber wenn Postel einmal Jesuit gewesen war, und sei's nur für kurze Zeit, muß er Ignatius — dem er Gehorsam perinde ac cadaver geschworen hatte — auch seine Mission anvertraut haben. Lieber Ignatius, muß er gesagt haben, wisse, daß du, wenn du mich aufnimmst, auch das Geheimnis des Großen Planes der Templer mit aufnimmst, deren französischer Repräsentant zu sein ich unverdienterweise die Ehre habe, und da wir ohnehin alle auf das dritte Jahrhunderttreffen anno Domini 1584 warten, können wir ebenso gut auch ad maiorem Dei gloriam darauf warten.
So also haben die Jesuiten durch Postel, in einem seiner schwachen Momente, vom Geheimnis der Templer erfahren. Ein solches Geheimnis muß ausgenutzt werden. Ignatius geht in die ewige Seligkeit ein, aber seine Nachfolger bleiben wachsam und behalten Postel im Auge. Sie wollen wissen, mit wem er sich in jenem Schicksalsjahr 1584 treffen wird. Doch leider stirbt er drei Jahre vorher, und es hilft auch nichts, daß — wie eine unserer Quellen versichert — ein unbekannter Jesuit an seinem Totenbett steht. Die Jesuiten wissen nicht, wer sein Nachfolger ist.
»Entschuldigung, Casaubon«, wandte Belbo ein, »aber da scheint mir etwas nicht aufzugehen. Wenn die Dinge so liegen, haben die Jesuiten doch nicht wissen können, daß das Treffen von 1584 gescheitert ist.«
»Man darf aber auch nicht vergessen«, gab Diotallevi zu bedenken, »daß diese Jesuiten nach allem, was mir die Gojim erzählen, Männer von Eisen waren, die sich nicht so leicht verschaukeln ließen.«
»Ach, wenn's darum geht«, sagte Belbo, »ein Jesuit verspeist zwei Templer zu Mittag und zwei zu Abend. Auch sie sind aufgelöst worden, und mehr als einmal, sie hatten die Regierungen in ganz Europa gegen sich, und trotzdem sind sie immer noch da.«
Man musste sich in die Lage der Jesuiten versetzen. Was tut ein Jesuit, wenn ihm einer wie Postel entwischt ist? Mir kam eine Idee, die allerdings so diabolisch war, daß nicht einmal unsere Diaboliker, dachte ich, sie geschluckt hätten: Die Rosenkreuzer sind eine Erfindung der Jesuiten!
»Wie wär's mit folgendem«, schlug ich vor. »Als Postel gestorben ist, sehen die Jesuiten, scharfsinnig wie sie sind, das Durcheinander mit den Kalendern voraus und ergreifen die Initiative. Sie setzen die Mystifikation der Rosenkreuzer in die Welt und kalkulieren richtig, was dann passieren wird. Unter den vielen Schwarmgeistern, die anbeißen, wird auch der eine oder andere von den echten Kerngruppen sein, der sich überrumpelt zu erkennen gibt. Man stelle sich vor, wie wütend Bacon in so einem Fall gewesen sein muß: Fludd, du Idiot, konntest du nicht das Maul halten? Aber Viscount my Lord, die klangen doch wie die unseren... Narr, hat man dich nicht gelehrt, den Papisten zu misstrauen? Dich hätten sie verbrennen sollen, nicht jenen Unglücklichen aus Nola!«
»Aber wieso«, fragte Belbo, »sind dann die Rosenkreuzer, als sie sich nach Frankreich verlagerten, von den Jesuiten — oder von jenen katholischen Polemikern, die für sie arbeiteten — als Häretiker und Teufelsschüler attackiert worden?«
»Glauben Sie etwa, die Jesuiten gingen geradlinig vor? Was wären das dann für Jesuiten?«
Wir hatten uns lange über meinen Vorschlag gestritten und uns schließlich darauf geeinigt, die ursprüngliche Hypothese besser zu finden: Die Rosenkreuzer waren der Köder, den die Baconianer und die Deutschen den Franzosen hingeworfen hatten. Aber kaum waren die ersten Manifeste erschienen, hatten die Jesuiten das Spiel durchschaut. Und hatten sich unverzüglich eingemischt, um die Karten durcheinanderzubringen. Ihr Ziel war offensichtlich, das Treffen der englischen und deutschen Gruppe mit der französischen zu verhindern, wozu ihnen jedes Mittel recht war, auch das gemeinste.
Und derweil registrierten sie Nachrichten, sammelten Informationen und speicherten sie... wo? In Abulafia, scherzte Belbo. Aber Diotallevi, der sich inzwischen eigene Informationen verschafft hatte, sagte, das sei durchaus kein Scherz. Zweifellos waren die Jesuiten dabei, den enormen Elektronenrechner zu konstruieren, der imstande sein würde, eine Summe aus all den akkumulierten Daten zu ziehen, eine Konklusion aus dem geduldigen jahrhundertelangen Verrühren aller Fetzen von Wahrheit und Lüge, die sie unentwegt sammelten.
»Die Jesuiten hatten etwas begriffen«, sagte Diotallevi, »was weder die guten alten Templer von Provins noch die Baconianer auch nur geahnt hatten, nämlich daß sich die gesuchte Karte auch auf kombinatorischem Wege rekonstruieren ließ, mit Verfahrensweisen ähnlich denen der modernen Elektronengehirne! Die Jesuiten sind die ersten, die Abulafia erfinden! Pater Kircher liest alle Traktate über die Ars combinatoria, angefangen mit dem von Lullus. Und seht mal, was er dann — hier, schaut euch das an in seiner Ars Magna Sciendi — publiziert.«
Epilogismus Combinationis Linearis
aus Athanasius Kircher, Ars Magni Sciendi, Amsterdam, Jansson, 1669, p. 170
»Sieht aus wie ein Häkelmuster«, sagte Belbo.
»Von wegen. Das sind alle je irgend möglichen Kombinationen von x Elementen. Faktorenrechnung, genau wie im Sefer Jezirah. Die Berechnung der Kombinationen und Permutationen, die Essenz der Temurah!«
Jawohl, so muß es gewesen sein. Es war eine Sache, das vage Projekt von Fludd zu konzipieren, um die Karte ausgehend von einer Polarprojektion zu finden, und es war eine andere, zu wissen, wie viele Versuche dazu notwendig sein würden, und sie alle durchzuprobieren, um die beste Lösung zu finden. Und es war vor allem eine Sache, das abstrakte Modell der möglichen Kombinationen zu entwerfen, und es war eine ganz andere, an eine Maschine zu denken, die fähig sein würde, das Modell zu konkretisieren. Und siehe da, sowohl Kircher wie sein Schüler Schott entwerfen mechanische Drehorgeln, Mechanismen mit Lochstreifen, Computer avant la lettre. Fundiert auf binärer Logik. Kabbala, angewandt auf die moderne Mechanik.
IBM: Iesus Babbage Mundi, Iesum Binarium Magnificamur. AMDG: Ad Maiorem Dei Gloriam? Von wegen: Ars Magna, Digitale Gaudium! IHS: Iesus Hardware & Software!
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Inmitten der dichtesten Finsternis hat sich eine Gesellschaft von neuen Wesen gebildet, die sich kennen, ohne sich je gesehen zu haben, sich verstehen, ohne sich je erklärt zu haben, sich dienen, ohne befreundet zu sein... Diese Gesellschaft... übernimmt vom Jesuitenregime den blinden Gehorsam, von der Freimaurerei die Prüfungen und die äußeren Zeremonien, von den Templern die Evokationen der Untergründe und die unglaubliche Kühnheit... Hat der Graf von Saint-Germain je etwas anderes getan, als Guillaume Postel zu imitieren, der die Manie hatte, sich für älter auszugeben als er war?
Marquis de Luchet, Essai sur la secte des illuminés, Paris 1789, V und XII
Die Jesuiten hatten begriffen, was die beste Methode ist, um einen Gegner zu destabilisieren: Geheimsekten gründen, warten, daß die gefährlichen Enthusiasten hineinströmen, und sie dann alle verhaften. Anders gesagt: Wer eine Verschwörung fürchtet, organisiere sie selber, so bekommt er alle potenziellen Verschwörer unter seine Kontrolle.
Ich erinnerte mich an einen Vorbehalt, den Agliè über Ramsay geäußert hatte, also über den ersten, der einen direkten Zusammenhang zwischen Freimaurerei und Templern hergestellt hatte: Er habe Verbindungen zu katholischen Kreisen gehabt. Tatsächlich hatte bereits Voltaire den Chevalier Ramsay als einen Mann der Jesuiten bezeichnet. Mit anderen Worten: Auf die Entstehung der englischen Freimaurerei antworteten die Jesuiten aus Frankreich mit dem »schottischen« Neutemplerismus.
So wird verständlich, warum 1789, als Antwort auf diesen Schachzug, ein als Marquis de Luchet getarnter Anonymus einen Essay über die Sekte der Illuminaten veröffentlicht, in dem er die llluminaten jeder Art attackierte, ob aus Bayern oder von sonst wo, ob anarchistische Pfaffenfresser oder mystische Neutempler, und in denselben Sack (unglaublich, wie sich peu à peu alle Steinchen unseres Mosaiks nahtlos zusammenfügten!) sogar die Paulizianer steckt, zu schweigen von Postel und Saint-Germain. Wobei er beklagt, daß diese Formen von templerischem Mystizismus die Glaubwürdigkeit der Freimaurerei beeinträchtigen, die für sich genommen eine Gesellschaft von braven und ehrlichen Leuten sei.
Mithin: Die Baconianer hatten die Freimaurerei als ein Gewusel à la Rick's Café Américain in Casablanca erfunden, der jesuitische Neutemplerismus sollte ihre Erfindung zunichte machen, und der Marquis de Luchet war als Killer ausgesandt worden, um alle nicht-baconischen Gruppen zu liquidieren.
An diesem Punkt aber mussten wir einer anderen Tatsache Rechnung tragen, die sich der arme Agliè nicht erklären konnte: Wieso hatte sich de Maistre, ein Mann der Jesuiten, auf dem Konvent von Wilhelmsbad eingemischt, und das gut sieben Jahre vor dem Auftauchen des Marquis de Luchet, um Zwietracht unter den Neutemplern zu säen?
»Der Neutemplerismus lief gut und nach den Wünschen der Jesuiten in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts«, erklärte Belbo, »und er lief immer schlechter, als das Jahrhundert zu Ende ging. Erstens, weil sich die Revolutionäre seiner bemächtigt hatten, für die alles recht war, von der Göttin Vernunft bis zum Höchsten Wesen, solange nur der König geköpft wurde, siehe Cagliostro, und zweitens, weil sich in Deutschland die Fürsten eingemischt hatten, voran Fridericus von Preußen, deren Ziele sicherlich nicht mit denen der Jesuiten übereinstimmten. Und als der mystische Neutemplerismus, wer immer ihn auch erfunden hatte, dann schließlich die Zauberflöte hervorbrachte, war klar, daß die Mannen Loyolas beschlossen, ihn loszuwerden. Das ist wie in der Finanzwelt: Man kauft eine Firma, stößt sie wieder ab, liquidiert sie, lässt sie bankrott gehen oder gibt ihr eine Kapitalspritze, je nachdem, welchen Generalplan man hat, und dabei kümmert man sich einen Dreck darum, was aus dem Portier wird. Oder wie mit einem Auto: Man fährt es, solange es funktioniert, und dann ab auf den Schrott.«
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Im wahren maurerischen Kodex wird man keinen anderen Gott finden... als den von Mani. Er ist der Gott des kabbalistischen Maurers und der alten Rosenkreuzer; er ist der Gott des martinistischen Maurers... Im übrigen sind alle den Templern zugeschriebenen Infamien genau diejenigen, die man einst den Manichäern zuschrieb.
Abbé Barruel, Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme, Hamburg 1798,2, XIII
Die Strategie der Jesuiten wurde uns klar, als wir den Abbé Barruel entdeckten. Dieser schrieb in den Jahren 1797-98, als Antwort auf die Französische Revolution, seine Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme, einen regelrechten Abenteuerroman, der bezeichnenderweise mit den Templern beginnt: Nach dem Feuertod von Jacques de Molay verwandeln die Templer sich in eine Geheimgesellschaft mit dem Ziel, Monarchie und Papsttum abzuschaffen und eine Weltrepublik zu errichten. Im achtzehnten Jahrhundert bemächtigen sie sich der Freimaurerei und machen sie zu ihrem Werkzeug. 1763 gründen sie eine literarische Akademie, bestehend aus Leuten wie Voltaire, Turgot, Condorcet, Diderot und d'Alembert, die sich im Hause des Barons d'Holbach treffen und — Komplott, Komplott — 1776 die Jakobiner hervorbringen. Welche ihrerseits Marionetten in der Hand der wahren Oberen sind, nämlich der bayerischen Illuminaten, die Tag und Nacht nur auf Königsmord sinnen.
Von wegen ab auf den Schrott. Nachdem sie die Freimaurerei erst mit Hilfe von Ramsay in zwei Teile gespalten haben, vereinigen die Jesuiten sie nun wieder, um sie frontal zu schlagen.
Barruels Denkschrift hatte eine gewisse Wirkung gehabt, fanden sich doch in den französischen Staatsarchiven mindestens zwei von Napoleon angeforderte Polizeiberichte über die klandestinen Sekten. Verfasser dieser Berichte war ein gewisser Charles de Berkheim, der nichts Besseres zu tun wusste — wie alle Geheimdienstler, die sich ihre Informationen immer nur dort holen, wo sie schon veröffentlicht sind —, als zuerst das Buch des Marquis de Luchet und dann das von Barruel abzuschreiben.
Angesichts dieser das Blut gefrierenmachenden Beschreibung der Illuminaten und dieser hellsichtigen Anprangerung eines Direktoriums Unbekannter Oberer mit der Fähigkeit, die Welt zu beherrschen, zögerte Napoleon nicht und beschloss, einer der ihren zu werden. Er ließ seinen Bruder Joseph zum Großmeister des Grand Orient ernennen und nahm selbst, wie von vielen Quellen bezeugt wird, Kontakte zu den Freimaurern auf, ja, nach Auskunft anderer Quellen gelangte er in ihren Reihen sogar zu höchsten Würden. Unklar ist nur, nach welchem Ritus. Vielleicht sicherheitshalber nach allen.
Wie viel Napoleon gewusst haben mochte, wussten wir nicht, aber wir vergaßen auch nicht, daß er eine Zeit lang in Ägypten gewesen war, und wer weiß, mit welchen Weisen er dort im Schatten der Pyramiden gesprochen hatte (und hier begreift auch ein Kind, daß die berühmten vierzig Jahrhunderte, die auf ihn herabsehen, eine deutliche Anspielung auf die Hermetische Tradition waren).
Doch er muß vieles gewusst haben, denn 1806 berief er eine Versammlung führender französischer Juden ein. Die offiziellen Gründe waren banal: Versuch, den Zinswucher einzudämmen, sich die Treue der israelitischen Minderheit zu sichern, neue Geldgeber zu finden... Aber das erklärt nicht, wieso er beschlossen hatte, die Versammlung »Großes Synedrium« zu nennen, was die Vorstellung eines Direktoriums mehr oder minder Unbekannter Oberer nahelegte. In Wahrheit hatte der schlaue Korse die Repräsentanten des Jerusalemer Flügels identifiziert und versuchte nun, die verstreuten Gruppen zusammenzubringen.
»Nicht zufällig stehen die Truppen von Marschall Ney 1808 in Tomar. Begreifen Sie den Zusammenhang?«
»Wir sind nur hier, um Zusammenhänge zu begreifen.«
»Napoleon, der im Begriff ist, England zu schlagen, hat nun so gut wie alle europäischen Zentren in der Hand, und durch die französischen Juden auch die Jerusalemer. Wer fehlt ihm noch?«
»Die Paulizianer.«
»Richtig. Und wir haben immer noch nicht entschieden, wo sie geblieben sind. Aber das legt uns Napoleon nahe, der sie dort suchen geht, wo sie sind, nämlich in Russland.«
Seit Jahrhunderten im slawischen Raum blockiert, hatten die Paulizianer sich naturgemäß unter den diversen Etiketten des russischen Mystizismus reorganisiert. Einer der einflussreichsten Berater Alexanders I. war Fürst Galitzin, der in Verbindung mit einigen Sekten martinistischer Prägung stand. Und wen fanden wir in Russland, gut zwölf Jahre vor Napoleon dort als Bevollmächtigter des Hauses Savoyen eingetroffen, um Verbindungen zu den mystischen Zirkeln in St. Petersburg herzustellen? De Maistre.
Inzwischen misstraute er jeder Organisation von llluminaten, die für ihn identisch mit den Illuministen waren, also den Aufklärern, und mithin den Verantwortlichen für das Blutbad der Revolution. Tatsächlich sprach er in jener Zeit, fast wörtlich Barruel wiederholend, von einer satanischen Sekte, die sich anschicke, die Welt zu erobern, und vermutlich dachte er dabei an Napoleon. Wenn also unser großer Reaktionär sich vornahm, die martinistischen Gruppen zu verführen, so weil er luzide erkannt hatte, daß sie, wenn auch inspiriert von denselben Quellen wie der französische und der deutsche Neutemplerismus, gleichwohl die aktuelle Ausdrucksform der einzigen noch nicht vom westlichen Denken verseuchten Gruppe waren: der Paulizianer.
Aber de Maistres Plan hatte offenbar nicht geklappt, denn 1816 wurden die Jesuiten aus St. Petersburg vertrieben, und de Maistre kehrte zurück nach Turin.
»Na gut«, meinte Diotallevi. »Die Paulizianer hätten wir also wiedergefunden. Lassen wir jetzt Napoleon von der Bühne abtreten, offensichtlich ist es ihm nicht gelungen, sein Ziel zu erreichen, andernfalls hätte er in Sankt Helena nur mit den Fingern zu schnipsen brauchen, um seine Gegner erzittern zu lassen... Wie geht es nun weiter mit all diesen Leuten? Ich verliere allmählich den Überblick.«
»Die Hälfte von ihnen hatte ihn längst verloren«, sagte Belbo.
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Oh, wie gut haben Sie diese infernalischen Sekten entlarvt, die dem Antichrist den Weg bereiten... Gleichwohl gibt es da noch eine weitere Sekte, die Sie nur gestreift haben.
Brief von Hauptmann Simonini an Barruel, zitiert nach dem offiziellen Organ der Societas Jesu, La civiltà cattolica, Rom, 21. 10. 1882
Napoleons Schachzug mit den Juden hatte zu einer Kurskorrektur bei den Jesuiten geführt. Die Memoires von Barruel enthielten noch keinerlei Anspielung auf die Juden. Aber 1806 bekam Abbé Barruel einen Brief von einem gewissen Hauptmann Simonini, der ihn mit Nachdruck an die jüdische Omnipräsenz erinnerte: Auch Mani und der Alte vom Berge seien Juden gewesen, die Freimaurer seien von den Juden gegründet worden, und sämtliche existierenden Geheimgesellschaften seien von Juden infiltriert.
Der Brief, dessen Inhalt geschickt in Paris bekannt gemacht wurde, brachte Napoleon in Schwierigkeiten, der eben erst mit den Juden in Kontakt getreten war. Dieser Kontakt hatte offenbar auch die Paulizianer beunruhigt, denn kurz danach erklärte der Heilige Synod der Orthodoxen Kirche zu Moskau: »Napoleon beabsichtigt, alle Juden, die Gottes Zorn über das Antlitz der Erde verstreut hat, jetzt wieder zu vereinigen, um sie anzustacheln, die Kirche Christi umzustürzen und Ihn als den wahren Messias auszurufen.«
Der gute Abbé Barruel akzeptierte die Idee, daß die Große Verschwörung nicht nur freimaurerisch, sondern jüdisch-freimaurerisch sei. Im übrigen war die Idee einer solchen satanischen Weltverschwörung auch sehr geeignet, einen neuen Feind anzugreifen, nämlich die Carbonari und mit ihnen die antiklerikalen Väter des italienischen Risorgimento, von Mazzini bis Garibaldi.
»Aber das alles geschieht in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts«, sagte Diotallevi, »während die große antisemitische Offensive erst gegen Ende des Jahrhunderts einsetzt, mit den sogenannten Protokollen der Weisen von Zion. Und die erscheinen im russischen Raum. Also sind sie eine Initiative der Paulizianer.«
»Natürlich«, sagte Belbo. »Es ist klar, daß die Jerusalemer Gruppe sich mittlerweile in drei Zweige aufgeteilt hat. Der erste Zweig hatte, auf dem Umweg über die spanischen und provenzalischen Kabbalisten, den neutemplerischen Flügel inspiriert, der zweite ist vom Baconschen Flügel absorbiert worden, seine Mitglieder sind jetzt Wissenschaftler und Bankiers. Und über sie fallen die Jesuiten her. Aber es gibt noch einen dritten Zweig, und der hat sich in Russland etabliert. Die russischen Juden sind zum guten Teil kleine Händler und Geldverleiher, und folglich sind sie bei den armen Bauern nicht gerade beliebt, und da die jüdische Kultur seit jeher eine Kultur des Buches war und alle Juden lesen und schreiben können, gehen viele von ihnen hin und vermehren die Reihen der liberalen und revolutionären Intelligenz. Die Paulizianer dagegen sind Mystiker und Reaktionäre, sie haben sich eng mit dem feudalen Adel verbunden und bei Hof eingeschlichen — klar, daß es zwischen ihnen und den Jerusalemern nicht zu Fusionen kommen kann. Daher sind die Paulizianer jetzt daran interessiert, die Juden zu diskreditieren, auch um dann durch die Juden — das haben sie von den Jesuiten gelernt — ihre auswärtigen Gegner in Schwierigkeiten zu bringen, die Neutempler ebenso wie die Baconianer.«
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Es kann keinen Zweifel mehr geben. Mit der ganzen Macht und Schrecklichkeit Satans nähert sich das Reich des triumphierenden Königs von Israel unserer nicht erneuerten Welt; der aus dem Blute Zions geborene König, der Antichrist, nähert sich dem Throne der universalen Macht.
Sergej Nilus, Epilog zu den Protokollen
Die Idee war akzeptabel. Man brauchte nur zu bedenken, wer die Protokolle in Russland eingeführt hatte.
Einer der einflussreichsten französischen Martinisten um die Jahrhundertwende, der Arzt Gérard Encausse, der sich Papus nannte, hatte Zar Nikolaus II. bei einem seiner Besuche in Paris bezirzt, war dann nach Moskau gefahren und hatte dort als seinen Assistenten einen gewissen Philippe eingeführt, genauer: Philippe Nizier Anselme Vachod. Als Sechsjähriger vom Teufel besessen, mit dreizehn Wunderheiler, dann Hypno- und Magnetiseur in Lyon, hatte dieser Philippe sowohl den Zaren wie dessen hysterische Gattin fasziniert. Er wurde an den Hof eingeladen, zum Arzt der Petersburger Militärakademie ernannt, zum General und Staatsrat erhoben. Daraufhin beschlossen seine Gegner, ihm eine ebenso charismatische Figur entgegenzustellen, die sein Prestige unterminieren sollte. Und so kamen sie auf Nilus.
Nilus war ein wandernder Mönch, der in talarähnlichen Gewändern durch die Wälder zog, ausgerüstet mit einem langen Prophetenbart, zwei Frauen, einer kleinen Tochter und einer Assistentin oder Geliebten oder was auch immer, die alle an seinen Lippen hingen. Halb Guru, einer von denen, die dann mit der Kasse durchbrennen, halb Eremit, einer von denen, die andauernd schreien, das Ende sei nah. Und tatsächlich war seine fixe Idee die Verschwörung des Antichrist.
Der Plan seiner Förderer war, ihn zum Popen ordinieren zu lassen, auf daß er dann durch Heirat (eine Frau mehr, eine weniger) mit Elena Alexandrowna Oserowa, einer Hofdame der Zarin, zum Beichtiger des Herrscherpaars würde.
»Ich bin ja ein sanfter Mensch«, sagte Belbo, »aber langsam kommt mir der Verdacht, das Massaker von Zarskoje Selo war eine Rattenvertilgungsaktion.«
Kurz und gut, an einem bestimmten Punkt wurde Nilus dann von den Anhängern Philippes eines ausschweifenden Lebenswandels bezichtigt, und Gott weiß, ob nicht auch sie im Recht waren. Er musste den Hof verlassen, aber an diesem Punkt war ihm jemand zu Hilfe gekommen und hatte ihm den Text der Protokolle zugespielt. Da niemand klar unterschied zwischen Martinisten (die sich an Saint Martin inspirierten) und Martinesisten (Anhängern jenes Martines de Pasqually, den Agliè so wenig mochte) und da Pasqually einem verbreiteten Gerücht zufolge Jude war, konnte man, indem man die Juden diskreditierte, die Martinisten diskreditieren, und indem man die Martinisten diskreditierte, Philippe erledigen.
Tatsächlich war eine erste, unvollständige Version der Protokolle bereits 1903 in der Zeitung Snamja erschienen, einem Petersburger Blatt unter Leitung des militanten Antisemiten Chruschtschewan. 1905 war diese erste Version dann von neuem, ergänzt und mit dem Placet der Zensurbehörde versehen, in einem anonymen Buch mit dem Titel Die Quelle unserer Übel erschienen, das vermutlich von einem gewissen Butmy stammte, der zusammen mit Chruschtschewan an der Gründung jener »Union des Russischen Volkes« beteiligt gewesen war, die später als »Schwarze Hundertschaften« bekannt wurde und gewöhnliche Kriminelle anheuerte, um Pogrome und rechtsextreme Attentate zu begehen. Butmy soll danach, diesmal unter seinem Namen, noch weitere Ausgaben des Werkes herausgebracht haben, nun unter dem Titel Die Feinde der menschlichen Rasse — Protokolle aus den geheimen Archiven der zentralen Kanzlei von Zion.
Aber das waren billige Heftchen. Die erweiterte Version der Protokolle, jene, die dann in alle Weltsprachen übersetzt werden sollte, erschien 1905 im Anhang zur zweiten Auflage des Buches von Sergej Nilus, Das Große im Kleinen: Nahe ist der herandrängende Antichrist und das Reich des Teufels auf Erden, Zarskoje Selo, gefördert von der lokalen Sektion des Roten Kreuzes. Der Rahmen war eine weitergespannte mystische Reflexion, und das Buch gelangte in die Hände des Zaren. Der Metropolit von Moskau ordnete seine Verlesung in allen Moskauer Kirchen an.
»Aber was haben denn diese Protokolle mit unserem Großen Plan zu tun?« fragte ich. »Dauernd ist hier von diesen Protokollen die Rede. Müssen wir die etwa lesen?«
»Nichts ist leichter als das«, antwortete Diotallevi. »Es gibt immer wieder einen Verlag, der sie neu herausbringt. Und wenn sie's früher noch mit dem Gestus der Abscheu taten, angeblich bloß zu Dokumentationszwecken, tun sie's jetzt wieder mehr und mehr mit Befriedigung.«
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Die einzige uns bekannte Gesellschaft, die fähig wäre, uns in diesen Künsten Konkurrenz zu machen, könnte die der Jesuiten sein. Aber es ist uns gelungen, die Jesuiten in den Augen des dummen Plebs zu diskreditieren, einfach weil diese Gesellschaft eine offen auftretende Organisation ist, während wir uns hinter den Kulissen halten und das Geheimnis wahren.
Protokolle, V
Die Protokolle sind eine Serie von vierundzwanzig programmatischen Erklärungen einer angeblichen Geheimkonferenz angeblicher Weiser von Zion. Die Aussagen dieser Weisen kamen uns ziemlich widersprüchlich vor: Mal wollen sie die Pressefreiheit abschaffen, mal das Freidenkertum ermuntern. Sie kritisieren den Liberalismus, aber ihr Programm ähnelt dem, das die radikale Linke den multinationalen Konzernen zuschreibt, inklusive der Rolle des Sports und der visuellen Erziehung als Mittel zur Volksverdummung. Sie analysieren diverse Methoden zur Erlangung der Weltherrschaft, und sie preisen die Macht des Goldes. Sie beschließen, in allen Ländern die Revolutionen zu unterstützen, durch Ausnutzung der Unzufriedenheit im Volke und durch Verwirrung des Volkes mit liberalen Ideen, aber sie wollen die Ungleichheit fördern. Sie planen, überall Präsidentialregime einzusetzen, die von ihren Strohmännern kontrolliert werden. Sie wollen Kriege schüren, sich für die Aufrüstung stark machen und (das hatte mir schon Salon gesagt) den Bau von Untergrundbahnen propagieren, um die großen Städte in die Luft zu sprengen.
Generell erklären sie, daß der Zweck die Mittel rechtfertige, und nehmen sich vor, den Antisemitismus zu ermuntern, sowohl um die mittellosen Juden unter ihre Kontrolle zu bringen wie um bei den Nichtjuden ein Schuldgefühl angesichts ihrer Not zu erzeugen (teuer erkauft, meinte Diotallevi, aber wirksam). Sie versichern treuherzig: »Wir haben einen grenzenlosen Ehrgeiz, eine verzehrende Habgier, einen erbarmungslosen Rachedurst und einen glühenden Hass« (und offenbar auch einen erlesenen Masochismus, denn sie reproduzieren lustvoll genau das Klischee des bösen Juden, das bereits in der antisemitischen Presse umgeht und die Umschläge aller Ausgaben ihres Buches zieren wird), und sie beschließen, das Studium der Klassiker und der antiken Geschichte abzuschaffen.
»Mit einem Wort«, bemerkte Belbo, »diese Weisen von Zion waren ein Haufen von Deppen.«
»Machen wir keine Witze«, sagte Diotallevi. »Dieses Buch ist bitterernst genommen worden. Mich überrascht eher etwas anderes. Obwohl das Ganze als ein uralter jüdischer Plan erscheinen soll, wird immer nur auf kleine französische Vorfälle und Polemiken aus der Zeit des Fin de siècle verwiesen. Der Hinweis auf die visuelle Erziehung, die zur Verdummung der Massen diene, sieht aus wie eine Anspielung auf das Erziehungsprogramm von Leon Bourgeois, der neun Freimaurer in seine Regierung aufnahm. An einer anderen Stelle wird die Wahl von Leuten empfohlen, die sich im Skandal um den Panamakanal kompromittiert haben, und genau das war der Fall bei Emile Loubet, der 1899 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Der Hinweis auf die Metro verdankt sich dem Umstand, daß die rechte Presse in jenen Jahren eine Protestkampagne gegen die Compagnie du Métropolitain führte, weil diese angeblich zu viele jüdische Aktionäre hatte. Aus all diesen Gründen wird angenommen, daß der Text in Frankreich um die Jahrhundertwende kompiliert worden ist, zur Zeit der Affäre Dreyfus, um die liberale Front zu schwächen.«
»Mich beeindruckt noch etwas ganz anderes«, sagte Belbo. »Nämlich das déjà vu. Kern der Sache ist doch, daß diese sogenannten Weisen einen Plan zur Eroberung der Welt erörtern, und so etwas haben wir schon mal gehört. Probiert mal, einige Bezugnahmen auf Fakten und Fragen des letzten Jahrhunderts rauszunehmen, ersetzt die Untergründe der Pariser Metro durch die Untergründe von Provins, schreibt jedes Mal, wo Juden dasteht, Templer, und jedes Mal, wo die Weisen von Zion genannt werden, die Sechsunddreißig Unsichtbaren, geteilt in sechs Gruppen, und... Voilà, mes amis, dies ist die Ordonation von Provins!«
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Voltaire lui-même est mort jésuite: en avoit-il le moindre soupçon?
(Voltaire selbst ist als Jesuit gestorben: hatte ihm das wohl geschwant?)
F. N. de Bonneville, Les Jésuites chassés de la Maçonnerie et leur poignard brisé par les maçons, Orient de Londres, 1788, 2, p. 74
Wir hatten alles seit langem vor Augen und hatten es nie ganz begriffen: Sechs Jahrhunderte lang bekämpften einander sechs Gruppen, um den Plan von Provins zu realisieren, und jede von ihnen nahm den idealen Text dieses Planes, änderte das Subjekt und schrieb ihn dem Gegner zu.
Als die Rosenkreuzer in Frankreich auftauchten, verkehrten die Jesuiten den Plan ins Negative: indem sie die Rosenkreuzer diskreditierten, diskreditierten sie die Baconianer und die entstehende englische Freimaurerei.
Als die Jesuiten den Neutemplerismus der »schottischen« Freimaurerei erfanden, schrieb der Baconianer Marquis de Luchet die Verschwörung den Neutemplern zu. Die Jesuiten, die daraufhin auch die Neutempler loswerden wollten, kopierten Luchet durch Barruel, unterschoben jedoch den Plan nun der Freimaurerei insgesamt.
Gegenoffensive der Baconianer. Bei Durchsicht aller Texte der liberalen und antiklerikalen Polemik hatten wir entdeckt, daß sämtliche einschlägigen Autoren, von Michelet und Quinet bis Garibaldi und Gioberti, die Verschwörung den Jesuiten zuschrieben (vielleicht stammte die Idee von dem Templer Pascal und seinen Freunden). Populär wurde das Thema dann mit dem Juif errant von Eugène Sue und dessen Bösewicht Pater Rodin, dem Inbegriff der jesuitischen Weltverschwörung. Doch als wir bei Sue suchten, fanden wir noch weit mehr: einen Text, der aussah, als wäre er Wort für Wort — aber ein halbes Jahrhundert vorher — von den Protokollen abgeschrieben, nur eben mit den Jesuiten anstelle der Juden. Es handelte sich um das Schlusskapitel der Mystères du Peuple. Hier wurde der teuflische Plan der Jesuiten bis ins letzte verbrecherische Detail dargelegt in einem Schreiben des Jesuitengenerals Roothaan (eine historische Figur) an Pater Rodin (die genannte Romanfigur aus dem Juif errant). Rudolf von Gerolstein (der Held aus den Mystères de Paris) gelangt in den Besitz dieses Schreibens und enthüllt es den Demokraten: »Sehen Sie, lieber Lebrenn, wie gut dieser höllische Plan erdacht worden ist, welch furchtbare Leiden, welch grauenhafte Beherrschung, welch schrecklichen Despotismus er für Europa und die Welt bereithält, falls er gelingt... «
Es klang wie das Vorwort von Nilus zu den Protokollen. Und Sue schrieb den Jesuiten das Motto zu (das sich in den Protokollen wiederfindet, wo es den Juden zugeschrieben wird): »Der Zweck rechtfertigt die Mittel.«
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Niemand wird von uns verlangen, daß wir die Belege noch weiter vermehren, um zu beweisen, daß dieser Rosenkreuzer-Grad auf geschickte Weise von den geheimen Oberen der Freimaurerei eingeführt worden ist... Die Identität ihrer Lehre, ihres Hasses und ihrer sakrilegischen Praktiken mit denen der Kabbala, der Gnostiker und der Manichäer enthüllt uns die Identität der Urheber, nämlich der kabbalistischen Juden.
Mons. Léon Meurin, S.J., La Franc-Maçonnerie, Synagogue de Satan,> Paris, Retaux, 1893, p. 182
Als die Mystères du Peuple erschienen, sahen die Jesuiten, daß die Ordonation jetzt ihnen zugeschrieben wurde, und verlegten sich auf die einzige offensive Taktik, die noch niemand eingeschlagen hatte: Sie griffen auf den Brief von Simonini zurück und schrieben die Verschwörung den Juden zu.
1869 veröffentlicht Gougenot de Mousseaux, bekannt als Autor zweier Bücher über die Magie des achtzehnten Jahrhunderts, das Pamphlet Les Juifs, le judaïsme et la judaïsation des peuples chrétiens, in dem er behauptet, die Juden benutzten die Kabbala und seien Teufelsanbeter, denn eine geheime Abstammungslinie verbinde Kain direkt mit den Gnostikern, mit den Templern und den Freimaurern. De Mousseaux erhält einen speziellen Segen von Pius IX.
Aber der von Sue zum Roman verarbeitete Große Plan wird auch noch von anderen umgeschrieben, die keine Jesuiten sind. So gibt es eine schöne Geschichte, fast eine Kriminalstory, die sehr viel später passierte: 1921, lange nach dem Erscheinen der Protokolle, entdeckte die Londoner Times (die sie zunächst sehr ernst genommen hatte), daß ein in die Türkei geflohener russischer Ex-Grundbesitzer von einem nach Konstantinopel geflohenen Ex-Offizier der zaristischen Geheimpolizei eine Handvoll alter Bücher gekauft hatte, darunter eines ohne Deckblatt, auf dessen Rücken nur »Joli« stand, aber das ein auf 1864 datiertes Vorwort hatte und die wörtliche Quelle der Protokolle zu sein schien. Die Times stellte Recherchen im Britischen Museum an und fand das Original: ein Buch von Maurice Joly mit dem Titel Dialog aux enfers entre Machiavel et Montesquieu, erschienen in Brüssel (aber mit der Ortsangabe Genève) 1864. Maurice Joly hatte nichts mit Crétineau-Joly zu tun, aber die Analogie war immerhin bemerkenswert, irgendwas würde sie schon bedeuten.
Jolys Buch war eine liberale Satire auf Napoleon III., in der Machiavelli, der den Zynismus des Diktators repräsentierte, in der Hölle mit Montesquieu debattierte. Joly war für diese revolutionäre Initiative eingesperrt worden, hatte fünfzehn Monate im Gefängnis gesessen und 1878 Selbstmord begangen. Das Programm der Juden in den Protokollen erwies sich als beinahe wörtlich abgeschrieben von dem, was Joly seinem Machiavelli in den Mund gelegt hatte (der Zweck rechtfertigt die Mittel) und durch diesen dem dritten Napoleon. Die Times hatte allerdings nicht bemerkt (wir schon), daß Joly seinerseits von Sue abgeschrieben hatte, dessen Roman mindestens sieben Jahre älter als seine Satire war.
Eine antisemitische Autorin namens Nesta Webster, begeisterte Anhängerin der Verschwörungstheorie und der Unbekannten Oberen, lieferte uns zu diesem Fund, der die Protokolle als billige Fälschung entlarvte, eine hellsichtige Intuition, wie sie nur die wahren Initiierten — oder die Jäger der Initiierten — gelegentlich haben: Joly war ein Initiierter gewesen, er kannte den Plan der Unbekannten Oberen, und da er Napoleon III. hasste, hatte er ihn ihm zugeschrieben, aber das bedeutete nicht, daß der Plan nicht unabhängig von Napoleon existierte. Da der in den Protokollen beschriebene Plan genau dem entsprach, was die Juden, so Madame Webster, gewöhnlich tun, war er logischerweise der Plan der Juden. Uns blieb nur noch übrig, die Dame Webster nach derselben Logik zu korrigieren: Da der Plan genau dem entsprach, was die Templer hätten denken müssen, war er der Plan der Templer.
Im übrigen war unsere Logik die Logik der Fakten. Sehr gefallen hatte uns die Geschichte mit dem Prager Friedhof. Es war die Geschichte eines gewissen Hermann Goedsche, der als kleiner preußischer Postbeamter falsche Dokumente veröffentlicht hatte, um den Demokraten Waldeck zu diskreditieren durch die Anschuldigung, er wolle den König von Preußen ermorden. Als der Schwindel aufkam, wurde Goedsche Redakteur bei der Preußischen Kreuzzeitung, dem Organ des konservativen Junkertums. Dann hatte er angefangen, unter dem Namen Sir John Retcliffe Sensationsromane zu schreiben, darunter einen mit dem Titel Biarritz, erschienen 1868, in dem er eine okkultistische Szene schilderte, die sich auf dem Prager Friedhof abspielt, sehr ähnlich der Versammlung von Erleuchteten, die Alexandre Dumas am Anfang von Joseph Balsamo geschildert hatte, wo Cagliostro als Chef der Unbekannten Oberen, darunter Swedenborg, das Komplott mit dem Halsband der Königin plant. Auf dem Prager Friedhof versammeln sich die Vertreter der zwölf Stämme Israels, um ihre Pläne für die Eroberung der Welt zu besprechen.
1876 übernimmt eine russische Hetzschrift die Szene aus dem Roman Biarritz, aber so, als wäre sie wirklich geschehen. Und dasselbe tut 1881 in Frankreich die Zeitung Le Contemporain. Wobei sie behauptet, die Information aus sicherer Quelle zu haben, nämlich von dem englischen Diplomaten Sir John Readcliff. 1896 veröffentlicht dann ein gewisser Bournand ein Buch mit dem Titel Les Juifs, nos contemporains, in dem er die Szene vom Prager Friedhof wiedergibt und behauptet, die umstürzlerische Rede sei von dem großen Rabbi John Readclif gehalten worden. Eine spätere Version wird jedoch behaupten, der wahre Readclif sei von dem gefährlichen Revoluzzer Ferdinand Lassalle auf den verhängnisvollen Friedhof geführt worden.
Und die angeblich auf jenem Friedhof erörterten Umsturzpläne sind mehr oder weniger dieselben, die 1880, wenige Jahre zuvor, von der Revue des Études juives beschrieben worden waren. Diese trotz ihres Namens antisemitische Zeitschrift hatte zwei Briefe veröffentlicht, die angeblich von Juden des fünfzehnten Jahrhunderts stammten. Die Juden von Arles bitten die Juden von Konstantinopel um Hilfe, weil sie verfolgt werden, und jene antworten: »Vielgeliebte Brüder in Moses, wenn der König von Frankreich euch zwingt, Christen zu werden, so tut es, denn ihr könnt nicht anders, doch bewahrt euch das mosaische Gesetz im Herzen. Wenn sie euch eurer Güter entblößen, so lasst eure Söhne Kaufleute werden, auf daß sie die Christen allmählich der ihren entblößen. Wenn sie euch nach dem Leben trachten, so lasst eure Söhne Ärzte und Apotheker werden, auf daß sie den Christen das Leben nehmen. Wenn sie eure Synagogen zerstören, so lasst eure Söhne Kanoniker und Kleriker werden, auf daß sie ihre Kirchen zerstören. Wenn sie euch andere Übel antun, so lasst eure Söhne Advokaten und Notare werden und sich in die Angelegenheiten aller Staaten einmischen, auf daß ihr, indem ihr die Christen unter euer Joch zwingt, die Welt beherrschen und euch an ihnen rächen könnt.«
Es handelte sich noch immer um den Plan der Jesuiten und, ihm vorausgehend, um die Ordonation der Templer. Kaum Variationen, nur winzige Permutationen, die Protokolle entstanden gleichsam von selbst. Ein abstraktes Verschwörungsprojekt pflanzte sich von Komplott zu Komplott weiter fort.
Und auf der Suche nach dem fehlenden Kettenglied, das diese ganze schöne Geschichte mit Nilus verband, waren wir dann auf Ratschkowski gestoßen, den Chef der schrecklichen Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren.
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Wenn nur die Zwecke erreicht werden, so ist es gleichgültig, unter welcher Hülle es geschieht, und eine Hülle ist immer nöthig. Denn in der Verborgenheit beruht ein großer Theil unserer Stärke. Deswegen soll man sich immer mit dem Namen einer andern Gesellschaft decken.
Die neuesten Arbeiten des Spartacus [Weishaupt] und Philo [Frhr. v. Knigge] in dem Illuminaten-Orden, Frankfurt/M. 1794, p. 165
Gerade in jenen Tagen hatten wir beim Lesen einiger Seiten unserer Diaboliker entdeckt, daß der Graf von Saint-Germain bei seinen vielen Verwandlungen auch den Namen Rackoczi geführt hatte, so jedenfalls berichtete es der preußische Gesandte am sächsischen Hof zu Dresden. Und der Landgraf von Hessen, an dessen Hof Saint-Germain angeblich gestorben war, hatte gesagt, er sei transsylvanischer Herkunft gewesen und habe sich Ragozki genannt. Hinzu kam, daß Comenius seine Pansophia (ein zweifellos rosen-kreuzerisch angehauchtes Werk) einem Landgrafen (wie viele Landgrafen gab es in dieser Geschichte?) namens Ragovsky gewidmet hatte. Und schließlich, letztes Steinchen im Mosaik, war mir beim Kramen an einem Bouquinistenstand auf der Piazza Castello ein deutsches Buch über die Freimaurer in die Hände gefallen, ein anonymes Werk, aber mit einer handschriftlichen Eintragung auf dem Vorsatzblatt, derzufolge es von einem gewissen Karl Aug. Ragotgky stammte. Bedachten wir, daß Rakosky der Name des mysteriösen Fremden gewesen war, der vielleicht den Oberst Ardenti umgebracht hatte, ergab sich nun eine Möglichkeit, unseren Grafen von Saint-Germain in die Mäander des Großen Plans einzufügen.
»Geben wir diesem Abenteurer damit nicht zu viel Macht?« fragte Diotallevi besorgt.
»Nein, nein«, beruhigte ihn Belbo, »der muß mit rein, der gehört genauso dazu wie die Sojasoße zum chinesischen Essen. Sonst ist es nicht chinesisch. Schau dir Agliè an, der versteht was davon: hat er sich als Modell etwa Cagliostro oder Willermoz genommen? Nein, Saint-Germain ist die Quintessenz des Homo Hermeticus.«
Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski. Jovial, glatt, katzenhaft schmeichlerisch, intelligent und schlau, genialer Fälscher. Erst kleiner Beamter, dann in Kontakt mit revolutionären Gruppen, wird er 1879 von der Geheimpolizei verhaftet und beschuldigt, terroristischen Freunden nach einem Attentat auf General Drentel Unterschlupf gewährt zu haben. Läuft über zur Seite der Polizei und geht — schau, schau! — zu den Schwarzen Hundertschaften. 1890 entlarvt er eine Organisation in Paris, die Bomben für Attentate in Russland bastelt, und lässt zu Hause dreiundsechzig Terroristen verhaften. Zehn Jahre später stellt sich heraus, daß die Bomben von seinen eigenen Leuten gebaut worden waren.
1887 verbreitet er den Brief eines reuigen Ex-Revolutionärs namens Iwanow, der beteuert, daß die Mehrheit der Terroristen Juden seien; 1890 dito eine »Confession par un vieillard ancien révolutionnaire«, worin die im Londoner Exil lebenden Revolutionäre beschuldigt werden, britische Agenten zu sein; 1892 dann einen falschen Text von Plechanow, in dem behauptet wird, die Führung der anarcho-populistischen Partei Narodnaja Wolja hätte jene Konfession publizieren lassen.
1902 versucht er eine französisch-russische antisemitische Liga zu konstituieren. Dazu benutzt er eine Technik ähnlich jener der ersten Rosenkreuzer: Er behauptet, daß die Liga bereits existiere, damit sie dann jemand gründet. Aber er benutzt auch noch eine andere Technik: die raffinierte Vermengung des Falschen mit Wahrem, wobei ihm das Wahre so abträglich ist, daß niemand am Falschen zweifelt. So lässt er in Paris einen mysteriösen Appell an die Franzosen zirkulieren, der zur Unterstützung einer Russischen Patriotischen Liga mit Sitz in Charkow aufruft. Darin attackiert er sich selber als denjenigen, der die Liga zu Fall bringen wolle, und wünscht sich, daß er, Ratschkowski, seine Haltung ändere. Er beschuldigt sich selbst, sich so zwielichtiger Figuren wie Nilus zu bedienen, was zutrifft.
Wieso lassen sich nun aber diesem Ratschkowski die Protokolle zuschreiben?
Ratschkowskis Beschützer war der Minister Sergej Witte, ein Progressiver, der Russland zu einem modernen Land machen wollte. Wieso sich ein Progressiver des Reaktionärs Ratschkowski bediente, weiß Gott allein, aber wir waren inzwischen auf alles gefasst. Witte hatte einen politischen Gegner, einen gewissen Elie de Cyon, der ihn bereits öffentlich mit polemischen Spitzen attackiert hatte, die an gewisse Stellen der Protokolle erinnern. Aber in den Schriften von Cyon finden sich keine Ausfälle gegen die Juden, da er selbst indischer Abstammung war. 1897 lässt nun Ratschkowski auf Anordnung Wittes die Villa von Cyon in Territet bei Montreux durchsuchen und findet ein Pamphlet von Cyon, das nach dem Muster der Satire von Joly (oder des Romans von Sue) verfasst worden ist und in dem die Ideen von Jolys Machiavelli-Napoleon III. nun Witte unterschoben werden. Ratschkowski mit seiner genialen Fälschergabe nimmt den Text, ersetzt Witte durch die Juden und bringt das Produkt in Umlauf. Der Name Cyon scheint wie geschaffen, um an Zion zu erinnern, und endlich lässt sich beweisen, daß ein angesehener jüdischer Exponent eine jüdische Weltverschwörung anprangert. So sind die Protokolle entstanden. Der Text fallt auch in die Hände von Juliane oder Justine Glinka, die in Paris das Milieu der Madame Blavatsky frequentiert und in ihren Mußestunden die im Exil lebenden russischen Revolutionäre ausspioniert. Die Glinka ist zweifellos eine Agentin der Paulizianer, die mit den Großgrundbesitzern liiert sind und daher dem Zaren einreden wollen, daß Wittes Programme dieselben seien wie die der jüdischen Weltverschwörung. Die Glinka schickt das Dokument an General Orgejewski, und dieser lässt es durch den Kommandanten der kaiserlichen Garde dem Zaren vorlegen. Witte bekommt Schwierigkeiten.
So hat Ratschkowski, mitgerissen von seinem antisemitischen Eifer, zum Unglück seines Beschützers beigetragen. Und vermutlich auch zu seinem eigenen. Denn von diesem Moment an verloren wir seine Spur. Vielleicht hatte sich Saint-Germain bereits zu anderen Verkleidungen und neuen Inkarnationen aufgemacht. Aber unsere Geschichte hatte jetzt ein plausibles, rationales und klares Profil gewonnen, wurde sie doch nun durch eine Reihe von Tatsachen gestützt, deren Wahrheit so unbestreitbar war — sagte Belbo — wie die Wahrheit Gottes.
All das rief mir wieder in Erinnerung, was mir De Angelis über die Synarchie erzählt hatte. Das Schöne an der ganzen Geschichte — sicher an unserer, aber vielleicht auch an der Großen Weltgeschichte, wie Belbo mit fiebrigem Blick bemerkte, während er mir seine Notizen reichte —, das Schöne daran sei, daß Gruppen, die in tödlichem Kampf miteinander lagen, sich gegenseitig erledigten, indem sie jede die Waffen der anderen benutzten. »Die erste Pflicht eines Infiltrierten ist«, kommentierte ich, »diejenigen als Infiltrierte anzuklagen, bei denen er sich infiltriert hat«
»Dazu fällt mir eine Geschichte aus *** ein«, sagte Belbo. »Bei Sonnenuntergang begegnete ich auf der Hauptstraße immer einem Typ namens Remo oder so ähnlich, der in einem schwarzen Fiat Balilla saß. Schwarzer Schnurrbart, schwarzes Kraushaar, schwarzes Hemd und schwarze Zähne, grässlich kariös. Und er küsste ein Mädchen. Und mich ekelten diese schwarzen Zähne, die dieses schöne blonde Ding küssten, ich weiß nicht einmal mehr, wie sie aussah, aber für mich war sie Jungfrau und Prostituierte, sie war das Ewig-Weibliche. Und ich zitterte sehr davor.« Er hatte instinktiv einen feierlichen Ton angenommen, um seine ironische Absicht auszudrücken, wissend, daß er sich von den unschuldigen Sehnsüchten der Erinnerung hatte forttragen lassen. »Ich fragte mich und hatte die anderen gefragt, warum dieser Remo, der zu den Schwarzen Brigaden gehörte, sich so unverhüllt zeigen konnte, auch in den Monaten, in welchen *** nicht von den Faschisten besetzt war. Und man hatte mir gesagt, es werde gemunkelt, er habe sich bei den Partisanen infiltriert. Ob das nun stimmte oder nicht, eines Abends sehe ich ihn wieder in demselben schwarzen Fiat, mit denselben schwarzen Zähnen, wie er dasselbe blonde Mädchen küsst, aber jetzt mit einem roten Tuch um den Hals und in einem Khakihemd. Er war zu den kommunistischen Partisanen übergewechselt. Alle feierten ihn, und er hatte sich auch einen Nom de guerre zugelegt: X9, wie der Held in den Comics von Alex Raymond, die er im Avventuroso gelesen hatte. Bravo, X9, sagten alle zu ihm... Und ich hasste ihn noch mehr, weil er jetzt das Mädchen mit Zustimmung des Volkes besaß. Aber einige munkelten, er wäre ein unter die Partisanen infiltrierter Faschist, und ich glaube, das waren die, die das Mädchen begehrten, aber so war's, X9 wurde verdächtigt...«
»Und dann?«
»Hören Sie, Casaubon, warum interessieren Sie sich so für meine Angelegenheiten?«
»Weil Sie erzählen, und Erzählungen sind Fakten des kollektiven Imaginären.«
»Good point. Also, eines Morgens begab sich X9 aufs flache Land hinaus, vielleicht hatte er sich mit dem Mädchen in den Feldern verabredet, um über jenes kümmerliche Petting hinauszugelangen und ihr zu zeigen, daß seine Rute weniger kariös war als seine Zähne — entschuldigt, ich kann ihn noch immer nicht leiden —, na jedenfalls, da locken ihn die Faschisten in eine Falle, bringen ihn in die Stadt, und früh um fünf am nächsten Morgen wird er erschossen.«
Pause. Belbo sah auf seine Hände, die er flach zusammengelegt hielt wie im Gebet. Dann nahm er sie plötzlich auseinander und sagte: »Es war der Beweis, daß er kein Infiltrierter war.«
»Moral der Geschichte?«
»Wer sagt denn, daß jede Geschichte eine Moral haben muß? Aber wenn ich's recht bedenke, vielleicht will sie sagen, daß man, um etwas zu beweisen, manchmal sterben muß.«
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Ich bin, der ich bin.
Exodus 3,14
Ich bin, der ich bin. Ein Axiom der hermetischen Philosophie.
Madame Blavatsky, Isis Unveiled, p. l
— Wer bist du? fragten gleichzeitig dreihundert Stimmen, während zwanzig Degen in den Händen der nächsten Phantome aufblitzten. — Ich bin, der ich bin, sagte er.
Alexandre Dumas, Joseph Balsamo, II
Am nächsten Morgen kamen wir wieder zusammen. »Gestern haben wir ein schönes Stück Trivialliteratur geschrieben«, sagte ich zu Belbo. »Aber wenn wir einen glaubwürdigen Plan machen wollen, sollten wir uns vielleicht ein bisschen mehr an die Realität halten.«
»An welche Realität?« fragte er mich. »Vielleicht gibt uns nur die sogenannte Trivialliteratur den wahren Maßstab der Realität. Man hat uns genarrt.«
»Wer?«
»Man hat uns eingeredet, auf der einen Seite wäre die Große Kunst, die Hochliteratur, die typische Personen in typischen Umständen darstellt, und auf der anderen die Trivialliteratur, die atypische Personen in atypischen Umständen darstellt. Ich glaubte, ein wahrer Dandy würde sich nie mit Scarlett O'Hara einlassen, nicht mal mit Constance Bonacieux oder gar mit Angélique. Ich spielte mit dem Trivialroman, um mich ein bisschen außerhalb des Lebens zu ergehen. Er beruhigte mich, weil er mir das Unerreichbare vorsetzte. Aber es ist nicht so.«
»Nein?«
»Nein. Proust hatte recht, das Leben wird sehr viel besser durch schlechte Musik als durch eine Missa Solemnis dargestellt. Die Kunst gaukelt uns etwas vor und beruhigt uns, denn sie lässt uns die Welt so sehen, wie die Künstler sie gerne hätten. Der Schauerroman tut so, als ob er bloß scherzte, aber dann zeigt er uns die Welt so, wie sie ist, oder zumindest so, wie sie sein wird. Die Frauen sind Mylady ähnlicher als Anna Karenina, Fu Man-Chu ist wahrer als Nathan der Weise, und die Realgeschichte gleicht mehr der von Eugene Sue erzählten als der von Hegel entworfenen. Shakespeare, Melville, Balzac und Dostojewski haben Schauergeschichten geschrieben. Das, was wirklich geschehen ist, ist das, was die Trivialliteratur im voraus erzählt hat«
»Ja, weil die Trivialliteratur leichter zu imitieren ist als die Kunst. Um wie Mona Lisa zu werden, muß man hart an sich arbeiten, um wie Mylady zu werden, braucht man sich bloß dem natürlichen Hang zur Bequemlichkeit zu überlassen.«
Diotallevi, der bisher geschwiegen hatte, warf ein: »Wie unser Agliè. Er imitiert lieber Saint-Germain als Voltaire.«
»Ja«, sagte Belbo, »und die Frauen finden Saint-Germain ja auch interessanter als Voltaire.«
Später fand ich unter seinen files einen Text, in dem er unsere Ergebnisse in Schauerroman-Archetypen resümiert hatte. Ich sage in Schauerroman-Archetypen, weil er sich offensichtlich damit amüsiert hatte, das Ganze durch zusammenmontierte Klischees zu erzählen, ohne an Eigenem mehr als ein paar verbindende Sätze hinzuzufügen. Ich kann beileibe nicht alle Zitate, Plagiate, Entlehnungen und Paraphrasen identifizieren, aber ich habe viele Stellen dieser wilden Collage wiedererkannt. Ein weiteres Mal hatte sich Belbo, um dem Leiden an der Historie zu entfliehen, dem Leben schreibend durch eingeblendete Schreibe anderer genähert.
Filename: Die Rückkehr des Grafen von Saint-Germain
Seit nunmehr fünf Jahrhunderten treibt mich die rächende Hand des Allmächtigen, aus den Tiefen Asiens bis in dieses Land. Ich bringe Schrecken, Verzweiflung und Tod. Doch wohlan, ich bin der Notar des Großen Planes, auch wenn es die andern nicht wissen, ich habe Schlimmeres gesehen, und das Anzetteln der Bartholomäusnacht hat mich mehr Mühsal gekostet, als ich jetzt aufzubringen gedenke. Oh, warum kräuseln sich meine Lippen zu diesem satanischen Lächeln? Ich bin, der ich bin — hätte sich der verruchte Cagliostro nicht auch noch dieses mein letztes Recht angemaßt.
Doch der Triumph ist nahe. Soapes, als ich Kelley war, hat mich alles gelehrt, im Tower von London. Das Geheimnis ist, ein anderer zu werden.
Mit schlauen Intrigen habe ich Giuseppe Balsamo in der Festung San Leo einkerkern lassen und mich seiner Geheimnisse bemächtigt. Als Saint-Germain bin ich verschwunden, alle halten mich jetzt für Cagliostro.
Vor kurzem hat es Mitternacht von allen Uhren der Stadt geschlagen. Welch unnatürliche Stille. Dieses Schweigen verspricht nichts Gutes. Die Nacht ist wunderbar, obschon sehr kalt, der Mond hoch am Himmel taucht die undurchdringlichen Gassen des alten Paris in ein frostiges Licht. Es könnte zehn Uhr abends sein: Der Turm von Black Friars Abbey hat soeben feierlich acht Uhr geschlagen. Der Wind schüttelt mit düsterem Klirren die Eisenfähnchen auf der trostlosen Weite der Dächer. Dichte Wolken bedecken den Himmel.
Captain, kehren wir um? Nein, im Gegenteil, wir stürmen voran. Verflucht, gleich wird die Patna sinken, spring, Surabaya-Jim, spring! Gäbe ich nicht, um dieser Angst zu entgehen, einen nussgroßen Diamanten? An Luv den Hauptbaum, den Besan, das Vorbram, was willst du noch mehr, verdammter Hurensohn, there blows!
Ich fletsche grässlich das Gehege der Zähne, indes eine Todesblässe mein wächsernes Antlitz mit grünlichen Flammen entzündet.
Wie bin ich hierhergekommen, ich, der ich als das Inbild der Rache erscheine? Grinsen werden die Geister der Hölle, verächtlich grinsen über die Tränen des Wesens, dessen drohende Stimme sie so oft erzittern ließ im tiefsten Schlund ihres feurigen Abgrunds.
Wohlan, eine Fackel.
Wie viele Stufen bin ich hinabgestiegen in diesen Keller? Sieben? Sechsunddreißig? Da ist kein Stein, den ich berührt, kein Schritt, den ich getan habe, der nicht eine Hieroglyphe verbärge. Wenn ich sie aufgedeckt haben werde, wird meinen Getreuen endlich das Große Geheimnis offenbart. Dann bleibt ihnen nur noch, es zu entziffern, und seine Lösung wird sein der Schlüssel, hinter dem sich die Botschaft verbirgt, die dem Eingeweihten, und nur ihm allein, in klaren Worten sagen wird, welcher Art das Rätsel ist.
Vom Rätsel zur Dechiffrierung ist der Weg kurz, und herauskommen wird in gleitender Pracht das Hierogramm, um das Gebet der Befragung zu läutern. Dann wird keinem mehr unbekannt sein können das Arkanum, der Schleier, der ägyptische Teppich, der das Pentaculum bedeckt. Und von da geht es weiter zum Licht, den Okkulten Sinn des Pentaculums zu erklären, die Kabbalistische Frage, auf die nur wenige antworten werden, um mit Donnerstimme zu sagen, welches das Unergründliche Zeichen sei. Über dieses gebeugt, werden Sechsunddreißig Unsichtbare die Antwort geben müssen, die Aus-Sage der Großen Rune, deren Sinn sich nur den Kindern des Hermes erschließt, und ihnen allein sei das Höhnische Siegel gegeben, die Maske, hinter der sich das Antlitz abzeichnet, das sie bloßzulegen versuchen, der Mystische Rebus, das Erhabene Anagramm...
— Sator Arepo! rufe ich mit einer Stimme, die ein Gespenst erzittern ließe. Und ablassend von dem Rad, das er hält mit dem schlauen Werk seiner Mörderhände, erscheint Sator Arepo, bereit für meine Befehle. Ich erkenne ihn, ich hatte bereits geargwöhnt, daß er es sei. Es ist Luciano, der kriegsversehrte Packer, den die Unbekannten Oberen zum Exekutor meines infamen und blutigen Auftrags ausersehen haben.
— Sator Arepo, frage ich höhnisch, weißt du, welches die letzte Antwort ist, die sich hinter dem Erhabenen Anagramm verbirgt?
— Nein, Graf, antwortet der Unbesonnene, ich erwarte sie aus deinem Munde.
Ein Höllengelächter steigt von meinen bleichen Lippen empor und bricht sich hallend unter den alten Gewölben.
— Narr! Nur der wahre Initiierte weiß, daß er die Antwort nicht weiß.
— Jawoll, Chef, antwortet der Packer stumpf, ganz wie Sie wollen. Stehe zu Diensten.
Wir befinden uns in einem finsteren Keller in Clignancourt. Heute Nacht muß ich dich bestrafen, dich vor allem, die du mich eingeweiht hast in die noble Kunst des Verbrechens. Dich, die du vorgibst, mich zu lieben, und schlimmer noch, es sogar glaubst, und die namenlosen Feinde, mit denen du das nächste Weekend verbringen wirst. Luciano, der ungelegene Zeuge meiner Demütigungen, wird mir seinen Arm dazu leihen — den einzigen, den er noch hat — und dann selbst daran sterben.
Der Keller hat eine Luke im Boden, die zu einem Schacht führt, einer Art Brunnenloch oder Verlies, das seit unvordenklichen Zeiten als Versteck für Schmuggelware benutzt wird. Der Schacht ist beunruhigend feucht, da unmittelbar den Pariser Kloaken benachbart, dem Labyrinth des Verbrechens, und das alte Gemäuer schwitzt unsägliche Miasmen aus, so daß es genügt, mit Hilfe Lucianos, des Treuesten im Bösen, ein Loch in die Wand zu schlagen, und das Wasser bricht in Strömen herein, überschwemmt das Kellergeschoss, lässt die brüchigen Mauern zerfallen und den Schacht einswerden mit dem Rest der Kanäle, schon schwimmen da unten verwesende Ratten, die schwärzlich schimmernde Fläche, die man vom Rande des Schachtes aus sieht, ist nurmehr der Vorhof zur nächtlichen Verdammnis — fern, fern die Seine, dann das Meer...
Eine Strickleiter hängt in den Schacht hinab, und auf ihr geht Luciano jetzt unten, dicht über dem Wasserspiegel, in Stellung, bewehrt mit einem Messer: eine Hand um die erste Sprosse geklammert, die andere um den Messergriff, die dritte bereit, das Opfer zu packen. — Jetzt warte, und rühr dich nicht, sage ich zu ihm, du wirst sehen.
Ich habe dich dazu gebracht, alle Männer mit Narben zu eliminieren — komm mit, sei für immer die meine, lass uns diese unerwünschten Präsenzen beseitigen, ich weiß, daß du sie nicht liebst, du hast es mir selber gesagt, so werden nur du und ich übrig bleiben, wir zwei und die unterirdischen Strömungen.
Jetzt bist du eingetreten, hochmütig wie eine Vestalin, heiser und bucklig wie eine Hexe — o Höllenvision, die du meine hundertjährigen Lenden erschütterst und mir die Brust einschnürst vor stechendem Verlangen, o herrliche Mulattin, Werkzeug meiner Verdammnis! Mit Krallenhänden zerreiße ich mir das feine Batisthemd, das meine Brust schmückt, und mit den Nägeln kratze ich blutige Furchen hinein, indes eine grässliche Glut meine Lippen verbrennt, die kalt sind wie die Hände der Schlange. Ein dumpfes Gebrüll steigt aus den schwärzesten Tiefen meiner Seele empor und durchbricht das Gehege meiner gebleckten Zähne — ich Zentaur, erbrochen vom Tartaros —, und fast hört man keinen Salamander mehr fliegen, denn ich halte den Schrei zurück und nähere mich dir mit einem schaurigem Lächeln.
— Meine Liebe, meine Sophia, begrüße ich dich katzenhaft schmeichelnd, wie es nur der geheime Chef der Ochrana vermag. Komm, ich hatte dich schon erwartet, verstecke dich mit mir im Dunkeln und warte — und du lachst heiser und schmierig, in lüsterner Vorfreude auf eine Erbschaft oder Beute, ein Manuskript der Protokolle zum Verkauf an den Zaren... Wie gelingt es dir nur, hinter diesem Engelsgesicht deine Dämonennatur zu verbergen, schamhaft eingehüllt in deine androgynen Jeans, dein fast durchsichtiges T-Shirt, das gleichwohl die infame Lilie verbirgt, die dir der Henker von Lille in dein weißes Fleisch gebrannt hat!
Der erste Ahnungslose ist eingetroffen, von mir in die Falle gelockt. Ich erkenne nur schwer seine Züge unter der Kapuze, doch er zeigt mir das Zeichen der Templer von Provins. Es ist Soapes, der Abgesandte der portugiesischen Gruppe. — Graf, sagt er, der Moment ist gekommen. Zu viele Jahre sind wir verstreut durch die Welt geirrt. Ihr habt das Schlussstück der Botschaft, ich das, mit welchem das Große Spiel einst begann, aber das ist eine andere Geschichte. Tun wir unsere Kräfte zusammen, und die andern...
Ich vollende seinen Satz: — Die andern, zur Hölle mit ihnen! Geh, Bruder, dort in der Mitte des Raumes findest du einen Schrein, und in dem Schrein befindet sich, was du seit Jahrhunderten suchst. Fürchte dich nicht vor der Dunkelheit, sie bedroht uns nicht, sie schützt uns.
Der Ahnungslose bewegt sich langsam, fast tastend voran. Ein dumpfer Fall. Er ist in den Schacht gestürzt, unten packt ihn Luciano und schwingt seine Klinge, ein rascher Schnitt durch die Kehle, und das Sprudeln des Blutes vermischt sich mit dem Blubbern der chthonischen Flüssigkeit.
Jemand klopft an die Tür. — Bist du's, Disraeli?
— Yes, antwortet der Unbekannte, in dem meine Leser sogleich den Großmeister der englischen Gruppe erkannt haben werden, der den Gipfel der Macht erreicht hat, aber noch immer nicht zufrieden ist. Er spricht: — My lord, it is useless to deny, because it is impossible to conceal, that a great part of Europe is covered with a network of these secret societies, just as the superficies of the earth is now being covered with railroads...
— Das hast du bereits im Unterhaus gesagt am 14. Juli 1856, mir entgeht nichts. Komm zur Sache!
Der baconische Jude flucht leise zwischen den Zähnen. Dann fährt er fort: — Es sind zu viele. Die sechsunddreißig Unsichtbaren sind nun dreihundertsechzig. Multipliziert mit zwei, macht siebenhundertzwanzig. Ziehe die hundertzwanzig Jahre ab, nach denen die Tone sich öffnen werden, und du hast sechshundert, wie beim Angriff der Leichten Brigade auf der Ebene von Balaklawa.
Teufel von einem Menschen, die Geheimwissenschaft der Zahlen hat keine Geheimnisse für ihn.
— Und weiter?
— Wir haben das Gold, du hast die Karte. Tun wir uns zusammen, und wir sind unschlagbar.
Mit feierlicher Gebärde deute ich auf den phantasmatischen Schrein, den er, geblendet von seiner Gier, im Dunkeln zu erspähen meint. Er setzt sich in Bewegung, fällt.
Ich höre das düstere Aufblitzen von Lucianos Klinge, ich sehe trotz der Finsternis das Röcheln, das in den brechenden Augen des Engländers schimmert. Gerechtigkeit ist getan.
Ich erwarte den dritten, den Mann der französischen Rosenkreuzer, Montfaucon de Villars — bereit, schon weiß ich's, die Geheimnisse seiner Sekte zu verraten.
— Gestatten, Graf Gabalis, stellt er sich vor, verlogen und eitel.
Ich brauche nur wenige Worte zu raunen, und schon geht er seinem Schicksal entgegen. Er fällt, und blutgierig verrichtet Luciano sein Henkerswerk.
Du lächelst mir zu aus dem Dunkel und sagst du seiest mein und dein werde mein Geheimnis sein. Du irrst dich, du irrst dich, sinistre Karikatur der Schechinah. Jawohl, ich bin dein Simon, doch warte, noch weißt du das Beste nicht. Und wenn du's erfahren hast, wirst du aufgehört haben, zu wissen.
Was weiter? Nacheinander kommen die anderen.
Die deutschen Illuminaten werde, hatte mir Pater Bresciani gesagt, die schöne Babette von Interlaken vertreten, die Urenkelin von Weishaupt, die hehre Jungfrau des helvetischen Kommunismus, aufgewachsen unter Säufern, Räubern und Mördern, Expertin im Durchdringen undurchdringlicher Geheimnisse, im Öffnen versiegelter Briefe, ohne das Siegel zu öffnen, im Verabreichen giftiger Tränke, wie's ihre Sekte befahl.
Eintritt nun also die junge Göttin des Bösen, der Agathodaimon des Verbrechens, in einen makellos weißen Eisbärenpelz gehüllt, das lange Blondhaar wallend unter dem kecken Kalpak, hochmütigen Blickes und mit sarkastischer Miene. Und mit der üblichen List schicke ich sie in ihr Verderben.
Ah, Ironie der Sprache — dieser Gabe, die uns die Natur gegeben hat, um uns zu erlauben, über die Geheimnisse unserer Seele zu schweigen: Die Erleuchtete fällt dem Dunkel zum Opfer. Ich höre sie grässliche Flüche ausstoßen, die Reulose, während ihr Luciano das Messer ins Herz stößt und es dreimal darin umdreht. Déjà vu, déjà lu...
Der nächste ist Nilus, der für einen Moment geglaubt hatte, sowohl die Zarin als auch die Karte zu haben. Schmieriger Lustmönch, du wolltest den Antichrist? Wohlan, da vorne im Dunkeln findest du ihn, doch weißt du's noch nicht... Und blind schicke ich ihn, unter tausend mystischen Schmeicheleien, in den infamen Hinterhalt, der ihn erwartet. Luciano zerfetzt ihm die Brust mit zwei Schnitten in Kreuzesform, und der Elende sinkt in den ewigen Schlaf.
Ich muß das uralte Misstrauen des letzten überwinden, des Weisen von Zion, der sich für Ahasver hält, für den Ewigen Juden, unsterblich wie ich. Er traut mir nicht, während er salbungsvoll lächelt, der Bart noch feucht vom Blute der zarten Christenkinder, die er auf dem Prager Friedhof zu zerfleischen pflegt. Er kennt mich als Ratschkowski, ich muß ihn an Gerissenheit übertrumpfen. So gebe ich ihm zu verstehen, daß der Schrein nicht nur die Karte enthalte, sondern auch rohe, noch ungeschliffene Diamanten. Ich weiß, welche Faszination Rohdiamanten auf diese gottesmörderische Sippe ausüben. Er geht seinem Schicksal entgegen, verlockt und getrieben von seiner Begehrlichkeit, und es ist sein Gott, sein grausamer und rachgieriger Gott, den er sterbend verflucht, erdolcht wie Hiram, so schwer ihm das Fluchen auch fallen mag, da er seines Gottes Namen nicht über die Lippen bringt.
Träumer, der ich schon glaubte, das Große Werk beendet zu haben!
Wie von einem Wirbelwind gepackt, springt die Tür erneut auf, und es erscheint eine Gestalt mit bleichem Gesicht, die Hände fromm vor der Brust gefaltet, den Blick bescheiden zu Boden gesenkt. Seine Natur jedoch kann mir dieser Neuankömmling nicht verbergen, denn er trägt das schwarze Kleid seines schwarzen Ordens. Ein Sohn Loyolas, ein Jesuit!
— Crétineau! rufe ich, irregeführt.
Er hebt die Hand zu einer heuchlerischen Segensgebärde.
— Ich bin nicht, der ich bin, sagt er mit einem Lächeln, das nichts Menschliches mehr an sich hat.
Dies war in der Tat seit jeher ihre Technik: mal verleugnen sie ihre Existenz sogar vor sich selbst, mal proklamieren sie die Macht ihres Ordens, um die Trägen im Geiste einzuschüchtern.
— Wir sind immer anders als ihr denkt, ihr Kinder Belials (sagt nun dieser Verführer gekrönter Häupter). Aber du, o Saint-Germain...
— Woher weißt du, daß ich's wirklich bin? frage ich ihn verwirrt.
Er lächelt bedrohlich: — Du hast mich zu anderen Zeiten gekannt — zu Zeiten, als du versuchtest, mich von Postels Sterbebett wegzuziehen, zu Zeiten, als ich dich unter dem Namen des Abbé d'Herblay dazu brachte, eine deiner Verkörperungen im Innern der Bastille zu beenden (oh, wie ich sie immer noch spüre auf dem Gesicht, die Eiserne Maske, zu der mich mein Orden, mit Hilfe Colberts, verurteilt hatte), zu Zeiten, als ich deine heimlichen Zusammenkünfte mit Baron d'Holbach und Condorcet ausspionierte...
— Rodin! rufe ich aus, wie vom Blitz getroffen.
— Jawohl, ich bin Rodin, der heimliche Jesuitengeneral. Rodin, den du nicht täuschen wirst, den du nicht dazu bringen wirst, in den Schacht dort hinten zu stürzen, wie du's mit den anderen getan. Wisse, o Saint-Germain, es gibt kein Verbrechen und keine Gemeinheit, keine tückische List und keine listige Tücke, die wir nicht vor euch erfunden hätten, zum größeren Ruhme unseres Gottes, der die Mittel rechtfertigt! Wie viele gekrönte Häupter haben wir nicht schon stürzen lassen in dieser Nacht, die keinen Morgen kennt, stürzen in weit subtilere Hinterhalte, um die Weltherrschaft zu erlangen! Und jetzt willst du uns hindern, jetzt, einen Schritt vor dem Ziel, unsere gierigen Hände auf das Geheimnis zu legen, das seit fünf Jahrhunderten die Geschichte der Welt umtreibt?
Rodin, so sprechend, wird zunehmend fürchterlich. All jene Instinkte einer blutigen, lästerlichen und ruchlosen Ambition, die sich in den Päpsten der Renaissance manifestierten, perlen jetzt auf der Stirn dieses Ignatius-Jüngers. Ich sehe es wohl: ein unstillbarer Durst nach Herrschaft bewegt sein unreines Blut, ein siedender Schweiß überströmt ihn, ein süßlicher, ekelerregender Dunst verbreitet sich rings um ihn her.
Wie kann ich diesen letzten Feind schlagen? Mich überkommt eine plötzliche Intuition, die nur der zu nähren vermag, für den die menschliche Seele seit Jahrhunderten keine unerforschten Winkel mehr hat.
— Sieh her! sage ich. Auch ich bin ein Tiger.
Und mit einer einzigen raschen Bewegung stoße ich dich in die Mitte des Raumes, reiße dir das T-Shirt vom Leibe, löse den Gürtel des eng anliegenden Panzers, der die Anmut deines ambragoldenen Leibes verbirgt. So stehst du nun da im bleichen Mondlicht, das durch die halb offene Tür eindringt, erhobenen Kopfes, schöner als die Schlange, die Adam verführte, hochmütig und lasziv, Jungfrau und Hure, bekleidet mit nichts als deiner fleischlichen Macht, denn die nackte Frau ist die gewappnete Frau.
Der ägyptische Klaft hängt von deinem dichten schwarzen Haar, das vor lauter Schwärze schon beinahe blau ist, auf deinen wogenden Busen unter dem leichten Musselin. Um die kleine gewölbte und eigensinnige Stirn schlingt sich der goldene Uräus mit den smaragdenen Augen, der seine dreigespaltene rubinrote Zunge über deinem Kopf züngeln lässt. Oh, deine Tunika aus schwarzen Schleiern mit Silberreflexen, zusammengehalten von einer Schärpe, bestickt mit funesten Iriden aus schwarzen Perlen. Oh, deine geschwellte Scham, glatt rasiert von deiner malabarischen Sklavin, auf das du in den Augen deiner Liebhaber die Nacktheit einer Statue habest! Oh, deine Brustspitzen, zart betupft mit demselben Karmesin, das deine Lippen rötet, die einladend lächeln wie eine Wunde!
Jetzt keucht Rodin. Die langen Zeiten der Abstinenz, das in einem Machttraum verbrachte Leben haben nichts anderes bewirkt, als ihn mehr und mehr in sein unstillbares Verlangen zu stürzen. Angesichts dieser schönen und schamlosen Königin mit den dämonischen schwarzen Augen, den runden Schultern, dem duftenden Haar und der zarten weißen Haut wird Rodin von der Sehnsucht nach einer nie gekannten Zärtlichkeit erfasst, nach einer unsäglichen Lust, er zittert in seinem Fleische, wie ein Waldgott erzittert beim Anblick einer entblößtem Nymphe, die sich im selben Wasser spiegelt, das schon Narziss ins Unglück getrieben. Im Gegenlicht errate ich seinen unbezähmbaren Rictus, er ist wie versteinert von der Medusa, in Stein gehauen in seinem Verlangen nach einer unterdrückten und jetzt erlöschenden Männlichkeit, obsessive Flammen der Libido versengen sein Fleisch, er ist wie ein gespannter Bogen, hochgespannt bis zu dem Punkt, an dem er zerbrechen wird.
Jäh zu Boden gestürzt, liegt er kriechend vor dieser Erscheinung, die Hand vorgereckt wie eine Kralle, um einen Schluck vom Elixier zu erflehen.
— Oh, röchelt er, oh, wie schön du bist, oh, diese kleinen Zähne einer jungen Wölfin, die aufblitzen, wenn du deine schwellenden roten Lippen öffnest... Oh, diese großen, smaragdgrünen Augen, die bald funkeln, bald schmachten. O Dämonin der Wollust.
Er hat schon Gründe, der Elende, während du jetzt deine blaugepanzerten Hüften bewegst und die Scham vorstreckst, um den Flipper vollends zur Raserei zu treiben.
— O Vision, stöhnt Rodin, sei die meine, für einen Augenblick nur, erfülle mit einem Augenblick des Genusses ein Leben, verbracht im Dienst eines eifersüchtigen Gottes, tröste mit einem Hauch von Wollust die Ewigkeit in Flammen, zu der dein Anblick mich treibt und zieht. Ich flehe dich an, berühre mein Gesicht mit deinen Lippen, Antinea, Aphrodite, Maria Magdalena, du, die ich begehrte im Antlitz ekstatisch verzückter Heiliger, die ich begehrte, während ich heuchlerisch im Gebet vor Jungfrauengesichtern lag, o meine Herrin, schön bist du wie die Sonne, weiß wie der Mond, o ja, ich verleugne Gott und die Heiligen und sogar den Heiligen Vater in Rom, ich sage noch mehr, ich verleugne sogar den heiligen Pater Ignatius von Loyola, ich schwöre ihm ab, ihm und dem kriminellen Eid, der mich an meinen Orden bindet — ich erflehe nur einen einzigen Kuss, und dann mag der Tod mich holen.
Er ist noch ein Stückchen näher gekrochen, auf zitternden Knien, die Kutte hochgezogen über den Lenden, die Hand noch flehender vorgestreckt zu diesem unerreichbaren Glück. Dann plötzlich ist er zurückgefallen, die Augen scheinen ihm aus den Höhlen zu treten. Grässliche Krämpfe versetzen seinen Zügen unmenschliche Schläge, ähnlich denen, welche die Voltasche Säule auf den Gesichtern der Leichen hervorruft. Ein bläulicher Schaum färbt ihm purpurn die Lippen, aus denen eine zischende und erstickte Stimme kommt, ähnlich der eines Hydrophoben, denn, wie Charcot richtig sagt, wenn sie in die Phase des Paroxysmus tritt, zeigt die entsetzliche Krankheit der Satyriasis, die als Strafe der Wollust auftritt, dieselben Symptome wie die Tollwut.
Es ist das Ende. Rodin bricht in ein wahnwitziges Lachen aus. Dann stürzt er entseelt zu Boden, als lebendes Bild der Totenstarre.
In einem einzigen Augenblick ist er verrückt geworden, gestorben und zur Hölle gefahren.
Ich begnüge mich damit, den Leichnam in den Schacht zu stoßen, vorsichtig, um nicht meine blanken Lackstiefelchen an der schmierigen Kutte des letzten meiner Feinde zu besudeln.
Es bedarf nicht mehr des mörderischen Dolches von Luciano, doch der Henker, gepackt von einem bestialischen Wiederholungszwang, kann seine Gesten nicht mehr kontrollieren. Er lacht und erdolcht einen schon seines Lebens beraubten Leichnam.
Jetzt führe ich dich an den Rand des Schachtes, streichle dir den Hals und den Nacken, während du dich vorbeugst, um die Szene zu genießen, und sage: — Nun, bist du zufrieden mit deinem Rocambole, meine unerreichbare Liebe?
Und während du lüstern nickst und geifernd ins Leere hinuntergrinsest, drücke ich langsam die Finger zusammen, was tust du, mein Liebster, nichts, meine Sophia, ich töte dich nur, ich bin jetzt Giuseppe Balsamo und brauche dich nicht mehr.
Die Buhle der Archonten erlischt und fährt in die Grube, Luciano ratifiziert mit einem Klingenhieb das Verdikt meiner unerbittlichen Hand, und ich rufe zu ihm hinunter: jetzt kannst du heraufkommen, mein Getreuer, mein böser Geist, und während er heraufsteigt und mir den Rücken zuwendet, stoße ich ihm ein schmales Stilett mit Dreikantklinge, das fast keine Narben hinterlässt, zwischen die Schulterblätter. Er stürzt hinunter, ich schließe die Luke, es ist vollbracht, ich verlasse den Keller, während acht Leichen zum Châtelet davontreiben, durch nur mir bekannte Kanäle.
Ich kehre zurück in mein kleines Quartier im Faubourg Saint-Honoré und betrachte mich im Spiegel. Voilà, sage ich mir, ich bin der König der Weit. Von der Spitze meiner Hohlen Nadel aus beherrsche ich das Universum. In manchen Augenblicken schwindelt mir ob meiner Macht. Ich bin ein Meister der Energie. Ich bin trunken von Autorität.
Aber ach, die Rache des Lebens lässt nicht lange auf sich warten. Monate später, in der tiefsten Krypta der Burg von Tomar, nun Herr des Geheimnisses der unterirdischen Ströme und der sechs heiligen Orte jener, die einst die Sechsunddreißig Unsichtbaren waren, letzter der letzten Templer und Unbekannter Oberer aller Unbekannten Oberen, will ich nun auch Cecilia heimführen, die Androgyne mit den eisblauen Augen, von der mich jetzt nichts mehr trennt. Ich habe sie wiedergefunden nach all den Jahrhunderten, seit sie mir damals geraubt wurde von dem Mann mit dem Saxofon. Sie balanciert gerade auf der Rückenlehne der Parkbank, himmelblau und blond, und ich weiß noch immer nicht, was sie unter dem duftigen Tüllröckchen hat.
Die Kapelle ist in den Felsen gehauen, den Altar krönt ein beunruhigendes Tafelbild, das die Strafen der Verdammten in den Eingeweiden der Hölle darstellt. Einige kapuzenbewehrte Mönche flankieren mich düster, und noch schöpfe ich keinen Verdacht, fasziniert wie ich bin von der iberischen Fantasie...
Doch, o Grauen, das Bild hebt sich wie ein Vorhang, und dahinter erscheint, wunderbares Werk eines Arcimboldo der Unterwelt, eine andere Kapelle, in allem gleich der, in welcher ich knie, und dort, vor einem anderen Altar, kniet Cecilia, und neben ihr — eiskalter Schweiß perlt mir auf der Stirne, die Haare stehn mir zu Berge —, wen sehe ich dort mit höhnischem Grinsen seine Narbe vorzeigen? Den Anderen, den wahren Giuseppe Balsamo, den jemand befreit haben muß aus seinem Verlies in San Leo!
Und ich? Jetzt schlägt der älteste der Mönche neben mir die Kapuze zurück, und ich erkenne das grässliche Grinsen von Luciano, wer weiß, wie er meinem Stilett entkommen ist, wie den Kloaken, der blutigen Schlammflut, die ihn als Leichnam hätte fortschwemmen sollen in die stillen Tiefen der Ozeane — nun ist er übergewechselt zu meinen Feinden aus verständlichem Rachedurst.
Die Mönche werfen ihre Kutten ab und erscheinen gepanzert in einer bisher verborgenen Rüstung, auf ihren schneeweißen Mänteln ein flammendes Kreuz. Es sind die Templer von Provins.
Sie ergreifen mich, zwingen mich, den Kopf zu drehen, und hinter mir steht nun ein Henker mit zwei missgebildeten Helfern, ich werde über eine Art Garotte gebeugt und mit einem rot glühenden Brandeisen zur ewigen Beute des Kerkermeisters geweiht, das infame Grinsen des Baphomet prägt sich für immer auf meinem Rücken ein — jetzt verstehe ich: damit ich Balsamo in San Leo ersetzen kann, oder auch: damit ich den Platz einnehmen kann, der mir seit jeher bestimmt war.
Aber man wird mich erkennen, sage ich mir, und da alle nun glauben, ich sei er und er der Verdammte, wird mir gewiss jemand zu Hilfe kommen — zumindest meine Komplizen —, man kann nicht einen Gefangenen einfach durch einen anderen ersetzen, ohne daß es irgendwer merkt, wir sind nicht mehr in den Zeiten der Eisernen Maske... Ich Träumer! Jäh begreife ich, während der Henker meinen Kopf über ein kupfernes Becken beugt, aus dem grünliche Dämpfe aufsteigen... Das Vitriol!
Mir werden die Augen verbunden, mein Gesicht wird in die ätzende Flüssigkeit gedrückt, ein brennender, unerträglicher Schmerz, die Haut an den Wangen, an Nase und Mund und Kinn wirft sich auf, zerfasert, zerläuft, es genügt ein Moment, und als ich an den Haaren zurückgerissen werde, ist mein Gesicht nicht mehr wiederzuerkennen, ein Blasenbrand, ein Blatternfraß, ein unsägliches Nichts, ein einziger Hymnus an die Widerwärtigkeit, ich werde ins Verlies zurückkehren wie jene Flüchtlinge, die den Mut hatten, sich zu entstellen, um nicht wieder eingefangen zu werden.
Ah! schreie ich, besiegt, und, wie der Erzähler sagt, von meinen zerfressenen Lippen löst sich ein Wort, ein Seufzer, ein Hoffnungsschrei: Erlösung!
Aber Erlösung wovon, alter Rocambole, du wusstest doch genau, daß du nicht versuchen durftest, ein Protagonist zu sein! Nun bist du bestraft worden, und zwar mit deinen eigenen Künsten. Du hast die Schreiber der Illusion verhöhnt, und jetzt — siehst du — schreibst du selber, mit dem Alibi der Maschine. Du redest dir ein, du wärst nur ein Zuschauer, weil du deine Worte auf dem Bildschirm liest, als wären es die eines anderen, aber du bist in die Falle gegangen, siehst du, jetzt willst du Spuren im Sand hinterlassen. Du hast es gewagt, den Text des Romans der Welt zu verändern, und nun holt dich der Roman der Welt in seine Texturen zurück und verwickelt dich in seine Intrigen, die du nicht entschieden hast.
Ach, wärst du doch lieber auf deinen Inseln geblieben, Surabaya-Jim, und sie hätte dich für tot gehalten.
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Die nationalsozialistische Partei tolerierte die Geheimgesellschaften nicht, da sie selber eine Geheimgesellschaft war, komplett mit eigenem Großmeister, eigener rassistischer Gnosis, eigenen Riten und eigenen Initiationen.
René Alleau, Les sources occultes du nazisme, Paris, Grasset, 1969, p. 214
Um diese Zeit etwa muß es gewesen sein, daß Agliè uns aus der Kontrolle glitt. Den Ausdruck hatte Belbo benutzt, »er gleitet uns aus der Kontrolle«, hatte er mit übertriebener Indifferenz gesagt. Ich schob es ein weiteres Mal auf seine Eifersucht: im stillen bedrückt von Agliès Macht über Lorenza, spottete er in Worten über die Macht, die Agliè über Garamond gewann.
Vielleicht war es auch unsere Schuld gewesen. Seit fast einem Jahr war Agliè dabei, Garamond zu bezirzen, seit den Tagen der alchimistischen Fete auf dem Schloss in Piemont. Bald danach hatte Garamond ihm die Kartei der AEKs anvertraut, damit er sie nach neuen Opfern zum Mästen der Entschleierten Isis durchsuchte, und mittlerweile zog er ihn bei jeder Entscheidung zu Rate, sicher zahlte er ihm auch ein monatliches Fixum. Gudrun, die periodische Erkundungen am Ende des Korridors vornahm, jenseits der Glastür, die in das wattierte Reich von Manuzio führte, berichtete uns ab und zu in besorgtem Ton, Agliè habe sich im Büro der Signora Grazia praktisch eingerichtet, er diktiere ihr Briefe, empfange Besucher und führe sie in Signor Garamonds Arbeitszimmer, mit einem Wort — und vor lauter Empörung verlor Gudruns Aussprache noch ein paar Vokale mehr —, er benehme sich ganz wie der Chef. Wir hätten uns wirklich fragen können, wieso Agliè Stunden um Stunden über der Adressenkartei von Manuzio verbrachte. Er hatte genügend Zeit gehabt, die AEKs herauszufinden, die sich als neue Autoren für die Entschleierte Isis anwerben ließen. Trotzdem fuhr er fort zu schreiben, zu kontaktieren, zu organisieren. Im Grunde aber bestärkten wir seine Autonomie, denn die Lage kam uns durchaus zupass.
Sie kam Belbo zupass, denn mehr Agliè in der Via Marchese Gualdi hieß weniger Agliè in der Via Sincero Renata und somit weniger Möglichkeiten, daß gewisse unverhoffte Besuche von Lorenza Pellegrini (über die Belbo immer glühender errötete, ohne noch irgendeinen Versuch zu machen, seine Erregung zu verbergen) durch das plötzliche Auftauchen von »Simon« gestört wurden.
Die Lage kam auch mir zupass, da ich die Lust an der Entschleierten Isis inzwischen verloren hatte und immer mehr von meiner Geschichte der Magie beansprucht wurde. Von den Diabolikern glaubte ich alles gelernt zu haben, was ich von ihnen lernen konnte, und so überließ ich Agliè gern die Pflege der Kontakte (und der Kontrakte) mit den neuen Autoren.
Auch Diotallevi hatte schließlich nichts gegen die Lage, da ihm die Welt überhaupt immer weniger zu bedeuten schien. Jetzt, wenn ich daran zurückdenke, wird mir bewusst, daß er von Tag zu Tag weiter abnahm, in besorgniserregender Weise, manchmal überraschten wir ihn in seinem Büro, wie er über ein Manuskript gebeugt dasaß, reglos ins Leere starrend, während der Stift ihm fast aus der Hand fiel. Er war nicht eingeschlafen, er war nur erschöpft.
Es gab aber noch einen anderen Grund, warum wir es hinnahmen, daß Agliè immer seltener erschien, um uns nur rasch die Manuskripte zurückzugeben, die er abgelehnt hatte, und gleich wieder durch den langen Korridor zu verschwinden. In Wirklichkeit wollten wir nicht, daß er unsere Gespräche mit anhörte. Hätte man uns gefragt, warum nicht, hätten wir gesagt: aus Scham — oder auch aus Zartgefühl, schließlich parodierten wir Metaphysiken, an die er in gewisser Weise glaubte. Tatsächlich war's eher aus Misstrauen, wir hüllten uns mehr und mehr in die natürliche Reserviertheit derer, die sich im Besitz eines Geheimnisses wissen, und stießen Agliè ins profane Volk zurück — wir, die wir nun langsam und immer weniger lächelnd kennenlernten, was wir erfunden hatten. Im übrigen, wie Diotallevi einmal in einem gut gelaunten Augenblick sagte: Jetzt, wo wir einen echten Saint-Germain hatten, wussten wir nicht mehr, was wir mit einem vorgeblichen Saint-Germain anfangen sollten.
Agliè schien sich über unsere Zurückhaltung nicht zu grämen. Er grüßte uns sehr elegant und verzog sich. Mit einer Anmut, die schon an Hochmut grenzte.
Eines Montagmorgens war ich spät in den Verlag gekommen, und Belbo, schon ungeduldig wartend, hatte mich gleich in sein Büro gebeten, zusammen mit Diotallevi. »Große Neuigkeiten«, hatte er gesagt. Er wollte gerade anfangen zu sprechen, da kam Lorenza hereingewirbelt. Belbo war hin-und hergerissen zwischen der Freude über ihren Besuch und der Ungeduld, uns seine Entdeckungen mitzuteilen. Gleich darauf klopfte es, und Agliè streckte den Kopf herein: »Bleiben Sie sitzen, ich will Sie nicht inkommodieren, ich habe nicht die Macht, ein solches Konsistorium zu stören. Ich wollte nur rasch der lieben Lorenza sagen, daß ich drüben bei Signor Garamond bin. Und ich hoffe doch wenigstens noch so viel Macht zu haben, sie zu einem Sherry um zwölf in mein Büro einzuladen.«
In sein Büro. Diesmal verlor Belbo die Kontrolle. Jedenfalls so, wie er die Kontrolle verlieren konnte. Er wartete, bis Agliè draußen war, und knurrte dann zwischen den Zähnen: » Ma gavte la nata.«
Lorenza, die noch bei ihren komplizenhaften Begrüßungsgesten war, fragte ihn, was das heiße.
»Das ist Turinerisch. Heißt soviel wie: Zieh dir mal den Pfropfen raus, oder wenn du's so lieber hast: Wollen Sie sich bitte gütigst den Stöpsel entfernen. Angesichts einer steif und geschwollen daherredenden Person nimmt man an, daß sie von ihrem eigenen Dünkel aufgeblasen sei, und zugleich unterstellt man, daß diese übermäßige Selbsteinschätzung den geblähten Leib nur kraft eines Pfropfens so prall erhalte, eines korkenähnlichen Stöpsels, der, in den After eingeführt, verhindert, daß diese ganze aerostatische Würde einfach verpufft; dergestalt, daß man mit der Aufforderung an das Subjekt, sich besagten Stöpsels per Extraktion zu entledigen, dieses dazu verurteilen will, sein eigenes Erschlaffen herbeizuführen, ein jähes und irreversibles Zusammenschnurren, nicht selten begleitet von scharfem Zischen, mit Reduktion der verbleibenden Hülle zu einem traurigen Rest, einem blassen Abbild und blutleeren Schatten der einstigen Majestät.«
»Ich dachte nicht, daß du so vulgär sein kannst.«
»Jetzt weißt du's.«
Lorenza war mit gespieltem Ärger gegangen. Ich wusste, daß Belbo darunter noch mehr litt: eine echte Wut hätte ihn befriedigt, eine gespielte brachte ihn auf den Gedanken, daß bei Lorenza auch die Anflüge von Leidenschaft immer nur Theater waren.
Und deswegen, glaube ich, sagte er nun mit Entschiedenheit, kaum daß sie draußen war: »Also machen wir weiter!« Was heißen sollte: Basteln wir weiter am Großen Plan, arbeiten wir ernsthaft.
»Ich hab keine Lust«, sagte daraufhin Diotallevi. »Ich fühl mich nicht wohl. Ich hab Schmerzen hier«, und er fasste sich an den Bauch. »Scheint eine Gastritis zu sein.«
»Ach nein!« rief Belbo. »Du hast eine Gastritis, und ich hab keine... Wovon hast du denn Gastritis gekriegt? Vom Mineralwasser?«
»Schon möglich«, sagte Diotallevi mit müdem Lächeln. »Gestern Abend hab ich's übertrieben. Ich bin an Fiuggi gewöhnt und hab San Pellegrino getrunken.«
»Na, Pass bloß auf, solche Exzesse können dich umbringen. Aber lass uns jetzt weitermachen, seit zwei Tagen brenne ich drauf, euch zu erzählen, was ich entdeckt habe. Ich weiß endlich, warum die Sechsunddreißig Unsichtbaren seit Jahrhunderten nicht in der Lage sind, die Form der Karte zu bestimmen. John Dee hatte sich geirrt, die ganze Geografie muß neu gemacht werden. Wir leben im Innern einer hohlen Erdkugel, umhüllt von der Erdoberfläche. Und Hitler hat es gewusst.«
99
Der Nazismus war der Moment, in dem der magische Geist sich der Hebel des materiellen Fortschritts bemächtigte. Lenin sagte, Kommunismus sei Sozialismus plus Elektrizität. In gewisser Hinsicht kann man sagen, Hitlerismus war Guénonismus plus Panzerdivisionen.
Pauwels & Bergier, Le matin des magiciens, Paris, Gallimard, 1960, 2, VII
Belbo war es gelungen, auch Hitler in den Großen Plan einzubauen. »Steht alles geschrieben, schwarz auf weiß. Es ist erwiesen, daß die Begründer des Nazismus mit dem teutonischen Neutemplerismus zusammenhingen.«
»Sie verkohlen uns!«
»Nein, ehrlich, Casaubon, ich erfinde nichts, diesmal erfinde ich wirklich nichts.«
»Also bitte, wann hätten wir jemals etwas erfunden? Wir sind immer von objektiven Fakten ausgegangen, in jedem Fall von allgemein zugänglichen Daten.«
»Auch diesmal. Also aufgepasst: im Jahre 1912 tritt ein Germanenorden hervor, der eine ›Ariosophie‹ propagiert, soll heißen, eine Philosophie der arischen Überlegenheit Sechs Jahre später, 1918, gründet ein gewisser Baron von Sebottendorff eine Filiale, die Thule-Gesellschaft, einen Geheimbund, eine soundsovielte Variante der Strikten Observanz neu-templerischer Prägung, aber mit starken rassistischen Zügen: pangermanisch, neo-arisch. Und 1933 wird derselbe Sebottendorff schreiben, er habe gesät, was Hitler dann habe reifen lassen. Tatsächlich taucht das Hakenkreuz erstmals im Umkreis der Thule-Gesellschaft auf. Und wer gehört sofort zu dieser Thule-Gesellschaft? Rudolf Heß, Hitlers Schatten! Und dann Alfred Rosenberg! Und Hitler selbst! Und sicher habt ihr in der Zeitung gelesen, daß Heß sich noch heute in seinem Spandauer Gefängnis mit esoterischen Wissenschaften beschäftigt. Sebottendorff schreibt 1924 ein Büchlein über Alchimie und bemerkt, daß die ersten Experimente mit Atomspaltung die Wahrheit des Großen Werkes beweisen. Und er schreibt auch einen Roman über die Rosenkreuzer! Außerdem wird er Leiter einer Astrologischen Rundschau, und wie man bei Trevor-Roper nachlesen kann, haben die Nazibonzen, Hitler voran, keinen Schritt getan, ohne sich vorher ein Horoskop stellen zu lassen. 1943 sollen sie einen Haufen medial begabter Personen befragt haben, um herauszubekommen, wo Mussolini gefangen gehalten wurde. Kurz, die ganze Naziführung war mit dem teutonischen Neo-Okkultismus verbunden.«
Belbo schien den Zwischenfall mit Lorenza vergessen zu haben, und ich bestärkte ihn darin, indem ich seine Rekonstruktion noch ein Stück weitertrieb: »Im Grunde können wir auch Hitlers berühmte Verführungsmacht der Massen in diesem Licht sehen. Physisch war er ein mickriges Männchen, seine Stimme war schrill, wie schaffte er es, die Leute so verrückt zu machen? Er muß mediale Fähigkeiten gehabt haben. Vermutlich wusste er, instruiert von irgendwelchen Druiden aus seiner Gegend, wie man die Erdstrahlen anzapft. Auch er also war eine Sonde, ein biologischer Menhir. Er übertrug die Energie der tellurischen Ströme auf seine Getreuen im Nürnberger Stadion. Eine Zeit lang muß es ihm gelungen sein, dann waren seine Batterien erschöpft.«
100
An alle Welt: Ich erkläre, daß die Erde innen hohl und bewohnbar ist; sie enthält eine gewisse Anzahl solider Sphären, die konzentrisch sind, das heißt ineinandergeschoben, und sie ist an den beiden Polen offen in einer Breite von zwölf bis sechzehn Grad.
J. Cleves Symmes, Hauptmann der Infanterie, am 10. April 1818, zit. in Sprague de Camp/Ley, Lands Beyond, New York, Rinehart, 1952, X
»Gratuliere, Casaubon, in Ihrer Unschuld haben Sie eine richtige Intuition gehabt. Hitlers wahre und einzige Obsession waren in der Tat die unterirdischen Ströme. Hitler war ein Anhänger der Hohlweltlehre.«
»Kinder, ich gehe, ich hab Gastritis«, sagte Diotallevi.
»Warte, jetzt wird's doch erst spannend: Die Erde ist eine hohle Kugel, wir leben nicht draußen auf der konvexen Außenfläche, sondern drinnen an der konkaven Wölbung. Was wir für den Himmel halten, ist eine Masse aus dunklem Gas, durchsetzt mit Zonen von strahlendem Licht, die das Innere der Kugel füllt. Alle astronomischen Maße müssen revidiert werden. Der Himmel ist nicht unendlich, er ist begrenzt. Die Sonne, wenn sie denn existiert, ist nicht größer, als sie erscheint Ein Bällchen von höchstens dreißig Zentimetern Durchmesser im Mittelpunkt der Erde. Das hatten schon die alten Griechen vermutet.«
»Das hast du jetzt erfunden«, sagte Diotallevi müde.
»Das hab ich jetzt gerade nicht erfunden! Die Idee hatte bereits zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Amerikaner namens Symmes. Um die Jahrhundertwende wird sie dann von einem anderen Amerikaner aufgegriffen, einem gewissen Teed, der sich auf alchimistische Experimente und die Lektüre des Propheten Jesaja stützt. Und nach dem Ersten Weltkrieg wird seine Theorie von einem Deutschen perfektioniert, wie heißt er noch gleich, Karl Neupert, der sogar eine regelrechte Bewegung gründet, die Bewegung der ›Hohlweltlehre‹. Hitler und die Seinen finden, dass diese Theorie der hohlen Welt aufs schönste zu ihren Prinzipien passt, ja es heißt sogar, sie hätten einige ihrer V2 nur deshalb danebengeschossen, weil sie die Flugbahn ausgehend von der Annahme einer konkaven und nicht konvexen Erdoberfläche berechneten... Hitler hat sich nunmehr überzeugt, dass er der König der Welt ist und dass der Führungsstab seiner Partei die Unbekannten Oberen sind. Und wo bitte wohnt der König der Welt? Innen drin, unten, nicht draußen. Von dieser Hypothese geht Hitler aus, als er beschließt, das Ganze umzustülpen: die Richtung und Reihenfolge der Suche, die Konzeption der endgültigen Karte und die Interpretationsweise des Pendels! Die sechs Gruppen müssen neu kombiniert und alle Berechnungen neu gemacht werden. Man vergegenwärtige sich nur einmal die Logik der Hitlerschen Eroberungen... Zuerst nimmt er Danzig, um die klassischen Stätten der Deutschordensritter in die Hand zu bekommen. Dann erobert er Paris, bringt das Pendel und den Eiffelturm unter seine Kontrolle, kontaktiert die synarchischen Gruppen und schleust sie in die Vichy-Regierung ein. Dann sichert er sich die Neutralität und faktische Komplizenschaft der Portugiesen. Viertes Ziel ist natürlich England, aber wir wissen, das ist ein harter Brocken. Einstweilen versucht er, mit dem Afrika-Feldzug, nach Palästina vorzustoßen, aber auch das gelingt nicht. Also zielt er nun auf die Unterwerfung der paulizianischen Territorien, indem er den Balkan und Russland überfällt. Als er vier Sechstel des Großen Plans in Händen zu haben glaubt, schickt er Heß in geheimer Mission nach England, um ein Bündnis vorzuschlagen. Da die Baconianer nicht anbeißen, hat er eine Intuition: diejenigen, die den wichtigsten Teil des Geheimnisses in der Hand haben, müssen die uralt-ewigen Erbfeinde sein: die Juden. Und es ist gar nicht nötig, sie in Jerusalem suchen zu gehen, wo bloß noch wenige von ihnen leben. Das Jerusalemer Stück der Templerbotschaft befindet sich nicht mehr in Palästina, sondern im Besitz einer Gruppe der Diaspora. Und so erklärt sich der Holocaust.«
»Wie das denn?«
»Na, überlegt doch mal. Stellt euch vor, ihr wollt einen Völkermord begehen... «
»Ich bitte dich«, sagte Diotallevi, »Jetzt übertreibst du aber. Ich habe Magenschmerzen, ich gehe.«
»Nun warte doch, Herrgott, als die Templer den Sarazenen die Bäuche aufschlitzten, da hast du dich amüsiert, weil das schon so lange her war, und jetzt willst du hier den Moralisten spielen wie irgendein kleinbürgerlicher Intellektuellen! Wir sind hier dabei, die Weltgeschichte neu zu schreiben, da dürfen wir vor nichts zurückschrecken!«
Wir ließen ihn weiterreden, überwältigt von seinem Elan.
»Das Auffallende am Völkermord an den Juden ist die Länge und Umständlichkeit des Verfahrens. Erst werden sie in die Lager verbracht, um zu hungern, dann werden sie nackt ausgezogen, dann die Duschen, dann die pedantische Aufstapelung von Leichenbergen, die Archivierung der Kleider, die Registrierung der persönlichen Habe... Das war kein rationales Verfahren, wenn es bloß ums Töten ging. Das wurde erst rational, wenn es darum ging, etwas zu suchen, etwas Verstecktes, eine Botschaft, die einer von diesen Millionen Menschen, der Jerusalemer Repräsentant der Sechsunddreißig Unsichtbaren, irgendwo an sich trug, in den Falten seiner Kleider, im Mund, auf die Haut tätowiert... Nur der Große Plan erklärt den unerklärlichen Bürokratismus der Hitlerschen Judenvernichtung. Hitler suchte bei den Juden die Anregung, die Idee, die ihm erlauben sollte, mit Hilfe des Pendels den genauen Punkt zu bestimmen, den Punkt unter der konkaven Wölbung, mit der die Hohlwelt sich selber umschließt, wo die unter- oder innerirdischen Strömungen sich überschneiden — die nun, und man beachte die Vollendung der Konzeption, identisch mit den himmlischen Strömungen sind, so dass die Lehre von der hohlen Welt gewissermaßen die Materialisierung jener jahrtausendealten hermetischen Einsicht wäre, nach welcher es unten so ist wie oben! Der Mystische Pol fallt mit dem Erdmittelpunkt zusammen, die geheime Sternenkarte ist nichts anderes als die geheime Karte der Unterwelt von Agarttha, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Himmel und Hölle, und der Gral, der lapis exillis, ist insofern lapis ex coelis, als er der Stein der Weisen ist, der als Umhüllung entsteht, als Hülle, Gefäß und Grenze, als chthonischer Uterus der sieben Himmel! Jawohl, so ist es, so muß es sein, denkt Hitler, und wenn er diesen Punkt identifiziert haben wird, den Punkt im leeren Zentrum der Erde, der das perfekte Zentrum des Himmels ist, dann wird er endlich der Herr der Welt sein, deren König er qua Rasse schon ist. Und so denkt er bis ganz zuletzt, tief in seinem Bunker vergraben, er könnte den Mystischen Pol noch bestimmen.«
»Genug«, sagte Diotallevi leise. »Jetzt geht's mir wirklich schlecht. Ich hab Schmerzen.«
»Es geht ihm wirklich schlecht, das ist kein bloß ideologischer Protest«, sagte ich.
Belbo schien erst jetzt zu begreifen. Er sprang bestürzt auf, um dem Freund zu helfen, der sich zusammengekrümmt auf den Tisch stützte und einer Ohnmacht nahe schien. »Entschuldige, Lieber, ich habe mich fortreißen lassen. He, sag mal, dir ist doch nicht etwa deshalb schlecht, weil ich solche Sachen gesagt habe? Seit zwanzig Jahren machen wir diese Art Witze, das kann's doch nicht gewesen sein, oder? Nein, dir geht es tatsächlich schlecht, vielleicht hast du wirklich eine Gastritis. Pass auf, da hilft meistens eine Magentablette. Und eine Wärmflasche auf dem Bauch. Komm, ich bring dich nach Hause, aber dann solltest du doch lieber einen Arzt rufen, für alle Fälle.«
Diotallevi sagte, er könne allein im Taxi nach Hause, er liege noch nicht im Sterben. Er müsse sich nur etwas hinlegen, und er werde gleich einen Arzt rufen, ja, versprochen. Und nein, es sei nicht Belbos Geschichte gewesen, was ihn so erschüttert habe, es sei ihm schon seit dem vorigen Abend nicht gut gegangen. Belbo schien erleichtert und brachte ihn zum Taxi hinunter.
Er kam besorgt zurück: »Also jetzt, wenn ich's mir überlege, schon seit ein paar Wochen sieht der Junge schlecht aus. Diese Ringe unter den Augen... Meine Güte, ich müsste schon vor zehn Jahren an Leberzirrhose gestorben sein, und jetzt hat er, der immer wie ein Asket gelebt hat, eine Gastritis! Und wer weiß, womöglich noch was Schlimmeres, ich fürchte, das ist ein Magengeschwür. Zum Teufel mit dem Großen Plan. Wir führen schon ein verrücktes Leben.«
»Also ich sage, das geht mit einer Magentablette vorbei«, sagte ich.
»Das sage ich auch. Aber sie hilft besser, wenn er sich auch eine heiße Wärmflasche auf den Bauch legt. Hoffen wir, dass er vernünftig ist.«
101
Qui operatur in Cabala... si errabit in opere aut non purificatus accesserit, devorabitur ab Azazale.
(Wer sich mit Kabbala beschäftigt... so er sich im Werke irrt oder ungereinigt darangeht, wird er von Azazal verschlungen.)
Pico della Mirandola, Conclusiones Magicae
Diotallevis Krise war Ende November ausgebrochen. Am nächsten Morgen erwarteten wir ihn vergeblich, er rief uns an und sagte, er müsse für ein paar Tage ins Krankenhaus. Der Arzt habe gesagt, die Symptome seien zwar nicht besorgniserregend, aber es sei doch besser, ihn gründlich zu untersuchen.
Belbo und ich verbanden seine Erkrankung instinktiv mit dem Großen Plan, den wir vielleicht zu weit getrieben hatten. Wir sagten uns zwar, dass es unvernünftig war, aber wir kamen uns schuldig vor. Zum zweiten Mal fühlte ich mich als Belbos Komplize: das erste Mal hatten wir gemeinsam geschwiegen (gegenüber De Angelis), diesmal hatten wir gemeinsam zu viel geredet. Es war unvernünftig, sich schuldig zu fühlen — damals waren wir davon überzeugt —, aber wir wurden das Unbehagen nicht los. So hörten wir für mindestens einen Monat auf, von dem Plan zu sprechen.
Nach zwei Wochen war Diotallevi wieder erschienen und hatte uns in zwanglosem Ton mitgeteilt, dass er Garamond um einen Erholungsurlaub gebeten habe. Die Ärzte hätten ihm eine Kur empfohlen, sagte er, ohne uns mehr darüber zu verraten, als dass sie ihn zwingen würde, sich alle zwei bis drei Tage in die Klinik zu begeben, und dass sie ihn ein bisschen schwächen würde. Ich weiß nicht, wie weit er noch geschwächt werden konnte: seine Haut hatte inzwischen dieselbe Farbe wie seine Haare. »Und hört auf mit diesen Geschichten«, hatte er noch gesagt »Ihr seht, die schaden der Gesundheit. Das ist die Rache der Rosenkreuzer.«
»Mach dir darüber keine Sorgen«, hatte Belbo ihm lächelnd geantwortet, »die Rosenkreuzer, die kriegen von uns so was von Dresche, sag ich dir, dass sie dich ganz bestimmt in Ruhe lassen werden. Brauchst nur so zu machen«, und er hatte mit den Fingern geschnipst.
Die Kur dauerte dann bis ins neue Jahr hinein. Ich hatte mich ganz in die Geschichte der Magie vertieft — der wahren, der ernsthaften, sagte ich mir, nicht der unseren. Garamond schaute mindestens einmal täglich zu uns herein, um sich nach Diotallevi zu erkundigen. »Und bitte, meine Herren, informieren Sie mich über jedes Erfordernis, ich meine, über jedes Problem, das auftaucht, über jeden Umstand, bei dem ich oder der Verlag etwas tun können für unseren tüchtigen Freund. Er ist für mich wie ein Sohn, ich sage noch mehr, wie ein Bruder. Aber immerhin leben wir ja Gott sei Dank in einem zivilisierten Land und erfreuen uns, was man darüber auch sagen mag, eines exzellenten Krankenversicherungswesens.«
Agliè hatte sich betroffen gezeigt, hatte nach dem Namen der Klinik gefragt und den Direktor angerufen, einen lieben alten Freund (und überdies, wie er uns sagte, Bruder eines AEK, mit dem er inzwischen die herzlichsten Beziehungen unterhielt). Diotallevi würde mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt werden.
Lorenza war tief bewegt. Sie kam fast täglich vorbei, um sich nach dem neuesten Stand zu erkundigen. Das hätte Belbo glücklich machen müssen, doch er nahm es als Grund zu einer schlimmen Diagnose: Obwohl so präsent, entzog sich Lorenza ihm, da sie nicht seinetwegen kam.
Kurz vor Weihnachten hatte ich einen Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Lorenza hatte zu ihm gesagt: »Ich versichere dir, ein ganz herrlicher Schnee, und die Zimmer sind reizend. Du kannst da Langlauf machen. Ja?« Ich hatte daraus geschlossen, dass die beiden den Jahreswechsel zusammen verbringen wollten. Aber nach dem Dreikönigstag war Lorenza im Flur erschienen, und Belbo hatte ihr ein gutes neues Jahr gewünscht, wobei er sich ihrem Versuch, ihm einen Kuss zu geben, entzog.
102
Von hier aufbrechend gelangten wir in eine Gegend namens Milestre... in der, wie es heißt, einer lebte, der sich der Alte vom Berge nannte... Und er hatte auf sehr hohen Bergen, rings um ein Tal, eine überaus dicke und hohe Mauer gebaut, und sie umfing dreißig Meilen, und hinein gelangte man durch zwei Tore, die versteckt in den Berg gebohrt waren.
Odorico da Pordenone, De rebus incognitis, Impressus Esauri, 1513, cap. 21, p. 15
Eines Tages Ende Januar ging ich durch die Via Marchese Gualdi, wo ich mein Auto geparkt hatte, und sah den Signor Salon aus der Tür von Manuzio kommen. »Ein Plausch mit meinem alten Freund Agliè...«, sagte er. Seinem Freund? Soweit ich mich an das Fest in Piemont erinnerte, konnte Agliè ihn nicht leiden. War es Salon, der seine Nase bei Manuzio reinsteckte, oder Agliè, der ihn wer weiß wozu benutzte?
Er ließ mir keine Zeit, darüber nachzudenken, denn er lud mich zu einem Aperitif ein, und so landeten wir bei Pilade. Ich hatte ihn noch nie in der Gegend gesehen, aber er begrüßte den alten Pilade wie einen langjährigen Bekannten. Wir setzten uns, und er fragte mich, wie es meiner Geschichte der Magie ergehe. Also wusste er auch das. Ich provozierte ihn mit der Hohlwelt und dem von Belbo erwähnten Sebottendorff.
Er lachte. »Man muß schon sagen, Verrückte kommen ja zu Ihnen so einige! Über diese Hohlweltgeschichte weiß ich nichts. Aber Sebottendorff, o ja, der war schon ein seltsamer Vogel. Er hätte Himmler und Konsorten beinahe Ideen in den Kopf gesetzt, die für das deutsche Volk selbstmörderisch gewesen wären.«
»Was für Ideen?«
»Orientalische Fantasien. Der Mann war auf der Hut vor den Juden und verehrte die Araber und die Türken. Wissen Sie, dass auf Himmlers Schreibtisch außer Mein Kampf immer auch der Koran lag? Sebottendorf hatte sich in seiner Jugend für ich weiß nicht welche türkische Geheimsekte begeistert und hatte angefangen, die islamische Gnosis zu studieren. Er sprach vom ›Führer‹, aber er dachte dabei an den Alten vom Berge. Und als sie dann alle gemeinsam die SS gründeten, dachte er an eine Organisation wie die Assassinen... Fragen Sie sich einmal, warum wohl im Ersten Weltkrieg die Deutschen mit den Türken verbündet waren... «
»Aber woher wissen Sie all diese Dinge?«
»Ich hab's Ihnen doch gesagt, mein Vater selig arbeitete für die russische Ochrana. Nun, und ich erinnere mich, dass die Ochrana damals beunruhigt wegen der Assassinen war, ich glaube, als erster hatte Ratschkowski davon Wind bekommen... Aber dann haben sie die Spur aufgegeben, denn wenn die Assassinen involviert waren, konnten die Juden mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben, und damals waren die Juden die Gefahr. Wie stets. Die Juden sind dann nach Palästina zurückgekehrt und haben diese andern gezwungen, ans Licht zu treten. Aber das ist eine ziemlich verworrene Geschichte, lassen wir's damit bewenden.«
Er schien zu bereuen, dass er so viel gesagt hatte, und verabschiedete sich überstürzt. Dann geschah noch etwas. Nach allem, was seither geschehen ist, bin ich heute sicher, nicht geträumt zu haben, aber damals hätte ich geschworen, es sei eine Halluzination gewesen, denn als ich Salon nachblickte, wie er auf die Straße hinausging, war mir, als sähe ich ihn an der Ecke einem Orientalen begegnen.
Auf jeden Fall hatte er genug gesagt, um meine Fantasie auf Touren zu bringen. Der Alte vom Berge und die Assassinen waren für mich keine Unbekannten: ich hatte sie in meiner Dissertation erwähnt, denn die Templer waren beschuldigt worden, auch mit ihnen in Verbindung getreten zu sein. Wie hatten wir sie nur vergessen können?
So fing ich wieder an, mein Gehirn arbeiten zu lassen, und vor allem meine Finger, indem ich alte Karteien durchwühlte, und dabei kam mir eine so glänzende Idee, dass ich mich nicht zurückhalten konnte.
Am nächsten Morgen platzte ich in Belbos Büro: »Die haben alles falsch gemacht. Wir haben alles falsch gemacht.«
»Langsam, langsam, Casaubon. Wer denn? Ach Gott, Sie reden von dem Großen Plan!« Er zögerte einen Moment. »Wissen Sie, dass es schlechte Nachrichten von Diotallevi gibt? Er will nicht reden, da hab ich in der Klinik angerufen, aber sie wollten mir nichts Genaues sagen, weil ich kein Angehöriger bin — er hat keine Angehörigen, also wer soll sich da sonst um ihn kümmern? Diese Zurückhaltung hat mir gar nicht gefallen. Es wäre was Gutartiges, sagen sie, aber die Therapie hätte nicht genügt, es wäre besser, wenn er sich noch für einen weiteren Monat in ihre Obhut begäbe, vielleicht lohnte sich auch ein chirurgischer Eingriff... Mit einem Wort, diese Ärzte sagen mir nicht die ganze Wahrheit, und die Sache gefällt mir immer weniger.«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und blätterte verlegen in einem Ordner, um meinen triumphalen Einzug vergessen zu machen. Doch es war Belbo, der nicht widerstehen konnte. Er war wie ein Spieler, dem plötzlich ein gutes Blatt gezeigt wird. »Zum Teufel«, sagte er schließlich. »Das Leben geht weiter, leider. Erzählen Sie schon.«
»Die haben alles falsch gemacht. Wir haben alles falsch gemacht, oder fast alles. Also passen Sie auf. Hitler macht mit den Juden, was er gemacht hat, aber er findet nicht das geringste. Die Okkultisten der halben Welt haben sich jahrhundertelang damit abgemüht, Hebräisch zu lernen, sie rätseln herum, wo es was zu rätseln gibt, aber sie ziehen höchstens das Horoskop ans Licht. Warum?«
»Nun, weil... weil das Fragment der Jerusalemer noch irgendwo verborgen ist. Übrigens ist ja auch das Fragment der Paulizianer noch nicht zum Vorschein gekommen, soweit wir wissen... «
»Das ist eine Antwort nach Art von Agliè, nicht nach unserer Art. Ich habe eine bessere: Die Juden haben nichts mit der ganzen Sache zu tun.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Juden haben nichts mit dem Großen Plan zu tun. Sie können gar nichts damit zu tun haben. Vergegenwärtigen wir uns noch mal die Lage der Templer, erst in Jerusalem und dann in den europäischen Komtureien. Die französischen Ritter treffen sich mit den deutschen, den portugiesischen, spanischen, italienischen, englischen Rittern, sie alle gemeinsam haben Beziehungen zum byzantinischen Raum, und vor allem messen sie sich mit dem türkischen Gegner. Einem Gegner, mit dem man sich schlägt, aber mit dem man auch verhandelt, wir haben es ja gesehen. Dies waren die beteiligten Kräfte, und die Beziehungen bildeten sich zwischen gleichrangigen Aristokraten. Wer aber waren die Juden damals in Palästina? Eine russische und religiöse Minderheit, geduldet und respektiert von den Arabern, die sie mit gnädiger Nachsicht behandelten, aber sehr schlecht von den Christen behandelt, vergessen wir nicht, dass im Laufe der verschiedenen Kreuzzüge ganz nebenbei die Ghettos geplündert und ihre Bewohner massakriert wurden, wie's gerade kam. Und da glauben wir, dass die Templer, elitär und hochnäsig, wie sie waren, mit den Juden mystische Informationen ausgetauscht hätten? Nie und nimmer. Und in den europäischen Komtureien galten die Juden als Wucherer, als minderwertige Leute, die man zwar ausbeuten konnte, aber denen man kein Vertrauen schenken durfte. Vergessen wir nicht, wir sprechen hier von Beziehungen zwischen Rittern, wir konstruieren den Plan einer spirituellen Ritterschaft. Und da haben wir uns vorstellen können, die Tempelherren von Provins hätten Bürger zweiter Klasse in die Sache verwickelt? Nie und nimmer!«
»Aber all diese Magier und Naturphilosophen der Renaissance, die sich ans Studium der Kabbala machen...?«
»Natürlich, sie stehen kurz vor dem dritten Treffen, sie ballen ungeduldig die Faust in der Tasche und suchen nach Abkürzungswegen, das Hebräische erscheint als heilige und mysteriöse Sprache, die Kabbalisten werkeln auf eigene Rechnung und mit anderen Zielen — da setzen sich die in der Welt verstreuten Sechsunddreißig in den Kopf, eine unverständliche Sprache verberge wer weiß was für Geheimnisse. Es war Pico della Mirandola, der erklärt hat, dass nulla nomina, ut significativa et in quantum nomina sunt, in magico opere virtutem habere non possunt, nisi sint Hebraica. (keine Nomina, seien sie auch bedeutsam und insofern sie Nomina sind, können in einem magischen Werk eine Kraft haben, wenn sie nicht hebräisch sind) Na und? Pico della Mirandola war ein Idiot.«
»Das muß mal gesagt werden!«
»Überdies war er als Italiener ausgeschlossen vom Großen Plan. Was wusste er überhaupt davon? Um so schlimmer für die diversen Agrippa, Reuchlin und Konsorten, die sich auf diese falsche Spur stürzten. Denn damit wir uns recht verstehen, ich rekonstruiere hier die Geschichte einer falschen Spur. Wir haben uns von Diotallevi und seiner Kabbalistik beeinflussen lassen. Diotallevi trieb kabbalistische Studien, und so haben wir die Juden in den Plan eingefügt. Hätte Diotallevi sich mit der chinesischen Kultur beschäftigt, hätten wir dann die Chinesen in den Plan eingebaut?«
»Vielleicht ja.«
»Vielleicht nein. Aber das ist kein Grund, sich die Haare zu raufen, denn wir sind von allen irregeführt worden. Alle haben den Fehler gemacht, von Guillaume Postel bis heute, vermutlich. Seit damals, zweihundert Jahre nach Provins, waren alle überzeugt, dass die sechste Gruppe die Jerusalemische sei. Das war falsch.«
»Aber entschuldigen Sie, Casaubon, wir haben doch die Interpretation von Ardenti korrigiert, wir haben doch gesagt, das sechste Treffen ›auf dem Stein‹ sei nicht in Stonehenge, sondern auf dem Stein der Omar-Moschee.«
»Und wir haben uns getäuscht. Steine gibt es noch andere. Wir müssen an einen Ort denken, der auf einem Stein gebaut ist, auf einem Felsen, einer Klippe, einem schmalen Grat... Die Sechsten warten in der Festung von Alamut!«
103
Und es erschien Kairos, in der Hand ein Szepter, das bedeutete Königtum, und er übergab es dem zuerst geschaffenen Gott, und der nahm es und sprach: »Dein geheimer Name wird sechsunddreißig Lettern haben.«
Ḥasan-i Ṣabbāḥ, Sargoẕašt Sayyid-nā
Ich hatte mein Bravourstück gegeben, jetzt schuldete ich Erklärungen. Ich lieferte sie am nächsten Abend, ausführlich, detailliert und dokumentiert, während ich auf Pilades Tischchen Beweise über Beweise vor Belbo aufblätterte, der sie mit immer benebelteren Blicken verfolgte, eine Zigarette am Stummel der anderen entzündend und alle fünf Minuten das leere Whiskyglas mit einem Restchen von Eis zu Pilade hinstreckend, der sich beeilte, es wieder zu füllen, ohne auf weitere Order zu warten.
Die ersten Quellen waren dieselben, in denen auch die ersten Berichte über die Templer auftauchten, von Gérard de Strasbourg bis zu Joinville. Die edlen Ritter, berichteten sie, seien in Berührung gekommen — manchmal als Gegner, öfter als undurchsichtige Bündnispartner — mit den Assassinen des Alten vom Berge.
Natürlich war die Geschichte viel komplizierter. Sie begann nach dem Tode Mohammeds mit der Spaltung zwischen den Anhängern des orthodoxen Gesetzes, den Sunniten, und den Gefolgsleuten des Prophetenschwiegersohns Ali, des Gatten der Fatima, der sich um die Nachfolge des Propheten gebracht sah. Es waren die Getreuen Alis, die sich in der Schia zusammenfanden, der Abspaltung oder Parteiung, die den häretischen Flügel des Islam begründete: das Schiitentum. Eine Initiationslehre, welche die Kontinuität der Offenbarung nicht in der traditionellen Meditation über die Worte des Propheten sah, sondern in der Person des Imam selbst, des Oberhauptes und Führers, der Epiphanie Gottes und theophanen Realität, des Königs der Welt.
Was geschah nun mit diesem häretischen Flügel des Islam, der nach und nach von allen esoterischen Lehren des Mittelmeerraumes durchdrungen wurde, von den Manichäern bis zu den Gnostikern, von den Neuplatonikern bis zu den iranischen Mystikern, von all jenen Einflüssen, deren abendländische Weiterentwicklung wir seit Jahren verfolgt hatten? Die Geschichte war lang und verwickelt, es gelang uns nicht, sie zu entwirren, auch weil die verschiedenen arabischen Autoren und Protagonisten so lange und komplizierte Namen hatten, die in den seriöseren Werken mit diakritischen Zeichen geschrieben wurden, so dass wir spätabends nicht mehr recht unterscheiden konnten zwischen Abū ‘Abdullāh Muḥammad b. ‘Alī ibn Razzām aṭ-Ṭā'ī al-Kūfī , Abū Muḥammad ‘Ubaydullāh, Abū Mu‘ini ad-Dīn Nāṣir ibn Hosrow Marwāzī Qobādyānī und so weiter (ich glaube, dass ein Araber in der gleichen Verlegenheit wäre, wenn er zu unterscheiden hätte zwischen Aristoteles, Aristoxenos, Aristarchos, Aristeides, Anaximandros, Anaximenes, Anaxagoras, Anaxarchos und Anaxandrides).
Eins war jedoch sicher. Das Schiitentum zerfällt in zwei Strömungen, eine »Zwölfer« genannte, deren Anhänger auf die Wiederkehr eines verborgenen zwölften Imam warten, und eine kleinere, die Sekte der Ismaeliten, die sich auf Ismael, den früh verstorbenen Sohn des sechsten Imam, berufen. Entstanden im achten Jahrhundert, hatten sie ihre Blüte im Reich der Fatimiden von Kairo und konnten sich dann, nach diversen Wechselfällen und Spaltungen, als reformierte oder Neo-Ismaeliten vor allem in Persien behaupten, dank der Aktivität einer faszinierenden, mystischen und grausamwilden Persönlichkeit: des Persers Ḥasan-i Ṣabbāḥ. Dieser etablierte im Jahre 1090 seine Zentrale, seinen uneinnehmbaren Sitz bei Qazvin, südwestlich des Kaspischen Meeres, in der Bergfestung Alamut, dem Adlerhorst.
Dort umgab er sich mit seinen Getreuen, den Fida’iyyūn oder Fedajin, die ihm blinden Gehorsam bis in den Tod schwören mussten und die er benutzte, um seine politischen Morde auszuführen, als Instrumente im Ğihād hīf ī, dem geheimen Heiligen Krieg. Es waren diese Fedajin oder wie immer er sie nannte, die später eine traurige Berühmtheit unter dem Namen »Assassinen« erlangten — was heute kein schöner Name ist, aber damals und für sie ein glänzender war, Zeichen einer Elite von Mönchskriegern, die den Templern sehr ähnlich waren, allzeit bereit, für den Glauben zu sterben. Spirituelle Ritterschaft.
Die Bergfestung Alamut: der Stein. Erbaut auf einem hohen schmalen Grat von vierhundert Metern Länge und stellenweise nur wenigen Schritten Breite, maximal dreißig Metern, kam sie dem Wanderer, der sich ihr auf der Straße nach Aserbeidschan näherte, wie eine natürliche Mauer vor, blendend weiß in der Sonne, blau im purpurnen Abendlicht, bleich in der Dämmerung und blutrot im Morgengrauen, an manchen Tagen wolkenverhangen oder von Blitzen umzuckt. Längs ihrer oberen Kante war mit Mühe eine Art Bebauung erkennbar, eine unregelmäßige Zinnenkrone aus eckigen Türmen, von unten sah sie aus wie eine steinerne Säge, die über Hunderte von Metern ihre Zähne drohend zum Himmel reckte, der zugänglichste Hang war ein steiles Geröllfeld, das die Archäologen noch heute nicht bezwingen, damals gelangte man über eine geheime Treppe hinauf, die schneckenförmig in den Felsen gehauen war, wie um einen fossilen Apfel zu schälen, und die zu verteidigen ein einziger Bogenschütze genügte. Uneinnehmbar, schwindelerregend im Anderswo. Alamut, die Burg der Assassinen. Dort hinauf kam man nur auf Adlersrücken.
Dort oben regierte Ḥasan-i Ṣabbāḥ und nach ihm die Reihe derer, die kollektiv als »der Alte vom Berge« bekannt werden sollten, allen voran sein teuflischer Nachfolger Rašīd ad-Dīn Sinān.
Ḥasan hatte eine Technik zur Beherrschung sowohl der Seinen wie seiner Widersacher erfunden. Den Feinden kündigte er an, dass er sie töten werde, wenn sie seinen Wünschen nicht entsprächen. Und vor den Assassinen gab es kein Entkommen. Nizâm al-Mulk, Wesir des Sultans zu der Zeit, als die Kreuzfahrer sich noch bemühen, Jerusalem zu erobern, wird auf dem Wege zu seinem Harem in seiner Sänfte getötet, erdolcht von einem Schergen, der sich als Derwisch verkleidet hatte. Der Atabeg von Homs wird von den Assassinen erstochen, als er aus seiner Burg herabkommt, um sich zum Freitagsgebet zu begeben, umringt von einer Schar bis an die Zähne bewaffneter Leibwächter.
Sinān beschließt, den christlichen Markgrafen Konrad von Monferrat zu töten, und instruiert zwei seiner Getreuen. Es gelingt ihnen, sich bei den Ungläubigen einzuschleichen, nachdem sie in hartem Training gelernt haben, ihre Sprache und ihre Gebräuche zu imitieren. Verkleidet als Mönche, bei einem Bankett, das der Bischof von Tyrus dem ahnungslosen Markgrafen gibt, fallen sie über ihn her und verletzen ihn. Einer der Assassinen wird von den Leibwächtern auf der Stelle getötet, der andere flieht in eine Kirche, wartet, bis der Verletzte dorthin gebracht wird, stürzt sich auf ihn, gibt ihm den Rest und stirbt selig.
Denn — so die arabischen Geschichtsschreiber der sunnitischen Linie und nach ihnen die christlichen Chronisten, von Odorico da Pordenone bis Marco Polo — der Alte vom Berge hatte eine fürchterliche Methode entdeckt, sich seine Getreuen ergeben bis in den Tod zu machen, als unbesiegbare Kampfmaschinen: Er schleppte sie als junge Burschen, in Schlaf versetzt, auf seine Burg, entnervte sie mit Genüssen, Wein, Weibern, Blumen, schwelgerischen Banketten, betäubte sie mit Haschisch (daher der Name Assassinen: von Haschaschin, Haschischraucher), und wenn sie auf die perversen Wonnen dieses künstlichen Paradieses nicht mehr verzichten konnten, riss er sie aus ihren Träumen und stellte sie vor die Alternative: Geh hin und töte! Wenn du es schaffst, wird dieses Paradies dir erneut und für immer offenstehen, wenn nicht, fällst du zurück in die Hölle des Alltags.
Und sie, betäubt von der Droge, blind seinem Willen untertan, opferten sich, um zu opfern — zum Tode verurteilte Töter, zum Morden verdammte Mordopfer.
Wie wurden sie gefürchtet! Wie wurde über sie gefabelt und gefaselt von den Kreuzfahrern in den mondlosen Nächten, wenn der Samum durch die Wüste blies! Wie wurden sie bewundert von den Templern, diesen rauen Haudegen, überwältigt von einem so hehren Märtyrerwillen, die sich unterwarfen, um ihnen Wegzölle zu zahlen und formale Tribute dafür zu verlangen, in einem Wechselspiel von gegenseitigen Zugeständnissen, Komplizen-und Waffenbrüderschaften, einander auf offenem Felde bekämpfend und im geheimen liebkosend, einander mystische Visionen zuraunend, magische Formeln, alchimistische Raffinessen...
Von den Assassinen des Alten vom Berge hatten die Templer ihre okkulten Riten gelernt. Nur die unkriegerische Ignoranz der Vögte und Inquisitoren Philipps des Schönen hatte diese daran gehindert, zu begreifen, dass der Kuss auf den Hintern, das Spucken aufs Kreuz, der schwarze Kater und die Anbetung des Baphomet-Hauptes nichts anderes waren als Wiederholungen anderer Riten, welche die Templer unter dem Einfluß des ersten Geheimnisses vollzogen hatten, dem sie im Orient begegnet waren: dem Gebrauch des Haschischs.
So war nun klar, dass der Große Plan dort entstanden war, ja dort entstanden sein musste: von den Männern aus Alamut hatten die Templer über die tellurischen Strömungen erfahren, mit den Männern aus Alamut hatten sie sich in Provins vereint und das geheime Komplott der Sechsunddreißig Unsichtbaren ausgeheckt; darum war Christian Rosencreutz nach Fez und in andere arabische Orte gereist, darum hatte sich Guillaume Postel in den Orient begeben, darum hatten die Magier der Renaissance aus dem Orient, aus Ägypten, dem Sitz der fatimidischen Ismaeliten, die namengebende Gottheit des Großen Plans importiert, Hermes, Hermes-Thot oder Hermes Trismegistos, und darum hatte der Intrigant Cagliostro seine Riten für ägyptische Figuren ersonnen. Und die Jesuiten, ja die Jesuiten, die hatten sich, weniger dumm, als wir dachten, mit Pater Kircher sofort auf die Hieroglyphen gestürzt, und auf das Koptische und auf die andern orientalischen Sprachen, wobei das Hebräische nur eine Tarnung war, eine Konzession an den Zeitgeist.
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Diese Texte sind nicht für gewöhnliche Sterbliche... Die gnostische Wahrnehmungsweise ist einer Elite vorbehalten... Denn wie die Bibel sagt: Werft eure Perlen nicht vor die Säue.
Karnal Jumblatt, Interview in Le Jour, 31.3.1967
Arcana publicata vilescunt: et gratiam propha-nata amittunt. Ergo: ne margaritas objice porcis, seu asino substerne rosas.
(Aufgedeckte Geheimnisse werden alt, und profaniert verlieren sie ihren Reiz. Also wirf deine Perlen nicht vor die Säue, noch unterbreite dem Esel Rosen.)
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, Frontispiz
Und wo übrigens wäre sonst jemand zu finden gewesen, der sechs Jahrhunderte lang auf dem Stein zu warten imstande war und tatsächlich so lange gewartet hätte? Sicher, Alamut war schließlich unter dem Ansturm der Mongolen gefallen, aber die Sekte der Ismaeliten hatte im ganzen Orient überlebt. Einerseits hatte sie sich mit den nicht-schiitischen Sufis vermischt, andererseits hat sie die furchtbare Sekte der Drusen erzeugt, und drittens schließlich lebt sie noch heute unter den indischen Khojas, den Anhängern Aga Khans, unweit der Stätte von Agarttha.
Doch ich hatte noch mehr entdeckt: Unter der Fatimiden-Dynastie waren die hermetischen Kenntnisse der alten Ägypter wiederentdeckt worden, und zwar durch die Akademie von Heliopolis in Kairo, wo man ein Haus der Wissenschaften gegründet hatte. Ein Haus der Wissenschaften! Woher hatte Francis Bacon die Inspiration für sein Salomonisches Haus genommen, nach dessen Muster dann ja das Conservatoire des Arts et Metiers in Paris gebaut worden war?
»So ist es, so ist es, da gibt's gar keine Zweifel mehr«, sagte Belbo, inzwischen schon ziemlich betrunken. Und dann: »Aber was ist jetzt mit den Kabbalisten?«
»Das ist nur eine parallele Geschichte. Die Rabbiner in Jerusalem ahnen, dass etwas zwischen Templern und Assassinen passiert sein muß, und auch die Rabbiner in Spanien, die sich unter dem Vorwand, sie wollten Geld für Wucherzinsen verleihen, in den europäischen Komtureien herumtreiben, haben etwas gerochen. Sie sehen sich ausgeschlossen von dem Geheimnis, und in einem Akt nationalen Stolzes beschließen sie, es allein herauszubekommen: Was? Wir, das Auserwählte Volk, wir sollen keinen Zutritt zum Geheimnis der Geheimnisse haben? Und zack, beginnt die kabbalistische Tradition, das heroische Unterfangen der in die Diaspora Verstreuten und an die Ränder Gedrängten, es den großen Herren zu zeigen, den Herrschenden, die immer alles zu wissen meinen.«
»Aber so bringen sie die Christen auf den Gedanken, sie, die Juden, wüssten tatsächlich immer alles.«
»Und irgendwann begeht dann einer den Kardinalfehler: er verwechselt zwischen Israel und Ismael.«
»Also Barruel, die Protokolle der Weisen von Zion, der ganze Antisemitismus — alles nur das Ergebnis einer Konsonantenverwechslung!«
»Sechs Millionen Juden umgebracht wegen eines Fehlers von Pico della Mirandola.«
»Nun, vielleicht gab's da noch einen anderen Grund. Das Auserwählte Volk hatte die Pflicht zur Auslegung des Heiligen Buches übernommen. Es hat eine Obsession verbreitet. Und die andern haben sich, als sie nichts im Heiligen Buch finden konnten, dafür gerächt. Die Leute fürchten sich vor denen, die uns von Angesicht zu Angesicht mit dem Gesetz konfrontieren... Aber sagen Sie, Casaubon, wieso haben sich diese Assassinen nicht schon früher gemeldet?«
»Überlegen Sie doch mal, Belbo, wie elend es der Gegend dort unten ergangen ist seit der Schlacht von Lepanto! Ihr Sebottendorff hatte ja noch kapiert, dass da etwas gesucht werden musste unter den türkischen Derwischen, aber Alamut existiert nicht mehr, und seine Bewohner sind irgendwo untergetaucht. Sie warten ab. Und jetzt ist ihre Stunde gekommen, im Zuge des neuen islamischen Selbstbewusstseins heben sie wieder das Haupt... Indem wir Hitler in den Großen Plan einbauten, hatten wir einen guten Grund für den Zweiten Weltkrieg gefunden. Indem wir jetzt die Assassinen aus Alamut einbauen, erklären wir alles, was seit Jahren im Nahen Osten geschieht. Und hier finden wir nun auch den Ort und die Kollokation für die Gruppe Tres, die Templi Resurgentes Equites Synarchici, eine Geheimgesellschaft mit dem Ziel, die Kontakte zwischen den spirituellen Ritterschaften unterschiedlichen Glaubens wiederherzustellen.«
»Oder die Konflikte zwischen ihnen zu schüren, um alles zu blockieren und im trüben zu fischen. Damit wäre nun alles klar. Wir sind am Ende unserer Arbeit, unserer Reparatur der Geschichte angelangt. Was meinen Sie, sollte das Pendel uns etwa im höchsten Moment enthüllen, dass der Umbilicus Mundi in Alamut ist?«
»Übertreiben wir's nicht. Ich würde diesen letzten Punkt in der Schwebe lassen.«
»Wie das Pendel.«
»Ja, wenn Sie so wollen. Man kann nicht einfach alles sagen, was einem durch den Kopf geht.«
»Gewiss, gewiss. Strenge vor allem.«
An jenem Abend war ich nur stolz, eine schöne Geschichte erdacht zu haben. Ich war ein Ästhet, der das Fleisch und das Blut der Welt benutzt, um Schönheit daraus zu machen. Belbo war mittlerweile ein Adept. Wie alle Adepten: nicht aus Erleuchtung, sondern faute de mieux.
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Claudicat ingenium, delirat lingua, labat mens.
Lukrez, De rerum natura, III,453
Es muß in diesen Tagen gewesen sein, dass Belbo sich klarzumachen suchte, was mit ihm geschah. Ohne dass jedoch die Strenge, mit der er sich selbst zu analysieren verstand, ihn vor dem Übel bewahren konnte, an das er sich langsam gewöhnte.
Filename: Und wenn es so wäre?
Einen Plan erfinden: der Plan spricht einen so frei von jeder Schuld, dass man nicht mal mehr für den Plan selbst verantwortlich ist. Man braucht nur den Stein zu werfen und die Hand zu verbergen. Es gäbe kein Scheitern, wenn da wirklich ein Großer Plan wäre.
Du hast Cecilia nie gekriegt, weil es den Archonten gefiel, Annibale Cantalamessa und Pio Bo zu blöd für das simpelste Blasinstrument zu machen. Du bist vor der Bande vom Canaletto geflohen, weil die Dekane dich für ein anderes Brandopfer aufheben wollten. Und der Mann mit der Narbe hat einen besseren Talisman als du.
Ein Plan hinter allem: ein Schuldiger. Traum der Menschheit. Tun, als gäbe es Gott. An Deus sit Wenn es ihn gibt, ist es seine Schuld.
Das Etwas, dessen Adresse ich verloren habe, ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Nicht das Objekt, das ich besitzen will, sondern das Subjekt, das mich besitzt. Geteiltes Leid ist halbe Freud, was sagt der Mythos andres? Siebenfüßiger Jambus.
Wer hat diesen Gedanken notiert, den beruhigendsten, der je gedacht worden ist: Nichts wird mich davon abbringen können, dass diese Weit die Frucht eines dunklen Gottes ist, dessen Schatten ich verlängere. Der Glaube führt zum Absoluten Optimismus.
Ja, mein Fleisch hat gesündigt (oder gerade nicht). Aber es war Gott, der mit dem Problem des Bösen nicht zurande gekommen ist. Wohlan, lasst uns den Fötus im Mörser zerstampfen, mit Honig und Pfeffer. Gott will es.
Wenn du partout einen Glauben brauchst, glaub an eine Religion, die dir kein Schuldgefühl macht. Eine lose, dampfende, unterirdische Religion, die nie endet. Wie ein Roman, nicht wie eine Theologie.
Fünf Wege für ein einziges Ziel? Weiche Verschwendung! Besser ein Labyrinth, das überall und nirgendwohin führt. Um stilvoll zu sterben, muß man barock leben.
Nur ein schlechter Demiurg macht uns ein gutes Gewissen.
Und wenn es den Kosmischen Plan nicht gäbe?
Ein übler Witz: im Exil zu leben, wenn dich niemand verbannt hat. Noch dazu aus einem Ort, den es nicht gibt.
Und wenn es den Plan zwar gäbe, aber er sich uns auf immer entzöge?
Wenn die Religion versagt, tut's auch die Kunst. Den Plan kannst du erfinden, als Metapher für den Unerkennbaren. Auch ein menschliches Komplott kann die Leere füllen. Kein Verlag hat mein Tot und Lehben angenommen, weil ich nicht zur Templerclique gehöre.
Leben, als ob es einen Plan gäbe: der Stein der Weisen.
If you cannot beat them, join them. Wenn der Plan existiert, brauchst du dich nur anzupassen...
Lorenza stellt mich auf die Probe. Demut. Wenn ich die Demut hätte, zu den Engeln zu beten, auch ohne an sie zu glauben, und den richtigen Kreis zu ziehen, hätte ich Ruhe. Vielleicht.
Glaub an ein Geheimnis, und du fühlst dich eingeweiht. Kostet nichts.
Eine immense Hoffnung erzeugen, die nie entwurzelt werden kann, weil keine Wurzel da ist. Vorfahren, die man nie hatte, werden nie kommen und sagen, man hätte sie verraten. Eine Religion, die man befolgen kann, indem man sie ununterbrochen verrät.
Wie Andreae: aus Jux die größte Enthüllung der Weltgeschichte ersinnen, und während die anderen sich darin verlieren, dein ganzes übriges Leben lang schwören, dass du's nicht gewesen bist.
Eine Wahrheit mit unbestimmten Rändern erfinden: sobald jemand sie zu definieren versucht, wird er exkommuniziert. Immer nur denen recht geben, die unbestimmter sind als du. Jamais d'ennemis à droite.
Wozu Romane schreiben? Die Geschichte neu schreiben. Die Geschichte, die du dann wirst.
Warum verlegst du's nicht nach Dänemark, William S.? Surabaya-Jim Johann Valentin Andreae Lukas-Matthäus Skywalker kreuzt durch den Archipel der Sunda-Inseln zwischen Patmos und Avalon, vom Weißen Berg nach Mindanao, von Atlantis nach Thessalonich... Auf dem Konzil zu Nikäa schneidet sich Origenes die Hoden ab und zeigt sie blutend den Vätern der Sonnenstadt, Hiram knurrt filioque filioque, und Konstantin schlägt die gierigen Nägel in die leeren Augenhöhlen von Robert Fludd. Tod, Tod den Juden im Ghetto von Antiochia, Dieu et mon droit, das Beauceant geschwenkt, auf sie mit Gebrüll, zerstampft die Ophiten und Borboriten und giftigen Borborigmanten! Trompeten schmettern, und es erscheinen die Chevaliers Bienfaisants de la Cité Sainte, den Mohrenkopf auf die Pike gespießt, der Rebis, der Rebis! Magnetsturm in der Stratosphäre, der Eiffelturm knickt zusammen. Grinsend beugt sich Ratschkowski über die verschmorte Leiche von Jacques de Molay.
Ich habe dich nicht gekriegt aber ich kann die Geschichte hochgehen lassen.
Wenn das Problem diese Seinsabwesenheit ist, wenn Sein das ist, was sich auf vielerlei Weise sagen lässt, dann gibt es um so mehr Sein, je mehr wir reden.
Traum der Wissenschaft: dass es wenig Sein gäbe, konzentriert und sagbar, E = mc2. Irrtum. Um sich zu retten, seit Anbeginn der Ewigkeit, muß man wollen, dass es ein planloses Sein gibt, ein Wild-Drauflos-Sein, verschlungen wie eine von einem betrunkenen Seemann verknotete Schlange. Unentwirrbar.
Erfinden, wie besessen erfinden, ohne auf Zusammenhänge zu achten, so dass man's nicht mehr resümieren kann. Ein simples Staffettenspiel zwischen Symbolen, eins ergibt das andere, pausenlos immer weiter. Die Welt zerlegen in eine Sarabande aneinandergereihter Anagramme. Und dann an das Unsagbare glauben. Wäre das nicht die wahre Lektüre der Torah? Die Wahrheit ist das Anagramm eines Anagramms. Anagrams = ars magna.
So muß es gewesen sein in diesen Tagen. Belbo beschloss, das Universum der Diaboliker ernst zu nehmen, aber nicht aus Übermaß, sondern aus Mangel an Glauben.
Gedemütigt von seiner Unfähigkeit zur Kreation (und sein ganzes Leben lang hatte er die frustrierten Wünsche und die nie geschriebenen Bücher als Metaphern füreinander benutzt, immer im Zeichen seiner vermeintlichen Feigheit), wurde ihm jetzt auf einmal bewusst, dass er, indem er den Großen Plan erfand, tatsächlich etwas erschaffen hatte. Er war dabei, sich in seinen Golem zu verlieben, und fand darin einen Trost. Das Leben — sein Leben und das der Menschheit — als Kunst, und in Ermangelung von Kunst die Kunst als Lüge. Le monde est fait pour aboutir à un livre (faux). (Die Welt ist gemacht, um in ein Buch zu münden (ein falsches). (Mallarmé)) Aber an diese Lüge, an dieses falsche Buch versuchte er nun zu glauben, denn, wie er geschrieben hatte, wenn es eine Verschwörung gäbe, wäre er nicht mehr feige, besiegt und verächtlich.
So erklärt sich, was dann geschah. Er benutzte den Plan, dessen Irrealität ihm bewusst war, um einen Rivalen zu schlagen, den er für real hielt. Und als er dann merkte, dass der Plan ihn erfasste und nicht mehr losließ, als ob er tatsächlich existierte, oder als ob Belbo aus demselben Stoff gemacht wäre wie sein Plan, da fuhr er nach Paris wie zu einer Enthüllung, einer Revanche.
Jahrelang bedrückt von seinem täglichen Selbstvorwurf, immer nur mit den eigenen Gespenstern Umgang gepflogen zu haben, erleichterte ihn nun der Anblick von Gespenstern, die objektiv zu werden drohten, bekannt auch einem anderen, und sei es dem Feind. Stürzte er sich in den Rachen des Löwen? Sicher, denn der Löwe, der da Gestalt annahm, war realer als Surabaya-Jim, realer vielleicht als Cecilia, vielleicht sogar als Lorenza Pellegrini.
Belbo, krank von so vielen verpassten Treffen, fühlte sich jetzt zu einem realen Treffen gerufen. Zu einem, vor dem er nicht einmal mehr aus Feigheit weglaufen konnte, denn er stand bereits mit dem Rücken zur Wand. Seine Angst zwang ihn, mutig zu sein. Erfindend hatte er das Realitätsprinzip geschaffen.
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Die Liste Nr. 5 — sechs Unterhemden, sechs Unterhosen, sechs Taschentücher — hat den Forschern seit je zu denken gegeben, besonders wegen des völligen Fehlens von Socken.
Woody Allen, Getting even, New York, Random House, 1966, »The Metterling List«
Zu der Zeit, es ist gerade erst einen Monat her, beschloss Lia, dass mir ein paar Wochen Urlaub guttun würden. Du siehst müde aus, sagte sie. Vielleicht hatte der Große Plan mich erschöpft. Außerdem brauchte das Kind, wie die Großeltern sagten, gute Luft. Freunde hatten uns ein kleines Haus in den Bergen überlassen.
Wir fuhren nicht sofort los. Es gab noch ein paar Dinge in Mailand zu erledigen, und dann meinte Lia, es gebe nichts Erholsameres als einen Urlaub in der Stadt, wenn man weiß, dass man hinterher wegfahren wird.
In den Tagen habe ich Lia zum ersten Mal von dem Großen Plan erzählt. Vorher war sie zu sehr mit dem Kind beschäftigt gewesen; sie wusste nur vage, dass ich mit Belbo und Diotallevi an einer Art Puzzle saß, das uns ganze Tage und Nächte lang in Beschlag nahm, aber ich hatte ihr nichts mehr gesagt, seit sie mir damals ihre Predigt über die Psychose der Analogien gehalten hatte. Vielleicht schämte ich mich.
Jetzt aber, wo er fertig war, erzählte ich ihr den ganzen Plan bis in alle Einzelheiten. Sie wusste von Diotallevis Erkrankung, und ich fühlte mich irgendwie schuldig, als ob ich etwas getan hätte, was ich nicht durfte, und daher versuchte ich, das Ganze als das hinzustellen, was es war: nur ein bravouröses Spiel.
Und Lia sagte: »Pim, deine Geschichte gefällt mir nicht.«
»Ist sie nicht schön?«
»Auch die Sirenen waren schön. Hör zu: was weißt du über dein Unbewusstes?«
»Nichts, ich weiß nicht mal, ob es existiert.«
»Siehst du. Nun stell dir vor, so ein Wiener Spaßvogel hat sich, um seine Freunde zu unterhalten, aus Jux und Dollerei die ganze Geschichte mit dem Es und dem Ich und dem Über-Ich ausgedacht, und das mit dem Ödipus, und Träume, die er nie geträumt hat, und den kleinen Hans, den er nie gesehen hat... Na, und was ist dann passiert? Millionen von Menschen waren bereit, im Ernst neurotisch zu werden. Und Tausende anderer bereit, sie auszubeuten.«
»Lia, du bist paranoisch.«
»Ich? Du!«
»Na gut, wir sind also paranoisch, aber eins musst du uns wenigstens zugestehen: wir sind von einem real existierenden Text ausgegangen, von der Botschaft, die Ingolf in Provins gefunden hatte. Entschuldige, aber wenn du plötzlich vor einer geheimen Botschaft der Templer stehst, willst du sie doch entziffern. Kann sein, dass du dabei übertreibst, um dich über die Entzifferer von geheimen Botschaften lustig zu machen, aber die Botschaft selber, die war doch real.«
»Also erst mal weißt du nur das, was euch dieser Ardenti erzählt hat, der nach deiner Beschreibung ein ganz besonders erlesener Armleuchter gewesen sein muß. Und dann würde ich diese Botschaft ja gerne mal sehen.«
Kein Problem, ich hatte sie unter meinen Papieren.
Lia nahm das Blatt, besah es von vorn und von hinten, zog die Nase kraus, schob sich die Mähne vor den Augen weg, um den ersten Teil, den chiffrierten, besser sehen zu können. Und sagte dann: »Ist das alles?«
»Genügt dir das nicht?«
»Genügt mir vollauf. Gib mir zwei Tage, um darüber nachzudenken.« Wenn Lia mich um zwei Tage zum Nachdenken bittet, ist es gewöhnlich, um mir zu beweisen, dass ich dumm bin. Ich werfe ihr das immer vor, und sie antwortet immer: »Wenn ich kapiere, dass du dumm bist, bin ich sicher, dass ich dich wirklich liebe. Ich liebe dich auch, wenn du dumm bist. Beruhigt dich das nicht?«
Zwei Tage lang berührten wir das Thema nicht mehr, außerdem war sie die meiste Zeit nicht zu Hause. Abends sah ich sie in einer Ecke hocken und sich Notizen machen, ein Blatt nach dem andern zerreißend.
Dann fuhren wir in die Berge, das Kind kroch den ganzen Nachmittag auf der Wiese herum, Lia kochte zu Abend und sagte, ich sollte essen, ich sei dünn wie ein Nagel. Nach dem Essen bat sie mich um einen doppelten Whisky mit viel Eis und wenig Soda, zündete sich eine Zigarette an, was sie nur in wichtigen Momenten tut, sagte, ich solle mich setzen, und erklärte:
»Pass auf, Pim, ich werde dir zeigen, dass die einfachsten Erklärungen immer die wahrsten sind. Dieser euer Oberst hat euch gesagt, dass dieser Ingolf eine Botschaft in Provins gefunden hatte, und das will ich gar nicht in Zweifel ziehen. Ingolf wird in den Keller runtergestiegen sein und dort wirklich ein Etui mit diesem Text hier gefunden haben.« Sie klopfte mit den Fingern auf das Blatt mit den altfranzösischen Zeilen. »Aber niemand sagt uns, dass Ingolf ein diamantenbesetztes Etui gefunden hat. Das einzige, was euch der Oberst erzählt hat, ist, dass in Ingolfs Kontobuch stand, er hätte ein Etui verkauft — und warum auch nicht, es war eine Antiquität, ein bisschen was wird er schon dafür gekriegt haben, aber niemand sagt uns, dass er von dem Erlös dann gelebt hat. Er hatte vielleicht eine kleine Erbschaft von seinem Vater.«
»Und warum muß das Etui unbedingt ein billiges Etui gewesen sein?«
»Weil diese famose Botschaft hier eine Wäscheliste ist. Komm, lesen wir sie noch mal.«
a la ... Saint Jean
36 p charrete de fein
6 … entiers avec saiel
P ... les blancs mantiax
r ... s ... chevaliers de Pruins pour la ... j. nc.
6 foiz 6 en 6 places
chascune foiz 20 a .... 120 a ....
iceste est l'ordonation
al donjon li premiers
it li secunz joste iceus qu i... pans
it al refuge
it a Nostre Dame de l'altre part de l'iau
it a l'hostel des popelicans
it a la pierre
3 foiz 6 avant la feste ... la Grant Pute.
»Na und?«
»Ja Himmelherrgott, ist es euch nie in den Sinn gekommen, euch mal einen Touristenführer von diesem Provins anzusehen, einen kurzen Abriss seiner Geschichte? Ihr hättet sofort entdeckt, dass die Grange-aux-Dimes, wo diese Botschaft gefunden wurde, ein Ort war, wo die Händler sich trafen, denn Provins war damals das Handelszentrum der Champagne. Und die Orange befindet sich in der Rue Saint-Jean. In Provins wurde mit allem möglichen gehandelt, aber besonders mit Tuchen, auf französisch draps oder dras, wie man damals schrieb, und jedes Tuch war mit einer Garantiemarke versehen, oft mit einem Siegel. Das zweite Paradeprodukt von Provins waren Rosen, rote Rosen, die die Kreuzritter aus Syrien mitgebracht hatten. So berühmt, dass Edmond of Lancaster, als er die Blanche d'Artois heiratete und auch den Titel des Grafen von Champagne annahm, die rote Rose von Provins in sein Wappen setzte — und das ist der Grund, warum man später vom Krieg der zwei Rosen sprach, denn die Yorks hatten eine weiße Rose im Wappen.«
»Und woher weißt du das?«
»Aus einem Büchlein von knapp zweihundert Seiten, herausgegeben vom Bureau de Tourisme de la Ville de Provins, das ich hier im französischen Kulturinstitut gefunden habe. Aber das ist noch nicht alles. In Provins gibt es eine Burg, die Le Donjon genannt wird, es gibt eine Porte-aux-Pains, also ein »Tor zu den Broten«, es gab eine Eglise du Refuge, es gab selbstverständlich mehrere Kirchen Unserer Lieben Frau, hüben und drüben, es gab oder gibt immer noch eine Rue de la Pierre Ronde, wo ein pierre de cens war, ein »Zinsstein«, auf den die Untertanen des Grafen das Geld für den Zehnten zu legen hatten. Und es gab schließlich auch eine Rue des Blancs Manteaux und eine Straße, die Rue de la Grande Putte Muce genannt wurde, aus Gründen, die ich dich raten lasse, beziehungsweise weil sie die Bordellstraße war.«
»Und die Popelicans?«
»In Provins hatte es Katharer gegeben, die dann ordnungsgemäß verbrannt worden sind, und der Großinquisitor war ein reuiger Ketzer und wurde Robert le Bougre genannt. Also war's nichts Besonderes, wenn es da auch eine Straße oder eine Gegend gab, die weiterhin als Sitz der Ketzer bezeichnet wurde, auch als es die Katharer nicht mehr gab.«
»Auch noch 1344...«
»Wer sagt dir denn, dass dieses Dokument von 1344 stammt? Dein Oberst hat hier 36 Jahre nach dem Heuwagen gelesen, und tatsächlich war damals ein p, das in einer bestimmten Weise gemacht war, mit einer Art Apostroph, die normale Abkürzung für post, aber ein anderes p ohne Apostroph bedeutete pro. Der Verfasser dieses Textes ist ein friedlicher Händler, der sich ein paar Notizen gemacht hat über seine Geschäfte in der Grange-aux-Dimes, also in der Rue Saint-Jean, nicht in der Johannisnacht, und er hat sich einen Preis notiert: sechsunddreißig Sous oder Deniers oder was für Münzen die damals hatten, für eine oder für jede Fuhre Heu.«
»Und die hundertzwanzig Jahre?«
»Wer spricht von Jahren? Ingolf hat etwas gesehen, das er als 120 a... abgeschrieben hat. Wer sagt dir, dass es ein a war? Ich habe nachgeschaut in einer Tabelle der damals üblichen Abkürzungen und hab gefunden, dass man für denier oder denarius seltsame Zeichen benutzte — eins, das wie ein Delta aussieht, und ein anderes wie ein Theta, eine Art links angeknabberter Kreis. Kritzel das eilig hin, als kleiner Händler, der sich Notizen macht, und schon kann es so ein Eiferer wie dein Oberst mit einem a verwechseln, weil er die Sache mit den 120 Jahren schon irgendwo gelesen hat, du weißt besser als ich, dass er sie in jeder beliebigen Rosenkreuzergeschichte lesen konnte, er wollte etwas finden, das so ähnlich klang wie post 120 annos patebo! Und was macht er dann? Er findet eine Reihe von it und liest sie als iterum. Aber iterum wurde mit itm abgekürzt, und it bedeutete item, desgleichen, ebenso, ein Ausdruck, der speziell für repetitive Listen benutzt wurde. Unser Händler kalkuliert, was ihm bestimmte Aufträge einbringen werden, die er bekommen hat, und listet auf, was er wohin liefern muß. Er muß Rosen liefern, Kreuzritter-Rosen von Provins, das ist es, was r... s... Chevaliers de Pruins heißt. Und da, wo der Oberst vainjance gelesen hat (weil ihm der Ritter Kadosch im Kopf herumspukte), muß man jonchée lesen, Blumenschmuck. Die Rosen wurden benutzt, um Kränze oder Teppiche daraus zu flechten, für die verschiedenen Feste. Und so ist deine Botschaft aus Provins nun zu lesen:
In der Rue Saint-Jean
36 pro Karren Heu.
6 neue Tücher mit Siegel
in die Straße der Weißen Mäntel.
Kreuzritter-Rosen von Provins für den Blumenschmuck:
6 Sträuße zu 6 an 6 Orte:
jeder zu 20 Denier, macht 120 Denier.
Dies ist die Reihenfolge:
die ersten zur Burg
item die zweiten zu denen an der Porte-aux-Pains
item zur Kirche des Refugiums
item zur Kirche Notre-Dame jenseits des Flusses
item zum alten Haus der Ketzer
item zur Straße des Runden Steins
Und 3 Sträuße zu 6 vor dem Fest in die Straße der Huren
denn auch diese Armen wollten sich zum Fest gern ein schönes Rosenhütchen machen.«
»Mein Gott«, sagte ich, »mir scheint, du hast recht.«
»Klar hab ich recht. Das ist eine Wäscheliste, ich wiederhole es dir.«
»Moment mal. Dies hier mag ja noch eine Wäscheliste sein, aber das oben ist eine chiffrierte Botschaft, die von sechsunddreißig Unsichtbaren spricht.«
»In der Tat. Den französischen Text hatte ich nach einer Stunde raus, aber der andere hat mich zwei ganze Tage gekostet. Ich hab den Trithemius studieren müssen, erst in der Ambrosiana und dann in der Trivulziana, und du weißt ja, wie diese Bibliothekare sind, bevor sie dir ein altes Buch in die Hand geben, sehen sie dich an, als ob du es auffressen wolltest. Aber die Sache ist ganz einfach. Zuerst mal, und darauf hättest du auch selbst kommen können: bist du sicher, dass les 36 inuisibles separez en six bandes dasselbe Französisch ist wie das unseres Händlers? Tatsächlich habt ja auch ihr gemerkt, dass es sich um eine Formel handelt, die in einem Pamphlet aus dem siebzehnten Jahrhundert benutzt wird, als die Rosenkreuzer in Paris aufgetaucht sind. Aber ihr habt wie eure Diaboliker argumentiert: Wenn die Botschaft nach der Methode von Trithemius chiffriert worden ist, muß Trithemius von den Templern abgeschrieben haben, und da die Botschaft einen Satz zitiert, der in den Kreisen der Rosenkreuzer umging, muß der Plan, der bisher den Rosenkreuzern zugeschrieben wurde, in Wahrheit schon der Plan der Templer gewesen sein. Aber versuch mal, die Argumentation umzudrehen, wie es jeder halbwegs vernünftige Mensch tun würde: Da die Botschaft mit der Trithemius-Methode chiffriert worden ist, muß sie nach Trithemius geschrieben worden sein, und da sie eine Formel zitiert, die im Jahrhundert der Rosenkreuzer aufgekommen ist, muß sie danach geschrieben worden sein. Was ist nun die ökonomischste Hypothese? Ingolf findet die Botschaft von Provins, und da er wie der Oberst ein Hermetic-Mystery-Freak ist, braucht er bloß 36 und 120 zu lesen und denkt sofort an die Rosenkreuzer. Und da er auch ein Kryptographie-Freak ist, vergnügt er sich damit, die Botschaft in Geheimschrift zu resümieren. Er setzt sich hin und chiffriert seine schöne rosenkreuzerische Formel nach einem Chiffriersystem von Trithemius.«
»Ingeniöse Erklärung. Aber sie taugt soviel wie die Konjektur von Ardenti.«
»Bis hierher, ja. Aber nun stell dir vor, du machst mehr als nur eine Konjektur, und alle zusammen stützen sich gegenseitig. Dann bist du doch schon viel sicherer, dass du richtig geraten hast, oder? Ich bin von einem Verdacht ausgegangen. Die Wörter, die Ingolf hier zum Chiffrieren benutzt hat, sind nicht die, die Trithemius vorschlägt. Sie sind zwar im selben assyrisch-babylonisch-kabbalistischen Stil gehalten, aber es sind nicht dieselben. Dabei hätte Ingolf, wenn er nach Wörtern mit den für seine Zwecke nötigen Anfangsbuchstaben suchte, bei Trithemius so viele gefunden, wie er wollte. Warum hat er andere gewählt?«
»Warum?«
»Vielleicht brauchte er auch bestimmte Buchstaben an der zweiten, dritten, vierten Stelle im Wort. Vielleicht wollte unser ingeniöser Ingolf eine multicodierte Botschaft konstruieren, vielleicht wollte er besser sein als Trithemius. Trithemius schlägt vierzig größere Kryptosysteme vor; in dem einem zählen nur die Anfangsbuchstaben, im andern der erste und der letzte, im dritten abwechselnd der erste und der letzte und so weiter, so dass du mit ein bisschen gutem Willen auch noch hundert andere Systeme erfinden kannst. Was nun die zehn kleineren Kryptosysteme angeht, hatte der Oberst nur das erste berücksichtigt, das einfachste von allen. Aber die anderen funktionieren alle nach dem Prinzip des zweiten, von dem ich dir hier eine Kopie gemacht habe, schau her. Du musst dir den inneren Alphabetkreis als eine drehbare Scheibe vorstellen, die du so drehen kannst, dass das A mit jedem beliebigen Buchstaben des äußeren Kreises zusammentrifft. Du hast also ein System, in dem das A mit X wiedergegeben wird, das B mit Z und so weiter, ein anderes, in dem das A mit U wiedergegeben wird, das B mit X und so weiter... Bei zweiundzwanzig Buchstaben in jedem Kreis kommst du nicht bloß auf zehn, sondern auf einundzwanzig Chiffriersysteme, und unbrauchbar ist nur das zweiundzwanzigste, in dem das A mit dem A zusammentrifft... «
Chiffrierscheiben
aus Trithemius, Clavis Steganographiae, Frankfurt a. M. 1606
»Jetzt sag mir nicht, du hättest für jeden einzelnen Buchstaben jedes einzelnen Wortes alle einundzwanzig Systeme durchprobiert!«
»Ich hab eben Grips im Kopf und Glück gehabt. Da die kürzesten Wörter sechs Buchstaben haben, können nur die ersten sechs wichtig sein, und der Rest steht bloß zur Verschönerung da. Warum sechs Buchstaben? Ich hab mir gedacht, vielleicht hat Ingolf jeweils den ersten chiffriert, dann einen übersprungen und den dritten chiffriert, dann zwei übersprungen und den sechsten chiffriert. Wenn er zum Chiffrieren der ersten Buchstaben das erste System genommen hat, wie wir ja wissen, hat er vielleicht das zweite für die dritten genommen, also hab ich die Drehscheibe Nummer zwei bei den dritten probiert, und es hat einen Sinn ergeben. Dann habe ich die Drehscheibe Nummer drei für die jeweils sechsten Buchstaben probiert, und es hat gleichfalls einen Sinn ergeben. Ich schließe nicht aus, dass Ingolf noch weitere Buchstaben chiffriert hat, aber drei Beweise genügen mir, wenn du willst, kannst du's ja weiter probieren.«
»Jetzt spann mich nicht so auf die Folter. Was ist herausgekommen?«
»Schau dir den Text noch mal an, ich hab die Buchstaben, auf die es ankommt, unterstrichen, also in jedem Wort den ersten, dritten und sechsten.«
Kuabris Defrabox Rexulon Ukkazaal Ukzaab Urpaefel Taculbain Habrak Hacoruin Maquafel Tebrain Hmcatuin Rokasor Himesor Argaabil Kaquaan Docrabax Reisaz Reisabrax Decaiquan Oiquaquil Zaitabor Quaxaop Dugraq Xaelobran Disaeda Magisuan Raitak Huidal Uscolda Arabaom Zipreus Mecrim Cosmae Duquifas Rocarbis
»Also, die erste Botschaft kennen wir schon, es ist die mit den sechsunddreißig Unsichtbaren in sechs Gruppen. Jetzt hör zu, was rauskommt, wenn man die jeweils dritten Buchstaben mit Hilfe der Drehscheibe Nummer zwei ersetzt: chambre des desmoiselles, l'aiguille creuse.«
»Aber das kenne ich, das ist... «
»En aval d'Etretat — La Chambre des Desmoiselles — Sous le Fort du Fréfossé — Aiguille Creuse. Das ist die Botschaft, die Arsene Lupin entziffert, als er das Geheimnis der ›Hohlen Nadel‹ entdeckt. Du erinnerst dich: bei Etretat am Ärmelkanal ragt aus dem Meer die Aiguille Creuse, eine ausgehöhlte, innen bewohnbare Felsenspitze, eine natürliche Festung, die Geheimwaffe Cäsars, als er Gallien eroberte, und später der Könige von Frankreich. Die Quelle der ungeheuren Macht des Meisterdiebes Arsene Lupin. Und du weißt, dass die Lupinologen ganz närrisch sind wegen dieser Geschichte, sie pilgern nach Etretat, sie suchen nach anderen geheimen Gängen, sie anagrammatisieren jedes Wort von Leblanc... Ingolf war ein Lupinologe, so wie er ein Rosicruciologe war, und folglich hat er chiffriert, was das Zeug hält.«
»Aber meine Diaboliker könnten immer noch sagen, die Templer hätten eben das Geheimnis der Hohlen Nadel gekannt, und folglich sei die Botschaft in Provins im vierzehnten Jahrhundert geschrieben worden.«
»Sicher, ich weiß. Aber jetzt kommt die dritte Botschaft. Drehscheibe Nummer drei auf die sechsten Buchstaben angewandt. Hör zu, was rauskommt — merde i'en ai marre de cette steganographie. (Scheiße, ich hab genug von dieser Steganographie.) Und das ist modernes Französisch, die Templer sprachen nicht so. So hat Ingolf gesprochen, der, nachdem er sich erst damit abgeplagt hatte, seine Spinnereien zu chiffrieren, sich nun damit amüsierte, seine ganze Chiffriererei — chiffriert — zum Teufel zu jagen. Und dass er nicht ohne Witz war, siehst du auch daran, dass alle drei Botschaften genau sechsunddreißig Buchstaben haben. Tja, mein armer Pim, Ingolf hat genauso gespielt wie ihr, und dieser Blödmann von Oberst hat ihn ernst genommen.«
»Und wieso ist Ingolf dann verschwunden?«
»Wer sagt dir, dass er umgebracht worden ist? Vielleicht hatte er's satt, in Auxerre zu leben, immer nur den Apotheker und seine altjüngferliche Tochter zu sehen, die den ganzen Tag lang am Jammern war. Vielleicht ist er nach Paris gegangen, hat eins von seinen alten Büchern günstig verkauft, hat eine nette kleine Witwe getroffen und ein neues Leben begonnen. Wie diese Ehemänner, die bloß mal eben Zigaretten holen gehen, und die Frau sieht sie nie wieder.«
»Und der Oberst?«
»Hast du nicht gesagt, dass nicht mal dieser Kriminalkommissar sicher war, dass er umgebracht worden ist? Vielleicht hatte er irgendein faules Ding gedreht, seine Opfer hatten ihn erkannt, und da musste er sich aus dem Staub machen. Vielleicht verkauft er in diesem Moment gerade den Eiffelturm an einen amerikanischen Touristen und nennt sich Dupont.«
Ich konnte mich nicht auf allen Fronten geschlagen geben. »Na schön, wir sind von einer Wäscheliste ausgegangen, aber dann waren wir um so bravouröser. Wir wussten selber, dass wir erfanden. Wir haben gedichtet, wir waren Poeten.«
»Euer Plan ist nicht poetisch. Er ist grotesk. Es kommt den Leuten nicht in den Sinn, nach Troja zurückzukehren und es noch einmal anzuzünden, weil sie Homer gelesen haben. Mit Homer ist der Brand von Troja etwas geworden, was nie gewesen war und nie sein wird und doch immer fortbestehen wird. Die Ilias hat so viele Bedeutungen, weil sie ganz klar ist, ganz durchsichtig. Deine Rosenkreuzer-Manifeste waren weder klar noch durchsichtig, sie waren ein dunkles Gemurmel und versprachen ein Geheimnis. Deswegen haben so viele versucht, sie wahr werden zu lassen, und jeder hat in ihnen gefunden, was er wollte. Bei Homer gibt es kein Geheimnis. Euer Plan ist voll von Geheimnissen, weil er voll von Widersprüchen ist. Deswegen könntest du Tausende von Unsicheren finden, die sofort bereit wären, sich in ihm wiederzuerkennen. Werft den ganzen Plunder weg. Homer hat nicht simuliert. Ihr habt simuliert. Wehe, wenn du simulierst, alle glauben dir. Die Leute haben Semmelweis nicht geglaubt, als er den Ärzten sagte, sie sollten sich die Hände waschen, bevor sie die Gebärenden anfassen. Er sagte zu simple Sachen. Die Leute glauben dem, der Haarwuchsmittel für Glatzköpfige anpreist. Sie spüren zwar instinktiv, dass er Wahrheiten zusammenkleistert, die nicht zusammenhalten, dass er nicht logisch ist und nicht seriös. Aber man hat ihnen gesagt, Gott sei komplex und unergründlich, und daher empfinden sie Inkohärenz als etwas Gottähnliches. Das Unwahrscheinliche ist dem Wunder am ähnlichsten. Ihr habt ein Haarwuchsmittel für Glatzköpfige erfunden. Das gefällt mir nicht, es ist ein hässliches Spiel.«
Nicht dass diese Geschichte unseren Urlaub in den Bergen ruiniert hätte. Wir haben schöne Spaziergänge gemacht, ich habe seriöse Bücher gelesen, ich war noch nie so viel mit dem Kind zusammen. Aber zwischen Lia und mir war etwas ungesagt geblieben. Einerseits hatte sie mich in die Enge getrieben, und es hatte ihr keinen Spaß gemacht, mich zu demütigen, andererseits war sie nicht überzeugt, mich überzeugt zu haben.
Tatsächlich empfand ich eine gewisse Sehnsucht nach dem Großen Plan, ich wollte ihn nicht wegwerfen, wir hatten zu lange zusammengelebt.
Vor wenigen Tagen bin ich früh aufgestanden, um den einzigen Zug nach Mailand zu nehmen. Und in Mailand bekam ich dann den seltsamen Anruf von Belbo aus Paris und fing diese Geschichte an, die ich noch nicht zu Ende gelebt habe.
Lia hatte recht. Wir hätten früher darüber reden sollen. Aber ich hätte ihr trotzdem nicht geglaubt. Denn ich hatte die Kreation des Großen Plans wie den Moment von Tifereth erlebt, das Herz des Sefiroth-Leibes, die Eintracht von Regel und Freiheit. Diotallevi hatte mir gesagt, dass Moses Cordovero uns gewarnt hatte: »Wer sich wegen seiner Torah über den Ignoranten erhebt, will sagen über ganze Volk Jahwehs, der bringt Tifereth dazu, sich über Malchuth zu erheben.« Doch was Malchuth ist, das Reich dieser Erde in seiner strahlenden Einfachheit, das begreife ich erst jetzt. Gerade noch rechtzeitig, um die Wahrheit zu erkennen, vielleicht zu spät, um sie zu überleben.
Lia, ich weiß nicht, ob ich dich wiedersehen werde. Wenn es nicht sein soll, ist das letzte Bild, das ich von dir habe, wie du dalagst vor wenigen Tagen, schlaftrunken unter den Decken. Ich küsste dich und bin zögernd hinausgegangen.