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In Camporeale, in den herrlichen Bergen von Sizilien, gibt es ein wunderschönes Kinderheim, das sogar der Papst gesegnet hat! — Soll ich so anfangen? — Aber dieses Kinderheim ist nur eine Tarnung, Leute! Im Keller, zwei Etagen unter der Erde, befindet sich die modernste Herzklinik der Welt. Hier warten ständig acht bis elf Todkranke auf ein neues Herz. Und oben, auf dem obersten Stock des Blockes III, werden dreiunddreißig junge, kräftige, gesunde Männer gepflegt, umsorgt und gemästet wie wertvolles Schlachtvieh, denn genau das sind sie ja: Herzspender! Eine lebende Herzbank! Und da ist ein Chirurg — Leute, hört gut zu —, ein deutscher Arzt, früher Dozent in München, den die Mafia bei einem Urlaub auf Sardinien geklaut hat. Und dieser Idiot merkt von nichts etwas, denkt nur daran, daß er Kranken helfen kann — wenn auch unter sehr extremen Bedingungen —, und verpflanzt nach einer ganz neuen Methode Herzen in von der Medizin abgeschriebene Körper! Und es gelingt. es gelingt vierzehnmal! Vierzehn junge Männer wurden dafür geschlachtet. Jawohl, einfach geschlachtet, und der deutsche Idiot hat es gesehen, durch eine Glasscheibe, und hat vierzehnmal geglaubt, da liege ein Unfallopfer. Man hat ihm sogar jedesmal die Einverständniserklärung der Eltern gezeigt, und er hat alles hingenommen, weil man sich das, was da in Camporeale passiert ist, einfach nicht vorstellen kann! Aber es ist passiert! Geht hin und seht euch Dr. Sorianos Herzbank an!«Er atmete tief durch und wischte sich den Schweiß aus den brennenden Augen.»Soll ich das so hinausschreien? Und du nimmst an, daß mir das einer glaubt? Daß sie mich nicht einfach packen und in eine Anstalt transportieren?! Und was geschieht hier? Staatsanwalt Dr. Brocca wird sofort seinen Freund Don Eugenio warnen. Und wenn die Polizei offiziell kommt, um den Anschuldigungen nachzugehen — was findet sie dann? Ein Kinderheim! Einhundertzwanzig fröhliche, gesunde, glückliche Kinder. Und den päpstlichen Segen, eingerahmt in der Eingangshalle. Die Herzbank? Bitte, Signori, überzeugen Sie sich: Die oberste Etage von Block III ist eine Sonnenterrasse! Im Keller? Bitte, Signori, folgen Sie mir: Wo ist hier eine Herzklinik? Im Keller eine Herz-klinik. das kann ja wohl nicht sein! — Und nichts wird man finden, nichts! Denn die Klinikkeller werden wieder zugemauert sein, und die dreiunddreißig jungen Männer hat es nie gegeben. Dafür werden ein paar Wochen lang Dr. Sorianos Löwen und Krokodile satt bis zur Faulheit sein! — Loretta!«Er starrte sie entgeistert an.»Das kannst du dir alles anhören, ohne aufzuschreien? Ohne vor Entsetzen den Verstand zu verlieren? Es ist dein Vater!«
«Ich liebe dich!« sagte sie leise. Ihr schönes Gesicht zuckte, die Lippen vibrierten. Gleich schreit sie doch, dachte Volkmar. Sie ist stark, ungeheuer stark, ich sehe es jetzt, aber das kann keine Frau verkraften. Er bereute, daß er es ihr gesagt hatte, aber anders war es ihr nicht zu erklären, weshalb die lange vorbereitete Flucht sinnlos geworden war. Wenn mit Soriano abzurechnen war, dann nur hier, nicht aus der Ferne. Und es mußte eine Abrechnung unter vier Augen sein. Von außen kam keine Hilfe. Die Staatsanwaltschaft, die Polizei, die Zeitungen — das ganze öffentliche Leben befand sich unter der Kontrolle der Mafia. Nur Mann gegen Mann, Soriano gegen Volkmar, war die Formel.
«Du willst ihn töten?«fragte Loretta. Ihre Stimme klang kindlich, viel zu hoch.»Meinen Vater töten?«
«Ja! Und merkwürdig: Ich empfinde keine Skrupel dabei! Du lieber Himmel, wer hätte das jemals für möglich gehalten: daß ich bereit sein könnte, einen Menschen zu töten! Mit Genugtuung! Zu töten, weil ich damit der Menschheit einen Dienst erweise! Ist das krumm gedacht? Erwies man nicht auch angeblich der Menschheit einen Dienst, wenn man in den Kriegen Millionen unschuldiger Menschen umbrachte? Bekam man nicht Orden dafür, immer höhere und wertvollere, je mehr man tötete? Wurden die Namen nicht in Denkmäler gemeißelt und geehrt? Unsere Helden! Ausnahmesituationen, sagt man. Für Volk und Vaterland. Für Kaiser und König. Für die Ankurbelung der Wirtschaft und die Räumung der Waffenlager. Alles Gründe, um das Töten zu legalisieren. Ich frage: Ist es nicht ebenso legal, einen Massenmörder umzubringen?! Einen Satan wie Dr. Eugenio Soriano? Bei Gott — ich werde es tun!«»Und dann?«fragte Loretta leise.
«Dann ist dieser Spuk hier zu Ende.«
«Er wird dann erst anfangen, Enrico! Don Eugenio ist tot — aber die anderen stehen da: Don Giacomo aus Catania, Don Franco aus Messina, Don Bertoldo aus Siracusa, Don Franco aus Trapani. Was sind wir gegen sie? Sie werden uns überall erreichen.«
«Dich werden sie verschonen. Und ich — «Er machte eine knappe Handbewegung, die seine tiefe Resignation ausdrückte.»Loretta, du darfst das Flugzeug nicht verpassen!«
«Ich gehe nur mit dir — das weißt du ganz genau!«
«Gut! Ich begleite dich bis zu Giuseppe und bringe ihn um, damit du fahren kannst.«
«Du weißt genau, daß du dazu nicht fähig bist!«Sie sah ihm starr in die Augen. Ihre Lippen zitterten wieder.»Bei meinem Vater ist das etwas anderes. Ihn könntest du töten, ich sehe es dir an. Heilige Maria, ich könnte es jetzt auch. Auf der Stelle, wenn er plötzlich hereinkäme. Eine ganz ruhige Hand würde ich haben.«
Sie griff in ihre Handtasche und holte eine kleine Pistole mit kurzem Lauf heraus. Der Griff war mit Perlmutt eingelegt. Ein tödliches Spielzeug.
«Wo hast du die Pistole her?«fragte Volkmar laut.
«Von Worthlow.«
«Gib sie mir!«
«Nein!«Sie zog den Schlitten, lud die Pistole und schob den Sicherheitsflügel zurück. Schußbereit ließ sie die Waffe in die offene Handtasche gleiten.»Enrico — «, sagte sie langsam,»warum willst du ein Held sein und dich von Maschinenpistolen durchlöchern lassen?! Du änderst nichts in Sizilien, wenn du meinen Vater tötest. Aber irgendwo draußen in der Welt können wir glücklich sein. Hast du nicht einmal gesagt: Eine Landarztpraxis, ein Haus in einem Garten, ein kleines, bescheidenes Paradies, aber es gehört uns ganz allein? Dahin wollen wir, Liebling.«
«Mit diesem Wissen?! Mit der Last von vierzehn Morden? Loretta, ich habe gesunde Herzen verpflanzt. Herzen von Lebenden!«
«Du hast es nicht gewußt!«
«Ist das eine Entschuldigung? Ist Gutgläubigkeit ein Alibi?! Ich habe meine Sorgfaltspflicht verletzt! Ich habe nie eines der >Un-fallopfer< selbst untersucht. Ich habe mir alle Diagnosen und die Werte der Labors von Dr. Nardo geben lassen. Ich habe auf das ärztliche Ethos vertraut. Das ist mein nicht wiedergutzumachender Fehler! Das ist nie mehr wegzuwischen! Wie kann man damit leben: Vierzehn Tote durch Fahrlässigkeit und Dummheit?!«
«Du wirst es überleben in meinen Armen«, sagte sie leise.»Später wird das alles wie ein böser Traum gewesen sein.«
«Später?«Er lachte bitter.»Weißt du, was meine ärztlichen Kollegen mit mir machen, wenn ich die Wahrheit erzähle? Dein Vater hat es richtig gesehen: Der Dr. Heinz Volkmar aus München ist tot! Für alle Zeiten! Und sollte er jemals wieder auftauchen — auch dann ist er erledigt. Er braucht nur zu berichten, wo er gewesen ist und was er getan hat. Vierzehn erfolgreiche Herztransplantationen — erkauft mit vierzehn Morden! Das ist so satanisch, daß man den Verstand darüber verlieren muß!«Er breitete die Arme aus und stand da, als habe man ihn gekreuzigt.»Ich habe keine Zukunft mehr, Loretta! Ich bin vernichtet. Aber du kannst dich noch retten!«
«Solange ich lebe, wirst auch du leben können«, sagte sie.»Ist das nicht eine ganz einfache Formel: Du und ich! Sie ist mehr wert als alles andere auf der Welt. - Komm!«
Sie trat auf ihn zu, umfaßte sein Gesicht und küßte ihn. Dann ging sie zum Schreibtisch, nahm seine Jacke von der Sessellehne und half ihm hinein.
«Ich möchte alles in die Luft sprengen!«sagte er heiser.»Alles! Mein Gott, was ist aus mir geworden!«
«Komm!«Sie faßte nach seiner Hand und zog ihn mit sich aus dem Zimmer. In der Eingangshalle begrüßten ihn ahnungslos die Kinderschwestern, die mit den Kleinen aus dem geheizten Hallenbad kamen. Kinderlachen und tobende Lebensfreude — es schlug über Volkmar zusammen.
Er nickte den Schwestern zu, senkte den Kopf und lief, als wer-de er gejagt, ins Freie. Dort wartete der Chauffeur und Leibwächter Giuseppe neben dem weißen Lancia, den Soriano großzügig Dr. Volkmar zur Verfügung gestellt hatte. Wie ein gelernter Herrschaftsfahrer riß Giuseppe die Tür auf und zog seine Mütze.
Eine Fahrt wie immer: Von Camporeale nach Solunto. Nur eine kleine Änderung fand statt: Loretta stieg nicht mit Volkmar in den Fond des Wagens, sondern setzte sich auf den Beifahrersitz neben Giuseppe.
Aha, sie haben Streit, dachte Giuseppe und grinste. Sprechen kaum miteinander, sehen sich nicht an. Warum sollen sie auch anders sein als alle Pärchen?
Er warf die Türen zu, ging um den Lancia herum und fahr ab. Außerhalb von Camporeale, auf der gewundenen Straße nach Al-camo, wo man auf die Schnellstraße nach Palermo stieß, sagte Loretta leichthin:»Giuseppe, halt einmal an.«
«Hier?«Er bremste und begriff nicht, was sie in dieser Gegend unternehmen könnte: Olivenhaine, eine Plantage mit Orangenbäumen, ein paar Scheunen, kein bewohntes Haus. Das Windrad eines alten Brunnens drehte sich träge.
Giuseppe kam nicht mehr dazu, seine Frage zu stellen. Von hinten traf ihn ein fürchterlicher Fausthieb in den Nacken und lähmte ihn. Bei vollem Bewußtsein, aber bewegungsunfähig, erlebte er, wie Dr. Volkmar aus dem Wagen sprang, ihn vom Fahrersitz riß, wie Loretta das Steuer übernahm und wie man ihn nach hinten zum Kofferraum schleifte. Dort traf ihn der zweite Hieb, mit der Handkante gegen die Schläfe. Guiseppe stieß noch einen dumpfen Laut aus — dann brach er bewußtlos zusammen.
Obwohl Guiseppe nur ein mittelgroßer Mann war, kostete es Dr. Volkmar Mühe, ihn in den Kofferraum zu wälzen.»In meiner Tasche sind Stricke!«rief Loretta.
Volkmar kam um den Kofferraum herum. Aus der offenen Tür warf ihm Loretta ihre Handtasche zu. Er fing sie auf und blickte hinein. Neben der kleinen Pistole lagen zusammengerollt zwei Stricke und in einer Plastikhülle ein breites Heftpflaster.
«Du hast an alles gedacht!«sagte er.
«Die Informationen vom Fernsehen sind perfekt!«rief sie zurück.»Da lernt man genau, was man für eine Entführung braucht.«
Dr. Volkmar fesselte Giuseppe an Händen und Füßen und klebte ihm das Heftpflaster vor den Mund. Dann klappte er die Lehne der Rücksitze nach vorn, damit Giuseppe mehr Luft bekam und nicht im Kofferraum erstickte.
«Fertig!«keuchte er, als er sich neben Loretta in den Wagen fallen ließ.»Wieviel Zeit haben wir noch?«
«Genug, mein Liebling. «Sie küßte ihn auf die Stirn, warf die langen Haare über die Schultern und gab Gas.
Was Volkmar jetzt erlebte, trieb sogar ihm, der selbst ein scharfer Fahrer war, eine Gänsehaut über den Rücken. In einem Höllentempo fuhr Loretta auf der schmalen Bauernstraße durch das bergige Land, erreichte den Ort Pina di Albanesi, trat, als sie die ausgebaute Straße unter sich hatte, das Gaspedal fast durch, raste über die Paßhöhe und dann den Berg hinunter, schlidderte durch die Kurven und fuhr mit anhaltendem Hupen durch die einsamen Dörfer. Bei Misilmeri erreichten sie die Autobahn Palermo-Catania und setzten sich sofort auf die linke Seite. Dr. Volkmar klammerte sich am Haltegriff oberhalb des Handschuhfaches fest.
«Du lieber Himmel, wo hast du fahren gelernt?«rief er.
«Mir wachsen Flügel!«lachte sie zurück.
«Genau das befürchte ich!«
«Hast du Angst?!«
«Wenn ein Auto sich vom Boden abhebt, ist das nicht ganz normal!«
Sie lachte wieder, drehte bei diesem Irrsinnstempo sogar den Kopf zur Seite und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. Im Kofferraum war Giuseppe aus seiner Ohnmacht erwacht und rumorte herum. Er trat gegen die Seitenwände, versuchte, sich aufzurichten und durch den Spalt hinter den vorgeklappten Rücksitzen zu kriechen. Er versuchte zu schreien, aber das breite Heftpflaster über seinem Mund ließ nur dumpfe Töne heraus. Er zerrte an seinen Fesseln, sie waren jedoch so gut geschnürt, daß sie bei jeder Bewegung nur in die Haut schnitten, ohne sich auch nur um einen Millimeter zu verschieben. Ein Arzt hat gelernt, festsitzende Knoten zu machen.
An einem Autobahn-Parkplatz hielt Loretta und ließ Volkmar aussteigen. Er öffnete die Tür zu den Rücksitzen und beugte sich über Giuseppe, der ihn haßerfüllt anstarrte.
«Paß einmal auf, mein Freund«, sagte Volkmar eindringlich.»Wenn du nicht ruhig bist, bin ich gezwungen, dich wieder auf den Kopf zu schlagen, ist das klar? Die Knoten bekommst du nie auf. Schreien kannst du auch nicht. Wozu entschließt du dich?«
Giuseppe antwortete unter seinem Pflaster. Er bäumte sich hoch und stieß mit dem Kopf nach Volkmar.
«Das war die falsche Antwort. «Volkmar zögerte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, sollte die ganze Flucht nicht von Beginn an sinnlos werden. Er schlug also noch einmal zu, mit der Faust gegen die Schläfe, und drückte den erschlaffenden Körper zurück in den Kofferraum. Als er wieder neben Loretta saß, sah er, daß neben ihr auf der Mittelkonsole die offene Handtasche lag.
«Müssen wir ihn töten?«fragte sie.
«Nein! Ich könnte es auch gar nicht.«
«Soll ich es tun?«
«Du kannst einen Menschen umbringen?«
«Für dich würde ich alles tun, Enrico. Auch Giuseppe wird ein Mörder sein, wie die meisten Angestellten meines Vaters.«
«Fahr weiter«, sagte Volkmar tonlos.»An mir klebt genug Blut! Wieviel Zeit haben wir noch?«
«Noch knapp sechs Stunden.«
«Sechs Stunden? Das ist ein großes Risiko. Da kann noch viel passieren. Wir sollten Giuseppe in einer einsamen Gegend aussetzen. Wenn er aufwacht und im Wagen herumtobt, kann er auf dem Parkplatz vor dem Flughafen einen Großalarm auslösen. Ein gefesselter Mann im Kofferraum ist schließlich nichts Normales.«
«Warten wir's ab!«Loretta gab Gas, bog auf die Autobahn ein und raste weiter, in einem irrsinnigen Tempo Catania entgegen. Noch dreimal mußten sie anhalten, um Giuseppe zu beruhigen. Sie erreichten die Vorstädte von Catania, fuhren, um der Polizei nicht aufzufallen, im normalen Tempo durch die Straßen, bis Volkmar seine Hand auf Lorettas Arm legte.
«Anhalten!«sagte er.»Da ist eine Apotheke. Ich versuche es.«
Loretta bremste, fuhr an die Seite und hielt.»Was willst du versuchen?«
«Die Lektion II aus dem Fernsehen: Wie entführe ich einen Menschen? Wenn es gelingt, könnten wir gewonnen haben.«
Er sprang aus dem Wagen und ging über die Straße in die Apotheke.
Hinter dem Ladentisch stand ein junges, hübsches Mädchen in einem weißen Kittel und las in einem Magazin. Der Laden war leer, die Einrichtung veraltet. Mußte eine gesunde Gegend sein.
«Ich bin Arzt, Signorina«, sagte Dr. Volkmar mit freundlichem Lächeln.»Dr. Ettore Monteleone.«
Das Mädchen nickte, legte das Magazin zur Seite und schien nicht daran zu zweifeln, daß Dr. Monteleone in die Apotheke gekommen war.
«Bitte, Dottore?«
«Ich brauche etwas Watte und eine kleine Flasche Äther.«
«Äther?«
«Es kann auch Halothan sein.«
«Halothan haben wir nicht. Das weiß ich.«
«Dann eine Sprühflasche mit Chloräthyl?«
«Äther zum Tropfen haben wir. Aber.«
«Ein Notfall! In meinem Wagen. Ein Bekannter hat sich an der Tür den Unterarm aufgerissen. Ich muß ihn nähen. Wenn Sie es nicht glauben… kommen Sie mit hinaus. Dort drüben steht mein Auto.«
«Wieviel Äther, Dottore?«fragte das Mädchen. Auf die Straße zu gehen, war ihr zu unbequem. Außerdem: Wer Halothan kennt, muß ein Arzt sein. Wer kennt schon Halothan?
«Eine kleine Flasche genügt. Ich brauche nur ein paar Tropfen für eine Rauschnarkose.«
Das hübsche Mädchen ging nach hinten in einen anderen Raum und kam dann mit einer kleinen, braunen Glasflasche zurück. Auf dem Etikett stand deutlich: C2H5-O-C2H5.
Dr. Volkmar nickte zufrieden.»Richtig!«sagte er.»Und ein Paket Watte.«
Er bezahlte die paar Lire, steckte den Narkoseäther in die Rocktasche und ging zum Wagen zurück. Das hübsche Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen, sah durch die Glastür den Lancia, schien zufrieden zu sein und griff wieder nach dem Magazin.
Dr. Volkmar öffnete den Deckel und zog den um sich tretenden Giuseppe wieder zurück in den Kofferraum. Dann drehte er den Tropfverschluß der Ätherflasche auf, riß eine Lage Watte aus der Packung, träufelte die Watte voll Äther und drückte sie dem hin und her schnellenden Giuseppe auf die Nase. Der hielt den Atem an, aber das half ihm nur, bis seine Lungen zu platzen drohten. Dann holte er tief Luft durch die Nase und atmete voll den Äther ein. Seine Augen starrten Volkmar noch einmal mit tödlichem Haß an, ehe sie groß und glänzend wurden und dann in die Betäubung wegrollten.
Volkmar schraubte die Flasche wieder zu, warf den Wattebausch an den Straßenrand und stieg zu Loretta in den Wagen.
«Fertig!«sagte er, schwer atmend.»Wenn er ein gutes Herz hat, schläft er eine Stunde.«
«Wir brauchen über zwei Stunden, Liebling.«
«Dann narkotisiere ich ihn nach.«
Sie fuhr an Catania vorbei zum Flughafen und stellte den Wagen am äußersten Ende des Parkplatzes ab. Dr. Volkmar untersuchte noch einmal Giuseppe. Er schlief fest, aber zwei Stunden hielt die Narkose nicht an.
Er zögerte, legte sein Ohr auf Giuseppes Brust und kontrollierte den Herzschlag.
«Gib ihm noch mehr Äther!«sagte Loretta.
«Und wenn er stirbt?«
«Würde Giuseppe zögern, uns zu erschießen? Ich habe mich nie darum gekümmert, Enrico, aber in den letzten Monaten habe ich mich genau über die Mafia informiert. Man kennt dort keine Gnade.«
Dr. Volkmar seufzte. Sie hat Recht, dachte er. Wir kämpfen jetzt um unser nacktes Leben. Mißlingt diese Flucht, kommen wir nicht aus dem Bann von Soriano heraus. Dann können wir wie in Dantes >Inferno< sagen: Laßt alle Hoffnung fahren.
Er träufelte noch etwas Äther über Giuseppes Nase und schloß dann den Kofferraumdeckel.
Es war nichts als ein Zufall, daß gerade zu dieser Stunde der Sekretär von Don Giacomo, dem Mafia-Boß von Catania, für sich eine Flugkarte nach Mailand abholte. Er kannte Loretta Soriano natürlich, wunderte sich, daß sie mit Dr. Monteleone zwei Tickets nach Rom verlangte, und lief zum nächsten Telefon in der Flughalle.
«Das ist in der Tat merkwürdig«, sagte Don Giacomo erstaunt.»Ich schicke sofort vier Mann hinaus und benachrichtige Don Eu-genio.«
Es war kein dramatischer Kampf, keine wilde Verfolgungsjagd, wie man sie in den Filmen sieht, als Dr. Volkmar und Loretta von Don Giacomos Leuten abgefangen wurden. Man umringte sie einfach, begrüßte sie wie alte Freunde mit größter Herzlichkeit und bat sie, nicht töricht zu sein, sondern mitzukommen. - Vor dem AirportGebäude wartete ein großer, geschlossener Wagen, ein riesiger Cadillac. Neben dem Chauffeur saß ein breit grinsender Mann. Zwischen seinen Beinen schimmerte eine Maschinenpistole.
«Ihr Vater läßt Sie grüßen, Signorina«, sagte er gemütlich.»Und er ist glücklich, daß Sie so klug sind, keine Schwierigkeiten zu machen.«
Da erst begann Loretta zu weinen, legte den Kopf an Volkmars Schulter und sagte unter Schluchzen:»Wir sind eben doch keine Gangster, Enrico. Da siehst du es!«
Er legte den Arm um sie, drückte sie an sich und küßte sie. Er ahnte, daß es vielleicht der letzte Kuß sein würde.
Dr. Volkmars Ahnung bestätigte sich.
Die Männer Don Giacomos fuhren nicht nach Solunto, sondern nach Camporeale. Dort trennte man Volkmar von Loretta und führte ihn in den Keller hinunter, in das Chefarztzimmer im OP-Trakt. Dr. Soriano saß auf dem Ledersofa und erhob sich, als Volkmar hereingebracht wurde.
Einen kurzen Augenblick sahen sie sich stumm an. Dann sagte Volkmar mit aller Verachtung, deren er fähig war:»Sie Mörder!«
«Sie Idiot!«antwortete Dr. Soriano.
«Das ist in diesem Fall ein Ehrentitel.«
«Meinen Sie?«Soriano hatte auf dem Tisch eine Flasche mit Rotwein stehen und schenkte ein. Dr. Volkmar schüttelte den Kopf, als Soriano ihm ein volles Glas reichte.»Was haben Sie sich bei diesem Blödsinn überhaupt gedacht? Ich weiß. Sie haben die Herzspender entdeckt. Sie sollten das nie erfahren, aber nun ist es passiert und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir werden den dämlichen jungen Arzt und auch Dr. Nardo für diese Nachlässigkeit zur Rechenschaft ziehen. Ich bitte Sie, Enrico, in Zukunft auf Dr. Nar-do zu verzichten und mit Dr. Zampieri als Oberarzt zusammenzuarbeiten.«
«Wieder zwei Tote?!«Dr. Volkmar starrte auf das Rotweinglas.»Sie waten im Blut und können noch blutroten Wein trinken?!«
«Alles ist Nervensache. Ich weiß bloß nicht, was sich Loretta und Sie dabei gedacht haben, über Rom ins Ausland zu flüchten. Gut, von Loretta kann ich das verstehen. Liebe macht blind, und von der Konstruktion unserer >Gesellschaft< hat sie keine Ahnung. Aber Sie, Enrico, Sie hätten wissen müssen, daß es keine Flucht gibt! Wo auf dieser Erde könnte ich Sie nicht erreichen? Wissen Sie darauf eine Antwort? Gewiß — Sie wollten mich vernichten. Welche Dummheit! Wer bin ich denn?! In Ihren Augen der allmächtige Don Eugenio, aber innerhalb der >Gesellschaft< nur der Statthalter von Sizilien. Ein Capo unter Capi, verantwortlich für die italienischen Transaktionen. Auch ich muß mich ducken unter dem Capo di Tutti Capi — und der sitzt in New York!«Dr. Soriano trank einen Schluck Wein.
Seine Kehle brannte — nicht vom vielen Sprechen, sondern von der beklemmenden Erkenntnis: Zuerst kommt die Organisation, dann das eigene Leben. Wer das nicht begriff — im Bett würde der nicht sterben.»Enrico, was haben Sie mir angetan!«
«Wie viele Menschen haben Sie auf dem Gewissen?«schrie Volkmar.»Ach was, Gewissen! Sie haben ja keins!«
«Sie haben wirklich keine Ahnung, was Sie getan haben. «Dr. Soriano ließ sich auf die Couch zurückfallen und stützte den Kopf in beide Hände. Plötzlich sah er sehr alt aus, verfallen, grauhäutig, mitleiderregend. Ein Greis in einem eleganten hellgrauen Flanellanzug.»Sie werden morgen operieren und Zeuge ein, wenn man das gesunde Herz herausnimmt.«
«Sie sind verrückt, Soriano!«sagte Volkmar entsetzt.»Mein Gott, Sie sind tatsächlich ein pathologischer Fall!«
«Das ist ein Befehl, Enrico.«
«So etwas können Sie nicht befehlen! Ich werde in dieser Mörderklinik nie mehr operieren!«
«Sie werden!«Soriano sah Volkmar aus wässerigen Augen an. Volkmar erschrak. Du lieber Himmel, er weint ja! Dr. Soriano hockt da auf der Couch und weint lautlos vor sich hin. So etwas gibt es doch nicht.»Enrico — «, Soriano schluchzte tatsächlich. -»Sie müssen operieren! Und Sie werden es.«
«Nein! Nie!«
«Morgen um neun Uhr vormittags ist alles bereit. Der Patient Lyo-nel McHartrog aus Edinburgh.«
«Ich bin in Ihrer Hand, Sie haben die Macht. Machen Sie Gebrauch davon! Lassen Sie mich umbringen!«
«Sie werden operieren, Enrico. «Dr. Soriano holte tief Luft. Und plötzlich sprang er auf und schrie:»Im anderen OP wird der Herzspender liegen — und neben ihm Loretta!«
«Loretta…«, stammelte Volkmar und fühlte, wie er in den Knien einknickte. Er mußte sich setzen, begann zu zittern.
«Wenn Sie sich weigern, wird Dr. Zampieri die Operation ausführen. Aber man wird Lorettas Herz dazu nehmen! Begreifen Sie das?! Lo-rettas Herz!«Soriano brüllte es durch den Raum und hieb bei jedem Wort mit den Fäusten auf die Schreibtischplatte.»Lorettas Herz!«
«Sie Satan aller Satane — «, stammelte Volkmar.»Dazu wären Sie fähig?«
«Ich? Wer spricht von mir?«Sorianos Kopf fiel auf die Tischplatte. Er kniete vor Volkmar und weinte laut wie ein Kind.»Warum habt ihr das getan? Willst du morgen um neun Uhr zusehen, wie man Loretta. «Er schlug mit der Stirn auf den Tisch, immer und immer wieder, bis die Haut aufplatzte und Blut über sein Gesicht rann.»Sie haben es befohlen!«heulte er dabei.»Mein Kind, mein Engel, meine Loretta. Enrico, du mußt operieren. Ich flehe dich an. Vor unseren Augen werden sie Loretta das Herz aus der Brust reißen! Eure Flucht war mein Fehler, und Fehler sind bei uns Todesurteile. Enrico, es gibt keine andere Entscheidung mehr.«
Dr. Soriano beruhigte sich nur langsam, er drückte eine Lage Zellstoff auf seine aufgeplatzte Stirnhaut und stierte vor sich hin. Volkmar hatte nacheinander über den Fernsehschirm alle Stationen der Klinik abgerufen. Es lief alles so normal, als habe sich in den letzten Stunden nicht alles verändert. In den Krankenzimmern lagen die reichen Männer mit den neuen Herzen; die einen noch in Intensivbehandlung, die anderen bereits von allen Infusionen und Meßinstrumenten abgesetzt. Die Ärzte, die nicht Dienst in den Kon-trollvorräumen der Intensivpatienten hatten, saßen im Kasino um einen großen ovalen Tisch. Dr. Luciano Zampieri stand vor seinem Stuhl und hielt einen Vortrag.
Soriano nickte.
«Jetzt erklärt er die neue Lage.«
Dr. Volkmar sprang auf und starrte auf den Bildschirm. Seine Augen waren zusammengekniffen.»Ich gehe sofort hinüber und mische mit! Ich will hören, was er zu sagen hat! Und ich werde den Kollegen eine andere Wahrheit erzählen!«
Soriano winkte müde ab. Daß ein Mann wie er plötzlich resignierte und wie vergreist in der Ecke eines Sofas hockte, dokumentierte die trostlose Lage mehr als alle Worte.
«Spar dir das, Enrico!«sagte er. Er fiel wieder in das vertraute Du.»Was hat das noch für einen Sinn? Was erreichst du damit? Nichts! Dr. Zampieri wird dich auslachen und zu den anderen Ärzten sagen: >Da hört und seht ihr es! Der große Held, der nicht merkt, wie man ihn beschissen hat!< Und die lieben Kollegen werden mitlachen. Sie müssen es, keiner wird auf deiner Seite stehen. Disziplin und Gehorsam sind bei uns die Grundregeln — wer sie mißachtet, kann sich gleich in den nächsten Sarg legen. So ist das, Enrico. Du wirst das vielleicht nie begreifen.«
«Kaum! Gelesen habe ich viel darüber. Aber ich habe nur immer geglaubt, den Autoren sei die Phantasie durchgegangen.«
«Soviel Phantasie wie die Wirklichkeit kann kein Dichter haben. Erinnere dich an meine Worte: Es gibt bei uns nichts, was nicht möglich wäre.«
Dr. Volkmar blickte wieder auf den redenden Dr. Zampieri.»Wo kommt der Bursche eigentlich her?!«
«Er war chirurgischer Oberarzt in Messina.«
«Und plötzlich ist er hier?«
«Wir arbeiten schnell. «Das klang gallebitter.
«Und Dr. Nardo?«
Soriano tupfte wieder auf die Stirn.»Weg.«
«Tot?!«
«Ich weiß es nicht. Alle Verfügungsgewalt ist mir entzogen worden. Anordnungen trifft jetzt nur noch ein Gremium des Großen Rates. «Soriano zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm.»Da! Willst du mehr Beweise?!«
Dr. Zampieri schien erfahren zu haben, daß auch im Ärztekasino eine Fernsehkamera installiert war. Er blickte hinauf zu der Ecke, wo der Apparat hing, und somit, ohne es zu wissen, direkt auf Dr. Volkmar. Zampieri grinste unverschämt, er sagte etwas — aber da kein Mikrophon eingeschaltet war, erkannte man das nur an der Bewegung seiner Lippen. Die anderen Ärzte lachten, und dann zog Dr. Zampieri aus der Hosentasche einen kleinen Revolver und schoß, indem er mit der linken Hand noch einmal dem im Kasino ver-muteten Zuschauer zuwinkte, auf die Fernsehkamera.
Das Bild zerplatzte. Nur Dunkelheit und ein gleichförmiges Summen blieben zurück.
«Der neue Stil!«sagte Dr. Soriano dumpf.»Enrico, eure Flucht hat euch und mich vernichtet! Ist das jetzt klar?«
«Das wollen wir sehen!«Dr. Volkmar rannte zur Tür.»Vor Zam-pieris Revolver habe ich keine Angst. Er und euer Großer Rat brauchen mich! Das ist ein Trumpf, gegen den es keine Karte gibt!«
«Versuche es!«
Volkmar riß die Tür auf. Draußen im Flur standen vier elegant gekleidete schwarzhaarige Männer und rauchten. Zu den Maßanzügen paßten zwar Hemd, Krawatte und Schuhe, aber nicht die Maschinenpistole, die jeder über dem Rücken trug. Als Dr. Volkmar aus dem Zimmer stürzte, rutschten die Waffen durch eine schnelle Schulterdrehung sofort in die Hände. Die Zigaretten blieben in den Mundwinkeln hängen.
«Dottore«, sagte einer der Männer.»Die Luft in Ihrem schönen großen Zimmer ist bestimmt gesünder als hier draußen.«
«Ich muß zu meinen Patienten und zu den Ärzten!«schrie Volkmar.
«Wenn es nötig ist, wird Dr. Zampieri das befürworten.«
«Und wenn etwas mit den Patienten passiert, seid ihr schuld!«
«Es wird nichts passieren. Garantiert nicht! Bitte, Dottore, gehen Sie ins Zimmer zurück. «Die Stimme des Mannes wurde sogar weich.»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, im Gegenteil, ich muß Ihnen dankbar sein. Sie haben meine Mutter operiert. Im Altersheim, Dottore. Sie hatte einen riesengroßen Furunkel im Nacken. Erinnern Sie sich?«
Volkmar antwortete nicht. Er ging in das Zimmer zurück. Dr. Soriano zog die Schultern hoch.»Habe ich's dir nicht gesagt? Bei mir hattest du alle Freiheiten. Jetzt wird es nur noch Zwang geben.«
«Wenn sie Loretta etwas antun. «Volkmar ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen.»Nur einen Ritzer auf der Haut.«
«Nichts wirst du machen, gar nichts. Du kannst nichts machen!
Immer und immer wieder werden sie Loretta in den OP II rollen, vornarkotisiert. Und wenn du nicht operierst, wird Dr. Zampieri es tun, und Loretta. «Sein Kopf sank auf die Brust. Er war wieder nahe daran, aufzuheulen.
«Wo ist sie jetzt?«fragte Volkmar tonlos.
«Ich weiß es nicht. Giorgio und Jacobo haben sie fortgeführt. Diese Kreaturen! Neun Jahre lang habe ich die beiden ernährt — und jetzt tun sie so, als sei ich ein Fremder! Das ist die Wahrheit, Enrico! Der einzelne ist ein Nichts. - Nur die Organisation ist das Leben!«
«Weiß Zampieri, wo Loretta ist?«
«Möglich.«
Volkmar drückte die Knöpfe der Rundsprechanlage und wartete, bis alle roten Signallämpchen aufleuchteten.
«Dr. Zampieri!«sagte er mit harter Stimme.»Kommen Sie sofort zu mir! Auch wenn Sie meinen, Sie seien jetzt hier der große Zampano — ich sage Ihnen: Eine Null sind Sie! Ich traue Ihnen noch nicht einmal zu, einen Pickel auf einem Hintern zu behandeln!«
Er schaltete sich aus und lehnte sich zurück. Dr. Soriano zerknüllte den mit Blut getränkten Zellstoff und warf ihn neben das Ledersofa.
«Das hat gesessen!«meinte Volkmar ruhig.
«Du ahnungsloser Spinner!«antwortete Dr. Soriano. Es klang wie eine Kondolenz.
«Ich habe alle Zimmer eingeschaltet. Auch die Stationen, die Krankenzimmer und die reichen Anwärter auf ein neues Herz!«
«Du bist verrückt!«
«Nach diesem Rundspruch wird sich keiner mehr vor Zampieri auf den Tisch legen! Diese halbe Minute kostet die Mafia zig Millionen!«
«Zampieri wird dich tödlich hassen.«
«Das ist sein Privatvergnügen! Euch geht es um die Millionen Dollar, nicht um Zampieris Seelenzustand. Soll er doch hassen! Das klärt die Fronten! Schlagen wir noch mal zu!«
Soriano sprang auf, aber er kam zu spät.
«Enrico!«rief er.»Sei vernünftig! Denk an Loretta!«
«Nur an sie! Nur!«Volkmar hatte wieder alle Stationen angeschlossen.»An alle!«sagte er klar.»An alle noch wartenden und bereits operierten Patienten: Ich, Dr. Monteleone, werde nicht mehr operieren. Ich sehe mich außerstande, Ihre Behandlung fortzusetzen. An meiner Stelle wird Sie ab sofort der Nichtskönner Dr. Luciano Zampieri betreuen. Mein Beileid, meine Herren!«
Dr. Soriano lehnte sich stöhnend an die Wand.»Das ist dein Ende, Enrico! Und Loretta hast du auch geopfert. Wenn ich eine Pistole bei mir hätte, würde ich jetzt dich und mich erschießen!«
Auf dem Flur entstand Lärm, man hörte einen lauten Wortwechsel. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Dr. Zampieri stürzte ins Zimmer. Für einen Süditaliener war er ziemlich groß. Er trug die Haare kurz im sogenannten Militärschnitt. Sein breites Gesicht war gerötet. Die dunklen Augen sprühten vor kaum beherrschbarer Wut. Dr. Volkmar winkte ihm wie einem alten Bekannten zu.
«Los! Keine Hemmungen!«rief er, bevor Zampieri sprechen konnte.»Eine Kugel für Don Eugenio, eine für mich! Wir warten darauf. Wir gut Sie treffen können, haben Sie ja bewiesen. So eine harmlose Fernsehkamera! Hier haben Sie jetzt eine echte Aufgabe! Los, ziehen Sie Ihren Revolver, Sie Saukerl!«
«Das war Ihr letzter Streich!«Zampieri trat hinter sich die Tür zu und blieb schwer atmend stehen.»Ich habe in der Zentrale den Rundspruch totlegen lassen!«
«Von tot verstehen Sie allerhand, wie mir scheint.«
«Sie provozieren mich nicht! Sie nicht!«
«Ich weiß. Ihnen sind die Hände gebunden. Die Mafia braucht mich doch. Das ist das Schönste an der ganzen Sache. Hier kämpft ein Floh gegen einen Elefanten: Ich kann Sie beleidigen, Ihnen gegen das Schienbein treten, Sie ohrfeigen, in den Arsch treten, ich kann alles mit Ihnen anstellen, und Sie dürfen sich nicht wehren, Sie müssen es ertragen. Denn die Mafia braucht mich! Das habe ich in diesen Monaten gelernt.«
«Don Eugenio, haben Sie noch keine Gelegenheit gehabt, diesem deutschen Superhelden zu erklären, welch ein Idiot er ist?«
«Er begreift es nicht!«sagte Dr. Soriano heiser vor Erregung.
«Dann werde ich es ihm sagen, und zwar so, daß er es versteht. «Dr. Zampieri steckte die Hände in die Taschen des Arztmantels und lehnte sich neben der Tür an die Wand.»Sie glauben, mit Ihrem Rundspruch die Patienten verscheucht und verängstigt zu haben?! Mag sein. Sie können, sollten sie es mit der Angst bekommen, abreisen. Es werden neue eintreffen, die von der Ära Volkmar keine Ahnung haben. Und sie werden ihr neues Herz kriegen — nach der Methode Volkmar!«
«Wie denn? Wer will das machen?«
«Ich!«
«Sie?«Volkmar blickte Dr. Zampieri an, als habe ein Schulkind gebeten, eine Magenresektion ausführen zu dürfen.»Überschätzen Sie nicht Ihre Möglichkeiten?«
«Überschätzen Sie nicht Ihre chirurgischen Fähigkeiten? Ich habe mich bisher nur oberflächlich informieren können, aber schon jetzt sinke ich keineswegs voller Ehrfurcht in die Knie vor Ihnen! Ich werde mir nachher Ihre Operationsberichte durchlesen und die hier gedrehten Filme von den Transplantationen ansehen. Wenn es dann noch nötig sein sollte, werde ich im Vivisektions-Keller eine Herztransplantation an einem Kalb vornehmen, jeden Handgriff synchron nach einem Operationsfilm von Ihnen. Und morgen früh um neun wird Mr. Lyonel McHartrog sein neues Herz bekommen — von mir!«
«Es wird ihn sehr beruhigen, daß er die Operation nicht überleben wird.«
«Ich bin ein guter Techniker, das wissen Sie noch nicht.«
«Sie sind ein aufgeblasener Widerling! Ein Mörder im weißen Kittel!«
Dr. Zampieris Gesicht begann wieder zu glühen, aber er mußte die Beschimpfung ertragen. Das hatte Volkmar richtig erkannt. Doch er konnte anders zurückschlagen, vernichtender als sein Gegner.
«Der Herzspender wird Signorina Loretta sein«, sagte er.
«Das glaube ich Ihnen nicht!«antwortete Volkmar. Seine Nasenflügel blähten sich. Während, hinter ihm, Soriano wieder aufstöhnte, wunderte er sich, wie ruhig, wie kalt er jetzt sein konnte. Ich pokere, dachte er. Ich pokere mit dem liebsten, was ich habe: mit Loretta. Das ist ungeheuerlich. Aber was bleibt mir anderes übrig, um sie zu retten? Ich muß sie ins Spiel setzen, um dieses tödliche Spiel zu gewinnen. Ein Mann und eine Frau allein gegen die Mafia — man kann es keinem übelnehmen, wenn er mich für verrückt hält.
«Ich beweise es Ihnen morgen um neun! Da liegt Ihre Braut nebenan auf dem Tisch.«
«Bitte!«
«Was?!« Dr. Zampieri starrte Volkmar an, dann glitt sein Blick hilflos zu Soriano. Der saß auf dem Sofa und hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Ein gebrochener Vater.»Was haben Sie da gesagt?«
«Legen Sie Loretta auf den Tisch! Das habe ich gesagt.«
«Ich lasse ihr Herz rausnehmen!«schrie Zampieri.
«Ich weiß. Sie haben es ja deutlich genug zu verstehen gegeben. Und ich werde dabeistehen und zusehen. So ist es doch geplant, nicht wahr? Nur eins wissen Sie noch nicht, Zampieri: Diese Drohung zieht nicht mehr! Ich bin zu einem Entschluß gekommen. Da es sinnlos ist, unter diesen Umständen zu leben, ist für Loretta und mich der Ausweg des Sterbens der einzige und der beste. Sie werden Loretta töten. Ich werde dafür sorgen, daß man auch mich liquidiert. Was bleibt übrig? Die Mafia muß die Klinik aufgeben, das große Geschäft mit den lebenden Herzen ist vorbei, bevor es noch richtig begonnen hat. Aufgrund der Erfolge, mit denen Ihre >Wer-ber< die Patienten herbeilocken, werden Ihre Anwartzimmer voll sein können. Aber keiner ist mehr da, der die Transplantationen ausführen kann! Das stille Millionengeschäft ist geplatzt. Pro Herz zwei Millionen Dollar? Welch eine fast mühelose Einnahmequelle! Millionen Dollar ohne nennenswerte Unkosten! Vorbei!«Dr. Volkmar lehnte sich in seinem Sessel zurück. Jetzt habe ich, in Gedanken, Loretta getötet, dachte er. Verzeih mir, Liebling. aber vielleicht rettet es dich.»Glauben Sie, Zampieri, das überleben Sie?«
«Der Gedanke kommt nicht von mir!«schrie Dr. Zampieri.»Den Einfall hatte schon Pietro Nardo!«
«Und wo ist Nardo jetzt? Armer Kerl! Ein Verbrecher, ein Mörder, gewiß. Aber ein guter Chirurg, ein intelligenter Arzt und Forscher, der ein anderes Leben — und Sterben verdient hätte! Im Gegensatz zu Ihnen! Sie sind ein eitler Affe!«
«Sie kennen mich doch gar nicht!«knirschte Zampieri in ohnmächtiger Wut.
«Warum auch? Ein Affe!«
«Morgen früh um neun reden Sie anders!«sagte Zampieri schwer atmend.»Ich schwöre es Ihnen: Ich werde ab sofort Ihre Methode üben, die ganze Nacht durch, um Ihnen zu beweisen.«
«Sie gottbegnadetes Genie!«Dr. Volkmar lachte.»In einer Nacht erlernen Sie das, wozu ich zehn Jahre brauchte?«
Dr. Zampieri sah ein, daß es sinnlos war, sich noch weiter anzukeifen. Er riß die Tür auf und verließ das Zimmer, mit einem Tritt schlug er sie wieder zu. Dr. Volkmars Anspannung löste sich in einem fast hysterischen Lachen.»Der hat das Zeug zu einem Ordinarius alter Prägung!«
Dr. Soriano sah Volkmar aus trüben Augen an.»Du weißt, was du eben getan hast?«fragte er.»Jetzt ist Loretta wirklich tot. O Madonna, warum habe ich nicht die Kraft, dich zu erwürgen oder dich mit irgend etwas zu erschlagen?! Du hast noch immer nicht begriffen, mit wem du zu tun hast!«
«Auch die Mafia ist schlagbar!«
«So kann nur ein Narr reden. «Dr. Soriano schloß die Augen. Während er weitersprach, war es, als lese er lange Listen ab.»Aber wer weiß schon, wer wir sind? Wir sind die größte und reichste Firma der Erde, aber keine Statistik nennt uns. Die umsatzstärksten Unternehmen auf der ganzen Welt sind harmlose Hüpfer gegen uns. Du glaubst es nicht? Wer ist nach der Statistik auf dem ersten Platz? Der amerikanische Ölkonzern Exxon. Mit einem Umsatz von 51,5 Milliarden Dollar und einem Gewinn von 2,6 Milliarden. Wir lachen darüber. Die Mafia hat einen — auch von uns nur geschätzten — Umsatz von 48 Milliarden Dollar. Aber da wir keine Steuern dafür zahlen, erwirtschaften wir nach Abzug aller Unkosten einen Reingewinn von etwa 25 Milliarden Dollar! Wer hat das sonst noch auf der Welt? Hinzu kommen über 10.000 legale Unternehmen, unsere Aushängeschilder, die offiziell 12 Milliarden Dollar einbringen. Wir sind überall vertreten: Im Immobiliengeschäft wie in der Bauindustrie, wir handeln mit Windeln und verkaufen über Bestattungsinstitute ehrwürdige Beerdigungen. Wir haben Hotels, Bars, Restaurants, Großwäschereien und Spirituosengeschäfte. Wir lassen Trucks laufen und sorgen mit Speditionen für reibungslose Umzüge und den Güterverkehr. Wir haben Konserven- und Fleischverpak-kungsfabriken. Aber da sind noch die anderen, viel größeren Einnahmen: aus dem illegalen Glücksspiel und der Prostitution. Wir verleihen Geld zu Superzinsen und bewachen Geschäfte und Lokale. Wir lassen in den Boxringen die starken Jungs aufeinander einschlagen und verteilen über eine phantastische Organisation Rauschgift aller Provenienzen. Wir verkaufen billige Zigaretten und geschmuggelten Kaffee. Und neben dem Heer der Huren hat ein neues Geschäft blendend eingeschlagen: die Pornographie! Im letzten Jahr haben wir den Umsatz verdoppelt auf 1,5 Milliarden Dollar! In eigenen Filmateliers drehen wir Filme, bei denen selbst ein Mediziner wie du noch unruhig wird!«Und plötzlich schrie Soriano wieder:»Und dagegen willst du armselige Laus anstinken?! Was sind die 60 oder 70 Millionen Dollar, die uns deine Herzen einbringen könnten gegen diese Milliarden?! Den Daumen runter, das Geschäft ist gestorben! Das ist die Reaktion des Capo di Tutti Capi! Was wir ihm an Verdienst liefern, das holt er mit seinen Hurenscharen viel müheloser herein! Aber der Herr Doktor dünkt sich stark! Will die Mafia vernichten! Will sie zu etwas zwingen! Du Idiot! Idiot! Idiot! Siehst du jetzt, daß du Loretta getötet hast?!«
«Und wenn ich weiter operiere. Was wäre damit gewonnen?«
«Wir leben!«
«Ein Leben auf Zeit! Wir wären Gefangene der Mafia, müßten jederzeit damit rechnen, daß dieser Capo di Tutti Capi in einer Laune sagt: Jetzt macht den Laden dicht!«
«Nein. «Soriano atmete tief auf.»Wenn du morgen bei Mr. McHar-trog das Herz transplantierst, wird alles so sein, als sei dieser heutige Tag nie gewesen. Im Gegenteil; es wird alles viel besser werden. Wir können nach Solunto zurück, du kannst dich frei bewegen, du wirst Loretta heiraten, und halb Palermo wird eingeladen sein. Ich baue euch eure eigene Villa am Meer, du kannst in der ganzen Welt herumreisen — wenn du Zeit dazu findest. Du hast deine Yacht, du wirst ein reicher, von der Umwelt beneideter Mann sein mit einer wunderschönen Frau. Es wird ein Leben der Superlative werden. «Soriano faltete die Hände, wie er es gerne tat, wenn er etwas besonders Eindrucksvolles zu sagen glaubte.»Es wird keine Angst und keinen Zwang mehr geben, weil die Mafia sich um dich keine Sorgen mehr zu machen braucht. Mit der Herztransplantation morgen früh um neun wirst du wissen, daß nebenan ein gesunder junger Mann als Herzspender getötet wird. Du wirst sein zuckendes Herz nehmen und in einen anderen Körper einpflanzen. Damit bist du Mitwisser und Mitschuldiger geworden! Mitmörder! Gibt es denn etwas Zuverlässigeres für die >Organisation< als dich?!«
«Das stimmt«, sagte Volkmar leise.»Dann gibt es kein Zurück mehr. Es sei denn die Selbstvernichtung.«
«Und die bedeutet auch die Vernichtung von Loretta. Und wenn ihr Kinder haben solltet, Enrico, auch der Kinder.«
«Es ist die Hölle!«sagte Volkmar, kaum noch hörbar.»Die vollendete Hölle.«
«Was willst du tun?«fragte Dr. Soriano.
«Ich muß mit Loretta sprechen. Nur ein paar Minuten, die genügen.«
«Man wird es nicht erlauben. Und warum sprechen? Operieren mußt du!«
«Das ist unmöglich.«
«Vergiß, woher die Herzen kommen!«
«Wie kann ich das?«schrie Volkmar und drückte die Fäuste ge-gen die Ohren.»Ich stehe doch daneben, nur durch eine Glasscheibe getrennt. Ich sehe doch jetzt, wie man einen Menschen ermordet, um an sein Herz zu kommen! Und ich nehme es in Empfang! Wie kann man sagen: Du weißt nichts! Du siehst nichts! Du bekommst nur ein Herz und nähst es ein. Woher es kommt — kümmere dich nicht darum! — Das hält doch keiner aus! Auf einen Wink von mir reißt man einem Gesunden das Herz aus der Brust! Wie kann man das ertragen?! Jede Operation ist Mord!«
«Wir drehen uns im Kreis, Enrico. Tust du es nicht, tötest du mit deiner Weigerung Loretta. Kannst du das?«
«Ich muß mit ihr sprechen — «, sagte Volkmar dumpf.»Ich muß unbedingt mit ihr sprechen.«
«Morgen, nach der Operation, kannst du mit ihr ohne Bewachung nach Hause fahren. Du bist ein freier Mann!«
«Ein Killer im Operationskittel!«
«Nein! Ein gottbegnadeter Chirurg, der Leben rettet! Die Herzspender tötest nicht du! Du nimmst nur das Herz in Empfang. Du hast nie einen Menschen umgebracht, du hast immer nur Todkranken geholfen!«
«Aber ich weiß es, und ich sehe es! Und ich tue es, damit die Mafia zwei Millionen Dollar daran verdient!«
«Du tust es für Lorettas Leben, Enrico. Das allein mußt du dir immer vorhalten. Ich rette Loretta. ich rette Loretta. ohne mich ist sie tot! Damit mußt du jetzt leben!«
«Und Sie allein trifft alle Schuld, Don Eugenio. Der Gedanke der Herzklinik stammt ganz allein von Ihnen.«
«Ja, so ist es«, sagte Soriano leise.»Du siehst, Enrico, man kann sich selbst eine Schlinge um den Hals legen, ohne es zu merken. Ich habe, um ehrlich zu sein, nicht mit einem so sturen Charakter gerechnet, wie du es bist. Früher oder später hätte jeder andere resigniert und sein Schicksal so hingenommen, wie es geplant war. Und er hätte sich daran gewöhnt, weil er ein glanzvolles Leben leben darf. Nur du, du verdammter Moralist, wirst von Tag zu Tag stärker!«Dr. Soriano hob beide Hände und ließ sie wieder zurück an seinen Körper fallen.»Ich habe nichts mehr zu sagen. Alles, was man mit Worten erklären kann, habe ich getan. Im Augenblick sind wir die Armseligsten unter der Sonne. Wir könnten die Glücklichsten sein.«
«Ich kann es nicht!«sagte Dr. Volkmar. Er vergrub den Kopf in beide Hände und dachte an den Ablauf der kommenden Operationen.»Auch wenn ich es wollte — ich kann es nicht. Meine Finger wären zu keinem Schnitt, zu keiner Naht mehr fähig.«