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Um elf Uhr vormittags holten ihn zwei Männer ab. Den einen kannte er nicht, er war klein, schmal, mit einem Mausgesicht und sehr höflich; den zweiten begrüßte er mit einem schiefen Lächeln: Es war Paolo Gallezzo, der Uhrmacher aus Palermo, den man den >Voll-strecker< nannte.
«Aha!«sagte Volkmar gepreßt. Sein Kopf brummte noch.»Jetzt geht's los, nicht wahr, Gallezzo? Für was haben Sie sich entschieden: Schlag auf die Kinnspitze und k.o. oder vorgezeigter Revolver oder Wattebausch mit Chloroform? Was ihr zwingen könnt, ist mein Körper. Aber ihr braucht mein Hirn. Und da kommt ihr nicht 'ran!«
«Sie sehen das alles zu filmisch, Dottore!«sagte Gallezzo, wie immer freundlich.»Wir drehen keinen dämlichen Hollywood-Schinken! Da wird alles mit Gewalt gemacht! Dummheit! Dr. Soriano — oder besser: Dr. Nardo kommt zu Ihnen mit einem Problem: Im Altersheim ist eine Frau schwer erkrankt, der man nicht helfen kann. Vielleicht können Sie es?«
«Das ist nun ein ganz übler Trick!«sagte Volkmar hart.»Und der dümmste dazu!«
«Es ist die Wahrheit, Dottore. Beim Augenlicht meiner Mutter! Und meine Mutter lebt noch!«
Volkmar starrte Gallezzo fassungslos an. Das war nun wirklich kein Trick, keine hingeworfene Redensart. Gallezzos Miene war ernst, seine Worte klangen beschwörend. Dr. Volkmar schüttelte den Kopf. Wenn er sich jetzt einfangen ließ, gab es für ihn kein Entrinnen. Seine ärztliche Verpflichtung war es, zu helfen, ohne darauf zu sehen, wer nach ihm verlangte. Nur eines galt: Ein Mensch braucht dich!
«Dr. Nardo ist ein guter Chirurg!«sagte er schwer atmend.
«Er ist am Ende, Dottore.«
«Es gibt in Palermo genug hervorragende Ärzte.«
«Dieses Problem der alten Frau wagen sie nicht anzufassen.«
«Kein Spezialist hat Angst vor seinem Spezialgebiet, das ist doch Unsinn!«
«Dann sehen Sie sich das einmal an, Dottore!«
Gallezzo winkte. Der Kleine mit dem Mausgesicht holte aus seiner Aktentasche eines dieser typischen großen braunen Kuverts, in denen man Röntgenbilder aufbewahrt. Dr. Volkmar biß sich auf die Unterlippe. Der große innere Konflikt war da: Weigerte er sich — und war es wirklich ein seltener Fall —, so mußte er mit dieser Belastung seines Gewissens leben. Sah er sich die Röntgenbilder an, hatte Soriano schon den ersten Angriff gewonnen: Dr. Volkmar arbeitete für die Mafia!
«Ihr seid Teufel!«sagte er heiser.
«Wir betreuen alte kranke Menschen, Dottore!«
Das Mausgesicht zeigte ihm die Röntgenbilder. Volkmar erkannte auf den ersten Blick, daß es große Thoraxaufnahmen waren. Er nahm einen der Filme, trat hinaus auf den Dachgarten und hielt ihn gegen die Sonne.
Eine sehr gute, sehr klare Aufnahme. Die Röntgenabteilung des Altersheims mußte mit den besten Apparaten ausgestattet sein. Die anderen Aufnahmen — das wußte Volkmar im voraus — waren Fotos aus verschiedenen Ebenen. Ein Blick auf dieses Röntgenbild genügte jedoch, um zu bestätigen, daß Gallezzo nicht gelogen hatte. Nein, es war kein übler Trick, mit dem man ihn in die Klinik locken wollte. Was das Röntgenbild ihm verriet, war eine sehr ernste Erkrankung. Volkmar konnte verstehen, daß auch beste italienische Chirurgen beim Anblick dieser Fotos ein leises Unwohlsein spürten.
Die Diagnose war so klar wie die Röntgenbilder.
«Eine Pericarditis calculosa«, sagte Dr. Volkmar und ließ sich die anderen Röntgenbilder geben. Er hob auch sie gegen die Sonne und war sich darüber klar, daß diese alte Frau ohne schnelle Hilfe zum Tode verurteilt wäre. Schnelle Hilfe hieß hier aber: mutige Hilfe. Etwas wagen. So kaltschnäuzig sein, wie ein Chirurg sein muß, wenn es um alles oder nichts geht.
«Durch eine starke Calciuminfiltration ist das akute Stadium der Pericarditis constrictiva erreicht. Da muß sofort operiert werden. Verstehen Sie was davon?«
«Nein!«antwortete Gallezzo ehrlich.»Was Sie da sagen, klingt für mich wie Chinesisch.«
«Die Frau hat ein sogenanntes Panzerherz. Kalziumsalze haben sich abgelagert und bilden um das Herz einen festen Kalkpanzer! Die Blutzufuhr, die Funktion der Pumpe, die das Herz ja hat, ist fast abgedrückt. Das ist natürlich sehr laienhaft formuliert.«
«So etwas gibt es?«fragte das Mausgesicht erschüttert.
«Und Sie können helfen?«fragte Gallezzo erschüttert.
«Nur in einer bestens ausgerüsteten Klinik.«
«Die haben wir.«
«Doch nicht im Altersheim!«
«Sie werden staunen, Dottore.«
«Einen Augenblick. «Volkmar ging ins Zimmer und nahm das Telefon ab. Ein Mann meldete sich als Sekretär Dr. Sorianos.»Ich möchte ihn selbst sprechen«, sagte Volkmar.»Wenn Dr. Soriano nicht anwesend ist, warte ich solange.«
«Es dauert nur einen Moment, Signore Dottore.«
Es knackte ein paarmal, dann war Don Eugenios Stimme im Apparat.»Ich weiß, Dottore, Sie haben jetzt die Röntgenbilder in der Hand. Und Ihre Diagnose steht fest«, sagte er.»Ich verstehe nichts davon. Ich weiß nur, was mir Dr. Nardo erklärte. Eine arme Frau, zweiundsiebzig Jahre alt. Hat siebzehn Kindern das Leben geschenkt — siebzehn, Dottore! Und hat alle bis auf zwei überlebt. Diese beiden letzten leben in Amerika. Hat es diese Frau verdient, noch ein paar Jahre weiterzuleben?«
«Ich bin kein Zauberer, Don Eugenio!«
«Aber ein Herzspezialist von Gottes Gnaden.«
«Himmel, wie können Sie von Gott reden!«
«Ich glaube zutiefst an Gott. Nur was der Mensch aus sich auf Erden macht, das muß er allein verantworten, und da sollte er auch keinen anderen fragen. Sie operieren also?«
«Nur in einer Klinik, die.«
«Kommen Sie her! Ich bin schon im Altersheim. Das Operationsteam wartet, die alte Dame ist bereits vorbereitet. Nur Sie — als Chef — fehlen noch!«
«Und wenn ich nein sage?«
«Das können Sie nicht. Sie nicht! Bei diesen Röntgenbildern in Ihrer Hand.«
Volkmar warf den Hörer zurück, klemmte sich die Fotos unter den Arm und nickte.»Wie lange brauchen wir bis zum Altersheim?«fragte er Gallezzo.
«Eine halbe Stunde. Die Straßen werden frei sein. Wir fahren mit einem Krankenwagen, mit Rotlicht und Sirene.«
Das Altersheim, auf das nicht nur Dr. Soriano, sondern ganz Palermo, ja ganz Sizilien stolz war, lag auf einem flachen Hügel und bot einen bezaubernden Blick auf Stadt und Meer. Es war ein vielfach gegliederter Riesenbau, von Gärten und tropisch-üppigen Parks unterbrochen, mit einer kleinen Freilichtbühne im Amphitheaterstil, einem Sportplatz, zwei großen Swimming-pools, einem Pinienwäldchen für geruhsame Spaziergänge, bei denen man sich auf weißen Bänken ausruhen konnte. Es war eine Sozialleistung Dr. Sorianos, für die er zu Recht einen hohen Orden erhalten hatte. Es war eine Leistung, angesichts derer niemand mehr nach der Herkunft des dafür benötigten Geldes fragte.
Dr. Volkmar war schon vom äußeren Anblick beeindruckt, als der Wagen mit heulender Sirene die breite Auffahrt hinaufraste und fünf ganz in Weiß gekleidete Schwestern sie empfingen. Sie starrten Volkmar wie ein Wundertier an, als sie ihn zum Lift geleiteten. Dann war nur noch Gallezzo bei ihm. Im zweiten Stockwerk erwartete sie Dr. Soriano vor der Lifttür. Er zog Dr. Volkmar an sich, umarmte ihn und küßte ihn auf die rechte Wange. Er ließ es geschehen. Sein Wunsch, diese Frau mit dem Panzerherzen zu retten, war stärker als der Abscheu vor Soriano.
«Na, ist das ein Haus?«fragte Soriano.
«Wo ist der OP-Trakt?«fragte Volkmar.
«Im Teil drei. Wir fahren sofort hin. Die Dimensionen sind derart, daß wir nicht nur vertikale, sondern auch horizontale Lifts haben. In einer Kabine fahren wir von Trakt zu Trakt. Darf ich bitten?«
Sie gingen zu einer anderen Tür, setzten sich auf die Bank einer Gondel, Dr. Soriano drückte auf einen Knopf, und als befänden sie sich in einer riesigen Rohrpostanlage, sausten sie durch eine Röhre, bis die Gondel mit einem sanften Ruck anhielt. Als sich die Tür wieder öffnete, warteten Dr. Nardo und zwei andere Ärzte, schon in Operationskitteln, auf dem Flur. Sie waren mitten im OP-Trakt gelandet. Weiß gekachelte Wände, blitzende Kachelfußböden, Desinfektionsgeruch, mit Gummi abgedichtete Zwischentüren, rote Warnlampen darüber. Vollkommene Sterilität. Gleich neben der >Rohr-post< war eine Tür, durch die man Soriano und Volkmar führte. Gal-lezzo sauste mit der Gondel wieder zurück.
In diesem Raum zog sich Volkmar um. Er bekam seine Grundkleidung als Chirurg: Hose, ärmelloses Hemd, Schuhe, alles in lindgrüner Farbe. Dann wünschte ihm Soriano viel Glück, und Dr. Nar-do führte ihn in die zweite Sterilschleuse, während Don Eugenio zurückblieb.
Hier warteten vier Ärzte und nickten Dr. Volkmar zu. Eine Schwester band ihm die Schürze um, eine andere setzte ihm das Käppi auf, die dritte holte den Mundschutz. An einem breiten, tiefen Waschbecken begann Volkmar mit den Waschungen, seifte sich ein und schrubbte, tauchte die Hände in die Sterillösung und ließ sich die dünnen Gummihandschuhe überstreifen. Über ihm, vor einem Lichtkasten, hingen die Röntgenbilder mit dem Panzerherzen.
Durch eine Wand aus Glas, die den eigentlichen OP vom Vorbereitungsraum trennte, sah Volkmar die alte Frau auf dem Tisch liegen. Vor einem Oszillographen standen zwei Internisten und kontrollierten die peripheren Durchblutungen. Die zuckenden elektronischen Zacken sahen sehr kritisch aus. Drei weitere Ärzte saßen an der Herz-Lungen-Maschine, zwei Anästhesisten überwachten die Narkose, ein Team von drei Chirurgen hatte bereits den Thorax geöffnet und schloß gerade den Blutkreislauf an die Herz-LungenMaschine an. Eine verwirrende Fülle von Spreizern, Klemmen, Schläuchen, Haltern, Tüchern und Tupfern. Dr. Volkmar wandte sich Dr. Nardo zu, der sichtlich stolz war auf seine Vorbereitung.
«Wir haben sofort angefangen, als man uns über Funk unterrichtete, daß Sie unterwegs sind«, sagte er.
«Das ist sehr nett!«Volkmar blickte wieder zu dem OP-Tisch.»Sie haben die Perikardektomie eingeleitet, ohne zu wissen, wie ich vorgehen will. Sie haben eine transsternale Thorakotomie gemacht. Aber wenn ich nun linksseitig transpleural hätte vorgehen wollen? Wer soll hier operieren?!«
«Sie haben transsternal eine bessere Übersicht und ein breiteres Feld, Herr Kollege«, sagte Dr. Nardo hörbar gekränkt.»Für die Ablösung des Kalkpanzers brauchen Sie Bewegungsfreiheit.«
«Ich danke für die Vorlesung. «Dr. Volkmar ging durch die sich automatisch öffnende Glastür in den OP. Es war wirklich ein nach neuesten Erkenntnissen gebauter Operationssaal, in dem nichts fehlte. In die riesige OP-Lampe über dem Tisch war eine Fernsehkamera montiert. Volkmar blickte hinein und grinste.
«Wir nehmen jede Operation am Herzen auf«, erklärte hinter ihm Dr. Nardo.
«Ach! Sie thorakotomieren häufig?«fragte Volkmar.
«Wir haben viele alte, herzkranke Menschen hier.«
Ein Schauer rieselte über Volkmars Rücken. Das ist Dr. Soriano, dachte er und mußte tief durchatmen. An Forschungsobjekten fehlt es ihm nicht. Er baut dafür eine Luxusherberge. Er bekommt Orden, Titel. Er ist der große Menschenfreund und Sozialist. Wenn von dreihundert Alten zwanzig oder dreißig oder fünfzig als unheilbar Herzkranke auf dem OP-Tisch landen, wem fällt das auf? Wer kümmert sich darum? Wen interessiert es noch, woran ein unbekannter alter Mensch in einem Altersheim stirbt? Es stehen genug auf der Warteliste, die glücklich sind, wenn ein Zimmer frei wird.
Die Verbindungen zur Herz-Lungen-Maschine waren hergestellt. Die Anästhesisten und die Internisten gaben ihre Meßwerte durch. Halblaut, monoton. Ein hervorragend aufeinander eingespieltes Team das bemerkte Dr. Volkmar sofort.
«Wie groß sind die Sekundärschäden?«fragte er Dr. Nardo.»Man hat mir nur die Röntgenbilder gezeigt, aber keine Krankengeschichte. Ich kenne keine Anamnese. Wie sieht der Myokard aus? Was ist mit Leber und Lunge? Wie ich im Oszillographen sehe, liegt eine starke Accretio pericardii partialis vor. Eine Verwachsung mit dem Mittelfell ist sicher! Und das alles hauen Sie mir so einfach vor die Nase und denken sich: Laß ihn mal 'ran! Da geht auch er in die Knie!«
Er trat näher an den OP-Tisch heran, an die Seite, die dem Chef zusteht, und überblickte, was man bisher gemacht hatte. Es gab nichts zu tadeln, das mußte ehrlich anerkannt werden. Das Herz mit seinem Kalkpanzer sah hoffnungslos aus: ein fester weißgrauer Klumpen, in den die Venen und Arterien hineinführten wie in eine geschlossene Pumpe. Auf dieses Herz konnte man mit einem Hammer schlagen wie auf einen Stein.
«Also gut!«sagte Dr. Volkmar und beugte sich über den eröffneten Brustkorb.»Lassen wir den Blutkreislauf losmarschieren. Sind alle Blutwerte korrekt vorhanden?«
«Wozu?«fragte Dr. Nardo neben ihm.
«Wozu?«Volkmar starrte Dr. Nardo an. Und plötzlich brüllte er, daß es von den gekachelten Wänden zurückschallte.»Weil ich dieses Herz retten will! Weil dieser Mensch weiterleben soll! Weil das kein Stück Fleisch ist, an dem wir aus Freude am Experimentieren herumschnippeln! Diese alte Frau geht in vier Wochen wieder im Park spazieren! Ist das klar, Herr Nardo?!«
«Nein, Herr Kollege.«
«Dann sage ich es deutlicher: Wenn Ihnen bei den Vorbereitungen ein Fehler oder eine Unterlassung unterlaufen ist, haben Sie bei mir keine ruhige Minute mehr. Verstehen Sie das jetzt?«
«Nein! Ich lasse mir das von Ihnen nicht sagen!«schrie Dr. Nar-do zurück.
«Halten Sie den Mund!«sagte plötzlich eine scharfe, eiskalte Stimme aus einem versteckten Lautsprecher.»Pietro, der Chef ist Dr. Volkmar!«
«Aha! Sie hören mit, Don Eugenio?!«rief Volkmar.
«Ich höre und sehe alles über die Fernsehkamera. «Dr. Soriano sprach wieder ruhig.»Im OP gilt nur, was Sie sagen, Enrico. Dort sind Sie der Kaiser — oder Gott. Was Sie wollen!«
Die Meßwerte, die man Dr. Volkmar schnell vorlas, stimmten. Es war nichts vergessen worden. Die eigentliche Operation, die Abtrennung des Kalkpanzers, konnte beginnen. Der Blutkreislauf lief über die Herz-Lungen-Maschine. Es war für die alte Frau seit langer Zeit wieder ein normaler Kreislauf, aber sie spürte davon nichts.
Dr. Volkmar brauchte drei Stunden, bis er die Kalziumablagerungen so weit abgeschält, herausgebrochen und abgesägt hatte, daß das Herz sich wieder entfalten konnte. Allerdings war der Myocard, also die Herzmuskulatur mit ihrem Faserngewebe, bereits so stark in Mitleidenschaft gezogen, daß diese Operation nur noch als eine vorübergehende Entlastung anzusehen war.
Es war der Augenblick erreicht, auf den Dr. Nardo — und Dr. Soriano am Fernsehschirm — gewartet hatten: Es stellte sich die Frage, ob hier die Medizin aufhört oder ob die Herzchirurgie eine neue Welt entdecken kann. Das alte, müde, geschädigte Herz begann nach Zurückführung des Blutes in den natürlichen Kreislauf und nach dem Elektrostoß, der ihm signalisierte:»Nun bist du wieder dran«, langsam und mühsam zu schlagen. Der Mensch auf dem OP-Tisch lebte, aber er lebte, um jeden weiteren Tag als eine Qual zu empfinden.
«Bravo!«sagte Dr. Sorianos Stimme im Lautsprecher.»Das war nicht nur eine Meisterleistung, das war die Demonstration goldener Hände! Dr. Volkmar, Sie haben wirklich goldene Hände und dazu den Mut eines Thyrannosaurus!«
Volkmar trat vom OP-Tisch zurück und überließ es Dr. Nardo und seinem Team, den Thorax wieder zu schließen.»Ich bin müde!«sagte er laut in die Fernsehkamera hinein.»Ich habe die ganze Nacht gesoffen! Die alte Frau wird weiterleben, vielleicht ein halbes Jahr noch.«
«Wäre sie jünger, sagen wir Mitte Vierzig, dann hätte sie mit einem neuen Herzen die Chance.«
«Schluß, Don Eugenio!«sagte Volkmar hart.»Darüber rede ich nicht mehr mit Ihnen! Ich habe meine Pflicht getan. Jetzt lassen Sie mich in Ruhe!«
Er verließ den OP durch die automatische Glastür, warf im Vorraum Mütze, Mundschutz, Handschuhe und Schürze von sich, als seien sie voll Ungeziefer, und ging in den ersten Raum, wo sein Anzug hing. Freundliche Menschen hatten ihn desinfiziert und gebügelt.
Hier saß auch Dr. Soriano vor einem Bildschirm und applaudierte, als Volkmar ins Zimmer kam. In einer Ecke, auf einem weißen Stuhl, hockte Loretta, das Gesicht vom Monitor abgewandt. Sie sah sehr bleich aus, sehr zerbrechlich, offenbar sehr erregt.
«Loretta wollte dabeisein!«sagte Soriano und stand auf, um Volkmar beide Hände zu schütteln.»Aber sie hat nicht ein einziges Mal auf den Schirm geguckt. Aber als Sie fertig waren, hat sie gesagt: >Wie kann ein Mensch solche Wunder vollbringen?!< Ich mußte ihr recht geben!«
«Es gibt keine Wunder, Loretta. «Volkmar zog sie vom Stuhl. Als seien sie ein Liebespaar, allein auf einer Waldlichtung, lehnte sie sich an ihn und legte den Arm um seine Hüfte.»Es war mein vierunddreißigstes Panzerherz — da hat man schon etwas Routine.«
«Trotzdem«, wandte sie ein.»Es bleibt manchmal unbegreiflich. Es heißt immer: Der einsamste Mann der Welt ist der Boxer im Ring. Ich glaube, ein Chirurg vor einem aufgeschnittenen Körper ist einsamer. «Dr. Soriano sah seine Tochter an. Diese Anschmiegsamkeit schien ihm nicht in seine Berechnung zu passen.»Gehen wir!«sagte er.
«Ich möchte noch die Wach- und Intensivstation sehen!«
«Aber gern!«
Sie verließen das Zimmer, setzten sich wieder in die >Rohrpost< und starteten.
«Für Loretta ist das nichts«, sagte Soriano, als sie hielten.»Ich schlage vor, wir treffen sie in zwei Stunden wieder im >Palermo Palace<. Dort werden wir zu Abend essen. Haben Sie einen besonderen Wunsch, Dottore?«
«Ja. Eine deftige Leberknödelsuppe und eine Schweinshaxe vom Grill.«
«Werden Sie bekommen. Loretta, bestell es schon immer im Palace! Sie haben dort einen Koch aus Graz, der wird's können!«Sie warteten, bis Loretta mit dem Lift nach unten fuhr, und sausten dann wieder in der Röhre herum. Mit einem Fahrstuhl ging es in den Keller, zwei Stockwerke tief. Volkmar sah Soriano kritisch an.
«Hier ist die Intensivstation?«
«Nein. Wir sind jetzt in einem Teil des Hauses, den nur ein paar Ärzte kennen. Sie wissen: Ich baue in den Bergen bei Camporeale eine große Kinderklinik und ein Kindererholungsheim. Aber das ist gewissermaßen nur das Firmenschild. In Wahrheit soll dort die modernste Herzklinik der Welt entstehen. Aber was dort einmal praktiziert werden wird, das wird hier vorbereitet. Was Sie gleich sehen werden, wird Ihnen geläufig sein von München her: Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen, Hunde, Affen, Schweine, Schafe. Der ganze Zoo, den man braucht, um an ihm für die Gesundheit der Menschen zu lernen.«
«Sie haben mich also doch überlistet, Don Eugenio. «Volkmar lehnte sich gegen die Kellerwand. Sie war weiß gekachelt wie im OP-Trakt und strahlte vor Sauberkeit. Dagegen sind unsere Vivisektionsräume Sauställe, dachte er. Und unsere Labors im alten Klinikum? Sprechen wir nicht darüber.
«Dr. Nardo kommt nicht weiter«, sagte Soriano.»Die längste Überlebenszeit, die er bei einem Hund erreicht hat, betrug fünf Tage. Da hat er gejubelt, so glücklich war er. Meistens gehen sie an Lungeninfektionen ein.«
Sie öffneten eine dicke, schalldichte Eisentür und kamen in einen Kellertrakt, der von unzähligen Tierstimmen erfüllt war. Das Gekreisch der Affen dominierte. Die Hunde bellten kaum noch, sie winselten nur beim Anblick der Menschen.
Von der anderen Seite des großen Raumes kam ihnen Dr. Nardo entgegen. Zwei Tierpfleger folgten ihm und starrten Volkmar, genau wie die Schwestern, an, als käme er von einem fernen Stern.
«Es ist alles in Ordnung«, sagte Dr. Nardo, bevor Volkmar fragen konnte.»Die Patientin wird in zehn Minuten intensiv versorgt sein.«
«Das ist das einzige, was mich interessiert!«antwortete Volkmar aggressiv. Er trat an einen Affenkäfig heran, in dem auf einer Art Matratze ein Schimpanse lag. Seine Brust war mit Verbänden umwickelt, er starrte die Menschen aus großen traurigen Augen an und rang nach Luft. Wenn er atmete, klang es, als rollten Bleikugeln über ein Trommelfell.
«Vorgestern operiert«, sagte Dr. Nardo.»Transplantation rechter Vorhof, Hohlvene und unterer Teil der Lungenarterie.«
«Schläfern Sie ihn ein!«Volkmar wandte sich ab. Die Qual der Tiere ergriff ihn immer wieder, obwohl er selbst seit Jahren mit ihnen arbeitete. Doch viele Großtaten der Medizin wären ohne Tierversuche nicht möglich gewesen. Daß der Mensch länger leben darf als früher, verdankt er dem Experimenttod des Tieres. Das ist eine furchtbare Wahrheit, aber wer kennt einen Ausweg?
Sie gingen in einen Raum, der wie eine Art Filmtheater aussah, mit Leinwand und einem Nebenraum für die Projektionsapparate. Ein Tierpfleger übernahm es unterdessen, den armen Schimpansen mit seinem halben fremden Herzen schmerzlos zu erlösen.
«Dr. Nardo zeigt uns jetzt seine Versuchsreihe!«sagte Dr. Soriano.»Seine Methoden, seine Erfolge, seine Niederlagen.«
Das Licht erlosch. Sie setzten sich in die weichen Sessel, hinter ihnen surrte der Filmgeber. Dann begann der Farbfilm, klar und deutlich unmittelbar am Operationstisch aufgenommen, zum Teil mit einer Makrolinse.
Schweigend beobachtete Volkmar, wie Dr. Nardo und seine Helfer das Herz eines Hundes teilweise heraustrennten und ein anderes Hundeherz an seine Stelle einpflanzten. Das war der rein technische Akt. Eingeblendet waren Tabellen mit den serologischen Un-tersuchungen, den Proteinzusammensetzungen, den Gewebeproben, den hämatologischen Werten. Dann ein Sprung von zwei Tagen: der gleiche Hund auf dem Seziertisch. Deutlich erkannte man, wie das eingepflanzte Herzstück vom Restherzen und allen Abwehrstoffen des Körpers zerstört worden war. Ein wertloses Stück Fleisch.
So ging es Film um Film, zwei Stunden lang. Für Dr. Nardo mußte es schrecklich sein: Er führte seine Kapitulation vor.
«Was machen wir falsch?«fragte Soriano, als die Lichter wieder angingen.
«Nichts — und doch alles!«
«Was soll das heißen?«
Soriano lehnte sich zurück. Dr. Nardo kam aus dem Vorführraum und setzte sich neben Dr. Volkmar. Soriano reichte Zigaretten herum. Dr. Volkmar hatte Appetit auf einen doppelten Kognak, aber zu trinken gab es hier nichts.
«Sie operieren genau wie wir, wie alle auf der Welt, die sich mit Herztransplantationen beschäftigen. Abgesehen von einigen Modifizierungen sind es die gleichen Operationsmethoden, die gleichen biologischen Untersuchungen, Vorbereitungen und Nachbereitungen. Und die gleichen Niederlagen! In Amerika, vor allem in Houston/Texas, schwört man auf die Zukunft des Kunstherzens aus Plastik. In Paris bevorzugt man die natürliche Methode: Menschenherz für Menschenherz, dafür weitgehende Ausschaltung der Abwehrstoffe im Körper. Das geht natürlich. Aber dann wird jeder Schnupfen sofort tödlich, und wer hustet, kann seinen Sarg bestellen. So weiterleben zu müssen ist auch nicht der Sinn eines neuen Herzens.«
«Aber der Anfang ist doch gemacht, Enrico!«sagte Soriano laut.
«Ein Anfang ist immer da — es fragt sich nur, wie lange der Anfang dauert! Schon im alten Ägypten machten die Ärzte Schädeltransplantationen, und man kannte den Knochenkrebs ebenso gut wie ein Dickdarmkarzinom! Alles Anfänge. und wie weit sind wir in fünfhundert Jahren Medizin mit dem Krebs gekommen? Gut: die Früherkennung. Die Operation. Die Nachbestrahlung. Chemotherapie. Aber seien wir doch ehrlich — und das ist für Mediziner sehr schwer! — , wo stehen wir wirklich? Haben wir Metastasen erkannt, dann reden wir mit schönen Worten immer nur drumherum. «Er zerdrückte seine Zigarette in einem Aschenbecher, der in der Rückenlehne des Vordersitzes eingebaut war.»Bei der Herztransplantation saugen wir noch die Muttermilch der Medizin, aber es sind widerspenstige Brüste!«
«Und Sie, Dottore?«fragte Soriano.
«Wieso ich?«
«Warum lebten bei Ihnen alle Tiere länger als bei anderen Herzchirurgen? Sagen Sie jetzt bloß nicht: Das sind Zufälle! Auch das, was Sie hier gesehen haben, waren deutsche Hunde und sozusagen deutsche Affen, die wir mit Klößen und Eisbein gefüttert haben! Ich habe über Fernschreiben alles heranholen lassen, was Sie publiziert haben und was man von Ihnen in Deutschland erzählt. Sie stellen sich dieses ganze Herztheater offenbar anders vor als andere Ärzte.«
«Um Tote ranken sich immer Legenden. Und ich bin ja amtlich tot!«
«Übermorgen ohne den geringsten Zweifel. Da wird Ihre Leiche angeschwemmt, das wissen Sie ja, Dottore. «Dr. Soriano legte die Hände gegeneinander.»Sie werden der erste Arzt sein, der ein Herz verpflanzen kann. Ich weiß das!«
«Das können viele Ärzte.«
«Herzen, die sich nicht abstoßen lassen?«
«Nein! Noch nicht.«
«Das ist es!«Soriano sprang auf.»Dieses noch ist die Zukunft. Für dieses noch sollen Sie wie ein lebender Gott behandelt werden! Wenn Sie >noch nicht< sagen, weiß ich, daß Sie einmal sagen werden: Jetzt haben wir's geschafft! Sie und ich — wir haben Zeit genug, darauf zu warten.«