172330.fb2 Das Haus der verlorenen Herzen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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Kapitel 2

Bis zum Abend gab es bereits drei Tote. Aber das wußte keiner, denn niemand sprach darüber. Die Toten entstammten einer Gesellschaftsklasse, in der Sterben zum täglichen Risiko gehört. Zwar hinterließen sie Frauen und Kinder, Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, die mit echter Ergriffenheit trauerten, weinten, sich die Haare rauften und schrille Schreie des Schmerzes ausstießen — aber das geschah alles hinter verschlossenen Türen und zugeklappten Fensterläden, gewissermaßen im engsten Familienkreis. Befreundete Ärzte stellten Totenscheine aus, die Herzversagen bestätigten. Das war noch nicht einmal gelogen, denn wer einen Schuß in den Kopf oder ins Herz bekommt, dessen Herz versagt.

Erschreckend waren nur die Begleitumstände der plötzlichen Todesfälle. Da waren vier sehr vornehme Herren aufgetreten, hatten einige Fragen gestellt und dann den Interviewten mit freundlichem Nicken ins Jenseits befördert. Man konnte gar nichts dagegen tun — und selbst, als man Don Adriano anrief, aufgescheucht von diesen Methoden, erfuhr man nur:»Haltet das Maul! Um der Maria willen, seid still! Kein Aufsehen! Wir kümmern uns darum. «Und dabei blieb es. Don Adriano gab nur die Erklärung heraus, daß er mit solchen Vorfällen nichts zu tun habe.

«Diese parfümierten Schwulen!«schrie Alfredo, als Oreto den kleinen Rat< in seinem Büro versammelte, um die Lage zu besprechen.»Wir hätten sie doch liquidieren sollen!«

«Sollen wir uns mit Don Eugenio anlegen?«fragte Oreto mit zerknittertem Gesicht.»Wir wollen zufrieden sein, wenn wir in ein paar Tagen wieder unsere schöne sardische Ruhe haben! Die Freunde in Sizilien haben ihre eigene Moral.«

Am späten Abend erreichte Gallezzo mit seinen Kumpanen den kleinen Ort Sorgono am Fuße des Gennargentu-Massivs. Ein Hinweis hatte sie dorthin gebracht: In der Bank von Oristano hatte jemand einhundert Deutsche Mark in Lire gewechselt, ein Mann, der sonst weder Lire, geschweige denn Deutsche Mark besaß. Man hätte auch nie darüber gesprochen, wenn nicht der Kassierer der Bank mit Don Adriano bekannt gewesen wäre. Denn dieser brave Mann übte nicht nur das biedere Bankgeschäft aus, er kontrollierte auch noch die drei Bordelle der Stadt, natürlich nicht auf eigene Rechnung. Die Gelder buchte er auf ein Konto, das Oreto gehörte. Sein Name war die Nummer 5 auf der Liste der zehn Namen, die Don Adriano gegeben hatte.

«Die hundert Mark haben mich gewundert«, sagte der Kassierer.»Meist kam er mit >gefundenen< Euroschecks. Wir haben sie stillschweigend eingelöst. Man ist doch ein guter Freund! Ist ein bedauernswerter Kerl, der Luigi. Die ganze Familie weg. Vendetta, Sie verstehen. Wenn er jetzt wirklich den deutschen Arzt entführt haben sollte — na, das ist eben eine neue Art zu arbeiten. Jeder modernisiert sein Unternehmen, nicht wahr? Aber ich glaube es nicht. In das Geschäft muß Luigi erst noch hineinwachsen.«

«Ist er allein?«fragte Gallezzo freundlich.

«Nein. Sie sind zu dritt. Luigi, Ernesto und Anna. Geschwister. Die letzten Überlebenden von.«

«Schon gut!«Gallezzo winkte ab.»Wo finden wir sie?«

«Fragen Sie in Sorgono nach Luigi. Sie leben irgendwo in den Bergen.«

So kamen die Abgesandten des Doktors Soriano in das Bergnest Sorgono. Daß der Bankkassierer am Leben blieb, hatte er nur seinem Beruf zu verdanken: Er stand hinter einer Panzerglasscheibe, außerdem war die Kassenhalle der Bank voll Kundschaft, und vor der Tür stand ein Carabiniere. Das aber war rein zufällig. Immerhin sah Gallezzo ein, daß man diese Spur nicht auslöschen konnte.

In Sorgono gab es einen Supermarkt im kleinen: Vom Nagel bis zum offenen Rotwein, von der Eisenfeile bis zur gut ausgetrockneten Salami fand man alles in den verstaubten Regalen und Schubladen, was ein Mensch in dieser Einsamkeit braucht. Sogar ein Stapel blecherner Nachttöpfe grüßte den Eintretenden, aber sie waren Ladenhüter, eine Fehlspekulation von Ferruccio Stracia, dem Besitzer des Ladens. Seine Kundschaft lud Exkremente nicht in blechernen Töpfen ab. Die waren ihnen einfach zu schade dafür. Um so mehr freute Stracia sein Umsatz an Wein. Er hatte drei Holzfässer und verkaufte nur halbliterweise. Auf zwei Bänken vor Tischen mit Kunststoffplatten saß man gemütlich neben den Weinfässern. Diese Ecke in Stracias Lokal ersetzte Fernsehen und Radio; hier liefen alle neuen Meldungen zusammen.

Hier saß auch Luigi und gönnte sich ein Glas Wein. Er hatte die einhundert DM eingewechselt, hatte Speck, Fleisch und Butter gekauft, einen Sack voll Tomaten und zwei Ballonflaschen mit Wein. Anna hatte ihm auf einer langen Liste aufgeschrieben, was er noch alles holen sollte, denn der Gast mußte standesgemäß leben können. Luigi beschloß, erst seinen Wein zu trinken und dann Annas

Liste mit Stracia durchzugehen. Er war sicher, daß der alles im Laden hatte, was man brauchte.

Es war gegen halb neun abends, als ein kleines, etwa siebenjähriges Mädchen in Stracias Laden kam und Luigi zuwinkte.»Du sollst 'rauskommen!«sagte es mit seiner hellen Kinderstimme.»Eine Überraschung!«

Luigi sah Stracia fragend an. Der hob die Schultern.

«Was ist los?«fragte Luigi laut. Das Mädchen trippelte zur Tür zurück und lachte verschämt.

«Eine Überraschung.«

«Verrückt!«Luigi stellte sein Glas auf den Tisch, faßte in die Tasche und überreichte Stracia fast hoheitsvoll Annas Zettel.»Stell das schon mal zusammen, Ferruccio«, sagte er.»Was gibt es hier für Überraschungen? Oder habt ihr jetzt eine Hure im Dorf?«

Stracia lachte laut, überflog den Zettel und wedelte mit ihm durch die Luft.»Und wer bezahlt?«

«Ich, du Trottel!«Luigi lachte zurück.»Warum soll ich nicht auch einmal Glück haben?«

Er verließ den >Supermarkt<, sah sich in der Dunkelheit fragend um und erhielt einen krachenden Schlag auf den Hinterkopf. Lautlos kippte Luigi um, zwei Männer schleiften ihn seitwärts zu dem klapprigen Jeep, und Gallezzo gab dem kleinen Mädchen hundert Lire. Es starrte den Geldschein entgeistert an.

«Du hast uns nicht gesehen«, sagte Gallezzo milde. Kinder zu töten, widerstrebte ihm. Er hatte, wie alle Italiener, ein großes Herz für Kinder und konnte mit den Kleinen von Dr. Sorianos Schwester stundenlang im Park der Villa am Meer spielen. Als es einmal nicht zu umgehen war und bei einer Brandstiftung — sie war die Warnung der >Gesellschaft< an einen aufsässigen Kameraden — auch drei kleine Kinder in den Flammen umkamen, hatte Gallezzo einen Tag lang geweint und mußte von Dr. Nardo ärztlich betreut werden.

Mit dem Jeep fuhren sie Luigi aus Sorgono heraus, hielten an einem Gebirgsbach und steckten Luigis Kopf ins kalte Wasser. Er kam schnell zu sich, wollte um sich schlagen und treten, aber drei Männer hielten ihn fest, und der vierte — es war Gallezzo — stach ihm zur besseren Verständigung ein Messer in den Unterarm.

Luigi gab den Widerstand auf und lauerte auf eine Gelegenheit, davonzulaufen.

«Wir könnten Freunde werden, wenn wir nur vernünftig miteinander reden wollten«, sagte Gallezzo mit einer schrecklich gleichgültigen Stimme. Luigi kannte das, er war kein Anfänger, er genoß in Banditenkreisen einen seriösen Ruf, weil er noch nie — außer bei der Vendetta natürlich — einen Menschen umgebracht hatte. Er erweckte zwar den Anschein der Grausamkeit, aber wer ihn näher kannte, so wie Anna, seine Schwester, der wußte, daß er nach der systematischen Auslöschung seiner Familie und der notgedrungen darauf folgenden Auslöschung der feindlichen Familie Fardella einen ehrlichen Ekel vor Gewalttaten empfand.

«Ich höre!«knirschte Luigi. Er hing in den Armen der drei Männer wie in einem Schraubstock.

«Bei dir ist der deutsche Arzt Dr. Volkmar.«

«Nein!«sagte Luigi viel zu schnell.

Gallezzo wiegte den Kopf.»Luigi, wir wollen doch Freunde sein. Ist man unter Freunden unehrlich?«

Er nahm das spitze Messer und stieß es Luigi in die rechte Schulter. Nicht zu tief, gerade genug, um höllische Schmerzen zu erzeugen. Luigi bäumte sich in den Griffen auf, aber er schluckte den Schmerz herunter.

«Sei so nett und führ uns zu deinem Haus«, sagte Gallezzo freundlich.»Wir wissen, du hast noch einen Bruder Ernesto und eine Schwester Anna, und dann den lieben Gast aus Deutschland, den wir unbedingt sprechen müssen.«

«Ich kenne keinen Deutschen!«schrie Luigi.

«Und die hundert DM auf der Bank?«

«Gefunden. Am Strand.«

«Wo du das Zelt und das Auto des Dottore zurückgelassen hast. Luigi, warum müssen wir uns streiten?«

Gallezzos linke Hand schnellte vor, ein Blitzen des Messers und das Ohr war abgetrennt. Blut überströmte seine rechte Gesichtshälfte und floß über Hals, Rücken und Brust. Er stöhnte dumpf, senkte den Kopf und betete zur Madonna, sie möge ihm alle Sünden vergeben und ihre Hand schützend über Ernesto und Anna halten.

«Fahren wir«, sagte Gallezzo sanft.»Auf dem Weg wird dir einfallen, wo du Ernesto, Anna und Dr. Volkmar versteckt hast, Luigi. Du bist doch nicht geboren worden, um scheibchenweise zu sterben.«

Die Männer rissen Luigi hoch und schleppten ihn zum Jeep zurück. Gallezzo setzte sich ans Steuer und wartete darauf, daß Luigi etwas sagte. Man hatte ihn auf den Rücksitz gepreßt, und zwei Männer hielten ihn umklammert. Der dritte, der jetzt neben Gallezzo saß, hatte das Messer übernommen. Es war einer von denen, die so penetrant nach dem süßlichen Parfüm dufteten.

«Wohin?«fragte Gallezzo.

Luigi schwieg. Der Mann mit dem Messer stach zu, dieses Mal in die andere Schulter.»Luigi.«, sagte Gallezzo fast bedauernd.»Bedenke, daß deine Nase im Weg steht. Man kann sie verkürzen.«

«Der zweite Weg rechts«, sagte Luigi durch die zusammengebissenen Zähne.»Aber fünf Mann hält der Jeep nicht mehr aus. Es geht steil hinauf.«

«Wir wollen sehen. «Gallezzo fuhr an, fand die Abzweigung und fluchte, als der Jeep über den steinigen Boden hüpfte. Im Scheinwerferlicht erkannte er klar, daß der Pfad, je höher man kam, für jeden Unkundigen lebensgefährlich wurde. Rechts fiel der Abgrund ab, links beulten sich die Felsen in den Weg. Mit einem Maultier oder einem Esel war diese Strecke zu schaffen, aber für einen Wagen, selbst für einen Jeep, war es unzumutbar.

«Mein Freund!«sagte Gallezzo zu Luigi über die Schulter hinweg,»wenn du uns ins Leere führst. tu das nicht! Überleg es dir! In Asien haben sie eine Methode entwickelt, den Menschen die Haut abzuziehen wie einem Hasen. Ich kenne mich da aus. Luigi, Brüderchen, sei kein Held!«

«Es ist der Weg!«Luigi keuchte. Er dachte an Ernesto und Anna und ob es wirklich nicht besser wäre, nichts mehr zu sagen und für sie zu sterben. Aber dann sagte er sich, daß diese vier Männer auch ohne ihn das Bergversteck finden würden, daß sie nur zu warten brauchten, bis Ernesto herunterkam, um in Sorgono nach ihm Ausschau zu halten.»Such ihn!«würde Anna sagen.»Unser Großer säuft schon wieder!«Und Ernesto war schon gar kein Held, der würde reden, schon nach dem ersten Messerstich. Es war ein Fehler gewesen, den deutschen Dottore zu entführen. Er sah es jetzt ein. Wie friedlich war das Leben gewesen, als man nur stahl oder die Fremden betrog.

Der Jeep keuchte und schüttelte sich, aber was keiner für möglich gehalten hatte: er schaffte es. Plötzlich wurde der Pfad etwas breiter, auch lagen nicht mehr so viele Steine herum. Man näherte sich dem Plateau und dem Haus.

Luigi straffte alle Muskeln, soweit es die Schmerzen noch zuließen. Alles an ihm brannte und glühte, seine Nerven zitterten.

«Tatsächlich!«sagte Gallezzo zufrieden.»Da ist ein Haus, wie eine Burg, Luigi. Ein guter Platz!«

Luigi nickte. Aber plötzlich schnellte er hoch, riß den Mund auf und brüllte mit der ganzen Kraft, die er noch besaß:»Ernesto! Anna! Gefahr! Gefahr!«

Der Mann neben Gallezzo schüttelte den Kopf. Er riß Luigi an den Haaren nach vorn und stieß ihm das Messer zwischen den Rippen in die Brust. Es traf exakt das Herz, Luigi hustete laut und fiel dann in sich zusammen. Er war schon tot, als Gallezzo den Zündschlüssel herumdrehte.

Eine Sekunde später sprangen die vier eleganten Herren aus dem Jeep und liefen, Haken schlagend wie die Hasen, auf das Steinhaus zu. Aus dem schießschartenähnlichen Fenster neben der dicken Bohlentür fiel der erste Schuß, er zischte Gallezzo nahe am Kopf vorbei. Der ließ sich sofort hinfallen und kroch an der Mauer entlang, die den Gemüsegarten einrahmte.

Dr. Volkmar stand neben Anna an einem anderen Fenster und beobachtete durch einen Schlitz in den massiven Läden die Terrasse.

Sie hatten alle am Ofen gesessen, als Luigis Schrei ertönte. Es war verblüffend, wie schnell Ernesto und auch Anna ein Gewehr in der Hand hielten und an die Fenster sprangen. Dann schoß Ernesto sofort auf die schattenhafte Person, die sich laufend dem Hause näherte.

«Das war ein Fehler, Ernesto!«sagte Volkmar und versuchte, in der Dunkelheit vor sich etwas zu entdecken.»Sie haben mich gefunden, sie haben Luigi überführt. Es hat doch keinen Sinn, mit der Polizei Krieg zu führen.«

«Das sind keine Carabinieri!«rief Ernesto zurück.»Luigi hat nicht Polizei, sondern Gefahr geschrien! Das ist ein Unterschied! Man will dich uns wegnehmen, das ist es!«

«Laß sie nur kommen!«sagte Anna.»Laß sie nur kommen!«Sie schob den Gewehrlauf durch die Ritze des Fensterladens und beugte den Kopf nach hinten.»Das Haar hindert mich! Bind es fest, Enrico!«

Dr. Volkmar sah sich hilflos um.

«Nimm irgendeinen Strick, dort am Ofen.«

Er lief zu dem riesigen gemauerten Herd, holte ein Stück Hanfkordel, raffte Annas lange schwarze Haare zusammen und band den Strick darum. Jetzt hatte sie die Stirn frei und konnte besser sehen. Ernesto schoß wieder. Ein Schatten, links vom Gemüsebeet, bewegte sich.

Und dann sahen sie etwas, was ihnen das Herz stocken ließ: Der Jeep, von einem Mann von hinten geschoben, rollte vor das Haus, und auf der Kühlerhaube des Wagens lag in seltsam verrenkter Haltung Luigi. Sein Gesicht war ein bleicher Fleck.

«Sie haben ihn getötet.«, stammelte Ernesto.»Luigi! Luigi!«Er bekreuzigte sich, stieß mit der Stirn gegen die Steinwand und schluchzte.»Diese Schweine! Diese Teufel! Luigi.«

«Ich denke, eure Vendetta ist zu Ende?«sagte Volkmar heiser.

«Es sind andere. «Anna zuckte zusammen. Ein Mann sprang zur Haustür. Sie schoß, der Schatten machte einen Satz zur Seite und fiel in Deckung.»Sie wollen dich, Enrico«, sagte sie. Ihr Atem flog, ihre Stimme klang zerbrochen.»Es geht um dich! Sie haben Luigi gezwungen, alles zu verraten. «Sie lehnte sich gegen die Wand, als habe sie keine Kraft mehr, zu stehen, und sah Volkmar aus weiten schwarzen Augen an.»Wir werden sterben, Enrico. Das mußt du wissen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu sterben. Sieh dir Luigi an! Wenn ich sterbe, bist du bei mir. Ich liebe dich. Komm, wir haben wenig Zeit.«

Ernesto schoß wieder. Auf seiner Seite sprangen zwei Schatten durch die Nacht. Sie fielen sofort zusammen, er wußte nicht, ob er einen getroffen hatte.

«Und wenn ich hinausgehe und sage: Da habt ihr, was ihr wollt?!«Volkmar legte den Arm um Annas Schulter. Sie schmiegte sich an ihn, und er spürte erst jetzt, wie sehr sie zitterte. Sie war mutig, aber sie hatte Angst vor dem Sterben.

«Bleib hier!«sagte sie. Sie küßte seine Hand, hielt sie fest und streichelte mit der Wange seinen Unterarm.»Hier geht es schnell. Warum willst du langsam sterben? Weißt du, was ich geträumt habe? Daß dich alle da draußen vergessen, daß keiner dich vermissen wird, daß du für die draußen in der Welt wirklich tot bist, ertrunken, weggeschwemmt, aus! Und dann wärst du bei uns geblieben, Luigi und Ernesto hätten noch ein kleines Haus für uns angebaut, und wir wären hier glücklich gewesen. Das war ein schöner Traum.«

«Ein Dozent der Herzchirurgie als sardischer Bandit.«

«Du hättest die Leute in den Bergdörfern behandeln können. Jeder hätte den Mund gehalten. Ich habe noch keinen Mann gehabt, Enrico.«

«Verfluchtes Gequatsche!«schrie Ernesto am Fenster.»Sie kommen! Von allen Seiten! Es sind vier Mann! Hinter unserem Jeep gehen sie in Deckung!«

Er schoß, zielte jedoch absichtlich daneben, er hätte sonst auf seinen Bruder Luigi schießen müssen. Gallezzo und seine Freunde schoben den Jeep mit der furchtbaren Kühlerfigur vor sich her und benutzten den Wagen wie einen Panzer. So kamen sie sicher bis an die unterste Stufe der Treppe, die zur Haustür führte.

«Luigi«, sagte Anna leise und umklammerte das Gewehr.»Was haben sie mit Luigi gemacht?«

Von draußen erklang Gallezzos Stimme.»Hört einmal zu!«rief er hinter dem Jeep.»Wir haben kein Interesse, euch auszuräuchern. Luigi war ein Querkopf Er könnte noch leben, wenn er sich mit uns wie unter Freunden unterhalten hätte. Bei euch im Haus ist Dr. Volkmar. Wir wollen nichts anderes, als mit ihm reden. Verdammt, Ernesto, bist du ein Idiot?! Don Eugenio schickt uns. Ihr interessiert uns gar nicht!«

Ernesto schwieg. Er kannte keinen Don Eugenio, aber er wußte, was das Don bedeutete. Wenn die Gesellschaft ins Spiel gekommen war, war es sinnlos, weiter zu denken. Warum hatte Luigi sich bloß gewehrt? Madonna, was ist ein kleiner Bergbandit gegen die Ehrenwerte Gesellschaft?!

Ernesto legte den Mund an die Schießscharte und brüllte hinaus:»Wer garantiert uns das?«

Gallezzo kam aus der Deckung hervor. Aufrecht ging er um den Jeep herum; es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihn jetzt zu erschießen. Aber weder Anna noch Ernesto hoben die Gewehre. Auf der dritten Stufe der Treppe blieb Gallezzo stehen und nahm seinen Hut ab.

«Hier bin ich!«sagte er.»Ich warte!«

«Ich gebe Enrico nicht 'raus!«sagte Anna gepreßt.»Nie! Nie! Nie!«

«Der Don, Anna!«Ernesto wischte sich über die Stirn.»Wir sind allein! Was sind wir gegen die Gesellschaft?«

«Mein Gott, redet ihr von der Mafia?«Dr. Volkmar starrte durch den Fensterladenschlitz auf den Jeep mit dem toten Luigi auf dem Kühler.»Da draußen ist die Mafia?!«

«Ihr nennt es so. «Ernesto drehte sein Gewehr in den Händen wie einen Quirl.»Es gibt sichtbare und unsichtbare Könige. Die unsichtbaren sind mächtiger.«

«Ich schieße!«schrie Anna hell.»Ich schieße! Ich gebe Enrico nicht her! Wenn es die Carabinieri wären. aber die nicht! Die nicht!«

«Es hat keinen Sinn, Anna. «Ernesto legte sein Gewehr auf den

Tisch.»Man muß immer wissen, wer der Stärkere ist.«

Er ging zur Tür, schob die drei riesigen Eisenriegel zurück und stieß sie auf. Mit einem Satz sprang Anna vor Volkmar und legte ihr Gewehr an.

Gallezzo kam allein in das Haus. Er streifte Ernesto mit einem Blick, sah Anna fast melancholisch an und machte vor Dr. Volkmar, der Anna um einen Kopf überragte, eine kleine Verbeugung.

«Dottore«, sagte er höflich.»Ich komme mit einer Einladung. Es lag nicht im Sinne von Dr. Soriano, seine Gastfreundschaft mit Katastrophen zu dramatisieren. Ich bedaure die widrigen Umstände sehr, aber die Menschen sind dumm und bleiben dumm und verhalten sich Argumenten gegenüber wie ein Gehörloser, dem man Puccini ins Ohr spielt. Rätselhaft. «Er nahm seinen weichen weißen Filzhut, hängte ihn über Annas Gewehrlauf und freute sich sichtbar über diesen Einfall.»Auf dem Flugplatz Cagliari wartet unser Firmenjet, Dottore. Ich bin beauftragt, Ihnen diesen Paß auf den Namen Ettore Lumbardi zu überreichen. Das Bild hat zwar keine Ähnlichkeit mit Ihnen — aber es kommt nur darauf an, daß Sie einen Paß haben, falls ein übereifriger Beamter kontrolliert. Auf Sizilien ist dann sowieso alles anders.«

«Sizilien.«, sagte Ernesto leise.»Maria mia! Die Zentrale!«

«Sie wollen meine Entführung also perfektionieren?«sagte Dr. Volkmar.

«Aber Dottore! Sie sind der Gast von Dr. Soriano. Die besten Schneider von Palermo werden schon morgen früh für Sie tätig sein. Zuallererst brauchen Sie einen weißen Smoking für die Gartenfeste und Partys.«

«Was will die Mafia von mir?«fragte Volkmar laut. Gallezzo machte ein Gesicht, als habe man ihn gegen das Schienbein getreten.

«Dottore, sprechen Sie nicht solche Worte aus! Mafia — das ist doch eine Sage! Wenn Journalisten keine Phantasie mehr haben, erfinden sie die Mafia!«

«Und wenn ich mich weigere, mitzukommen?«

«Er weigert sich!«schrie Anna wild und schleuderte Gallezzos Hut von dem Gewehrlauf.»Er weigert sich!«

Gallezzo blieb ruhig, er bekundete sogar ehrliches Erstaunen.

«Dottore, bitte erklären Sie mir, warum Sie Dr. Soriano beleidigen wollen, indem Sie seine Einladung ablehnen? Er verehrt Sie, bewundert Sie!«

«Mich? Verwechseln Sie mich nicht?«

«Ihre Forschungen über Organverpflanzungen.«

«Ist dieser Dr. Soriano etwa auch Mediziner?«Volkmar löste sich aus Annas Bewachung, aber sie folgte ihm mit angelegtem Gewehr so hautnah, daß er den Druck ihrer Brüste in seinem Rücken spürte.

«Rechtsanwalt. Wenn ich alle seine Titel und Ehrenämter aufzählen wollte, würde es Tag werden. Den Sonnenaufgang aber sollen Sie in Palermo erleben. Ein Morgenhimmel auf Sizilien kann wie Seide sein. «Gallezzo blickte Anna forschend an. Von Ernesto ging keine Gefahr mehr aus, er begriff die Situation. Aber ein Weibsbild, das liebt, ist eine Tigerin.»Er nimmt die Einladung an!«sagte er zu Anna.

«Sind Sie sicher?«Volkmar ging zur Tür und blickte hinaus. Vor der Treppe stand der Jeep mit Luigis Leiche. Drei Männer hatten sich darum gruppiert und rauchten seelenruhig.»Was haben Sie mit mir vor?«fragte er.»Nicht Sie, aber Ihre >Gesellschaft<! Ist das richtig so?«

«Beinahe, Dottore. «Gallezzo lächelte milde. So lächelnd hatte er Luigi das Ohr abgeschnitten.»Sie werden schöne Abende erleben, Musik, Tanz, elegante Frauen. Ein schönes Haus, direkt am Meer mit einem großen Park, wird Ihnen zur Verfügung stehen. Dr. Soriano ist berühmt für seine Gastfreundschaft und seine Feste.«

«Don Eugenio?«

«So nennen ihn gute Freunde. Sie werden dazugehören, Dotto-re. Können wir gehen?«

«Unter einer Bedingung!«

«Erfüllt!«sagte Gallezzo großzügig. Er besaß alle Vollmachten.

«Weder Anna noch Ernesto wird ein Haar gekrümmt! Ich verspreche Ihnen: Ich mache Ihnen die größten Schwierigkeiten, wenn sich das mit Luigi wiederholt!«

«Geh nicht!«schrie Anna und umklammerte ihn.»Enrico, geh nicht!«

«Wir können sie leider nicht mitnehmen«, sagte Gallezzo, als sei er darüber untröstlich. Dann griff er in die Rocktasche, holte ein Bündel Geldscheine heraus und legte sie auf den Tisch neben Ernestos Gewehr. Seiner Brieftasche entnahm er ein anderes Bündel mit großen Scheinen. Auch sie legte er neben das Gewehr.»Eine Anerkennung von Don Eugenio«, sagte er zu dem fassungslosen Ernesto.»Es sind genau eine Million Lire.«

«Damit könnt ihr Luigis Leben nicht zurückkaufen!«schrie Anna.»Mörder! Mörder! Eine Million für Luigi! Ich spucke darauf!Ich spucke!«

«Es wird schwer sein, aus ihr eine feine Dame zu machen«, sagte Gallezzo trübe.»Kommen Sie, Dottore. Sie müssen den Sonnenaufgang über Palermo erleben!«

Dr. Volkmar nickte. Er wandte sich ab, nahm Annas Kopf in beide Hände und küßte ihre Lippen. Sie ließ das Gewehr fallen und schlang die Arme um ihn. Jetzt endlich weinte sie. Sie sank auf die Steinbank neben dem Ofen, stülpte ein Lammfell über ihren Kopf und schluchzte in den Pelz hinein. Ernesto ging zu ihr, legte den Arm um sie und machte mit der anderen Hand Dr. Volkmar ein Zeichen.

«Geh!«sagte er.»Geh endlich! Sie wird's überleben! Du mußt weg sein, wenn sie wieder klar denken kann.«

Dr. Volkmar verließ die Steinhütte. Schnell ging er an Gallezzo vorbei, die Treppe hinunter. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, daß man Luigis Leiche weggetragen hatte. Gallezzo sprang hinter ihm her wie ein Füllen. Man sah ihm seine Sorgen nicht an. Die einzige kritische Situation konnte sich noch auf dem Flugplatz von Cagliari ergeben. Dort gab es Polizei genug. Aber er rechnete damit, daß Dr. Volkmar sein Leben doch so hoch einschätzte, daß er kein Risiko eingehen würde.

Vier Stunden später donnerte der zweistrahlige Privat-Jet in den Nachthimmel, zog eine weite Schleife über Cagliari und stieg dann auf sechstausend Meter Höhe, um Richtung auf Sizilien zu nehmen.

Über Funk, auf einem Kurzwellenband, war Palermo schon zu hören. Der Pilot schaltete den Decklautsprecher ein. Als er knackte, grinste Gallezzo verheißungsvoll.

«Hier spricht Soriano«, sagte eine durch atmosphärische Störungen etwas verzerrte Stimme.»Mein lieber Dr. Volkmar, ich begrüße Sie als meinen Gast und wünsche Ihnen einen guten Flug. Ich freue mich und hoffe, daß Sie sich bei mir wohlfühlen werden. Wenn Sie Wünsche haben — es gibt kaum etwas, was ich Ihnen nicht erfüllen könnte. Ich freue mich auf unser gemeinsames Frühstück.«

Es knackte wieder. Ende. Gallezzo nickte breit lächelnd.

«So ist er«, sagte er in einem Ton, als spräche ein Kind vom zärtlichen Vater.»Dottore, Palermo wird Ihnen gefallen!«

Mit der Morgenmaschine von Rom landete auf dem Flugplatz Cagliari die Assistenzärztin Dr. Angela Blüthgen.

Was Volkmar nie erwartet hatte, was nach allem, wie er sie einschätzte, gar nicht zu ihr passen wollte, war geschehen: Als sie von dem Unglück auf Sardinien erfahren hatte, war Angela außer Fassung geraten und hatte sofort den nächsten Flug nach Rom und Sardinien gebucht.

Es war eine Art Kurzschlußhandlung, nüchtern betrachtet. Denn was konnte man noch tun, da doch feststand, daß Dr. Volkmar im Meer ertrunken war.

«Ich will die Stelle sehen!«hatte Angela gesagt.»Und wenn es in Australien oder sonstwo passiert wäre… ich muß dort sein! Nein, ich kann ihn nicht aus dem Meer holen — aber ich will. Ach, das versteht ihr ja doch nicht!«

Es war ein fürchterlicher Gang zu einer der Garagen der Polizei, wo man Volkmars Sachen aufbewahrt hatte. Noch schrecklicher war es, vor dem Zelt und dem Auto zu stehen und zu sagen:»Ja, das ist sein Zelt. Ja, das ist sein Auto. Ja, diesen Trainingsanzug hat er getragen. Wir haben manchmal einen Dauerlauf am Isarufer gemacht, da hat er ihn getragen. Sonntag morgen. Das beste Mittel gegen einen Brummkopf. Ja, das sind seine Trainingsschuhe.«

Sonntag morgen, dachte sie. Am Abend vorher ein Konzert- oder ein Theaterbesuch, das Essen in einem exzellenten Lokal, die Fahrt nach Harlaching, die halbe Flasche Sekt, das Bett und sein warmer, muskulöser Körper, und dann der Brand in allen Adern und Nerven, das erlösende Verströmen. Später dann, bei einer Zigarette, ihre Schutzbehauptung — immer wenn er von Liebe sprach:»Man soll biologische Vorgänge nicht überschätzen.«

O Heinz, Heinz, wenn ich all die dummen Worte rückgängig machen könnte! Diese verdammte Pose, diese idiotische Emanzipation! Was hat sie mir eingebracht? Was bin ich jetzt? Eine heimliche Witwe… So zerbrochen fühle ich mich!

Sie saß im Sand, in der kleinen Bucht beim Capo San Marco, genau auf der Stelle, wo das Zelt gestanden hatte, und blickte über das schillernde Meer. Da lag noch eine Konservendose. Brechbohnen. I. Wahl. Fadenfrei. Sein letztes Essen?

Sie nahm die Blechbüchse, starrte hinein und drückte ihre Lippen auf das zerbeulte Ding. Sie kam sich gar nicht kindisch vor, sie weinte in sich hinein und haßte sich selbst wegen ihrer vielen Fehler.

In den Bergen hatten Anna und Ernesto ihren Bruder Luigi begraben. Daß ein Mensch stirbt oder getötet wird, ist ein Vorgang, den man hinnehmen muß. Aber als sie im ersten Morgenlicht Luigi betrachteten und sahen, wie man ihn getötet hatte, als sie die Stiche sahen, das abgeschnittene Ohr, die Wunden seines Martyriums, blickten sie sich lange an, beteten an der Leiche und begruben sie unter einer Pyramide von Felssteinen.

«Gib mir die Hälfte!«sagte Anna später, als sie wieder im Haus am Tisch saßen. Das Geld lag zwischen ihnen.»Mir steht die Hälfte zu. Er war auch mein Bruder.«

Ernesto nickte. Er zählte die Scheine ab. einen nach links, einen nach rechts. Auch optisch eine reelle Teilung.»Fünfhunderttausend!«sagte er, als die Häufchen fertig waren.»Bitte.«

«Danke, Ernesto. «Anna nahm die Scheine, stopfte sie in eine lederne Umhängetasche und verschloß sie.

«Und nun?«fragte Ernesto.

«Ich gehe nach Sizilien!«sagte Anna.»Nach Palermo. Ich finde ihn! Ich vergesse ihn nie!«

«Enrico?«

«Auch. Aber den anderen, den Gelackten.«

«Dazu reichen fünfhunderttausend nicht.«

«Dafür wird es immer reichen, und wenn ich als Hure gehe!«Sie ging zum Ofen und setzte die Pfanne aufs Feuer. Sie hatten noch drei Eier und etwas Speck. Ein gutes Frühstück. Und Wein dazu. Wie schön kann die Welt sein.

Am Abend kam Ernesto von Sorgono zurück, wo er bei Stracia die Waren abholte, die Luigi gekauft hatte. Er hatte aber nichts von Luigis schrecklichem Sterben erzählt, sondern behauptet, Luigi habe so gesoffen, daß er die Waren nicht mehr abholen konnte. Als er mit dem alten Jeep wieder das Haus erreichte und nach seiner Schwester rief, war Anna nicht mehr da.

Er hatte das befürchtet, setzte sich auf die Treppe und starrte in den fleckigen Abendhimmel.

Gott mit dir, Anna, dachte er. Madonna, beschütze sie! Nun bin ich ganz allein, der Letzte meiner Familie. Madonna, beschütze auch mich.