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Um halb neun Uhr morgens holten zwei wortkarge Männer in weißen Pflegermäntel Dr. Volkmar ab.
Eine fürchterliche Nacht lag hinter ihm. Das Chefzimmer war zu einem feudalen Gefängnis geworden. Vor der Tür wechselten die Wachen ab, sie grinsten Volkmar freundlich an, wenn er die Tür öffnete, aber sie schüttelten stumm die Köpfe, wenn er nur einen Schritt aus dem Zimmer trat. Nach dreimaligem Versuch gab es Volkmar auf und zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück.
Das Fernsehbild blieb dunkel, das Telefon war abgestellt, die Sprechanlage verstummt. Dr. Zampieri hatte alles stillgelegt, was Dr. Volkmar in einen Kontakt mit der Außenwelt hätte bringen können.
Das Abendessen servierte ein Pfleger, der auf Fragen keine Antwort gab. Dafür war das Essen exzellent: Eine Minestrone mit geriebenem Parmesan, ein großer bunter Salatteller, dazu ein Kalbssteak, innen noch rot, lustig gedrehte Nudeln und eine Pfeffersoße. Zum Dessert ein Eisparfait, mit grünen Feigen garniert. Ein Luxushotel wäre stolz auf dieses Dinner gewesen.
Dr. Soriano und Volkmar aßen nur wenig. Aber die Zweiliterflasche mit tief rotem Wein leerten sie und saßen danach mit deutlichen Anzeichen der Trunkenheit nebeneinander auf dem Ledersofa. Der stumme Pfleger räumte wieder ab und rollte einen Bartisch herein. Kognak, Whisky, Wodka, Aperitifs, Gin, Orangensaft, Mineralwasser, ein Eiskübel mit Eisstückchen, Shaker, Gläser, Rührlöffel. Es fehlte nichts.
«Als wäre Worthlow nebenan und führte Regie«, sagte Soriano mit schwerer Zunge.»Immerhin: Wir können uns bis morgen um neun sinnlos besaufen. Dann kannst du nicht operieren, siehst nicht, wie man Loretta tötet und merkst auch nicht, wie man dich umbringt. Unsere Freunde sind humaner, als ich an ihrer Stelle gewesen wäre!«
«Worthlow!«Volkmar rüttelte den trunkenen Soriano an der Schulter.»Das ist eine Idee! Worthlow wird das alles nicht einfach hinnehmen! Vor allem nicht Lorettas Verschwinden!«
«Worthlow kann gar nichts tun! Man macht einen Finger krumm, und es gibt keinen Worthlow mehr. Wo sollte er Alarm schlagen? Bei Staatsanwalt Dr. Brocca? Per Telefon in Rom? Was soll er sagen: Dr. Soriano, seine Tochter Loretta und ihr Bräutigam Dr. Monteleone sind nicht zum Dinner nach Hause gekommen?! Na und? Werden sie eben in Palermo oder in Trapani essen. Und wird er deutlicher, hängt man ein. Irgendeiner gibt dann einen Wink — und pfiff. Nicht nur in Amerika benutzt man Schalldämpfer. Das weiß Worthlow ganz genau.«
In der unendlich langen, für Volkmar mit quälenden Gedanken ausgefüllten Nacht lag Soriano auf dem Sofa und schlief. Er hatte noch fünf Kognaks getrunken, sich damit regelrecht betäubt, und war schließlich umgefallen. Volkmar hob Eugenios Beine auf das Sofa, öffnete ihm den Hemdkragen, zog die Krawatte herunter und ging dann im Zimmer auf und ab.
Gegen drei Uhr morgens bekam er Besuch. Dr. Zampieri erschien in einer langen Gummischürze, blutbesudelt, die OP-Kappe noch auf dem Kopf. Sein Gesicht drückte seinen Triumph aus.
«Das Kalb hat sein neues Herz, und es schlägt! Es ist mir nicht unter den Händen krepiert, wie Sie erwartet haben. Ich habe Handgriff auf Handgriff nach Ihrem Film gemacht. Meine Anerkennung! Und Ihre Herzaufhängung in den die Gefäße verbindenden Teflonprothesen. Genial! Es ist ein Jammer, daß ein so bedeutender Chirurg auch ein so großes Rindvieh ist! Das mußte ich Ihnen noch diese Nacht sagen!«
«Warten Sie ab, ob das Kalb übermorgen auch noch lebt!«sagte
Volkmar abweisend.»Es kommt auf die Nähte an.«
«Weiß ich doch! Ihren Lehrfilm über die Gefäßnähte, diese fabelhaften Großaufnahmen, habe ich mir fünfmal vorspielen lassen. Ich glaube, mir ist's gelungen!«
«Gratuliere. Dann können Sie morgen — nein heute — operieren.«
«Nur ein Herz. das des Spenders. «Dr. Zampieri nahm seine OP-Kappe ab. Er schwitzte noch.»Die Transplantation machen Sie! Und wer der Herzspender sein wird, bestimmen auch Sie. Ein Bäckergeselle aus Salerno — Pietro Foco heißt der Junge — oder Loretta Soriano. Jetzt springen Sie mich nicht wieder an, Dottore! Ich kann doch nichts ändern. Ich habe doch auch nur meine Befehle! Glauben Sie, ich hätte mich zu dieser Aufgabe gedrängt? Ich hatte ein zufriedenes, gutes Leben als Oberarzt in Messina. Und plötzlich, gestern gegen Mittag, ruft man bei mir an und sagt: >Mein lieber Luciano, wir haben deine liebe Frau und deinen Jungen in der Stadt getroffen. Sehen so blaß aus. Was ist los mit ihnen? Man muß ihnen helfen, haben wir gedacht, und haben sie gleich in Urlaub geschickt. Sie werden sich fabelhaft erholen! Über die Pensionskosten reden Sie am besten gleich mit…< Und dann kam ein Name, der mich weich in den Knien werden ließ. Ich bin zuerst in die Kirche San Michele und habe gebetet und eine Riesenkerze gestiftet und dann hin zu Don. Na, der Name ist Ihnen gleichgültig. Und da bekam ich den Auftrag. Das ist alles! Ich liebe meine Frau und vor allem meinen Sohn Franco. So, wie Sie Loretta lieben, und noch mehr, denn ich habe ja auch ein Kind! Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie operieren — oder einer von uns, samt Frau, wird sterben. Ich will das nicht sein! Dr. Volkmar, Heldentum ist doch eine einzige Scheiße, wenn man die Chance hat, sich zu drücken. Überlegen Sie das mal!«
Dr. Zampieri holte ein Taschentuch aus seiner OP-Hose und schneuzte sich laut. Soriano erwachte davon nicht, sein Alkoholrausch war zu tief. Zampieri nickte zu dem Schlafenden hinüber.
«Auch er wird mich hassen! Und dabei bin ich selbst ein Opfer.«
«Wo ist Loretta?«fragte Dr. Volkmar.
«Ich weiß es nicht. Ehrlich… auch wenn Sie mich anblicken wie ein Amokläufer. Ich weiß es wirklich nicht. Drei sehr gepflegte Herren haben sie in Empfang genommen und werden sie mir gegen acht Uhr heute morgen bringen, damit ich sie zur Operation vorbereite.«
«Das werden Sie nicht tun, Zampieri!«rief Volkmar.
«Ich will meine Frau und meinen kleinen Franco wiedersehen. Deshalb bin ich jetzt auch zu Ihnen gekommen, weg vom Kalb mit dem neuen Herzen. Dottore, glauben Sie, mir macht es Spaß, Ihrer Loretta die schöne Brust aufzuschneiden? Aber bleibt mir eine Wahl? Sie können sich als normaler Mensch kein Bild machen, wie man in der >Organisation< denkt und fühlt!«
«Ich habe es jetzt begriffen, Zampieri.«
«Und bleiben trotzdem dabei, ein Held sein zu wollen, der sich und seine schöne Braut opfert, um reinen Gewissens durch die Pforten des Paradieses zu schreiten? Das ist doch Wahnsinn, Dr. Volkmar! Man zwingt mich, man zwingt Sie, und da gibt es keine Diskussionen mehr! Was wir tun müssen, ist für uns nur Notwehr, und die wird uns auch Gott einmal verzeihen. Das sage ich mir immer vor. So, und jetzt übe ich noch eine Stunde Gefäßnaht, um fit zu sein für den Fall, daß Sie wirklich zum Selbstmörder werden wollen.«
Er winkte Dr. Volkmar mit der OP-Kappe zu und verließ das Zimmer. Vor der Tür saßen in drei Korbsesseln die Wächter, die Maschinenpistole zwischen den Beinen.
Zampieri betrachtete sie, neigte den Kopf etwas zur Seite, und schwenkte seine blutbespritzte Gummischürze.»Ihr seht mir gut genährt und gesund aus«, sagte er ernst.»Ich werde beantragen, euch untersuchen zu dürfen. Vielleicht kann ich eure Herzen gebrauchen.«
Die drei Wächter bissen die Zähne aufeinander. Zufrieden fuhr Dr. Zampieri mit dem Speziallift wieder hinunter in die betonierte Unterwelt, in den Tierkeller, wo jetzt, in breiten Lederschlaufen, das Kalb mit dem neuen Herzen hing. Es war aus der Narkose erwacht, die elektronischen Meßinstrumente tickten. Die Kurven-schreiber zeigten an: Das verpflanzte Herz arbeitete.
Stolz betrachtete Zampieri das Kalb und strich ihm liebevoll über die warmen Nüstern. Im Hintergrund säuberten zwei Pfleger den großen Holztisch und den Kachelboden vom Blut. Der Wasserstrahl aus dem Schlauch zischte.
«Heute um neun«, sagte Zampieri leise zu dem Kalb.»Mein liebes Tierchen, mir ist sauelend zumute.«
Dr. Volkmar war doch noch eingeschlafen, neben dem schnarchenden Soriano in die Sofaecke gedrückt. Er wurde von dem Pfleger geweckt, der das Frühstück auf einem Servierwagen hereinrollte. Duftender starker Kaffee, frisches schneeweißes Brot, verschiedene Brötchen, Honig, Butter, Konfitüre, zwei Eier im Glas — aber die Bestecke aus Plastik. Als Waffe konnte man sie nicht benutzen.
Sie denken an alles, stellte Volkmar fest. Das ist nur ein winziges Beispiel der Perfektion, durch die eine Verbrecherorganisation wie die Mafia so mächtig und unangreifbar werden konnte. Hier wird das Verbrechen zur Wissenschaft. Wie armselig träge und phantasielos arbeiten da die Behörden. Es stimmt genau, was Dr. Soriano oft gesagt hat: Niemand hat eine Chance gegen uns. Wir haben die besseren Waffen. Und vor allem: Wir haben unsere Intelligenz!
Zehn Minuten vor neun stand Dr. Volkmar im Vorraum des OP-Traktes. Zwei Ärzte aus seinem früheren Team waren bei ihm, begabte Chirurgen, die ihn vom ersten Tag der Zusammenarbeit an bewundert hatten. Daß sie jetzt ihren Chef bewachen mußten, war ihnen nicht nur peinlich, sondern fast unerträglich. Sie vermieden es deshalb, mit Volkmar zu sprechen, und Volkmar unterließ es auch, sie zu fragen.
Der Abschied von Dr. Soriano war nahezu erschütternd gewesen. Don Eugenio hatte Volkmars Hände umklammert und wieder zu weinen begonnen:»Ich flehe dich an«, hatte er gestammelt.»Bei allem Leid der Madonna: Rette Loretta! Operiere! Tu ihnen diesen Gefallen!«Und dann hatte er plötzlich Volkmars Hände geküßt, so schnell, daß dieser keine Zeit mehr hatte, sie zurückzureißen.
Im Vorraum wartete, neben den Ärzten, auch ein dicker, vor Auf-regung schwitzender Mann auf Dr. Volkmar. Er trug einen eleganten hellgrauen Maßanzug und auf dem runden, dicken Kopf einen gelben Panamahut. Das Doppelkinn verdeckte den Hemdkragen. Dr. Volkmar sah den Mann fragend an. Den kenne ich, dachte er. Aber woher? Wo ist er mir begegnet?
«Dottore, ich bin hier, um die ganze Angelegenheit als Zeuge mitzuerleben. Das ist für mich widerlich. Völlig ausgeschlossen, daß ich am Bildschirm zusehen kann, wie Sie mit Herzen hantieren! Darum möchte ich vorher mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Giacomo Pieve. Aus Catania.«
«Ach! Natürlich, ich erinnere mich. «Volkmars Gedanken eilten zurück: Die Sitzung des Großen Rates im Haus Sorianos! Seine Vorstellung vor den Spitzen der sizilianischen Mafia. Das war damals die offizielle Gründung der Herzklinik, bei der dieser schreckliche Gedanke einer lebenden Herzbank geboren wurde.»Don Giacomo — wo ist Loretta?«
«Sie liegt bereits narkotisiert im OP II!«
Dr. Volkmar atmete tief auf.»Sie Saukerl!«sagte er dumpf.»Ich bringe Sie um!«Er schnellte vor, so blitzartig, daß den beiden jungen Ärzten keine Zeit blieb, ihn zurückzureißen. Mit seinem ganzen Gewicht preßte Volkmar den dicken Don Giacomo gegen die Wand und umklammerte den fetten Hals. Giacomo Pieve starrte ihn entgeistert an.
«Was. was soll das?«keuchte er.
«Zurück!«schrie Volkmar, als die beiden Ärzte ihn an den Schultern zerrten.»Oder ich drücke zu! Ich habe die Daumen auf dem Kehlkopfknorpel. Es geht blitzschnell.«
Die Ärzte traten einen Schritt zurück. Don Giacomo leckte sich über die dicken Lippen.»Das ist doch alles sinnlos, Dottore!«sagte er mühsam.»Loretta liegt bereits auf dem Tisch! Wenn Sie mich umbringen, statt zu operieren, nimmt alles seinen Lauf, wie es angeordnet wurde. Ob Sie dann noch leben oder ich — das spielt doch keine Rolle mehr!«
Dr. Volkmar ließ Don Giacomos Hals los und trat zurück. Sie haben alle recht, dachte er. Sein Herz schlug wie ein Eisenhammer. Es gibt kein Entrinnen mehr. Entweder Selbstopfer oder Handlanger einer Mord-Company. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
«Ich möchte das sehen!«sagte Volkmar.»Ich glaube das alles noch nicht!«
Er riß die Tür auf und betrat den Vorraum des OPs.
Es war wie immer. Man erwartete den Chef, ein Pfleger half ihm, die grüne OP-Kleidung anzuziehen, man hatte bereits das heiße Wasser aufgedreht und die Sterillösung zum Eintauchen der Hände nahe ans Becken geschoben. Daneben stand auf einem Rolltisch der Chrombehälter mit den sterilen Gummihandschuhen. Von der Decke strahlten die neuen Entkeimungsgeräte und töteten die letzten Bakterien ab.
Volkmar trat an die breite Glasscheibe und blickte in den OP.
Dr. Zampieri hatte bereits begonnen, den Thorax von Mr. Lyo-nel McHartrog zu öffnen. Das Team, von Volkmar bestens geschult, arbeitete schnell, lautlos, präzise. Zampieri, als Chef am Tisch, brauchte kaum etwas zu tun; er wurde von den anderen Ärzten zum Klemmenhalter degradiert. Die Schläuche zur Herz-Lungen-Maschine lagen bereit. Im Oszillographen zuckten die elektronischen Kurven. Ein müdes Herz. McHartrog hatte schon drei Infarkte hinter sich, ein großer Teil der Kranzgefäße war bereits tot und degeneriert. Wenn er nur in ein Auto stieg, keuchte er vor Anstrengung.
Im OP II waren zwei Tische aufgebaut. Die Körper lagen abgedeckt unter den grünen Tüchern. Vier Ärzte standen hier noch untätig herum und kontrollierten lediglich die Anästhesie. Ihr Einsatz, der Mord mit dem Skalpell, erfolgte später, wenn Zampieri — oder Dr. Volkmar — das Kommando gab. Dann wurde das gesunde Herz herausgenommen und herübergetragen.
Das Herz des jungen, kräftigen Bäckergesellen Pietro Foco aus Salerno. Oder das Herz Lorettas. Hierbei spielte es keine Rolle mehr, welche Werte der Verträglichkeitstest ergeben hatte. Es ging nur noch um das Töten, um die Rache der Mafia an einem Versager.
Dr. Volkmar preßte die Stirn gegen die Glaswand.»Ich will sie sehen!«sagte er tonlos.»Bedecken kann man jeden Körper.«
Einer der Ärzte telefonierte mit dem OP II. Dort trat ein Chirurg an den Tisch II und hob das Tuch von dem Kopf der Narkotisierten ab.
Lorettas lange, schwarze Haare, um den Kopf gewickelt wie ein Turban. Ihr herrliches, schmales Gesicht, jetzt bleich und durchsichtig wie Porzellan. Die Lippen verschwanden unter der Gummimanschette des eingeführten Tubus.
Sie ist es wirklich, durchfuhr es Volkmar. Und man hat sie bereits intubiert. Es war kein Bluff. Sie liegt da, um mit aller chirurgischen Kunst getötet zu werden.
Er trat vom Fenster zurück und nickte. Ein Pfleger stülpte ihm die Kappe über, ein anderer band ihm den Mundschutz um. Über Volkmars vorgestreckte Hände zog man die Gummihandschuhe. Der Arzt, der mit dem OP II telefoniert hatte, trat in den Lichtstrahl des elektrischen Auges. Die automatische OP-Tür glitt lautlos zur Seite. Der Geruch von Blut und Desinfektion drang in den Vorraum.
Mit vorgestreckten Händen betrat Dr. Volkmar den Operationssaal und trat an den Tisch heran. Die Ärzte unterbrachen die Operation nicht, sie nickten ihm nur zu. Es war ein freundschaftliches Nicken.»Guten Morgen, Chef. «Dr. Zampieri machte den Platz, der dem Chef zustand, für Dr. Volkmar frei und stellte sich hinter den
1. Assistenten.
«Haben Sie den Krach gehört?«fragte er.
«Nein! Wo?«antwortete Dr. Volkmar.
«Neben Ihnen! Mir ist ein Gebirge vom Herzen gefallen!«
«Atmung wird flacher!«meldete der Anästhesist am Kopf von McHartrog.»Puls flattert.«
Das zeigte auch der Oszillograph. Die Linien wurden chaotisch. Dr. Volkmar blickte in den eröffneten Brustkorb und betrachtete das geschädigte, müde, seiner Aufgabe nicht mehr gewachsene Herz.
«Alles fertig für extrakorporalen Kreislauf?«
«Fertig, Chef. «Das war die Meldung von der Herz-LungenMaschine.
«Oxygenator?«
«Alles okay, Chef!«
«Ich schließe in der Subclavia an. Ist genug Spenderblut da? Ich brauche mehr als sonst. Die Blutwerte sind miserabel. «Volkmar blickte auf die Laborliste, die ihm ein Pfleger vor die Augen hielt. Er sah die Ergebnisse erst jetzt.»Ich will soviel wie möglich austauschen.«
«Genug Blut vorhanden, Chef.«
«Dann los!«
Der zweite Teil der Operation begann. Das Anschließen an die Herz-Lungen-Maschine. Dr. Volkmar hob noch einmal den Kopf.»Wieso ist eigentlich genug Blut da?«
«Aufgrund der Laborwerte, Chef. Dr. Zampieri hat es angeordnet.«
Volkmar wandte den Kopf. Zampieri stand hinter ihm. Er schien glücklich zu sein, nicht mehr operieren zu müssen.
«Sie?«
«Auch ein blindes Schwein findet ab und zu eine Eichel. «Zampieri grinste unter seinem Mundschutz.»Ich habe meine Dissertation über Hämathologie geschrieben. «Er sah hinüber in den OP
II. Dr. Volkmar folgte seinem Blick. Die vier Chirurgen standen zwischen den beiden Tischen. Rechts oder links? Pietro Foco oder Loretta Soriano? Zampieri seufzte laut.
«Denken Sie an gar nichts!«sagte er rauh.
«Können Sie das?«fragte Volkmar zurück.
«Jetzt ja! Wir bekommen ein Stück Muskel und pflanzen ihn ein. Alles andere ist uninteressant. Vor allem: Blicken Sie nicht durch die Scheibe. Sie brauchen ja nicht zuzusehen. Ich bin auch bereit, für Sie zu winken, Dr. Volkmar.«
«Dann haben Sie bessere Nerven als ich.«
«Ich habe eine Frau und einen kleinen Sohn!«
«Irgendwie haben Sie recht, Zampieri. Wir brauchen eine Entschuldigung, die uns vor dem Selbstzerfall rettet. Aber was nutzt das in Wirklichkeit! Heute operiere ich den Menschen, der ich bis heute war, mit weg, werfe ihn in den Eimer, wie dieses nutzlos ge-wordene Herz. Ich werde nach dieser Operation nie mehr Ich sein. «Er überblickte das Operationsfeld. Die Assistenten hatten die Herz-Lungen-Maschine soweit angeschlossen, daß man mit dem extrakorporalen Kreislauf beginnen konnte. Die dritte Phase der Operation wurde eingeleitet.»Gleich sind wir Mitmörder, Zampieri!«
«Nein! Mitopfer!«
«Ich habe Sie gestern sehr beleidigt«, sagte Dr. Volkmar heiser. Ein Pfleger tupfte ihm den Schweiß vom Gesicht.»Ich weiß gar nicht mehr, mit was ich Sie in der Erregung beschimpft habe. Ich wußte ja nichts von Ihrer Frau und dem kleinen Franco. Und Sie benahmen sich wie ein Gangster im amerikanischen Film!«
«Ich wurde beobachtet, Dr. Volkmar. «Zampieri lachte mit einem weinerlichen Unterton.»Eine Art Eignungsprüfung. Ich habe nur an meine Frau und das Kind gedacht. Sie waren mir völlig gleichgültig. Aber jetzt.«
Dr. Volkmar blickte über den Instrumententisch. Es lag alles bereit: die Klemmen, die scharfe Schere, die Teflonstücke, die Gefäßnahtmaschine, die normalen Nadelhalter, das Nahtmaterial. Der Sauger zischte leise. Der Brustraum wurde von den letzten Blutresten befreit. Ein völlig reines Operationsfeld, in dem das ebenso blutleere, tote Herz liegen würde. Ein Klumpen, den man einfach herausschneiden konnte. Von drüben kam ja das neue, das gesunde, das junge, kräftige Herz. Das Herz von Pietro Foco, Bäcker aus Salerno. Ein Junge, der davon geträumt hatte, auf Korsika, in der Bäk-kerei der Fremdenlegion, Brote und Kuchen für die Kameraden bak-ken zu können. Das hatte man ihm im Werbebüro von Neapel fest versprochen.
Volkmar drückte das Kinn an und schloß die Augen. Der extrakorporale Kreislauf war hergestellt, das alte Herz von McHartrog war blutleer, das müde Schlagen erstarb. Auf dem Oszillographen erschien eine gerade Linie. Ein Mensch war tot und lebte dennoch. Und in zwei Stunden würde wieder ein Herz in seiner Brust klopfen. Ein Herz von dreiundzwanzig Jahren. Ein guter, eingefahrener Motor.
«Winken Sie, Zampieri«, sagte Volkmar. Seine Stimme zerbrach.
Jetzt! Mein Gott. jetzt! Verzeih mir, Herr im Himmel! Konnte ich etwas anderes tun? Ich werde daran zerbrechen, aber Loretta wird weiterleben. Und auch Zampieris Frau und sein kleiner Sohn Franco. Mein Gott, nicht ich habe die Menschen gemacht, sondern du! Und du hast ihnen den Geist gegeben, damit sie sich über das Tier erheben und diese Welt beherrschen zu deiner Freude. Und was ist daraus geworden? Auch du, Herr im Himmel, bist ein Opfer der Menschen geworden. Deine eigene Schöpfung zerstört dich.
Er stützte sich auf den OP-Tisch und wartete. Hinter sich hörte er Dr. Zampieri schnaufen.
Er hat gewinkt, dachte Volkmar. Drüben schneiden sie jetzt den Brustkorb auf. Klemmen die Venen und Arterien ab. Trennen mit schnellen Scherenschlägen das Herz von den Gefäßen. Legen es auf die Glasschale und rennen damit hinüber zu mir.
Der Bäckergeselle Pietro Foco ist getötet.
Ich kann es nicht, schrie es in Volkmar. Ich kann es nicht! Meine Finger sind wie gelähmt! Ich kann dieses Herz nicht anfassen, ich kann es nicht transplantieren. Meine Finger sind vereist, leblos, unbeweglich. Ich schreie auf, wenn ich das junge, kräftige Herz aus der Glasschale heben muß. Mein Gott, laß mich verrückt werden… das ist eine Entschuldigung.
Eine Hand im Gummihandschuh tastete zu Volkmar hinüber und stieß ihn leicht an. Der 1. Assistent. Eine stumme Bitte: Weitermachen, Chef!
Dr. Volkmar nickte. Er spreizte die Finger. Vom Instrumententisch her drückte der Pfleger ihm die erste Schere in die Hand.
Die Exzision des alten Herzens hatte begonnen.
Von da an arbeitete Volkmar wie in Hypnose. Seine Finger schnitten und nähten, transplantierten und explantierten: zehn mechanische Greifer, die jeden Handgriff ausführten, als sei er vorprogrammiert, und nun laufe das Lochband ab.
Das neue Herz wurde herangereicht, eingesetzt, mit den Teflonverbindungen im großen Gefäßsystem aufgehängt und vernäht. Im
Hintergrund klang das Schmatzen der Herz-Lungen-Maschine, die das Blut pumpte, reinigte, mit Sauerstoff anreicherte und mit Spenderblut weitgehend austauschte.
«Sie ist schon weg«, sagte Dr. Zampieri leise Dr. Volkmar ins Ohr. Und als er nicht reagierte, fügte er hinzu:»Loretta ist sofort hinausgerollt worden, als ich das Zeichen gab.«
«Halten Sie die Schnauze!«knirschte Volkmar.»Oder ich schlage aus!«
Handgriff nach Handgriff. hundertmal geübt, vierzehnmal erfolgreich.
Die Kontrolle der Nähte. Die Rückführung in den normalen Kreislauf. Der Stromstoß aus dem Defibrillator. Die ersten Zuckungen des neuen Herzens. Die Meldung vom Oszillographen:»Herz arbeitet. Kurve stabilisiert sich!«Das ungeheure Erlebnis: ein fremdes Herz hat das Leben übernommen. Der Blick in die Augen der Kollegen. Ihr Wimpernzucken. Gratuliere, Chef.. Die Stimme von der Anästhesie:»Puls stabil. Atmung noch flach, erholt sich aber. «Und dann die große Müdigkeit, das Blei in allen Gelenken, die Sehnsucht, sich einfach hinfallen zu lassen und zu schlafen. Und das grauenhafte Bewußtsein: Es ist ein Mensch getötet worden, damit man sein Herz für zwei Millionen Dollar einem anderen Menschen einsetzen kann, und du, Dr. Heinz Volkmar, hast es getan!
Volkmar trat vom OP-Tisch zurück und überließ es dem Team, die Restarbeit, die reine Routine der Schließung des Brustkorbes, zu vollenden. Er streifte die Handschuhe ab, riß den Mundschutz herunter und warf beides auf den Kachelboden. Erst dann wagte er wieder hinüberzublicken in den OP II. Der kleine Saal war leer. Kein Arzt mehr, kein Körper. Ein Pfleger spritzte die letzten Spuren mit einem starken Wasserstrahl in den Bodengully.
Volkmar verließ den OP. Im Vorraum stand kein Don Giacomo, niemand hielt ihn mehr auf. Auf dem Flur keine wortkargen Männer mit Maschinenpistolen, keine Augen, die jede Bewegung von ihm verfolgten. Er ging den langen Gang hinunter bis zum Lift, fuhr in den Keller Nr. 1 und war auch hier allein. Vor der Tür zum
Chefzimmer keine Wache mehr, niemand, der ihn gehindert hätte, mit dem anderen Lift hinaufzufahren in die Halle des Kinderheimes und damit in die Freiheit.
Er startete einen Versuch, ging zu dem Lift und wartete darauf, daß von irgendwoher ein Anruf erfolgte. Aber nichts rührte sich. Die Welt lag offen vor ihm. Warum sollte man den Chefchirurgen der Mafia auch behindern, den Mann, der die Herzen ermordeter junger Burschen transplantiert?!
Volkmar ging zurück und stieß die Tür zum Chefzimmer auf. Fast gleichzeitig sprangen Dr. Soriano und Loretta von der Couch. Mit einem Aufschrei rannte ihm Loretta entgegen und fiel in seine Arme.
«Mein Liebling!«rief sie.»Mein armer, armer Liebling! Oh, was haben sie jetzt mit dir getan?!«Dann weinte sie, hing an seinem Hals, er mußte sie zum Sofa zurücktragen und hinlegen. Er setzte sich, bettete ihren Kopf in seinen Schoß und streichelte unentwegt ihr zuckendes Gesicht.
Dr. Soriano starrte ihn aus rotumränderten Augen an.»Ich danke dir, Enrico«, sagte er leise.»Du kannst von mir haben, was du willst. Das vergesse ich dir nie. Du hast meinen Engel gerettet. Dafür kann ich dir nicht mehr danken, weil jeder Dank zu gering wäre.«
«Und wie geht es weiter?«fragte Volkmar tonlos. Er küßte Lorettas tränennasse Augen und wehrte sich nicht, als sie seine Hand ergriff und in seinen Zeigefinger biß, als sei er ein Stück Holz.
«Wenn du willst, fahren wir sofort nach Solunto zurück. Der Cadillac steht draußen. Ich habe schon mit Worthlow telefonieren können. Er war in großer Sorge. Aber jetzt bereitet er ein Festmahl vor.«
«Wie lange ist Loretta schon hier?«
«Seit über einer Stunde. Sie war noch ziemlich wackelig auf den Beinen, als Don Giacomo sie mir brachte. Aber sie hat sich schnell erholt. Und dann hat sie gebetet, daß du viel, viel Kraft haben mögest, um das durchzustehen. Und du hast die Kraft gehabt!«
«Irrtum! Ich bin völlig ausgebrannt. «Volkmar legte den Kopf weit zurück und starrte gegen die mit Nußbaumholz getäfelte Decke.»Ich weiß nicht, wie ich das überlebe.«
«Du wirst dich daran gewöhnen.«
«Gewöhnen? Jedesmal das Herz eines Ermordeten zu verpflanzen? Daran soll ich mich gewöhnen?!«
«Ich liebe dich!«sagte Loretta und schlang die Arme um ihn.»Ich liebe dich.«
«Liebe?! Du müßtest vor Ekel aufschreien, wenn ich dich anfasse!«
«Du hast es für mich getan. «Sie preßte ihr Gesicht gegen seine Brust.»Jetzt lebe ich wirklich nur durch dich. Oder ich sterbe durch dich. Alles liegt in deiner Hand.«
«Das ist ja das Hundsgemeine!«sagte Volkmar rauh.»Wer leben will, muß töten!«
«Die Rückkehr zur Urform! Das Leben des Menschen ist ständiger Krieg. Je mehr Opfer am Wege, um so erfolgreicher!«Dr. Soriano ging zur Tür. Er war wieder der große Anwalt von Palermo, der Don Eugenio, dem man Sizilien wie ein Lehen gegeben hatte. Die vergangene Nacht konnte gestrichen werden, sie war Episode geworden. Nur die borkige Blutkruste auf der Stirn erinnerte an Stunden, in denen auch ein Dr. Soriano nur ein Häuflein Angst gewesen war.»Können wir fahren? Worthlow hat frischen Lachs in der Folie gebacken, wie er am Telefon sagte.«
«Sie können jetzt essen?«Volkmar drückte Loretta an sich, als sei sie ein kleines, weinendes Kind.»Jetzt?!«
«Ich habe einen barbarischen, kannibalischen Hunger! Und auch du mußt etwas essen! Kommt, Kinder, ihr solltet euch, ohne viel nachzudenken, eurer neuen herrlichen Freiheit erfreuen! Enrico: Unser Haus am Meer, deine Yacht, der Park mit den Wasserspielen.«
«Den Krokodilen, den Löwen.«
«Ich werde sie abschaffen!«Soriano stieß die Tür auf. Er trat einen Schritt hinaus in den Flur und kam wieder zurück ins Zimmer.»Enrico — «, sagte er leise.»Ich werde nicht vergessen, was sie mit uns heute nacht angestellt haben. Es gibt einige Namen, die man nur noch ausbrennen kann! Ich habe noch einiges zu tun, bevor ich abtrete.«
«Sie hungern nach Rache, nicht wahr?«Volkmar stand auf und zog Loretta mit sich vom Sofa hoch.»Ich kann Ihren Gedankengängen nicht mehr folgen. Die Mafia hat nach wie vor Loretta und mich als Pfand!«
«Das wird sich erweisen. «Dr. Soriano winkte einladend in den Flur.»Gehen wir, meine Lieben. Ein zweites Mal legt man mich nicht herein.«
Später saß Dr. Volkmar am Swimming-pool seines Dachgartens und starrte in das vom Wind leicht gekräuselte Wasser. Worthlow hatte den Tisch abgeräumt, Soriano telefonierte mit Freunden, Loretta saß im Schlafzimmer vor dem Spiegel und fönte sich ihre Haare. Wenn Volkmar den Hals etwas reckte, konnte er über die Brüstung hinweg aufs Meer blicken. An dem neuen hölzernen Landesteg schaukelte die weiße Motoryacht. Fähnchengirlanden flatterten im Wind.
Das neue Leben. Der Dr. Heinz Volkmar, Dozent in München, war endgültig gestorben. Seit diesem Morgen gab es keine Rückkehr mehr.
Er ließ sich auf den Rücken fallen, zog die Knie an und breitete die Arme weit aus. Die Kälte des Marmorbodens durchdrang ihn und tat ihm wohl.
Ich habe kapituliert, dachte er. Verurteilt mich alle, alle! Aber ich bin auch nur ein Mensch! Was hättet ihr an meiner Stelle gemacht? Loretta geopfert?! Wer das sagt, den nenne ich auch einen Mörder!
Er zuckte zusammen. Loretta war zurückgekommen, beugte sich über ihn und küßte ihn. Ihr Haar duftete nach Rosen, ihr Körper fühlte sich wie seidiger Samt an.
Sie beugte sich weiter über ihn, bis ihre schönen Brüste über seinem Gesicht glänzten. Sie war nackt. Er griff nach ihr und zog sie zu sich herunter.
«Bist du verrückt?«flüsterte er.»Worthlow.«
«Ich habe die Türen abgeschlossen. O mein Liebling.«
Sie kroch über ihn wie eine Schlange, so glatt und so geschmeidig, ihre Hände erregten ihn maßlos wie ihre Lippen, die über sei-nen Körper tasteten.
«Wir leben. «sagte sie leise und biß ganz leicht in sein Ohr.»Mein Gott, wir leben! Weißt du denn, wie lange wir es dürfen?! Jede Stunde, jede Minute ist kostbar.«
Sie liebten sich auf dem Marmorboden am Rande des Schwimmbeckens und ließen sich dann mit dampfenden Körpern ins Wasser fallen. Loretta sagte lachend:»Warum habe ich mir eigentlich die Haare gefönt?«