172327.fb2 Das gefrorene Licht - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 30

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26. KAPITEL

»Ich weiß, dass du gleich Feierabend hast, Bella«, sagte Dóra beschwichtigend in den Hörer. »Ich bitte dich ja auch nicht darum, das heute Nacht für mich zu erledigen. Du kannst es morgen früh tun.« Demonstrativ schüttelte Dóra den Kopf, während sie dem Jammern der Sekretärin lauschte. »Bella, ich dachte doch nur, das wäre für dich als Pferdenärrin eine perfekte Aufgabe.« Dóra wunderte sich schon lange darüber, wie Bella mit ihrem gewaltigen Körperumfang auf ein Pferd steigen konnte. »Du musst nur rausfinden, ob es irgendeine Verbindung zwischen Pferden und Füchsen oder zwischen Füchsen und Morden gibt.« Sie seufzte und schloss die Augen, als Bella ihr ins Wort fiel. »Bella, ich weiß nicht, wonach du suchen musst. Versuch einfach, rauszukriegen, ob Füchse und Pferde, besonders Hengste, irgendwelche Gemeinsamkeiten haben.« Dóra merkte, dass sie die Sache näher erläutern musste. »Also, es ist so: In einem Pferdestall wurde ein Mann gefunden, von einem Hengst zu Tode getreten. An der Leiche war ein toter Fuchs festgebunden. Ich gehe davon aus, dass das einem bestimmten Zweck dienen sollte.«

Matthias zwinkerte Dóra zu und grinste. Er genoss es, das Gespräch mitzuverfolgen, obwohl er kein Wort verstand. »Bestell ihr viele Grüße von mir«, warf er ein.

Dóra schnitt eine Grimasse. »Ja, ja, Bella. Du wirst es schon rausfinden. Mit dem Friedhof ist es ja hervorragend gelaufen, und ich bin mir sicher, dass es diesmal auch nicht anders sein wird. Matthias lässt grüßen.« Sie warf Matthias einen Blick zu und grinste. »Er würde gerne mal mit dir zu den Pferden fahren, wenn wir wieder in der Stadt sind. Wir waren eben auf einem Pferdehof, und er war total begeistert. Sein größter Traum ist es, mal zum Füttern und Ausmisten mitzukommen. Du weißt ja, wie verrückt die Deutschen nach Islandpferden sind.« Sie verabschiedete sich. »Bella würde dich gerne mal mit zum Stall nehmen, wenn wir wieder in der Stadt sind«, sagte sie mit breitem Grinsen zu Matthias. »Sie grüßt herzlich zurück.«

»Ha, ha«, sagte Matthias. »Witzig. Hast du ihr auch erzählt, wie freudig du eben im Pferdestall aufgenommen wurdest? Du konntest ganze drei Worte sagen, bevor Rósa ausgerastet ist.«

»Du musst zugeben, dass sie sehr merkwürdig reagiert hat. Ob die Frage nun geschmacklos war oder nicht. Ich muss unbedingt rauskriegen, in welcher Verbindung sie zu Jökull steht.«

»Ihre Reaktion im Stall war wirklich ein wenig übertrieben«, sagte Matthias. »Aber ich hab dich gewarnt, in der Geschichte herumzuschnüffeln.«

»Das Komische ist, dass ich nur versucht habe, nett zu ihr zu sein, weil ich fand, dass Bergur sie schlecht behandelt hat«, erklärte Dóra. »Das mit dem jungen Mann im Rollstuhl war das Einzige, was mir eingefallen ist.«

»Bedauerlicherweise«, sagte Matthias. »Lassen sich darüber keine Infos im Internet finden? Er ist schwerverletzt und bestimmt nicht so auf die Welt gekommen. Er muss in einen Brand geraten sein, und über Brandunglücke wird doch oft in den Nachrichten berichtet. Vor allem, wenn es Verletzte gab«, fügte er hinzu. »Ältere Meldungen stehen doch bestimmt im elektronischen Archiv, auf den Websites der Zeitungen.«

»Ja, wahrscheinlich«, meinte Dóra. »Es wäre nur viel einfacher, wenn ich hier jemanden auftreiben würde, der es mir erzählen könnte. Ich wüsste nicht, wonach ich im Internet suchen sollte. Ich weiß ja noch nicht mal, ob es vor zehn Jahren oder vor einem Monat passiert ist. Die Zeitungen berichten nur selten detailliert über die Unfallfolgen, sondern schreiben nur, der Betreffende sei stark geschädigt, schwerverletzt, es gehe ihm den Umständen entsprechend und so weiter. Und außerdem weiß ich immer noch nicht, ob es ein Hausbrand war oder ob der Junge einfach nur in eine heiße Quelle gefallen ist.« Sie ächzte. »Vielleicht sollte ich mich lieber darauf konzentrieren, den armen Jónas von den Anschuldigungen zu befreien.«

Matthias brummelte. »Falls das möglich ist. Du musst zugeben, dass er durchaus der Schuldige sein könnte.«

»Ja, leider«, entgegnete Dóra. »Aber ich bin mir trotzdem ziemlich sicher, dass er diese Morde nicht begangen hat.«

»Aber wer dann?«, fragte Matthias. »Es wäre wirklich leichter, wenn sonst noch jemand in Frage kommen würde.«

Dóra dachte nach. »Am ehesten Bergur, aber ich habe keinen blassen Schimmer, warum er Eiríkur hätte umbringen sollen.« Sie knabberte an ihrer Unterlippe. Sie lehnten nebeneinander an Matthias’ Mietwagen auf dem Parkplatz vor dem Hotel, von wo aus Dóra Bella angerufen hatte. »Können wir nicht alle Teilnehmer der spiritistischen Sitzung ausschließen?«, fragte Dóra. »Sie fand genau zur selben Zeit statt, als Birna laut Aussage der Polizei ermordet wurde.«

»Gibt es eine genauere Angabe über die Todeszeit?«

»þórólfur nannte eine Zeit zwischen neun und zehn letzten Donnerstag«, antwortete Dóra. »Das muss er aus den Ergebnissen der Obduktion geschlossen haben. Und es stimmt auch mit der SMS überein, in der sie zu einem Treffen um neun Uhr gebeten wird.« Dóra stöhnte. »Die Sitzung fing um acht an. Wir haben ungefähr eine halbe Stunde vom Strand zum Hotel gebraucht. Wenn der Mörder heimlich die Sitzung verlassen hat, hätte er niemals vor der Pause um halb zehn zurück sein können. Der Zufahrtsweg war nicht befahrbar, also konnte auch von dort niemand kommen — es würde viel zu lange dauern, bis zur Hauptstraße hinaufzulaufen.«

»Weißt du, wer alles bei der Séance war?«, fragte Matthias. »Es bringt nichts, eine ganze Gruppe von Menschen auszuschließen, wenn du noch nicht mal weißt, wer daran teilgenommen hat.«

»Nein, aber Vigdís weiß sicherlich ungefähr, wer dort war. Sie hat den Eintritt kassiert«, sagte Dóra. »Und es haben bestimmt viele mit Kreditkarte gezahlt, sodass wir schon mal ein paar Namen hätten.«

»Aber solltest du dich nicht lieber darauf konzentrieren, wer in Frage kommt, als wer nicht in Frage kommt?«, meinte Matthias.

»Doch, aber auf diese Weise kann ich ziemlich viele ausschließen. Und habe ich eine Liste über alle, die Jónas möglicherweise in der Pause gesehen haben, und könnte ihm somit ein Alibi verschaffen.« Dóra beobachtete eine Möwe, die über sie hinwegflog. »Es sei denn, der Mörder ist zum Strand geflogen«, sagte sie nachdenklich und stieß sich dann abrupt vom Wagen ab. »Was ist mit dem Seeweg? Hätte der Mörder mit einem Motorboot in die Bucht fahren können?«

Matthias wirkte nicht halb so enthusiastisch wie sie. »Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?«, gab er zu bedenken. »Wir waren doch in der Bucht, und ich hatte nicht den Eindruck, dass man dort am Strand anlegen konnte. Ein Boot würde sofort auf Grund laufen.« Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Aber da war ein Betonpier. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit.« Er grübelte weiter. »Das Boot hätte dann vor der Séance hier am Hotelsteg liegen müssen. Vielleicht erinnert sich da jemand daran. Lass uns hingehen und die Stelle ansehen.«

Sie gingen am Hotel entlang hinunter zum kleinen Steg. Dort drehte Matthias sich um und schaute zurück zum Hotel. »Hier kann man uns vom Hotel aus kaum sehen«, sagte er. Das Hoteldach war von ihrem Standpunkt auszumachen, aber die darunterliegenden Fenster und Türen nicht. »Hier könnte man sich in aller Ruhe zu schaffen machen.« Er sah sich um. »Außerdem wirkt es so, als würde dieser Steg nicht oft benutzt. Nirgendwo Pfähle, an denen man Boote vertäuen kann.«

Dóra schaute an den Seiten des Stegs hinunter ins Wasser, sah jedoch keine Reifen oder andere Utensilien, die darauf schließen ließen, dass der Steg benutzt wurde. »Stimmt«, sagte sie. »Aber ich frage Vigdís trotzdem, ob sie an dem Abend ein Boot gesehen hat.« Der Wind hatte gedreht, und der Geruch des gestrandeten Wals stieg ihnen in die Nasen. »Pfui«, sagte Dóra und überblickte den Küstenstreifen in die Richtung, aus der der Wind kam. »Da ist der Kadaver, guck mal!« Sie zeigte auf einen großen schwarzen Haufen in beträchtlicher Entfernung.

Matthias hielt sich die Nase zu. »Was ist das eigentlich? Das scheint der schlimmste Gestank auf der ganzen Welt zu sein.«

»Sollen wir mal nachsehen?«, schlug Dóra vor. »Ein Umweg durch die kleine Bucht dauert nicht lange.«

Matthias blickte von dem Küstenstreifen zu Dóra. »Ich könnte schwören, dass du das wirklich ernst meinst. Du willst dahingehen und dir einen Riesenhaufen verwestes Fleisch angucken.«

»Ja, klar. Es ist nicht weit«, entgegnete Dóra, aber im selben Moment klingelte ihr Handy. Als sie die Nummer sah, seufzte sie. »Hallo.«

»Hast du mal dran gedacht, meine unzähligen SMS zu beantworten oder ignorierst du die einfach?«, sagte ihr Ex-Mann wütend. »Ich weiß ja nicht, wo du dich rumtreibst, aber es ist ziemlich ätzend, dass du nie Empfang hast. Ich bin doch nicht blöd, ich weiß genau, dass du dein Handy ausgeschaltet hast, damit du dich mit irgendeinem Typen amüsieren kannst.«

Dóra bemühte sich zwar, konnte sich aber bei einer solchen Standpauke nicht beherrschen. »Jetzt halt mal die Luft an, Hannes«, sagte sie. »Ich arbeite hier, und wenn du jemals die Nationalstraße verlassen hättest, wüsstest du sehr genau, dass nicht überall Empfang ist.« Ihre Worte waren eiskalt, obwohl sie selbst erst vor wenigen Tagen hinter diese Tatsache gekommen war. »Ich habe dir nur mitzuteilen, dass Gylfi und Sóley sich in unmittelbarer Nähe von Selfoss befinden und dort abgeholt werden müssen. Sigga ist auch dabei.«

»Und was soll ich tun?«, brüllte Hannes zurück. »Ich gehöre auch zur arbeitenden Bevölkerung und kann nicht kommen und gehen, wie es dir passt!«

»Kannst du sie abholen, ja oder nein?«, fragte Dóra. »Wenn nicht, rufe ich meine Eltern an und frage sie. Ich möchte dich aber daran erinnern, dass das alles deine Schuld ist.«

Am Ende erklärte sich Hannes bereit, zu fahren, und Dóra legte auf, wütend, weil sie sich hatte nerven lassen. Sie hob das Handy wieder ans Ohr und rief Gylfi an, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater sie abholen würde. Anschließend schüttelte sie sich kurz, um wieder zu sich zu kommen. »Ein Familiendrama«, sagte sie zu Matthias, der sie neugierig anschaute. »Lass uns nach Kreppa gehen und nachsehen, wo Birnas Arbeitszimmer ist.«

»Gern«, sagte Matthias. »Ich bin zu allem bereit, nur nicht, diesen gestrandeten Wal zu begutachten. Und wer weiß? Vielleicht finden wir in dem Haus noch mehr eingeritzte Namen von Ermordeten.«

Sie verließen den Steg und gingen in Richtung Hotel, wo Dóra auf einmal einen Mann erblickte, der ihnen zuwinkte. Es war der Fotograf vom Reisemagazin, Robin Kohman. »Hi!«, rief er, »ich habe Sie schon überall gesucht.«

»Ja?«, rief Dóra zurück und beschleunigte ihren Schritt. »Wir waren ziemlich beschäftigt.«

»Ich reise heute Abend ab«, sagte der Fotograf, als sie einander begrüßt hatten, »und wollte Ihnen Birnas Fotos geben.« Dann fügte er mit belegter Stimme hinzu: »Ich hab gehört, was passiert ist, und möchte die Bilder unbedingt jemandem geben, der Birna gekannt hat.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »So plötzlich. Das hätte man hierzulande wirklich nicht erwartet.«

»Ja, es ist schrecklich«, sagte Dóra. »Man kann nur hoffen, dass der Täter erwischt wird.«

»Hat die Polizei mit Ihnen gesprochen?«, fragte Matthias.

Robin nickte. »Ja, heute Morgen, aber ich konnte ihnen nicht helfen.«

»Wollten Sie die Fotos nicht der Polizei geben?«, fragte Dóra. »Natürlich können wir sie auch ans uns nehmen.«

»Nein, ich fand, es sind völlig harmlose Fotos.« Robin lächelte freundlich. »Außer vielleicht eins von einem toten Fuchs.«

Matthias legte das Bild beiseite. Sie saßen mit Robin an der Bar. Vor ihnen lag ein Stapel Fotos, die Robin aus einem großen, mit Birnas Namen versehenen Umschlag gezogen hatte. »Wo ist das aufgenommen worden?«, fragte Matthias und zeigte auf den toten Fuchs in der Mitte des Fotos. Die abgemagerte Kreatur lag auf der Seite im Gras. Die Zunge hing ihm aus dem Maul, und das hübsche rote Fell war an der Seite aufgerissen und blutig.

»Er lag neben dem Weg, der zu dem alten Hof hier in der Nähe führt«, antwortete Robin. »Birna hat mich gebeten, zum Fotografieren mit ihr dorthin zu gehen, und da sind wir an dem armen Tier vorbeigekommen. Birna wollte, dass ich es fotografiere; sie fand es sehr traurig. Man sieht das auf dem Foto nicht, aber die Spuren sahen so aus, als hätte sich der Fuchs schwerverletzt zu der Stelle geschleppt.« Robin zeigte auf die Wunde an der Seite des Tiers. »Er ist dem Jäger zwar entkommen, aber der Schuss hat ihn trotzdem getötet.«

»Haben Sie den Fuchs mitgenommen?«, fragte Dóra.

»Nein, wie kommen Sie darauf?«, sagte Robin. »Wir haben ihn nicht angefasst. Er roch ziemlich übel, und wir hatten wirklich keine Lust, den Kadaver zu beseitigen.«

»Glauben Sie, dass ihn jemand anders mitgenommen haben könnte?«, fragte Dóra.

Robin schaute irritiert von einem zum anderen. »Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen, aber das ist natürlich denkbar.« Er verzog das Gesicht. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand den Kadaver hätte mitnehmen wollen. Es sei denn, das Fell wäre wertvoll.« Er schaute Dóra an. »Haben Isländer denn so viel für Füchse übrig?«

Dóra lächelte. »Nein, sie horten keine Kadaver. Matthias und ich interessieren uns aus einem anderen Grund dafür, aber das würde jetzt zu weit führen.« Sie nahm den Fotostapel und begann, ihn durchzublättern. »Und Birna hat Ihnen nicht gesagt, warum sie diese Motive haben wollte?«, fragte sie Robin. »Die meisten Fotos sind von dem alten Hof und dem Gelände hinter dem Hotel, und hier ist auch eins von einer Stahltür und eins von einer Innenwand, wie es aussieht. Hat sie das näher erläutert?« Sie reichte Robin die betreffenden Bilder.

Robin betrachtete seine Aufnahmen und schüttelte den Kopf. »Wenn ich mich recht erinnere, befindet sich diese Falltür auf der Wiese beim alten Hof drüben an der Landspitze«, sagte er. »Das Foto von der Wand wurde allerdings hier im Keller gemacht, im alten Teil des Hotels. Nach unserem ersten Fototag hat sie mich noch gebeten, diese Bilder zu machen. Warum sie sich für diese Tür und die Wand interessierte, hat sie mir aber nicht erklärt. Ich dachte, es hätte etwas mit Architektur zu tun, habe aber nicht ganz begriffen, was es damit auf sich hat.«

»Hat sie etwas über diesen Stein gesagt?«, fragte Matthias und zeigte auf drei Fotos von dem Felsbrocken mit der Inschrift, den sie hinter dem Hotel entdeckt hatten.

Robin musterte die Bilder. »Ja, komisch. Nach diesem Stein hab ich sie auch gefragt, als wir ihn von allen Seiten fotografiert haben. Sie hat mir den Vers übersetzt, und da mir das ziemlich ungewöhnlich vorkam, habe ich sie gefragt, ob es eine isländische Sitte ist, Verse in Steine zu ritzen.« Er legte die Fotos auf den Tisch. »Sie verneinte es und war selbst ziemlich erstaunt, dort einen beschrifteten Stein zu finden.«

»Hatte sie eine Erklärung dafür?«, fragte Dóra.

»Nicht direkt«, antwortete Robin. »Sie hat überlegt, ob der Vers von den Hofbewohnern stammen könnte oder ob hier mal ein Künstler gelebt hat. Dann kam sie auf die Idee, es könnte ein Tiergrabstein sein, obwohl der Vers nicht dazu passen würde. Soweit ich weiß, kam sie zu keinem Ergebnis.«

Matthias stieß Dóra an. »Hier ist eine interessante Aufnahme«, sagte er und reichte Dóra ein Foto von Birna im Gespräch mit einem alten Mann auf dem Platz vor dem Hoteleingang. Dóra entriss es ihm. »Vielleicht haben sie über Sommerhäuser diskutiert«, sagte Matthias und grinste.

Robin beugte sich zu Dóra. »Ach, das Foto«, sagte er. »Das habe ich nur aus Spaß gemacht. Wir wollten gerade zum alten Hof gehen, als dieser Mann aus dem Hotel kam und anfing, sich mit Birna zu unterhalten. Ich weiß, dass er hier Gast ist; ich hab ihn ein paar Mal im Speisesaal gesehen.«

Dóra nickte. »Wissen Sie, worüber sie geredet haben?«

»Nein, keine Ahnung«, antwortete Robin. »Sie haben Isländisch gesprochen. Aber man musste nicht viel verstehen, um zu begreifen, dass es kein besonders freundliches Gespräch war. Ich hab nur dieses eine Foto gemacht, weil sie ziemlich schnell angefangen haben, sich zu streiten, und da war es wohl nicht mehr angebracht, zu fotografieren.«

»Hat sie Ihnen erzählt, worüber sie sich gestritten haben?«, fragte Matthias.

»Tja, sie hat so sinngemäß gesagt, man sollte sich darüber im Klaren sein, dass man für seine Taten verantwortlich ist«, antwortete Robin. »Sie war ziemlich erregt, deswegen habe ich nicht weiter nachgefragt.« Er überlegte. »Dann hat sie noch gesagt, alte Sünden holen einen ein, so wie andere Verstöße auch. Ich hab das nicht verstanden und einfach das Thema gewechselt.«

Dóra und Matthias tauschten einen Blick. Magnús Baldvinsson. Alte Sünden?

Die Krankenschwester trat ans Bett der alten Frau und berührte sanft ihre Schulter, denn sie schlief fest. »Malla«, sagte sie leise. »Wach auf. Du musst deine Tabletten nehmen.«

Wortlos öffnete die Frau die Augen. Sie schaute an die Zimmerdecke, blinzelte ein paar Mal und hustete schwach. Die Krankenschwester musterte sie schweigend. Sie wusste, dass es manchmal eine Weile dauern konnte, bis die alte Frau zu sich kam. Sie stand einfach ruhig neben ihr, eine Hand auf ihrer schmalen Schulter und in der anderen einen kleinen Plastikbecher mit weißen und roten Pillen, die sie der Frau geben wollte. »Na komm«, sagte sie behutsam. »Du kannst dich gleich wieder hinlegen.«

»Sie war da«, sagte die alte Frau unvermittelt und starrte fortwährend an die Decke.

»Wer war da?«, fragte die Krankenschwester beiläufig. Sie war das unzusammenhängende Gerede der alten Leute schon lange gewöhnt, vor allem, wenn sie zwischen Schlaf und Wachsein taumelten. Es war, als reisten sie zurück in längst vergangene Tage.

»Sie war da«, wiederholte die Alte und lächelte. »Sie hat mir verziehen.« Sie schaute ihrem Gegenüber zum ersten Mal ins Gesicht, immer noch lächelnd. »Sie war nicht wütend. Immer so lieb.«

»Wie schön«, antwortete die Krankenschwester sanft. »Es ist ja nicht schön, wütend zu sein.« Sie schüttelte den Behälter mit den Pillen. »Also dann, jetzt setz dich mal auf und nimm deine Tabletten.«

Die alte Frau ignorierte den Pillenbehälter und sah der jungen Schwester weiter ins Gesicht. »Ich habe sie gefragt, ob sie wütend ist. Sie fragte nur, warum sie denn wütend sein sollte.« Mühevoll stützte sie sich auf die Ellbogen. »Immer so lieb.«

»Soll ich das Wasser halten oder schaffst du es alleine?« Die Krankenschwester langte nach der Schnabeltasse auf dem Nachttisch und reichte der alten Frau das Wasser.

»Natürlich habe ich ihr gesagt, warum sie wütend sein sollte«, sagte die Frau, gänzlich desinteressiert an Wasser und Medikamenten. »Und ich dachte immer, sie wüsste über mich Bescheid.« Verwundert schüttelte sie den Kopf; ihr weißes Haar schwang hin und her. »Aber so war es anscheinend nicht«, sagte sie dann und schloss die Augen. »Zum Glück hat sie mir dennoch verziehen.«

»Das ist ja wirklich schön«, sagte die Krankenschwester und stellte den Pillenbecher und die Schnabeltasse ab. »Na komm«, sagte sie und packte die alte Frau unter den Armen. »Du musst dich weiter aufsetzen.« Sie hob die Frau ein wenig an. Ihr Rücken war gekrümmt; sie konnte sich keinesfalls gerade hinsetzen, aber das würde reichen. »Jetzt nehmen wir unsere Tabletten.« Sie nahm die Pillen. »Die anderen warten schon, also müssen wir uns beeilen.« Sie hob die Tasse an die dünnen, farblosen Lippen der Frau.

Die alte Frau öffnete den Mund und erlaubte der Krankenschwester, ihr die Pillen in den Mund zu schieben. Sie kannte die Prozedur und wartete mit dem Schlucken, bis sie das Wasser bekommen hatte. Die Pillen glitten geräuschvoll ihre Kehle hinunter. Anschließend wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund und schaute die Krankenschwester an. »Freundlich war sie und lieb. Denk nur.«

»Was meinst du, meine Liebe?«, fragte die Krankenschwester höflich, obwohl sie nicht wusste, ob die alte Frau bei klarem Verstand war.

»Sie hat mir verziehen. Und ich habe nichts für sie getan.«

»Bist du dir da sicher, meine Liebe?«, sagte die Krankenschwester und lächelte. »Du hast bestimmt eine ganze Menge für sie getan. Du kannst dich nur nicht daran erinnern.«

Die alte Frau machte ein gereiztes Gesicht. »Selbstverständlich erinnere ich mich daran. Sie starb. Wie kann man das vergessen?«

Die Krankenschwester lächelte in sich hinein und strich liebevoll über das graue Haar. Es war, wie sie vermutet hatte: Die arme alte Frau war verwirrt. Eine tote Besucherin? Sie achtete darauf, nicht zu grinsen, und bettete die Frau wieder in eine bequeme Lage. »Ist ja gut, Malla. Jetzt versuch wieder zu schlafen.«

Als ihr Kopf wieder auf dem Kissen lag, schloss die alte Frau augenblicklich die Augen. »Ermordet. Das Böse ist überall.« Sie schmatzte ein wenig und murmelte dann schläfrig: »Meine liebe, liebe Kristín.«