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Im Altersheim, Block III, diesem nur Eingeweihten bekannten OP-Trakt mit den darunter liegenden Forschungskellern und Tierstationen, erwartete man sie bereits. Alles war vorbereitet, wie neulich zu der Operation am Panzerherzen der alten Frau: Eine kleine Armee in grünen OP-Mänteln, die ihrem Feldherrn entgegensah. Zum Angriff war alles angetreten. Nur hatte man diesesmal zwei nebeneinanderliegende OPs in Bereitschaft. In dem einen lag unter einem Sauerstoffzelt, verbunden durch ein Gewirr mit Schläuchen zu lebenserhaltenden Fusionen und Herzimpulsmaschinen, der bleiche Arrigo Melata mit seinem Herzstich, im anderen OP, ebenfalls an einen künstlichen Blutkreislauf angeschlossen, aber durch seinen Hirnschuß schon klinisch tot, lag der junge Leone Bisenti.
Volkmar traf im Vorbereitungsraum auf Dr. Nardo und sein Team
Nummer eins. Team Nummer zwei stand einsatzbereit bei dem Kopfschuß. Um Volkmar zu beruhigen, hingen von beiden Verletzten die Röntgenplatten am Lichtkasten: eine breite Herzwunde bei dem einen, eine Hirnzertrümmerung bei dem anderen. Nach den allgemeinen Regeln der Medizin brauchte man gar nicht die Hände und Arme zu seifen und die Gummihandschuhe überzustreifen. Zwei klassische Todesfälle, für die eigentlich nur noch die Staatsanwaltschaft zuständig war.
«Na?«fragte Dr. Soriano, der in seinem Nebenzimmer zurückgeblieben war und alles wieder über das Fernsehauge beobachtete.»Was sagen Sie dazu, Enrico?«
«Holen Sie die Polizei!«
«Sie Witzbold! Was kann Polizei bei einer Vendetta erreichen?!«
Dr. Volkmar antwortete nicht mehr. Er ging hinüber zum OP II und betrachtete im EEG und einem ganz modernen elektronischen Hirnstrommeßgerät den klinischen Tod des jungen Bisenti. Die Hirntätigkeit war eingestellt, die dünnen Striche der Schreiber zeigten keine Zacken mehr, nur noch eine zitternde, gerade Linie, und zitternd nur deshalb, weil der Blutkreislauf künstlich durch den Körper gepumpt wurde. Das wiederum bewies der Oszillograph: Das junge Herz des Mannes schlug, zwar nicht regelmäßig, sehr unruhig, aber es schlug und schien vollkommen gesund. Bevor die Hirnströme aussetzten, hatte man sogar ein EKG gemacht — Dr. Nardo hatte mit perfekter Perfidie gearbeitet — und bewies nun Dr. Volkmar, daß das junge Herz organisch völlig intakt war. Ein unverbrauchtes, funfandzwanzigjähriges Herz. Das Herz eines kräftigen Bauernburschen, der noch vor ein paar Stunden sein Heimatdorf Calascibetta verlassen hatte, in der großen Hoffnung, in Catania, in einer Fischfabrik, mehr Lire zu verdienen, um sich, seine Mama, seine Nonna, drei kleinere Geschwister und einen Onkel zu ernähren. Der ganze Clan der Bisentis hatte Leone vor seinem Weggang gesegnet. Das vergoldete Medaillon auf seiner Brust mit der bunt gemalten Madonna hatte ihn nicht schützen können: Gallezzo, der >Vollstrecker<, hatte ihm eine Kugel so geschickt in den Kopf geschossen, daß er noch so lange lebte, um Dr. Nardo zu seinem EKG kommen zu lassen.
«Die Laborbefunde?«fragte Dr. Volkmar.
Dr. Nardo sah ihn erstaunt an.»Wozu?«
«Sind Sie ein Arzt?«schrie Volkmar.
Er verließ den OP II und betrat durch die automatischen Türen den OP I. Er beachtete den fast ausgebluteten Melata mit seinem Herzstich und seiner laufenden Bluttransfusion gar nicht, sondern blickte in das Fernsehauge inmitten der großen runden OP-Lam-pe.
«Soriano«, sagte Volkmar laut,»ich diagnostiziere, daß beide Verletzte nicht mehr medizinisch zu behandeln sind! Man soll die Apparaturen abstellen; sie haben keinerlei Sinn!«
Sorianos Stimme tönte aus dem Lautsprecher:»Es ist gut, Enrico, daß Sie das auch feststellen! Wenn Sie jetzt anfangen, arbeiten Sie an Toten. Das widerspricht doch nicht Ihrer Moral?! Was an den beiden Menschen lebt, geht nur durch Schläuche. Also beginnen Sie! Sie haben vor sich ein zerstörtes und ein gesundes Herz. Beide Menschen werden so oder so sterben, stimmt es? Aber Sie haben als einziger und erster Arzt der Welt die Möglichkeit, ein lebendes Menschenherz zu transplantieren. Einen Muskel. Einen Motor. Sie sind ein ärztlicher Mechaniker, der einen Motor austauscht!«
«Sie sind ein Satan!«sagte Dr. Volkmar erschüttert.»Ich rühre mich nicht.«
«Dann wird Dr. Nardo es machen.«
«So wie bei den Schimpansen?«
«Ja.«
«Da waren grobe technische Fehler.«
«Machen Sie es besser, Enrico!«
«Nein!«
«Dr. Nardo, fangen Sie an!«Sorianos Stimme klang hart und kalt.»Ohne Experimente kein Fortschritt!«
Dr. Volkmar blieb sitzen, lehnte den Kopf weit zurück und schloß die Augen. Er hörte, wie im OP I die Arbeit begann, und er wußte, daß nicht nur das fürchterlichste Experiment der Medizingeschichte begonnen hatte, sondern auch, daß Dr. Nardo dieser Aufgabe, wenn man es so nennen wollte, nicht gewachsen war. Im OP II geschah Ähnliches: Man eröffiiete den Thorax des jungen Bisenti. Hier konnte man lässiger vorgehen. Leone war ja klinisch tot, nur die Herzpumpe arbeitete noch. Volkmar sah hinter seinen zusammengedrückten Lidern jeden Handgriff, der jetzt an den Tischen getan wurde, er hörte die leisen Angaben des Operateurs von Tisch
I — es war Dr. Nardo —, das Klappern der Instrumente, das Schlürfen und Schmatzen des Blutabsaugers, das rhythmische Knirschen der Herz-Lungen-Maschine, und er roch das Blut und plötzlich den ätzenden Gestank von verbranntem Fleisch.
Er konnte nicht anders: Er zuckte hoch und sprang von seinem Stuhl.
«Wer koaguliert da?!«schrie er.»Welches Rindvieh arbeitet mit dem Elektromesser?!«
«Machen Sie's besser, Enrico!«sagte Dr. Sorianos Stimme ruhig.
Dr. Volkmar stürzte zu dem OP-Tisch. Er riß Dr. Nardo das Elektromesser aus der Hand und warf es weg. Die OP-Schwester stellte sofort den Strom des Gerätes aus. Mit ein paar Schritten ging Dr. Nardo um den OP-Tisch herum und übernahm die Stelle des 1. Assistenten. Hinter seinem Mundschutz konnte man sein Lächeln nicht sehen. Er hatte Dr. Volkmars Reaktion erwartet, hatte sie durch bewußte Fehler provoziert. Kein Arzt kann da ruhig sitzen bleiben und so tun, als ginge ihn das alles nichts an.
Dr. Volkmar nagte an der Unterlippe. Das OP-Team war eingespielt, man sah es sofort, er hatte es schon bei der Panzerherz-Operation bemerkt: Der Brustkorb war in bewundernswerter Schnelligkeit eröffnet worden, der Anschluß an die Herz-Lungen-Maschine war fast beendet. Vom OP II kam über Lautsprecher die erste Anfrage:»Wann seid ihr soweit? Bei uns ist alles bereit zum Transport.«
Volkmar blickte nach oben in die OP-Lampe, in das glitzernde Fernsehauge.
«Was ich hier mache, ist ein Verbrechen, Don Eugenio!«schrie er in ohnmächtiger Verzweiflung.»Hier wird ein Herz verpflanzt ohne die geringsten biochemischen Tests, ohne jede Voruntersuchung, ohne jede.«
Er schwieg. Seine Stimme versagte.
Volkmar beugte sich wieder über den offenen Thorax. Das Herz von Arrigo Melata, von einem >Mitarbeiter< Gallezzos mit einem derart stumpfen und ausgezackten Messer durchstochen, daß eine normale Herznaht völlig unmöglich war, zuckte nur noch unter dem Pumpwerk der maschinellen Impulse. Im Schreiber des EEG aber waren die Hirnströme fast normal! Der Neurologe am Gerät gab nüchtern seine Kommentare durch.
«Anschluß beendet!«sagte Dr. Nardo kühl. Das bedeutete, daß Melatas Herz überflüssig war. Er lebte nur noch durch die Maschine.
Von jetzt an herrschte atemlose Spannung in beiden OPs. Im OP
II konnte man über ein Fernsehbild auch sehen, was an Tisch I geschah.
Wie ging Dr. Volkmar vor? Was tat er jetzt? Welche Anordnungen würde er gleich geben? So etwas hätte man unter normalen Umständen in langen Vorsitzungen mit den Ärzteteams besprochen, Griff für Griff, sekundengenau, generalstabsmäßig festgelegt. Hier aber stand Dr. Volkmar vor einer Situation, in der es nur zwei Entscheidungen gab: den Mut des Genies — oder die Kaltschnäuzigkeit eines Vabanque-Spielers.
Durch den schrecklichen Stich war die ganze linke Herzkammer zerstört. Würde Dr. Volkmar sie durch die Herzkammer des jungen Bisenti ersetzen? Es war die Operation, die man immer wieder im Tierexperiment geübt hatte: die partielle Transplantation.
Volkmar holte ein paarmal tief Luft. Eine Schwester wischte ihm mit einem kalten, in Sterillösung getauchten Tuch den perlenden Schweiß von der Stirn und aus den Augen. Ein scharfer Geruch von reinem Alkohol zog in seine Nase. Erst dann hatte er wieder Ton in seiner Kehle.
«Das Herz!«sagte er, noch immer mühsam.
«Wie bitte?«Die Gegenfrage aus OP II.
«Das ganze Herz!«sagte Volkmar laut. Und dann brüllte er:»Das ganze Herz!«
Dr. Nardo und alle Ärzte um Tisch I starrten ihn an wie ein Gespenst. Auch die Internisten, Anästhesisten und Neurologen blickten zu ihm hinüber, als sei er plötzlich verrückt geworden. Das ganze Herz?! Der Mann dreht durch.
«Das ganze Herz.«, antwortete eine heisere Stimme aus OP II.»Wie Sie wünschen, Chef..«
Chef!Zum erstenmal fiel dieses Wort. Dr. Volkmar zuckte zusammen.
Chef. Chef einer Mafia-Klinik! Chef eines Ärzteteams, das mit jedem Griff ein Verbrechen beging. Chef einer Herztransplantation, die zu nichts diente als zum nackten Experiment am Menschen.
Er beugte sich über den offenen Thorax von Arrigo Melata und begann eine Operation, wie sie noch nie vollzogen, wie sie noch nirgends beschrieben worden war, wie sie vor Dr. Volkmar noch keiner erwogen hatte, weil sie — medizinisch gesehen — offenkundig Wahnsinn war.
Dr. Volkmar löste Melatas Herz heraus. Das ganze! Er durchtrennte alle zum Herzen führenden großen Gefäße vor den Abzweigungen, die an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen waren. Mit anderen Worten: Er hob das Herz einfach aus dem Brustkorb und drückte es dem völlig konsternierten Dr. Nardo in die Hände.
«Bringen Sie es Don Eugenio!«sagte er laut. Dr. Soriano hörte nebenan jedes Wort.»Herz, in Würfel geschnitten, mit einer süßsauren Soße, schmeckt gut! Dazu Dillgurken und frische Salzkartoffeln. Ein Genuß!«
Durch die automatische Glastür rannte ein Arzt mit Bisentis jungem Herzen in einer angewärmten Glasschüssel mit Sterillösung. Am OP-Tisch II hatte man es genauso ausgetrennt wie Melatas Herz. Man brauchte jetzt nur noch die großen Gefäße wieder miteinander zu verbinden. Nur noch zusammennähen.
Nur noch!
Dr. Nardo ließ Melatas Herz in einen Emaillekübel unter den OP-
Tisch plumpsen. Im Raum stand das Entsetzen.
«Das… das ist Irrsinn!«stammelte Dr. Nardo.»Das bekommen Sie nie wieder fest. Das reißt Ihnen überall ein. Ein Herz wiegt.«
«Ich hatte in Anatomie sehr gut!«sagte Volkmar tonlos.»Also kenne ich auch Herzgewichte und die Zugbelastbarkeit von Gefäßnähten! Haben Sie Teflon-Gefäßprothesen hier?«
«Nein!«sagte Dr. Nardo.
«Und das nennen Sie eine moderne Klinik?«schrie Volkmar gegen das Mikrophon im OP-Scheinwerfer.»Don Eugenio! Worauf sind Sie eigentlich stolz?! Chromblitzende Apparate sind kein Beweis von Modernität! Ein paar Stücke Teflon sind jetzt mehr wert als alle Ihre in diesem Haus verbauten Millionen!«
Er nahm das Herz des jungen Bisenti und begann es an die großen Gefäße von Melata anzuschließen. Atemlose Stille begleitete seine feinen Gefäßnähte, vor Erregung gerötete Augen begleiteten die neuen Verbindungen des alten Blutkreissystems mit der neuen, jungen Pumpe, dem blaßrosa Muskel, der Herz hieß und eines der letzten Geheimnisse des Menschen ist.
Es dauerte zwei Stunden. Dann richtete sich Dr. Nardo mit Rük-kenschmerzen auf und seufzte tief.
«Können Sie auf Normal umstellen?«fragte er. Das hieß: Blutkreislauf zurück in das neue Herz. Durch Elektroschock Beginn der Pumptätigkeit. Der größte Augenblick, den die Medizin je erlebt hatte: Schlug tatsächlich ein Herz, das man als Ganzes überpflanzt hatte? Gab es so etwas überhaupt? Oder zerplatzten sofort die Gefäßnähte, wenn der Pumpensog des jungen Herzens an den Aderverbindungen riß? Wurde aus dem geöffneten Thorax ein Springbrunnen, der eine Blutfontäne herausschleuderte?
«Sie Rindvieh!«sagte Volkmar erschöpft.»Wollen Sie auch noch eine Luftembolie hineinzaubern? Erst entlüften wir die Gefäße!«
Mit Klemmen unterbrach er die Gefäße und sah sein Ärzteteam an. Was er hier tat, war nun wirklich ein Vabanque-Spiel. Das Entlüften einer Aorta oder einer großen Hohlvene war kein Problem, es war chirurgischer Alltag, aber die gleichzeitige Entlüftung aller
Gefäße, die zum Herzen und vom Herzen kamen, hatte noch niemand praktiziert. Volkmar hatte es in seinem Experimentier-OP in München mit sieben jungen Chirurgen geübt, an Affen, Hunden und Schweinen. Es war meistens gelungen. Die späteren Todesursachen waren rein immunologischer Natur.
«Jeder ist für ein Gefäß verantwortlich!«sagte Volkmar hart.»Es mag für einen Mediziner dumm klingen, aber jetzt geht's auf Kommando. Wir schlagen hier eine Schlacht. Achtung!«
Der Blutkreislauf wurde von der Herz-Lungen-Maschine freigegeben an das neue Herz, die Klemmen wurden für eine Sekunde gelöst, Blut spritzte, aber mit dem Blutstrom entwich auch die Luft an den Nahtstellen. Dann zog Dr. Volkmar die letzte Schlinge zu, Gefäß nach Gefäß, und hatte das Herz endgültig angeschlossen. Gleichzeitig mit der >Entlüftung< hatte der Internist den Elektrostoß gegeben. Im Oszillographen, dessen elektronische Linie ganz ruhig leuchtete, begann ein Zucken und Flimmern, das neue Herz begann tatsächlich zu schlagen, das bleiche Gesicht Melatas füllte sich mit rosa Farbe, von den Anästhesisten kamen die ersten Pulswerte, die phosphoreszierende Herzfrequenzlinie auf dem Bildschirm stabilisierte sich, wurde in den Zacken gleichmäßiger. Die Atmung, bisher flach, hob sich.
«Zumachen!«sagte Volkmar leise. Er betrachtete noch einmal die Gefäßnähte und wußte, was früher oder später eintreten würde.»Und beten.«
Er trat vom Tisch zurück, warf seine Handschuhe weg und verließ den OP durch die automatische Glastür.
Es ist nicht üblich, daß in einem Operationssaal applaudiert wird, aber die Blicke der Ärzte, die Volkmar folgten, waren voll entsetzter Bewunderung.
Im Vorraum erwartete Dr. Soriano bleich und mit im Schoß gefalteten Händen den zum Umfallen erschöpften Volkmar. Er war wie gelähmt und stand nicht auf, als sich Volkmar stumm auf das Sofa an der Längswand warf und die Augen schloß.
«Sie sind ein Genie«, sagte Dr. Soriano mit einer Stimme, die noch keiner von ihm gehört hatte.»Nein, Sie sind kein Genie. Sie sind eine Hand Gottes! Mit Ihnen hat heute ein neues Jahrhundert begonnen!«
«Der Mann wird sterben. «Volkmar legte beide Hände über sein Gesicht.»Er hat keinerlei Chancen.«
«Natürlich wird er sterben.«
«Und er hat zwei Mörder: Sie und mich!«
«Beide waren bereits tot. Wenn Melata nur eine Stunde noch lebt, haben Sie einen Schöpfungsakt vollzogen, Enrico. Mein Gott, mir fehlen die Worte!«
Dr. Soriano starrte auf den Fernsehschirm. Dort sah man, wie das Team Dr. Nardos den Thorax wieder schloß. Der junge herzlose Körper von Leone Bisenti war längst aus OP II weggerollt worden und würde spurlos verschwinden. Das gleiche Schicksal würde Melata erleiden.
«Dr. Volkmar«, sagte Soriano nach einer Weile,»die neue, perfekte Herzklinik in den Bergen von Camporeale wird erst in einem halben Jahr fertig sein. Aber was Ihnen jetzt fehlt, sollen Sie sofort bekommen. Alle Maschinen, dieses Teflon, Laboreinrichtungen, alles. Wünschen Sie sich, was Sie wollen.«
Volkmar gab keine Antwort.
Er schlief. Seine Arme hingen herab auf den Marmorboden, seine Finger zuckten heftig. Er mußte Schreckliches träumen.
Arrigo Melata überlebte die Verpflanzung des Herzens genau siebzehn Stunden. Er lag in einem völlig sterilen Zimmer, keine Minute ohne Wache. Wer zu ihm wollte, wurde durch drei Vorkammern geschleust und dreimal keimfrei gemacht. Nach vier Stunden erwachte er sogar, war bei vollem Bewußtsein und wunderte sich, wo er war. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war der Autounfall. Dieser verdammte Steinhaufen, der auf der Straße lag, mitten drauf, hinter einer Kurve auch noch, in den er hineingesaust war, soweit man bei seinem alten Fiat von Sausen sprechen konnte. Nun lag er in einem weißen Bett, unter weißen Laken, angeschlossen an Schläuche, bewacht von einem Arzt und einer netten, jungen Schwester, die zu ihm sagte:
«Seien Sie ganz still, Signore Melata. Rühren Sie sich nicht. Sie sind sehr krank, aber wir schaffen das schon. «Und der Arzt lächelte stumm dazu.
Volkmar blieb im >Altersheim<, um zu kontrollieren, wie es weiterging. Daß Melata überhaupt die erste Stunde überlebte, daß er aufwachte, daß er klar bei Bewußtsein war, daß er sogar, entgegen allen Verboten, sprach —»Hat keiner einen Wein für mich?!«-, das allein war schon unfaßbar. Der Blutkreislauf funktionierte also, das Gehirn war genügend mit Sauerstoff versorgt, es hatte keine Ausfallerscheinungen gegeben, der gefürchtete Hirnzellentod war nicht eingetreten. Aber das hieß nicht, daß Melata auch nur den Bruchteil einer Chance hatte, zu überleben. Es war nur eine Frage der Zeit, und das war es, was Dr. Volkmar kaum ertragen konnte. Er hatte sich damit beruhigt, zwei Menschen, die schon klinisch tot waren, operiert zu haben. Und der Transport eines Herzens in einen anderen Körper war fast ein Obduktionsakt gewesen, eine Übung, die erste Anwendung einer neuen Operationsmethode. Daß Melata nun weiterlebte, ein vollwertiger Mensch war — wenigstens für einige Stunden — und doch ganz sicher sterben würde, weil er mit einem Herzen weiterlebte, das nur experimentell in ihm pumpte: das war für Volkmar keine medizinische Großtat, sondern ein Mord auf Raten.
Dr. Nardo, bleich, ausgelaugt von den vergangenen Stunden, aber von einer ungeheuren Zähigkeit, überwachte die Intensivstation mit zwei Internisten und einem Anästhesisten. Kein Zucken in Melatas Körper entging ihnen und den elektronischen Aufzeichnungsgeräten. Jede Minute, die Melata länger lebte, erschien als Wunder.
Volkmar kam viermal in den ersten Vorraum und ließ sich berichten. Er besuchte auch die alte Frau mit dem befreiten Panzerherzen. Sie küßte ihm die Hände, als man ihr sagte, er sei der Arzt, der sie gerettet habe, sie flehte die Madonna an, ihm ein langes Leben und viel Glück zu schenken, und weinte vor Dankbarkeit. Daß sie das schon einmal gleich nach der Narkose gemacht hatte, wußte sie nicht mehr. Jetzt, nachdem sie wieder Wein trinken durfte und Kalbsragout aß — was es zu Hause nie gegeben hatte, weil Kalbfleisch zu teuer war —, glaubte sie wieder an das Leben. Man brauchte sie noch, die Nonna, auch wenn sie im Altersheim lebte.
Nach sechs Stunden meldete Dr. Nardo:»Der Patient bekommt Fieber!«
«Das Ende!«sagte Volkmar.»Dr. Soriano, wollen Sie das auch miterleben?«
«Ich bleibe bei Ihnen, Enrico. Natürlich.«
«Sie kümmern sich wohl überhaupt nicht mehr um Ihre Anwaltspraxis?«
«Ich habe vier gute junge Anwälte in der Kanzlei.«
«Und Ihr Name ist nur ein Aushängeschild?«
«Meine Sache sind die großen Fälle.«
«Die internationalen. Die unsichtbaren Fälle. Die berühmte Cosa nostra!«
«Ich habe ein Altersheim gestiftet, ein Musterheim! Ich baue eine Kinderklinik mit Waisenhaus, ebenfalls einzigartig in Form und Gestaltung. Und ich baue, wenn auch der Öffentlichkeit noch verborgen, das beste Herzzentrum der Welt. Irgendwoher muß das Geld ja kommen, Dottore.«
«Für Ihre doppelte Moral gibt es noch keinen Namen. «Volkmar hob die Schultern, als friere er.»Also kommen Sie, Don Eugenio. Setzen wir zwei Mörder uns neben unser Opfer.«
Sie durchliefen die drei Immunschleusen und betraten das Zimmer, in dem Melata, durch die vielen Infusionsschläuche und Drähte zu den Meßgeräten fast unsichtbar, in seinem Bett lag. Dr. Nardo, ein zweiter Arzt und zwei Schwestern, alle mit Mundschutz, standen um das Bett.
«39,6!«sagte Dr. Nardo.
Volkmar nickte, ging zu Melata und beugte sich über ihn. Der Mann mit dem neuen Herzen sah den fremden Arzt etwas ängst-lich an. Schmerzen hatte er nicht, ihm war nur abwechselnd heiß und kalt.
«Hat er sich bewegt?«fragte Volkmar über die Schulter.
«Wie kann er das bei den Drähten?«
«Soriano, machen Sie Ihren Ärzten klar, daß ich derart saudumme Antworten nicht dulde. Natürlich kann man sich trotz der Drähte bewegen. «Er hörte das neue junge Herz ab. Es flatterte etwas. Er maß den Blutdruck, den Puls, kontrollierte die Farbe der Schleimhäute in der Mundhöhle und unter den Augenlidern. Sie waren blaßrosa.
«Es tröpfelt!«sagte Volkmar leise.
«Wie bitte?«
«Eine Gefäßnaht ist bereits leck. «Er richtete sich auf und trat vom Bett zurück. Melata hatte nicht verstanden, worum es ging. Er begriff nur nicht, warum er bei seinem Riesendurst keinen Wein erhielt.
Dr. Volkmar trat an das Fenster und blickte hinaus auf den herrlichen Park, in den man das >Altersheim< gebaut hatte. Die Ärzte und Dr. Soriano standen dicht hinter ihm.
«Wieder aufmachen?«fragte Dr. Nardo leise.
«Wozu? Die Immunreaktion setzt ja auch schon ein. Sie haben doch alles, was Sie wollten: Man hat ein ganzes Herz transplantiert, Sie haben gesehen, daß es technisch geht. Wenn man jetzt noch die Immunschranke überwindet und einen Weg findet, daß Gefäßnähte rundherum ein ganzes Herz aushalten, dann könnte man sagen, das Herz eines Menschen ist zum Austauschmotor degradiert.«
«Sie werden es schaffen, Dottore!«sagte Dr. Soriano hinter ihm.
«Nein!«
Eine klare Antwort, aber keiner nahm sie ihm ab. Man bewertete sie als Ausdruck der Opposition.
«Und wie geht es weiter?«fragte Soriano.
«Wenn wir merken, daß die inneren Blutungen zu stark werden und weitere Gefäßnahtrisse auftreten, wenn dazu noch die Immunreaktion kommt, dann sollte man ein gnädiger Mörder sein,
Don Eugenio!«Volkmar fuhr herum. Er sah erschreckend aus, bleich, eingefallen, um Jahre gealtert. Ein Mensch, der sich verloren hat.»An diesem Tag, Dr. Soriano, werde ich zerbrechen! Dieser heutige Tag hat den deutschen Chirurgen Dr. Volkmar ausgelöscht! Ist Ihnen das klar?«
«Das wollte ich, Dottore. «Dr. Soriano blickte ihn offen und ohne das geringste Zeichen von Grausamkeit an.»Was auf Sie wartet, darf keine Vergangenheit haben. Es gibt Sie nicht mehr, Dottore. Aber es wird einen Arzt geben, wie es ihn auf dieser Welt kein zweites Mal gibt!«
Der Verfall Arrigo Melatas beschleunigte sich nach dem Gesetz der schiefen Ebene. Von Stunde zu Stunde ging es schneller bergab.
In der zehnten Stunde nach der Operation verlor er das Bewußtsein. Er verlor es glücklich lächelnd, denn da nichts mehr zu verlieren war, erlaubte ihm Volkmar ein Glas Rotwein. Melata trank es mit einem heiligen Durst, streckte sich dann wohlig aus und verließ geistig diese Welt. Puls, Blutdruck, Herzfrequenz zeigten unmißverständlich an, daß Melata nach innen verblutete. Zunächst noch zögernd, aus kleinen undichten Stellen der Nähte, aber mit dem Blutdruck würden sich die Lecks weiter aufsprengen und der Blutfluß sich in die Brusthöhle ergießen. Auch die Abstoßreaktionen machten sich bemerkbar. Das Fieber stieg auf 41,3. Ein Körper, der etwas Fremdes in sich spürt, reagiert schnell und massiv. Es ist wie eine Generalmobilmachung: Alle Armeen der Abwehrstoffe marschieren los gegen den eingedrungenen Feind.
Melata spürte nichts mehr. Hier ist die Natur seltsam gnädig, so grausam sie sonst sein kann. Dr. Nardo hatte alle Infusionen abstellen lassen, nur noch die Meßgeräte waren angeschlossen. Ein Körper, der Daten von sich gab, Funktionsäußerungen, weiter nichts. Das war von Melata, 54 Jahre, Mechaniker, Vater von drei Kindern, übriggeblieben.
Nach siebzehn Stunden, als die elektronischen Bilder anzeigten, daß Melatas Herz ohne Blutversorgung war und auch das EEG schwieg, ließ Volkmar alles abstellen. Volkmar verließ das Zimmer und wartete in der ersten Schleuse, bis Dr. Soriano nachkam.
«Dr. Nardo wird ihn obduzieren. Wollen Sie dabeisein?«fragte er.
«Wozu? Der Befund ist klar.«
«Dann schlage ich ein exzellentes Nachtessen vor, Dottore.«
«Jetzt? Essen?!«Volkmar lehnte sich gegen die weißgekachelte Wand.»Ich würde Ihnen jeden Bissen ins Gesicht spucken, Don Eugenio!«
«Ich wette: Sie tun es nicht!«Dr. Soriano lächelte breit.»Worthlow hat auf Ihrem Dachgarten alles für ein Festmahl gedeckt. Loretta selbst überwacht die Küche.«
«Loretta?!«Dr. Volkmar starrte Soriano aus trüben, roten Augen an. Er fühlte sich so elend, daß seine Knie zitterten, nur die Kachelwand hielt ihn noch aufrecht.
«Sie ist vor zwei Stunden in Palermo gelandet. Als Sie die Operation beendet hatten, habe ich ihr telegrafiert: >Engelchen, komm zurück. Enrico schmeckt kein Essen mehr ohne dich!< — Und sie nahm die nächste Maschine nach Palermo!«Soriano öffnete die Tür.»Sie werfen mir keine Fasanenbrust an den Kopf — wetten?«
«Ich halte die Wette!«Volkmar stieß sich von der Wand ab. Er schrie:»Aber anders, Don Eugenio! Ich werde Loretta in mein Bett nehmen! Nun? Was sagt der Herr Vater dazu? So bringen Sie mich doch um! Ihre Krokodile und Löwen haben Hunger! Warum sagen Sie nichts? Warum tun Sie nichts? Warum stehen Sie nur herum?! Ich schreie Ihnen ins Gesicht: Ich nehme Loretta in mein Bett!!«
«Sie sind überarbeitet, Dottore«, sagte Soriano ruhig. Seine Stimme verriet Güte, klang väterlich.»Überreizt. Mit den Nerven total fertig. Wen wundert das?! Wer das hier miterlebt hat. Sie haben das Recht, hysterisch zu sein.«
«In meinem Bett wird sie liegen! Heute noch!«schrie Volkmar.»Sie haben mich zerbrochen. Das wird Sie zerbrechen!«
«Irrtum!«Dr. Soriano nötigte ihn durch die offene Tür.»Auch wenn ich andere Pläne mit Loretta hatte — man kann umdisponieren. Ich gewinne einen Schwiegersohn, der ein Genie ist! Der meine Herzklinik aufbauen wird! Für den eine Herzverpflanzung nicht komplizierter als ein Blinddarmschnitt sein wird. Was kann sich ein Vater Besseres wünschen? Enrico, fahren wir endlich! Loretta erwartet Sie mit bebendem Herzen. Verdammt, ich gestehe es Ihnen als Vater: Sie liebt Sie wirklich!«
Er ging voraus, und Volkmar folgte ihm, schwankend wie ein Betrunkener.
Anna erlebte die Überfahrt nach Palermo unter Deck. Sie schrubbte Gänge und Kabinen, Küchen und Säle, Magazine und Treppen, wehrte Matrosen, Stewards, Maschinenpersonal, Köche, sogar Offiziere und Passagiere ab, die entdeckten, daß sich unter den schlichten Röcken und Blusen ein strammer Körper verbarg. Das wurde besonders sichtbar, wenn sie sich beim Putzen bückte. Ein Passagier der I. Klasse versuchte es mit zwanzigtausend Lire; ein älterer Passagier der II. Deckklasse lauerte ihr an einem Treppengang mit offener Hose auf.
Es war ein lächerliches Bemühen. Wenn auch die Seeluft, so sagt man, durch ihren Gehalt an Salz und Jod stimulierend wirkt und Menschen am Rande der Impotenz noch einmal Saft in den Lenden spüren — für Anna gab es nur den Gedanken an Enrico, gab es nur die Sehnsucht nach Rache für den Tod Luigis und nach der Umarmung des schönen Dottore. Wie es die alte Sitte verlangte, wollte sie dann das Bettuch zeigen, blutbefleckt: den Beweis ihrer Jungfräulichkeit. Aber nur Enrico allein sollte es sehen; dann wollte sie das Bettuch zusammenrollen und für alle Zeiten, bis zu ihrem Tode, aufbewahren wie eine Reliquie.
So tat sie etwas Grausames: Dem Mann mit den zwanzigtausend Lire gab sie eine Ohrfeige, dem alten Kavalier mit der offenen Hose trat sie gegen das letzte Aufflackern seiner Zier. Gleichermaßen verfuhr sie mit einem Offizier, einem Koch und einem Heizer, der sich ihr faunisch von hinten näherte. In ihre winzige Kammer direkt über den stampfenden Maschinen schloß sie sich ein, preßte die Hände in ihren Schoß und sprach in der Dunkelheit mit Enrico.»Komm her — «, sagte sie.»Komm her, mein Wölfchen… Mach alles mit mir. Zerreiß mich! Ich gehöre ganz dir. Aber vorher, mein Liebling, laß mich noch den Mann töten, der Luigi aufgeschlitzt hat. Das bin ich uns allen schuldig.«
So schlief sie dann ein. Die Hände zwischen den Schenkeln und durchdrungen von einer Wärme, die ihren ganzen Körper wohlig erschauern ließ.
Der Gedanke, Enrico könne für sie unerreichbar sein, kam ihr nie. Warum auch? Sie war schön, sie war willig, sie war rein, sie war treu, sie war häuslich, sie konnte arbeiten und leiden, lieben und hassen, glücklich und demütig sein. Was wollte ein Mann noch mehr von einer Frau?
Auf dem festlich gedeckten Dachgarten der Villa bei Solunto trug der Butler Worthlow in seiner weißen Uniform die Vorspeise auf: geeiste Melonenkugeln mit Königskrabben in einer ganz zarten Madeirasoße.
Die Markise war heruntergelassen, die Laternen brannten, das Meer rauschte leise. Soriano und Volkmar trugen ihre weißen Smokings. Um sie herum leuchtete die Pracht des Dachgartens, schimmerte das Wasser des Pools im Licht der Unterwasserscheinwerfer, zirpten im Park die Zikaden, und im fernen Innenhof rumorten dumpf die Löwen.
Loretta saß neben Volkmar und hielt seine rechte Hand fest. Der Schleier ihres langen, schwarzen Seidenhaares lag halb auf seiner Schulter, so nah war ihm ihr Körper in dem engen Kleid, das nur aus bunten Blüten zu bestehen schien. Daß ein Mensch so schön sein konnte, war unbegreiflich.
«Ich hebe mein Glas auf ein Genie!«sagte Dr. Soriano. Worthlow hatte die Gläser mit goldgelbem Wein gefüllt.»Er ist eins, Loretta, er weiß es bloß selbst noch nicht.«
«Aber ich weiß es. «Sie nahm ihr Glas, zupfte eine Rose aus ihrem Haar und ließ sie in den Wein fallen. Dann reichte sie das Glas
Volkmar, und jetzt wäre jedes Wort von ihr zuviel gewesen.
Er trank, die Rose blieb an seinen Lippen haften, und ihm war, als küsse er durch sie Lorettas Mund. Sein Blick streifte Sorianos Gesicht, das ausdruckslos wie eine Maske war.
Als zwischen dem Hauptgericht und dem Dessert Don Eugenio zum Telefon gerufen wurde, waren sie endlich allein. Nur Worthlow stand im Hintergrund, er garnierte das Dessert.
«Ich liebe dich«, sagte Volkmar leise.
«Ich dich auch, Enrico«, antwortete sie ebenso leise.
«Weißt du, was heute geschehen ist?«
«Worthlow hat es mir erzählt.«
«Kann man Worthlow vertrauen?«
«Er ist der einzige hier, der nicht käuflich ist. Aber niemand weiß es.«
«Wie sehr liebst du mich?«Er küßte ihre Hand.»Ich weiß, es ist eine kitschig dumme Frage. Aber sie muß sein.«
«Ich liebe dich so, wie ich mir nie habe vorstellen können, daß man einen Menschen lieben kann.«
Er umklammerte ihre schmale Hand. Die langen Nägel ihrer Finger schnitten in sein Fleisch.»Loretta, ich muß hier weg! Ich muß aus dem goldenen Käfig heraus. Was man hier plant, ist das Furchtbarste, was Menschen je erdacht haben! Ich habe noch keine Beweise, aber ich ahne es! Loretta, hilf mir! Ich muß hier weg!«
«Ich helfe dir. «Sie küßte seine Hand. Im Nebenraum hörten sie Soriano sprechen. Er gab Befehle. Man hörte es am Klang seiner Stimme.
«Ich bereite alles vor«, flüsterte Loretta.
«Du willst mitkommen?«fragte er. Seine Kehle war zugeschnürt.
«Wohin du auch gehst«, sagte sie leise.»Und wenn es ins Nichts führte.«
Soriano kam zurück. Worthlow trug das Dessert auf. Eisbombe a la Cardia: eine Eisplastik in Form eines Herzens. Soriano liebte makabre Scherze.
Der Fischer Giovanni Responatore hatte eine schlimme Zeit hinter sich und eine noch schlimmere vor sich, aber das wußte er nicht. Anlaß war Dr. Angela Blüthgen, die der Polizeikommissar in Giovannis Hütte eingewiesen hatte. Aber nicht ihre Anwesenheit brachte den bisher so ruhigen Haushalt durcheinander, denn sie ging meistens am Strand spazieren, sondern Recha, ausgerechnet Recha, Giovannis Frau, der man nicht viel mehr zutraute, als daß sie Fische entschuppen und braten konnte, entdeckte in sich, nach fünfunddreißig Ehejahren, den Urinstinkt der Eifersucht.
Nicht daß Dr. Blüthgen dazu Anlaß gab — um so etwas Wahnsinniges auszuschließen, brauchte man nur Giovanni Responatore anzusehen —, aber Giovanni, von Rechas Reizen wirklich nicht verwöhnt, sah Angela einmal im Badeanzug am Meer und war von dieser Stunde an das Opfer einer ihm unerklärlichen Hormonrevolution.
Er flickte seine Netze jetzt mit einer nie gekannten Hingabe, deckte den wackeligen Holztisch mit einer Papierserviette (er hatte hundert Stück aus dem Kaufhaus von Cabras geholt, bezahlt von der ersten Miete), er putzte sogar die Gläser, aus denen sie den Wein tranken, mit einer Bürste, die an einem biegsamen Drahtstiel befestigt war (auch aus dem Kaufhaus von Cabras) und nannte Re-cha eine alte Drecksau, wenn sie in verletztem Hausfrauenstolz fragte, warum man plötzlich sauberer sein müßte als beispielsweise das Krankenhaus von Oristano, wo sie vor dreiunddreißig Jahren eine Fehlgeburt gehabt hatte.
«Das ist eine Dame!«schrie der Fischer.»Eine deutsche Ärztin. Die trinkt keine Ziegenmilch aus der Zitze!«
«Aber ihre Zitzen bringen dich um den Verstand, du alter Bock, was?«schrie Recha zurück.»Wenn sie am Strand mit dem Arsch wackelt, mit den Brüsten schaukelt, dann stehst du geil hinter deinen Netzen und hakst dich in die Maschen fest. He?«
Sie war eben ein ordinäres Weib, diese Recha Responatore. Der schöne Name paßte gar nicht zu ihr. Aber Giovanni ertrug es mit großer innerer Kraft, fischte aus einer kleinen Felsenwanne herrli-che Calamaris aus dem Meer und zeigte Dr. Blüthgen, daß man die Fangarme auch roh aussaugen konnte — was sie gar nicht mochte —, oder er fischte einen Haufen Seeigel, die, im schwimmenden Fett gebacken, wie zu Kugeln geschnittene Pommes frites schmeckten. Das beste aber waren seine frischen Langusten und ein Fisch, dessen Name Angela nie verstand, ein langer, schmaler Fisch mit silberschuppigem Leib und spitz zulaufendem Maul, einem Hecht ähnlich, auf jeden Fall ein Raubfisch, der kaum Gräten hatte und völlig weißes Fleisch, das wie ganz zartes Kalbfleisch schmeckte. Dieser Fisch in einer einfachen Buttersoße mit frischen Kräutern, dazu warmes, noch dampfendes Weißbrot, das Recha selbst in einem uralten Steinofen hinter der Hütte buk — was gab es Köstlicheres zu einem Glas mit dunkelrotem Landwein?
Auch wenn Dr. Blüthgen aß, sah ihr Giovanni begeistert zu. Welche Kultur! Wie sie Messer und Gabel hielt, wie sie den Löffel zu den geschminkten Lippen führte, wie sie mit ihren schönen Händen das dampfende Brot brach — es war ein Genuß, ihr zuzusehen. Recha schmatzte und rülpste zwischendurch, kratzte sich zwischen zwei Bissen an der Brust — und die konnte sich sehen lassen wie zwei ausgereifte Kürbisse — und saß breitbeinig am Tisch, als solle das Essen, das sie oben hineinschaufelte, sofort wieder aus ihr herauslaufen. Wen wundert es, daß jedesmal, wenn Angela Blüthgen am Strand spazieren ging, im Hause der Responatores der Teufel los war, Recha wie eine Furie wütete und ihren Giovanni mit den unanständigsten Namen belegte.
Das änderte sich, als zwei Carabinieri auf ihren schweren Maschinen bei Giovanni erschienen, die fürchterlich knatternden Motoren abstellten, die Lederhelme abnahmen und ins Haus traten. Recha putzte gerade die alten Dielen, auf die Giovanni seit zwei Tagen nicht mehr spuckte, was er doch siebenunddreißig Jahre lang getan hatte, und Giovanni selbst nahm die weißfleischigen Fische aus, die er im Morgengrauen schon gefangen hatte. Dr. Blüthgen ging wieder am Meer spazieren. Im Augenblick saß sie im Sand, vor der Sonne geschützt durch einen breitkrempigen Strohhut, den Körper nur mit einem bunten Bikini bedeckt. Giovanni hatte bei diesem Anblick tief aufgeseufzt.
«Wir haben ihn gefunden«, sagte einer der Carabinieri und setzte sich. Er war dankbar, daß Recha schneller als Giovanni reagierte, eine Korbflasche Wein und vier Tonbecher auf den Tisch stellte und einschenkte. Er trank mit einem Schluck den Becher leer, und auch der andere Polizist hatte etwas herunterzuspülen: den schrecklichen Anblick einer Wasserleiche, die nicht nur das Salzwasser, sondern offensichtlich auch eine Schiffsschraube zerstört hatte. So etwas sieht man nicht alle Tage, und es gehört auch nicht zum Ausbildungsprogramm der Polizei.
«Wen?«fragte Giovanni dumm. Dann begriff er, umklammerte seinen Tonbecher und starrte hinaus zum Fenster. Von hier aus sah man nur den großen Strohhut am Meer.»Madonna«, stammelte er.»Wo?«
«Er lag zwischen den Klippen vom Capo Mannu. Nördlich, in einer Bucht. Die Strömung der letzten Flut hat ihn angeschwemmt. «Der Polizist füllte aus der Korbflasche noch einen Becher voll Wein und trank, als käme er aus der Wüste.»Der Kommissar hatte schon so eine Ahnung. Man hat die Strömung studiert; wenn er wieder an Land kommen sollte, dann mußte es irgendwo dort sein. Und siehe da. Auf das Meer ist Verlaß.«
«Und ihr seid sicher, daß er es ist?«fragte Giovanni mit belegter Stimme.
«Er hat seine Badehose noch an. Der Kommissar sagt, daß nach der Beschreibung der Badehose gar kein Zweifel mehr besteht.«
«Dann wäre der Fall gelöst?«fragte Recha.
«Das ist er.«
«Dann kann sie wieder abreisen«, sagte Recha nüchtern.
«Ist sie nicht ein rohes Weib?«schrie Giovanni.»Ein Herz wie ein Kieselstein! Ich armer Mann! Habe fünfunddreißig Jahre mit einem Stein gelebt!«
«Wer sagt es ihr?«fragte der andere Polizist und stärkte sich mit einem kräftigen Schluck.
«Das ist es!«Giovanni starrte wieder auf den leuchtenden gelben Strohhut am Meer.»Sie wartet darauf. Aber wenn's dann soweit ist, weiß man nie, wie man's ausdrücken soll. Man kann doch nicht hingehen und sagen: >Signora, Ihr Bräutigam klebt zwischen den Klippen von Capo Mannu. Aber Sie erkennen ihn nur wieder an seiner Badehose.< Das geht doch nicht! Man muß es ihr schonend beibringen. «Er sah die Polizisten an.»Ist das nicht Aufgabe der Beamten?«
«Dazu sind wir gekommen. «Der erste Polizist begann zu schwitzen.»Ihr das zu sagen, geht ja noch. Aber die Gegenüberstellung. Die Identifizierung! Ich habe ihn angeguckt und sofort gekotzt. Wenn jemand in eine Schiffsschraube gerät.«
Er schwieg erschüttert. Auch ein Carabiniere ist nur ein Mensch.
«Wie benimmt sie sich?«fragte der andere.
«Wie eine aus dem Film!«schnaubte Recha.»Wackelt den ganzen Tag herum. Gestern hat sie sogar nackt gebadet.«
«Was hat sie?«schrie Giovanni.»Wann?!«
«Am Abend. In der Dunkelheit. Du lagst schon im Bett! Dem Himmel sei Dank! Läuft da nackt am Meer herum und rennt in die Wellen, als wollte sie sich von einer ganzen Kompanie Männer bespringen lassen! Dann ist sie am Strand hin und her gerannt, bis sie trocken war! So eine ist das!«
«Und sonst?«
«Genügt das nicht?«brummte Recha.»Sieht so Trauer aus?!«
«Soll sie sich in Asche wälzen?«schrie Giovanni.
«Vielleicht tut sie's jetzt, wenn sie ihn sieht. «Die Polizisten erhoben sich, stülpten die Lederhelme über und tranken ihre Weinbecher aus.
«Die ist zäh!«sagte Recha böse.»Oh, die ist zäh! Die schreit nicht, die fällt nicht um, die kotzt nicht wie ihr Memmen von Männern! Jetzt hat sie endlich, was sie will: Sie kann ihn mit nach Deutschland nehmen.«
Angela erhob sich aus dem Sand des Strandes, als die beiden Polizisten langsam auf sie zukamen, drückte den breiten Strohhut tiefer ins Gesicht und kam ihnen sogar entgegen: eine Frau, bei deren jeder Italiener leise durch die Zähne pfeift.
«Man hat ihn gefunden, nicht wahr?«fragte sie, bevor einer der Carabinieri den Mund öffnen konnte.
«Ja.«
Ihr Gesicht blieb unbewegt, obgleich in ihrem Inneren etwas zerriß. Ein Körnchen Hoffnung war ihr ja immer noch geblieben; der wahnsinnige Gedanke, Heinz sei abgetrieben und später von einem Schiff aufgefischt worden. Bis man Nachricht geben konnte, waren schnell ein paar Tage herum. Aber das war auch nur eine verzweifelte Hoffnung gewesen, das letzte, was Angela sich einreden konnte. Nun hatte man ihn gefunden. Ein Abschnitt des Lebens, ein großer, schöner, war abgeschlossen. Jetzt folgte eine Leere, von der Angela noch nicht wußte, wie sie sie ausfüllen sollte. Mit Arbeit in der Klinik, mit Männern, die nur dazu da sein würden, die Erinnerung an Heinz Volkmar auszulöschen. Aber das würde wohl keinem gelingen. Konnte man mit körperlicher Lust die Seele betäuben?
«Wo?«fragte sie.
«Nördlich. Am Capo Mannu. Vor zwei Stunden. Eine Frau, die Krebse suchte, fand ihn. Sie wurde ohnmächtig.«
Das war feinfühlig ausgedrückt. Jeder geistvolle Mensch konnte daraus hören, wie die Leiche aussah. Auch Angela verstand den armen Polizisten, der nach diesen Worten gerungen hatte.
«Wo ist er jetzt?«fragte sie leise.
«Im — im Keller des Kommissariates, Signora. «Der Carabiniere nahm seinen Lederhelm ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.»Wenn Sie mit uns kommen können. Zur Identifizierung. Sie wissen, das ist nötig. Sonst, sonst bleibt er ein unbekannter — unbekannter Toter.«
«Ich habe seinen Wagen oben im Wald.«
«Wir wissen. Wir fahren voraus. Können Sie fahren? Ich meine — nach dieser Nachricht.«
«Natürlich fahre ich! Ich muß ihn sehen. «Sie ging an den Polizisten vorbei, hinauf zu Giovannis Hütte. Ihr Gang — aber dafür konnte sie nichts, er war nun einmal so, wie Recha ihn beschrieben hatte: Sie wiegte sich in den Hüften, und wer ihr nachblickte, als Mann, ließ seine Phantasie spielen.
In der Hütte zog sie sich um, packte ihren Koffer, legte Giovanni einen Haufen Lirescheine auf den Tisch, ohne sie zu zählen, und sagte:»Leben Sie wohl, Giovanni. Alles Gute, Recha! Wir werden uns wohl nie wiedersehen!«Dann verließ sie die Familie Respona-tore. Und wunderbarerweise begann Recha zu weinen und begleitete Dr. Blüthgen bis zu dem Auto auf der Höhe im Pinienwald und winkte ihr so lange nach, bis der Wagen vom weiten Horizont aufgesogen wurde.
«Bist du verrückt?!«schrie Giovanni, als Recha zurückkam.
«Sie war eine gute Frau.«
«Auf einmal?!«
«Sie ist für immer weg! Eine gute Frau.«
Es ist einfacher, von Haien zerrissene Netze zu flicken, als in die Abgründe einer Frauenseele zu blicken.