172335.fb2 Das letzte R?tsel - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

Das letzte R?tsel - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

2

Das Sonntagsmahl am Tisch der Familie Panicker hatte so viele sonderbare Eigenarten, dass Mr Shane, der Neuankömmling, allein schon deshalb den Argwohn seines Wohngenossen Mr Parkins erregte, weil er so tat, als nehme er keine dieser Sonderheiten wahr. Mr Shane kam ins Speisezimmer marschiert, ein kräftiger, rotgesichtiger Kerl, der die Bodenbretter bei jedem Schritt mächtig zum Ächzen brachte und den Eindruck erweckte, als vermisse er schmerzlich ein Pony zwischen den Beinen. Sein kupferrotes Haar war fast bis auf die Kopfhaut geschoren, und seine Sprache hatte etwas unbestimmt Koloniales, eine näselnde Anmutung von Ausbildungslager oder Goldfeldern. Nacheinander nickte er Parkins, dem Flüchtlingsjungen und Reggie Panicker zu, dann warf er sich auf seinen Stuhl wie ein Junge, der sich auf den Rücken eines Schulkameraden schwingt, um quer über die Wiese zu reiten. Augenblicklich verwickelte er den alten Panicker in ein Gespräch über amerikanische Rosen, ein Thema, von dem Mr Shane, wie er freimütig zugab, nicht das Geringste verstand.

Lediglich eine unvorstellbare Selbstbeherrschung oder ein krankhafter Mangel an Neugier konnten in Parkins’ Augen das fast nicht vorhandene Interesse von Mr Shane, angeblich Handlungsreisender für Molkereibedarf bei der Firma Chedbourne & Jones in Yorkshire, an der Person seines Gesprächspartners Mr Panicker erklären. Dieser war nicht nur Malayalee aus Kerala, schwarz wie Schuhwichse, sondern auch noch Pfarrer der anglikanischen Hochkirche. So mochten ihn Höflichkeit oder Dummheit davon abhalten, eine Bemerkung über die mürrische Art zu machen, mit der Reggie Panicker, der erwachsene Sohn des Pfarrers, mit der Spitze seines Fischmessers ein tiefes Loch in die indische Leinentischdecke bohrte, sowie ein Wort über die Anwesenheit eines stummen neunjährigen Jungen bei Tische zu verlieren, dessen Miene einem leeren Blatt aus dem Buch der menschlichen Sorgen glich. Gleichwohl machte die Art und Weise, wie Mr Shane den Papagei des Jungen so gut wie ignorierte, es Mr Parkins unmöglich, dem neuen Mitbewohner vorbehaltlos gegenüberzutreten. Niemand konnte sich dem Reiz des Papageis entziehen, selbst wenn dieser, wie jetzt, lediglich Verse aus Goethe- und Schillergedichten rezitierte, die jedes siebenjährige deutsche Schulkind kannte. Augenblicklich sah Mr Parkins, der den Graupapagei aus persönlichen Gründen schon länger sorgfältig beobachtete, in dem neuen Mitbewohner einen potenziellen Rivalen in seinem Bestreben, das äußerst dunkle, knifflige Geheimnis des ungewöhnlichen afrikanischen Vogels zu lüften. Offenbar war jemand von ganz oben über die Zahlen informiert worden und hatte Mr Shane hergeschickt, um sie mit eigenen Ohren zu hören.

»So, da wären wir.« Mit einer Porzellanterrine der Manufaktur Spode kam Mrs Panicker ins Speisezimmer geeilt. Sie war eine große, schlichte, flachshaarige Frau aus Oxfordshire. Ihr unvorstellbar wilder Einfall vor dreißig Jahren, den ernsthaften, kohleäugigen indischen Hilfspfarrer ihres Vaters zu ehelichen, hatte weitaus mehligere Früchte getragen als die reifen, rosigen Papayas, mit denen sie gerechnet hatte, als sie an einem warmen Sommerabend im Jahr 1913 das duftende Haaröl von Mr K. T. Panicker eingeatmet hatte. Aber sie war eine ausgezeichnete Köchin, die eine viel größere Mieterschar verdient hatte als die, derer sich der Panicker-Haushalt momentan erfreute. Das Leben war bescheiden, der schwarze Pfarrer unbeliebt im Ort, die Gemeinde ein Haufen knickeriger Geizkragen und die Panicker-Familie trotz Mrs Panickers sparsamen, strengen Wirtschaftens unangenehm bedürftig. Allein Mrs Panickers liebevoll gepflegter Küchengarten und ihre kulinarischen Kniffe machten eine solch feine Gurken-Kerbel-Kaltschale möglich, wie sie sie nun, den Deckel von der Terrine hebend, Mr Shane vorsetzte, für dessen unvorhergesehene Anwesenheit und zweimonatige Vorauszahlung sie merklich dankbar war.

»Also, diesmal warne ich den jungen Herrn Steinman schon im Voraus«, sagte sie, als sie die blassgrüne Creme mit den Smaragdtupfern in die Schale des Jungen schöpfte. »Die Suppe ist kalt, und zwar mit Absicht.« Stirnrunzelnd sah sie zu Mr Shane hinüber, doch in ihren Augen flackerte Belustigung auf. »Hat der Junge doch letzte Woche die Suppe quer über den Tisch gespuckt, Mr Shane«, fuhr sie fort. »Und Reggies beste Krawatte ruiniert.«

»Wenn das bloß alles gewesen wäre, was der Bursche ruiniert hat«, sagte Reggie hinter einem Löffel voll Gurkenkaltschale. »Wenn wir es bloß bei der Krawatte belassen könnten.«

Reggie Panicker brachte seine Eltern zur Verzweiflung. Und wie viele Söhne, die selbst die bescheidensten Wünsche ihrer Erzeuger verrieten, war er eine Plage für alle, die mit ihm zu tun hatten. Er war ein Spieler und Lügner, ein Nörgler und Dieb. Parkins hatte ein Paar goldener Manschettenknöpfe, eine Schachtel mit Schreibfedern, zwölf Shilling und seinen Glücksbringer eingebüßt, einen hellen Fünf-Franc-Jeton aus dem Casino Royale in Monaco, ehe er Reggies diebische Angewohnheiten durchschaute, was von einer gewissen geistigen Schwerfälligkeit seinerseits zeugte, wie er nun fand.

»Und wie alt mag unser kleiner Herr Steinman wohl sein?«, fragte Mr Shane und richtete den blitzenden Heliograph eines Lächelns auf die verträumten Augen des kleinen Juden. »Neun Jahre? Bist du neun Jahre alt, Junge?«

Doch wie immer war der Ausguck im Kopf von Linus Steinman nicht besetzt. Shanes Lächeln verflog unerwidert. Ja, der Junge schien die Frage gar nicht gehört zu haben, obwohl Parkins längst festgestellt hatte, dass mit seinen Ohren alles in Ordnung war. Das plötzliche Klappern eines Tellers ließ ihn zusammenfahren. Das Läuten der Glocke im Kirchturm konnte seine großen dunklen Augen mit unerklärlichen Tränen füllen.

»Von dem werden Sie keine Antwort bekommen«, sagte Reggie und kippte sich den letzten Löffel Suppe in den Mund. »Der ist dumm wie Bohnenstroh.«

Der Junge sah auf seine Suppe hinunter. Er runzelte die Stirn. Die meisten Bewohner des Pfarrhauses und der Nachbarschaft hielten ihn für des Englischen nicht mächtig und daher für einfältig. Aber Parkins war sich da nicht so sicher.

»Der kleine Herr Steinman ist aus Deutschland zu uns gekommen«, sagte Mr Panicker. Er war ein belesener Mann, dessen Oxfordakzent von einem enttäuschten subkontinentalen Singsang umspielt wurde. »Er gehörte zu einer kleinen Gruppe von Kindern, in erster Linie jüdischen, die durch die Intervention von Mr Wilkes, dem Pfarrer der Englischen Gemeinde in Berlin, nach Großbritannien emigrieren konnte.«

Shane nickte mit offenem Mund und blinzelte langsam, wie ein Golfer, der aus Höflichkeit vorgibt, an einem Stegreifvortrag über Zellkernteilung oder irrationale Zahlen Gefallen zu finden. Er mochte noch niemals von Deutschland oder Juden, geschweige denn von Pfarrern oder Kindern gehört haben. Der Ausdruck absoluter Langeweile, der auf seinen Zügen lag, wirkte vollkommen echt. Und doch misstraute Mr Parkins ihm. Leise, man hätte fast sagen können höflich, rezitierte der Papagei, er hieß Bruno, mit seiner hohen, stockenden Stimme nun Zeilen aus dem Erlkönig. Zwar war der Vortrag des Vogels monoton und ein wenig gehetzt, doch besaß er eine kindliche Ausdruckskraft, die dem Thema des Gedichts durchaus angemessen war. Gleichwohl nahm der neue Dauergast von dem Papagei keine Notiz.

Mr Shane sah den Jungen an, der wiederum auf seine Suppe hinabschaute und die äußerste Spitze seines Löffels in den dicken, blässlichen Schaleninhalt tunkte. So weit Parkins das hatte beobachten können – und er war ein aufmerksamer, spitzfindiger Beobachter –, aß der Junge lediglich Süßigkeiten und Nachspeisen mit Appetit.

»Nazis, was?«, sagte Shane. Er schüttelte leicht den Kopf. »Grässliche Sache. Pech für die Juden, wenn man’s recht bedenkt.« Die Frage, ob der Junge den Tropfen Suppe ausspucken würde, den er sich auf die Zunge getupft hatte, schien ihn weitaus brennender zu interessieren als die Internierung von Juden. Der Junge runzelte die Stirn und zog seine dichten Augenbrauen zusammen. Doch die Flüssigkeit verblieb sicher in seinem Mund, und so richtete Mr Shane endlich seine Aufmerksamkeit auf das Vertilgen seiner eigenen Portion. Parkins fragte sich, ob das trübe, unerfreuliche Thema nun fallen gelassen würde.

»Ist doch kein Ort für ein Kind«, sagte Shane, »diese Art von Lager. Und schon gar nicht, würde ich meinen …« Er legte den Löffel zur Seite und schaute mit einer Flinkheit, die Mr Parkins verblüffte, in die Ecke des Raumes, wo Bruno, der Papagei, auf einem an einer schweren Eisenstange befestigten, verschrammten Querholz saß, darunter ausgebreitet der Express vom Vortag, und Shanes Blick kritisch erwiderte. »… schon gar nicht für einen Papagei.«

Aha, dachte Mr Parkins.

»Dann glauben Sie wohl, dass eine klapprige alte Hütte im ödesten Winkel von Sussex ein passender Ort für einen afrikanischen Vogel ist«, sagte Reggie Panicker.

Mr Shane blinzelte.

»Entschuldigen Sie bitte die Grobheit meines Sohnes«, sagte Mr Panicker seufzend und legte den Löffel zur Seite, obwohl seine Suppenschüssel erst halb leer war. Falls es eine Zeit gegeben hatte, in der der Pfarrer die unablässige Flegelhaftigkeit seines einzigen Kindes getadelt hätte, so war sie Mr Parkins’ Aufenthalt in diesem Haus vorausgegangen. »Wie es nun mal ist, sind der kleine Linus und sein Haustier uns allen sehr ans Herz gewachsen. Und Bruno ist wirklich ein höchst bemerkenswerter Vogel. Er sagt Gedichte auf, wie Sie gerade hören konnten. Er singt Lieder. Er ist ein überaus begabter Imitator und hat meiner Gattin schon mehr als einen Schrecken eingejagt, indem er meine vielleicht allzu heftige Art zu niesen nachahmte.«

»Ach, ja?«, sagte Mr Shane. »Nun, Mr Panicker, ich darf Ihnen vielleicht versichern, dass ich scheinbar in einen äußerst interessanten Haushalt geraten bin, inmitten Ihrer Rosen und diesem jungen Burschen mit seinem Papagei.«

Mit seitlich geneigtem Kopf beobachtete er den Vogel, zweifellos unbewusst den Blickwinkel nachahmend, aus dem Bruno bevorzugt die Welt betrachtete.

»Singen tut er auch?«

»Aber ja. Hauptsächlich auf Deutsch, obwohl, hin und wieder hört man auch Melodien von Gilbert & Sullivan. Vor allem Stücke aus Iolanthe, soweit ich das beurteilen kann. Die ersten Male war es ziemlich überraschend.«

»Aber ist das alles nur Geplapper – nachgeäfft, sozusagen, auch wenn er kein Affe ist?« Mr Shane grinste dünn, als wolle er andeuten – nicht sehr überzeugend, fand Mr Parkins –, dass er seinen kleinen Scherz für nicht besonders komisch halte. »Oder meinen Sie, dass er in der Lage ist, richtig zu denken? Ich habe einmal ein Schwein gesehen, als Junge, ein Zirkusschwein, das die Wurzel aus dreistelligen Zahlen ziehen konnte.«

Als er das sagte, schoss sein Blick erstmalig kurz zu Parkins hinüber. Das untermauerte zwar Mr Parkins’ Argwohn in Bezug auf den neuen Mitbewohner, beunruhigte ihn aber gleichzeitig. Soweit den Menschen in der Nachbarschaft bekannt war, gab es keinen Grund, Mr Parkins mit dem Thema Ziffern und Zahlen in Verbindung zu bringen. Jetzt hielt Mr Parkins seinen Verdacht für bestätigt, dass Mr Shane von gewissen Leuten hergeschickt worden war, um Bruno höchstpersönlich zu observieren.

»Zahlen«, sagte Mr Panicker, »die scheint Bruno seltsamerweise sehr zu mögen, nicht wahr, Mr Parkins? Ständig rattert er ewig lange Reihen herunter. Natürlich immer auf Deutsch. Obwohl ich nicht erkennen kann, dass sie zu irgendetwas gut wären, soweit ich das beurteilen kann.«

»Nicht? Er hält mich damit wach«, sagte Reggie. »Das reicht doch. Finde ich aufsehenerregend genug.«

In dem Moment rauschte wieder Mrs Panicker ins Speisezimmer, diesmal mit dem Fischgericht auf einer blassgrünen Platte. Aus Gründen, die Mr Parkins gegenüber nie dargelegt worden waren, die aber seiner Meinung nach viel mit Mrs Panickers unausgesprochenen Gefühlen gegenüber ihrem Ehemann und ihrem Sohn zu tun haben mussten, leistete sie den anderen beim Mittagessen niemals Gesellschaft. Nun räumte sie die Teller ab, und Mr Parkins murmelte ein Lob der Suppe vor sich hin. Die gute Küche der Vermieterin hatte etwas Verzweifeltes, Mutiges. Ihr Kochen glich dem vibrierenden Pfeifen eines Dudelsacks in einer Zitadelle, die bei Tagesanbruch von Derwischen und Ungläubigen umlagert war und binnen Kürze von ihnen geplündert würde.

»Exzellente Suppe!«, bellte Mr Shane. »Kompliment an die Köchin!«

Mrs Panicker errötete tief, und auf ihren Lippen erschien ein zaghaftes, spitzes Lächeln, wie Mr Parkins es dort noch nie gesehen hatte.

Mr Panicker bemerkte es ebenfalls und runzelte die Stirn.

»Allerdings«, sagte er.

»Puh!«, machte der jüngere Panicker und wedelte den von der Platte aufsteigenden Dampf fort, auf der eine komplette Scholle mit Kopf und Schwanz lag. »Der Fisch ist schlecht, Mutter. Der riecht wie der Pier in Brighton von unten.«

Ohne zu zögern – eine schwache Spur des mädchenhaften Lächelns lag noch auf ihrem Gesicht –, holte Mrs Panicker aus und schlug Reggie ins Gesicht. Ihr Sohn sprang auf, eine Hand auf der glühenden Wange, und funkelte seine Mutter zornig an. Dann schoss seine Hand auf ihre Kehle zu, als wolle er sie würgen. Doch bevor seine Finger Halt finden konnten, war der neue Untermieter auf den Beinen und stellte sich zwischen Mutter und Sohn. Mr Shanes Hände flogen nach vorne, und ehe Parkins sich versah, lag Reggie Panicker rücklings auf dem ovalen Teppich. Helles Blut schoss ihm aus der Nase.

Er setzte sich auf. Das Blut rann auf seinen Kragen, er betupfte ihn und drückte dann mit dem Finger gegen das linke Nasenloch. Mr Shane reichte ihm die Hand, Reggie schlug sie zur Seite. Er erhob sich und zog das Blut geräuschvoll hoch. Böse starrte er Shane an, dann nickte er Mrs Panicker zu.

»Mutter«, sagte er. Er drehte sich um und ging.

»Mutter«, sagte der Papagei mit seiner weichen Stimme. Linus Steinman sah Bruno mit jener innigen Zuneigung an, der einzigen erkennbaren Gefühlsregung, die Parkins bei dem Jungen je beobachtet hatte. Und dann hob der Vogel mit einer klaren, flötenden, zarten Stimme, wie sie Parkins noch nie gehört hatte, zu singen an.

Wien, Wien, Wien,

Sterbende Märchenstadt

Es war eine herrliche Altstimme, und wie sie stoßweise aus dem Schnabel des grauen Tieres in der Ecke erklang, war sie verstörend menschlich. Eine Weile lauschten sie ihr, dann erhob sich Linus Steinman vom Stuhl und ging zu der Sitzstange. Der Vogel verstummte und kletterte auf den ihm dargebotenen ausgestreckten Unterarm. Der Junge drehte sich zu den anderen um, und in seinen Augen standen Tränen und eine schlichte Frage.

»Ja, mein Kleiner«, sagte Mrs Panicker seufzend. »Du bist entschuldigt und darfst aufstehen.«