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Der Streifenwagen fuhr langsam den Zufahrtsweg hinunter. Jónas hatte den Eindruck, dass die Gesetzeshüter versuchten, ihren Besuch so lange wie möglich auszudehnen. Sie mussten doch wissen, dass die Gäste nur umso aufmerksamer wurden, je länger die Polizei blieb. Und als der Wagen endlich aus dem Blickfeld verschwunden war, atmete Jónas erleichtert auf und hoffte, sie würden nicht wieder zurückkommen. Allerdings wusste er, dass das höchst unwahrscheinlich war. Nachdem die Polizisten einen kurzen Blick in Birnas Zimmer geworfen und sich vergewissert hatten, dass es leer war, hatten sie es versiegelt. Danach hatten sie Jónas instruiert, dafür zu sorgen, dass das Zimmer vor Abschluss der polizeilichen Untersuchungen nicht betreten würde und ihn gebeten, ihnen Birnas Auto auf dem Parkplatz zu zeigen. Es war ein kleiner dunkelblauer Audi-Sportwagen, den sie erst vor kurzem gekauft hatte. Er stand etwas abseits auf dem Parkplatz. Birna parkte immer in möglichst großem Abstand zu anderen Fahrzeugen, damit nicht irgendein gedankenloser Fahrer die Tür gegen ihren neuen Wagen schlug. Die Polizisten waren zu Birnas Wagen gegangen, und einer von ihnen hatte eine kleine Plastiktüte aus der Tasche gezogen. Er hatte sie hochgehalten und auf etwas darin gedrückt. Der Sportwagen hatte gepiept und die drei Männer angeblinkt. Daraufhin hatten die Beamten einen bedeutungsvollen Blick gewechselt.
Jónas seufzte. Das war eine mehr als unangenehme Situation. Sollte er sich Sorgen machen? Er war gut mit Birna ausgekommen, trotz ihrer Fehler, und wenn er den Tatsachen ins Auge sah, dann war er mehr als nur ein bisschen von ihr angetan gewesen, was allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Durfte er sich erlauben, pessimistisch zu sein? Die unschöne Angelegenheit machte ihm bei der Vergrößerung des Hotels einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Sollte er die Mitarbeiter darüber informieren oder so tun, als sei nichts geschehen? Die Polizei hatte sich dazu nicht geäußert. Er musste vorsichtig sein. Sein Verhalten würde von jedem unter die Lupe genommen und so gedeutet, wie es sich für Klatschgeschichten am besten eignete. Dies war ein kleiner Ort, und seine Angestellten waren nicht gerade für ihre Diskretion bekannt. Er seufzte abermals. Vielleicht fand die Polizei heraus, dass es sich um einen Unfall handelte — ihr Verhalten wies jedoch keineswegs darauf hin. Jónas drehte sich um und ging ins Haus. Er eilte an der Rezeption vorbei, um nicht angesprochen zu werden, aber Kata, die am Tresen lehnte, stand ins Gesicht geschrieben, dass sie darauf brannte, zu erfahren, was die Polizei gesagt hatte. Die Kosmetikerin öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, als Jónas ihrem Blick auswich und seinen Schritt beschleunigte. Sie und Vigdís, die Empfangschefin, beobachteten enttäuscht, wie er ohne ein Wort zu sagen oder etwas zu fragen an ihnen vorbeieilte in sein Büro, wo er sich einschloss, das Telefon nahm und eine Nummer wählte.
Dóra saß in ihrem Zimmer auf der Bettkante. Birnas Kalender lag in ihrem Schoß. Sie schämte sich und war unentschlossen, ob sie ihn wieder in Birnas Zimmer schmuggeln oder an einem anderen Ort aufbewahren sollte, wo er keinen Verdacht wecken würde. Auch über den richtigen Zeitpunkt zerbrach sie sich den Kopf: sofort oder erst, wenn sie ihn durchgeblättert hatte? Röte schoss Dóra in die Wangen, als sie daran dachte, dass Birna ebenso gut noch unter den Lebenden weilen konnte. Hatte sie Briefschlitzklienten und andere Querulanten schon so satt, dass sie aufregendere Fälle heraufbeschwor, wo es gar keine gab? Sie war hergekommen, um einem leicht verstörten Hotelbesitzer einen hoffnungslosen Prozess auszureden, nicht um sich in eine polizeiliche Ermittlung einzumischen, die sie nichts anging. Dóras Telefon klingelte, und sie nahm ab, froh, an etwas anderes denken zu können.
»Könntest du mal kurz vorbeikommen?«, fragte Jónas mit schwerverständlicher Stimme. »Es ist was passiert. Ich habe das Gefühl, es hängt mit dem Spuk zusammen.«
»Wie bitte?«, fragte Dóra entgeistert.
»Ich erkläre es dir gleich, aber ich glaube, Birna, die Architektin, ist tot.«
»Ich bin in zehn Minuten bei dir.«
Also doch. Sie blickte von ihrem Telefon zu dem Kalender und entspannte sich. Zumindest hatte sie nicht den Kalender einer lebendigen Frau gestohlen. Dóra schlug das Buch mit ihrem Ärmel auf und blätterte mit dem Daumen die Seiten um. Jedenfalls handelte es sich um einen ungewöhnlichen Kalender. Anstatt vereinzelter Einträge waren die Seiten dicht beschrieben. Es gab etliche Skizzen von Häusern, Gebäuden und Gebäudeteilen. Einige schien Birna sich ausgedacht, andere nach echten Vorlagen gezeichnet zu haben. Offenbar hatte ihr eine Seite pro Tag nicht ausgereicht; die Seiten waren bis weit in den September hinein beschrieben — vier Monate in die Zukunft. Dóra schaute sich die letzten Einträge an, in der Hoffnung, Sätze zu finden wie: »X am Strand treffen — muss vorsichtig sein.« Aber vergeblich. Auf der letzten Seite stand »Bergur Geburtstag — nicht vergessen«, »Überweisung wg. April« sowie eine ganze Menge Firmennamen, die Dóra nicht kannte. Neben jedem Namen befanden sich eine Telefonnummer, irgendwelche Millimeterangaben und dahinter Kronenbeträge. Am Ende jeder Zeile waren unterschiedliche Reihen von Abkürzungen, die Dóra nicht verstand, »Schw, Wei, R, Gr, Sil, usw.«. Darüber stand das unterstrichene Wort: »Anstrich.«
An der Zeile mit dem niedrigsten Kronenbetrag war ein Häkchen. Anstriche hatten wohl kaum etwas mit dem Tod der Frau zu tun, weshalb Dóra bis zur vorletzten Seite blätterte. Dort befand sich ein Grundriss, der, soweit sie erkennen konnte, das Hotelgelände und den Standort des neuen Gebäudes zeigte. Die wichtigsten Maße und Entfernungen waren notiert, und ein hübsch verzierter Pfeil wies nach Norden. Um die Zeichnung herum hatte Birna Notizen gemacht, von denen die meisten Geländeneigung und Lichtverhältnisse betrafen. Eine Anmerkung weckte Dóras Interesse: »Was ist mit dieser Stelle??? Alte Pläne???«. Etwas weiter unten stand mit einem anderen Stift »Kofen«. Hinter dem Wort waren ebenfalls drei Fragezeichen. Das brachte sie auch nicht weiter.
Auch wenn Dóra den Kalender am liebsten ganz durchgesehen hätte, musste sie sich beeilen, zu Jónas zu kommen. Trotzdem blätterte sie weiter vor bis zu einer Skizze mit einem Gebäudegrundriss: zwei gleich große Vierecke nebeneinander, in Zimmer unterteilt. An derselben Stelle war jeweils eine Treppe eingezeichnet. Eindeutig ein Haus mit zwei Etagen. Die Zimmer waren beschriftet: Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Bad und so weiter. Am Rand standen allerlei Notizen, beispielsweise »Baujahr 1920?«, »Feuchtigkeit an Außenwand SZ«, »Fundament?«. Eine Frage war Birna offenbar sehr wichtig, denn sie hatte sie eingerahmt und die Rahmenlinien mehrmals übermalt: »Wer war Kristín?« Dóra musterte den Grundriss näher. Drei Zimmer in der oberen Etage waren mit »Schlafzimmer« gekennzeichnet, aber in einem stand mit kleineren Buchstaben darunter »Kristín?«. Dóra suchte nach einem Hinweis, ob der Grundriss von einem Haus aus der Nachbarschaft stammte, fand aber nichts. Oben auf der Seite stand »Kreppa«, und wenn sie Glück hatte, war das der Name des Hofes. Sie klappte das Buch zu und stopfte es in ihre Reisetasche. Die Putzfrauen würden bestimmt nicht darin herumwühlen.
Jónas wirkte beunruhigt und nicht so jovial wie sonst. Er bot Dóra einen der unbequemen Gästestühle vor seinem Schreibtisch an und ließ sich anschließend selbst in den gepolsterten Ledersessel dahinter fallen. Diesmal gab es, zu Dóras Erleichterung, keinen Kräutertee.
»Was wollte die Polizei, Jónas?«, fragte Dóra, um das Eis zu brechen.
Jónas stöhnte. »Wissen etwa alle, dass die hier waren?«
»Tja, ich kann nicht für alle sprechen, aber es wissen bestimmt noch einige außer mir. Selbst Leute, von denen man es am wenigsten erwartet, wittern die Polizei sofort.«
Jónas stöhnte wieder, diesmal wesentlich lauter. Er schob einen silbernen Armreif mit einem großen braunen Stein aus seinem linken Ärmel und strich abwesend darüber, bevor er die Frage beantwortete. »Sie haben eine Leiche am Strand gefunden. Eine Frauenleiche, und sie glauben, dass es Birna ist. Die Architektin, von der ich dir gestern erzählt habe.« Er konzentrierte sich wieder auf seinen Armreif, strich konzentriert darüber, diesmal mit geschlossenen Augen.
»Aha«, entgegnete Dóra. »Haben sie etwas über die Todesursache gesagt? Für Tote am Strand kann es alle möglichen Gründe geben. Selbstmord …«
»Ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat«, sagte Jónas benommen. »Sie war nicht der Typ dafür.«
Dóra brachte es nicht fertig, ihm zu erklären, dass es keine typischen Selbstmord-Charaktere gab. »Jónas, was hat die Polizei gesagt? Über den Leichenfundort?«
Jónas blickte von seinem Armreif zu Dóra. »Nichts Konkretes. Ihr Verhalten und das, was sie nicht gesagt haben, war auffällig.«
Er wandte sich wieder seinem Armreif zu. »Wenn sie zum Beispiel ertrunken wäre, auf einem Stein ausgerutscht oder irgendwas, das auf einen Unfall schließen lässt, dann hätten sie mich wahrscheinlich nach ihren Gewohnheiten gefragt. War sie viel draußen? Fuhr sie Kajak? Schwamm sie im Meer? Aber danach haben sie mich nicht gefragt. Das Einzige, was sie wissen wollten, war, ob hier jemand vermisst würde und ob ich eine gewisse Frau kennen würde, die sie mir dann oberflächlich beschrieben haben.«
Jónas schaute Dóra plötzlich an. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war es schon seltsam, dass sie ihre Gesichtszüge nicht beschrieben haben. Ob der Kopf fehlte?« Schnell fügte er hinzu, bevor Dóra antworten konnte: »Nein, wohl kaum, sie haben die Haarfarbe beschrieben.« Dann riss er die Augen auf. »Oder ist es möglich, dass jemand den Kopf abgetrennt, ihn skalpiert und die Haare auf die Leiche gelegt hat?«
Dóra machte seinen Hirngespinsten ein Ende. »Ich glaube, da geht deine Phantasie mit dir durch. Ich finde allerdings auch, dass es so klingt, als hätten sie einen Verdacht, der über einen Unfall hinausgeht.« Dóra formulierte ihre nächste Frage sehr zögerlich: »Hat die Polizei ihr Zimmer untersucht?«
»Einer von ihnen hat kurz reingeschaut. Der andere hat im Flur gewartet. Er war nur eine Minute oder so drinnen, kam dann wieder raus und hat nur den Kopf geschüttelt.«
»Er hat dich nicht gefragt, wer alles einen Schlüssel dazu hat?« Eine leichte Röte kroch über Dóras Wangen.
»Nein, aber sie haben strikt verboten, dass jemand das Zimmer betritt, bevor die Kripo ihre Untersuchung beendet hat. Dann wollten sie Birnas Wagen sehen. In einer kleinen Tüte hatten sie einen Schlüssel, der passte.«
Dóra nickte nachdenklich. Im Grunde gab es keinen Zweifel an der Identität der Toten. »Tja, also.« Sie schaute zu Jónas und musste sich sehr zurückhalten, ihn nicht zu bitten, die Spielerei an seinem dämlichen Armreif zu unterlassen. Es hatte bestimmt etwas mit alternativen Heilmethoden, Kraftquellen oder dergleichen zu tun. »Wer hätte Birna denn umbringen wollen? War sie in Schwierigkeiten?«
Jónas schüttelte langsam den Kopf. »Nein, sie war ganz normal.« Dóra konnte sich nicht vorstellen, was er als normal empfand, ging jedoch davon aus, dass sein Maßstab ein anderer war als ihrer. »Ein toller Mensch und eine hervorragende Architektin.« Jónas lächelte verlegen. »Allerdings ein echter Steinbock, unbeirrbar und hartnäckig. Aber anständig. Hochanständig.«
»Gab es denn niemanden, der schlecht mit ihr auskam?«, fragte Dóra. »Fällt dir jemand ein, der Differenzen mit ihr gehabt haben könnte?«
Jónas schob den Armreif wieder unter seinen Ärmel und konzentrierte sich jetzt ganz auf Dóra. »Also. Ich hab drüber nachgedacht, ob das vielleicht mit dem Spuk zusammenhängt.«
Dóra verzog keine Miene. »Willst du damit sagen, ein Geist hat den Mord begangen?«
Jónas zuckte die Achseln und machte eine abwehrende Handbewegung. »Was weiß denn ich, das kann doch alles kein Zufall sein! Hier spukt es. Birna wird ganz in der Nähe tot aufgefunden. Sie war mit Umgestaltungen beschäftigt. Geister wollen, dass ihre Umgebung so bleibt, wie sie sie verlassen haben. Sie wehren sich vehement gegen jede Art von Störung. Was soll man bitte davon halten?«
Dóra hatte so etwas noch nie gehört, sich aber auch noch nie besonders mit Geistern beschäftigt. »Jónas, ich glaube, es ist ausgeschlossen, dass wir es hier mit einem Geist zu tun haben.«
»Bist du sicher?«, fragte der Hotelbesitzer, »Birna hat sich sehr für die Geschichte dieses Orts interessiert. Sie wollte unbedingt mehr darüber wissen, um ein Gefühl für die Gegebenheiten zu bekommen. Es ist durchaus möglich, dass sie den schwelenden Zorn eines Verstorbenen aufgewühlt hat und ihr das zum Verhängnis wurde. Vielleicht nicht direkt — aber möglicherweise indirekt.« Als er sah, dass Dóra sprachlos war, fuhr er fort: »Es muss ja nicht unbedingt eine direkte Verbindung geben. Aber jetzt ist die Situation nun mal so. Hier spukt es, und die Verkäufer haben nichts darüber gesagt. Eine Frau ist auf schreckliche Weise gestorben — vielleicht hängt das mit dem Spuk zusammen. Es lässt sich nur schwerlich abstreiten, denn Mörder können immer von Kräften aus dem Jenseits beeinflusst sein. Verstehst du?«
Dóra konnte nur den Kopf schütteln.
»Na klar, liegt doch auf der Hand: Du erzählst den Verkäufern, hier sei eine Frau umgekommen und es gäbe Gerüchte, dass der Geist dabei eine maßgebliche Rolle gespielt hätte. Die ganze Geschichte würde vor Gericht noch einmal aufgerollt. Ich glaube nicht, dass diese Leute Interesse daran haben, mit einem Mordfall — wenn auch nur indirekt — in Verbindung gebracht zu werden. Würdest du gerne als Zeuge in einem Mordprozess aussagen, bei dem die Verteidigung durchblicken lässt, du hättest Informationen zurückgehalten, die zu dieser schrecklichen Tat geführt hätten?« Jónas schüttelte an Dóras Stelle den Kopf. »Nein, daran hättest du kein Interesse. Und sie auch nicht. Vielleicht führt das dazu, dass sie über Schadenersatz verhandeln.«
Dóra fiel ihm ins Wort. »Was spielt es eigentlich für eine Rolle für dich, Schadenersatz zu bekommen? Du hast das Hotel schließlich schon gebaut — du willst den Kauf doch wohl nicht rückgängig machen? Wenn du das mit diesem Geist wirklich ernst meinst, wirst du ihn kaum vertreiben können.«
Jónas lächelte. »Das kann ich natürlich nicht. Aber ich muss mich darauf einstellen, die Löhne meiner Angestellten zu erhöhen, damit sie nicht abhauen. Das sind spirituelle Menschen. Sensibel für übernatürliche Phänomene. Ich mache mir jetzt schon Sorgen, weil einige angedeutet haben, kündigen zu wollen. Meine Betriebspläne sind durcheinandergeraten, und es ist gut möglich, dass der kleine Gewinn, den ich mir erhofft habe, auf und davon ist. Auch die Gäste sind sensibel. Sie sind nicht gewillt, mit Wesen aus dem Jenseits konfrontiert zu werden. Zumindest nicht, wenn es sie das Leben kosten kann.«
Das musste Dóra erst mal verdauen. Es widerstrebte ihr, Leute durch alberne Drohungen in einen Mordfall zu verwickeln und zu Verhandlungen zu zwingen. Aber Jónas’ Aussage über die Angestellten ließ sich nicht von der Hand weisen. »Lass mich darüber nachdenken.« Sie wollte aufstehen, hielt jedoch inne. »Du musst mir noch von dem Spuk erzählen. Wie äußert der sich eigentlich?«
Jónas seufzte. »Puh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Am Anfang vielleicht?«, entgegnete Dóra leicht gereizt.
»Ja, das ist wohl am besten«, antwortete Jónas, der sich von Dóra nicht aus dem Konzept bringen ließ. »Wie gesagt, die meisten Mitarbeiter sind wesentlich sensibler als andere Menschen.«
Dóra nickte.
»Es begann damit, dass sie eine unangenehme Präsenz wahrgenommen haben. Ich glaube, der Hellseher Eiríkur war der Erste, der es gespürt hat. Dann haben andere es auch gespürt, und es machte die Runde. Ich war einer der Letzten, dachte zuerst, es wäre Einbildung.« Jónas schaute Dóra ernst an. »Eigentlich ist es unmöglich, Menschen, die kein Empfinden für Übersinnliches haben, so etwas zu beschreiben, aber ich kann dir jedenfalls versichern, dass es alles andere als angenehm ist. Es lässt sich wohl am ehesten mit dem Gefühl vergleichen, verfolgt zu werden. So als säße jemand in einer dunklen Ecke und würde dich beobachten. So ging es mir zumindest.«
Diese Beschreibung bestärkte Dóra nur in ihrer Annahme, dass es sich um Massenhysterie handelte. Jemand hatte mit einer vagen Geschichte angefangen, andere waren gefolgt, und irgendwann war die Einbildung zur Tatsache geworden. »Jónas«, sagte Dóra, »du musst schon etwas konkreter werden. Der Fall ist völlig hoffnungslos, wenn ich den Verkäufern erzählen soll, was du mir gerade gesagt hast. Wir brauchen etwas Handfestes, es reicht nicht, wenn einem ab und zu ein Schauer über den Rücken läuft.«
Jónas schaute sie verstimmt an. »Es ist viel mehr als das. Einen Schauer kann man abschütteln. Dieses Gefühl ist allgegenwärtig. Erdrückend ist vielleicht ein besseres Wort. Fast alle haben nachts ein Heulen gehört. Das Weinen eines Kindes.« Auf einmal triumphierte er. »Und ich hab einen echten Geist gesehen. Sogar mehrmals. Seine Anwesenheit hat sich in der letzten Zeit gemehrt.«
»Und wo hast du diesen Geist gesehen?«, fragte Dóra ungläubig.
»Überwiegend draußen. Hier draußen.« Jónas zeigte zum Fenster, ohne sich umzudrehen. »Ich kann schlecht beschreiben, wo der Geist genau gestanden hat, es war immer neblig, wenn ich ihn gesehen habe. Manche Geister erscheinen nur bei bestimmten Wetterbedingungen, und dieser kommt bei Nebel.«
»Du kannst ihn also nicht detailliert beschreiben?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich weiß nur, dass es ein Mädchen oder eine Frau ist. Das Wesen war viel zu zierlich für einen Mann.« Jónas lehnte sich zurück. »Und einmal hab ich sie in meinem Spiegel gesehen. Ganz eindeutig ein Mädchen. Es ging zwar alles ganz schnell, aber trotzdem.«
»Du hast gesagt, du hättest das Mädchen auf einem Foto wiedererkannt. So schnell kann es also nicht gegangen sein, wenn du dich an ihre Gesichtszüge erinnern kannst.«
»Tja, ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll. Ich hab mir die Zähne geputzt und ein Rascheln gehört. Ich bin erstarrt, hab mich aufgerichtet und dann im Spiegel gesehen, wie das Wesen an der Tür vorbeigehuscht ist. Die Gesichtszüge müssen sich in meinem Unterbewusstsein festgesetzt haben, obwohl ich sie kaum beschreiben könnte, jedenfalls hab ich das Gesicht auf einem der Fotos wiedererkannt.« Jónas öffnete eine Schreibtischschublade und wühlte darin herum, während er weiterredete. »Ich konnte das Bild danach gar nicht mehr in die Hand nehmen. Ich hab’s wieder in die Kiste geworfen und sie zugemacht. Du wirst damit keine Probleme haben, aber ich kann es einfach nicht.«
»Ich glaube nicht, dass es eine spezielle Wirkung auf mich hat«, sagte Dóra und lächelte ihm zu. »Ich würde gerne mit einigen deiner Angestellten über die Sache reden. Zum Beispiel mit diesem Eiríkur.«
»Kein Problem. Er ist im Moment nicht hier, müsste aber morgen zurückkommen.« Endlich fand Jónas den Gegenstand, den er in der Schublade gesucht hatte. Er reichte Dóra einen alten, schweren Schlüssel an einem großen Eisenring. »Das ist der Schlüssel zum alten Keller. Da stehen die Kisten, von denen ich dir erzählt habe. Schau sie dir an. Es gibt ein paar interessante Dinge, die den Spuk erklären könnten.«
Dóra nahm den Schlüssel entgegen. »Erinnere ich mich richtig, dass der andere alte Hof Kreppa heißt?«, fragte sie scheinheilig.
Jónas schaute sie verständnislos an. »Ja, stimmt. Ursprünglich waren es zwei Grundstücke, die zusammengelegt wurden. Der eine Hof hieß Kreppa, der andere Kirkjustétt. Birna hat viele Stunden wegen der geplanten Bautätigkeiten dort verbracht.«
»Ach ja? Warum das?«, fragte Dóra noch neugieriger. »Steht denn der alte Hof noch?«
»Ja, er steht noch an seinem Platz. Ursprünglich wollten wir das neue Gebäude daneben errichten, so ähnlich wie hier, aber Birna gefiel das nicht. Ihr war das Haus zu weit entfernt und in einem zu schlechten Zustand. Du kannst ihn dir morgen ansehen, wenn du willst. Die Schlüssel liegen unter einem Stein vor der Haustür. Es ist ganz nett, sich das Haus anzugucken; das ganze alte Mobiliar ist noch drin.«
»Wie kommt das?«, fragte Dóra. »Beim Verkauf war das Haus doch nicht mehr bewohnt.«
»Keine Ahnung«, antwortete Jónas. »Kann sein, dass inzwischen ein Teil des alten Krempels abgeholt wurde, weil die Schwester …« Jónas suchte nach dem Namen der Frau. Er ließ seinen Zeigefinger kreisen, während er nachdachte.
»Meinst du Elín þórðardóttir? Die dir das Anwesen verkauft hat?«
»Ja, genau!« Jónas’ Zeigefinger kam mitten in der Kreisbewegung zum Stillstand. »Elin, die Schwester. Sie hat vor zwei Monaten angerufen und ausrichten lassen, sie würden den Kram endlich durchforsten. Ich war in der Stadt, deshalb hab ich nicht selbst mit ihr gesprochen, sondern nur eine Nachricht von Vigdís bekommen. Kurz darauf kam dann ihre Tochter und hat gefragt, wo der Schlüssel versteckt sei. Ist vielleicht besser, dass ich die beiden nicht getroffen habe, sonst hätte ich bestimmt das eine oder andere Wort über den Spuk fallen lassen.«
Dóra wollte nicht länger über Geister reden. »Wann kam die Frage nach den alten Sachen denn auf?«, fragte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, dass das während der Verkaufsverhandlungen thematisiert wurde.«
»Ach, das war alles mündlich«, sagte Jónas. »Sie haben mich irgendwann darauf angesprochen, und ich hab ihnen gesagt, sie könnten sich darum kümmern, wann es ihnen am besten passt.« Großspurig fügte er hinzu: »Allerdings habe ich sie darauf hingewiesen, dass sie sich beeilen sollen, für den Fall, dass ich das Haus nutzen oder abreißen lassen will.«
Dóra nickte. Sie schaute auf die Uhr. »Vielleicht schaue ich es mir am Wochenende mal an. Wer weiß, vielleicht treffe ich diese Elin oder ihren Bruder. Die Kisten nehme ich mir morgen vor. Es ist schon viel zu spät.«
Jónas nickte. »Dieses Zeug durchstöbert man besser nicht vor dem Zu-Bett-Gehen, kann ich dir sagen.« Er grinste schelmisch. »Ob man an Geister glaubt oder nicht.«
Das Bettzeug war das beste, in dem Dóra je geschlafen hatte. Sie gähnte und reckte sich, fest entschlossen, den Schlaf in vollen Zügen zu genießen. Das dicke Daunenkissen stützte perfekt ihren Nacken, und Dóra nahm sich vor, Jónas zu fragen, wo er das Bettzeug gekauft hatte. Sie griff nach der Fernbedienung auf dem Nachttisch und schaltete den Fernseher aus. Sobald sie die Augen geschlossen hatte, überkam sie der Schlaf, und kurz darauf atmete sie gleichmäßig, und ihre Gedanken drifteten ab. Sie rührte sich noch nicht einmal, als durch das offene Fenster leises Kinderweinen drang.