172335.fb2
Sie trafen ihn auf der Holzbank vor seiner Haustür, wo er trotz Hitze mit Hut und Cape saß, die sonnenverbrannten Hände um den Knauf seines Schwarzdornstocks geklammert. Aufbruchbereit. Als hätte er – aber das war unmöglich – auf sie gewartet. Sie mussten ihn auf der Türschwelle erwischt haben, als er, die Stiefel geschnürt, Kräfte für einen spätmorgendlichen Marsch durch die Downs sammelte.
»Was sind Sie für einer?«, fragte er Inspector Bellows. Seine Augen waren unglaublich hell. Seine große Nase bebte, als nehme er die Witterung seines Besuchs auf. »Heraus mit der Sprache!«
»Bellows«, sagte der Inspector. »Detective Inspector Michael Bellows. Es tut mir Leid, Sie zu belästigen, Sir. Aber ich bin neu auf der Stelle hier unten, arbeite mich sozusagen noch ein und bin weit davon entfernt, meine Fähigkeiten zu überschätzen.«
Bei der letzten Behauptung räusperte sich der Begleiter des Inspectors, Detective Constable Quint, und richtete den Blick höflich in die Ferne.
»Bellows … ich kannte Ihren Vater«, behauptete der alte Mann. Wackeliger Kopf auf dürrem Hals. Auf den Wangen Blut und Pflaster von der hastigen Rasur alter Männer. »Gewiss doch. Im West End. Rote Haare, rotblonder Schnauzer. Spezialisiert auf Betrüger, ich erinnere mich. Nicht ohne Talent, möchte ich meinen.«
»Sandy Bellows«, sagte der Inspector. »Mein Großvater, um genau zu sein. Wie oft habe ich ihn in den höchsten Tönen von Ihnen sprechen hören, Sir.«
Vielleicht nicht ganz so oft, dachte der Inspector, wie ich ihn deinen Namen habe verfluchen hören.
Der alte Mann nickte ernst. Das scharfe Auge des Inspectors registrierte eine flüchtige Traurigkeit, eine aufflackernde Erinnerung, die kurz über das Gesicht des Alten strich.
»Ich kenne sehr viele Polizisten«, sagte er. »Sehr viele.« Er setzte eine heitere Miene auf. »Aber es ist immer wieder eine Freude, einen neuen kennen zu lernen. Und das ist Detective Constable … Quint, nehme ich an?«
Nun richtete er seinen Raubvogelblick auf den Constable, einen düsteren, mürrischen Kerl mit einer Kartoffelnase. Wie DC Quint nur selten unterließ kundzutun, hatte er sehr am letzten Detective Inspector gehangen, der traurigerweise verschieden, aber offenbar ein Verfechter der soliden alten Polizeimethoden gewesen war. Quint tippte sich mit dem Finger an die Hutkrempe. Kein gesprächiger Zeitgenosse, dieser DC Quint.
»Nun, wer ist gestorben und wie?«, fragte der alte Mann.
»Ein Mann namens Shane, Sir. Schlag auf den Hinterkopf mit stumpfem Gegenstand.«
Der alte Mann wirkte unbeeindruckt. Vielleicht sogar enttäuscht.
»Aha«, sagte er. »Shane, durch Schlag auf Hinterkopf. Stumpfer Gegenstand. Verstehe.«
Vielleicht hat er inzwischen doch eine Schraube locker, dachte der Inspector. Ist nicht mehr derselbe, wie Quint sich ausgedrückt hatte. Ein Jammer.
»Ich versichere Ihnen, Inspector, dass ich nicht im Geringsten senil bin«, sagte der Alte. Er hatte die Gedanken des Inspectors gelesen; nein, das war unmöglich. Doch vielleicht seine Miene, seine Körperhaltung gedeutet. »Aber momentan ist die Lage in den Bienenstöcken heikel. Es gibt eine, wenn Sie so wollen, Krise. Ich kann die Bienen auf keinen Fall für ein alltägliches Verbrechen im Stich lassen.«
Bellows warf seinem Constable einen kurzen Blick zu. Der Inspector war so jung und Mord in den South Downs so selten, dass beide Polizisten der Ansicht waren, es habe durchaus etwas nicht Alltägliches, wenn einem Mann hinter dem Pfarrhaus mit einem Schürhaken oder einem Splintholz der Schädel eingeschlagen wurde.
»Dieser Shane war bewaffnet, Sir«, sagte DC Quint. »Hatte eine Webley dabei, eine Armeepistole, obwohl er behauptete, und soweit wir sagen können, trifft das auch zu, er wäre lediglich Handlungsreisender in Sachen …« Quint zog ein kleines in Öltuch geschlagenes Notizbuch aus der Tasche und schaute nach. Der Inspector hatte den Anblick dieses Notizbuches mit seiner sorgfältigen Bestandsaufnahme völlig bedeutungsloser Fakten bereits hassen gelernt. »… in Sachen Melkmaschinen und Molkereiausstattung.«
»Schlag von hinten«, sagte der Inspector, »offensichtlich. Mitten in der Nacht, als er gerade in sein Automobil steigen wollte. Alle Taschen gepackt, wollte scheinbar ohne eine Erklärung oder ein Wort des Abschieds verschwinden, obwohl er noch eine Woche zuvor zwei Monatsmieten im Voraus an das Pfarrhaus entrichtet hatte.«
»Das Pfarrhaus, ah, verstehe.« Müde schloss der alte Mann die Augen, als seien die Fakten dieses Falls nicht nur alltäglich, sondern einschläfernd. »Und zweifellos haben Sie unbesonnenerweise, da Sie in dieser Sache keinen sinnvollen Ratschlag erhalten haben dürften, den voreiligen Entschluss gefasst, den jungen Mr Panicker für das Verbrechen in Haft zu nehmen.«
Obwohl Inspector Bellows bewusst war, dass er sich wie eine Figur in einer Stummfilmkomödie benahm, musste er beschämt feststellen, dass er nicht umhinkonnte, einen weiteren belämmerten Blick mit seinem Constable auszutauschen. Um zehn Uhr morgens war Reggie Panicker festgenommen worden, drei Stunden nachdem die Leiche von Richard Woolsey Shane aus Sevenoaks, Kent, auf dem Pfad hinter dem Pfarrhaus gefunden worden war, wo der Verstorbene seinen 1933er MG Midget geparkt hatte.
»Ein Verbrechen«, fuhr der alte Mann fort, »für das der bedauernswerte junge Mann zu gegebener Zeit gehängt werden wird. Seine Mutter wird weinen, und die Welt wird weiter blind durchs Universum trudeln, und am Ende wird unser Mr Shane trotz allem tot sein. Aber bis dahin, Inspector, muss Nummer vier umgeweiselt werden.«
Er wedelte mit seiner langfingrigen, seesterngleichen Hand voller Warzen und Altersflecken und entließ sie. Schickte sie fort. Er klopfte die Taschen seines knittrigen Anzugs ab: suchte seine Pfeife.
»Ein Papagei ist verschwunden!«, versuchte es Inspector Michael Bellows hilflos in der Hoffnung, dieses Bonbon könne dem Verbrechen in der unergründlichen Wertschätzung des Alten einen gewissen Glanz verleihen. »Und das hier haben wir beim Sohn des Pfarrers gefunden!«
Aus der Brusttasche zog er die eselsohrige Visitenkarte von Mr Jos. Black, Händler für seltene und exotische Vögel, Club Row, London, und bot sie dem Alten an, der sie keines Blickes würdigte.
»Ein Papagei.« Bellows bemerkte, dass es ihm irgendwie gelungen war, den alten Mann nicht nur zu beeindrucken, sondern zu überraschen. Und der Alte sah aus, als sei er beglückt, in diesen Zustand versetzt worden zu sein. »Aber natürlich. Ein Graupapagei. Eventuell in Besitz eines kleinen Jungen. Von ungefähr neun Jahren. Deutscher Nationalität – und jüdischer Herkunft, möchte ich wetten – und nicht in der Lage zu sprechen.«
Jetzt wäre es eigentlich am Inspector gewesen, sich zu räuspern. Emsig hatte DC Quint Einwände dagegen erhoben, den alten Mann in die Ermittlung einzubeziehen. Genau genommen ist er nicht mehr klar bei Verstand, Sir, das kann ich Ihnen versichern. Aber Inspector Bellows war zu baff, um sich hämisch zu freuen. Er kannte die Geschichten, die Legenden, die berühmten hanebüchenen Schlussfolgerungen, die der alte Mann in seiner Glanzzeit vollbracht hatte: mittels Zigarrenasche überführte Mörder, durch fehlendes Wachhundgebell denunzierte Pferdediebe. So sehr er sich auch bemühte, gelang es dem Inspector nicht, von einem verschwundenen Papagei und einem Toten namens Shane mit durchlüftetem Schädel auf einen stummen kleinen deutschen Juden zu schließen. Und so verpasste er die Gelegenheit, seinem Constable eins auszuwischen.
Nun warf der Alte mit geschürzten Lippen einen Blick auf Mr Jos. Blacks Visitenkarte und hielt sie in unterschiedlichen Abständen zu seiner Nasenspitze, bis er eine geeignete Entfernung gefunden hatte.
»Ah«, machte er und nickte. »Unser Mr Shane überraschte also den jungen Panicker, als der sich gerade anschickte, mit dem Haustier des armen Jungen, das er an diesen Mr Black zu verkaufen hoffte, zu verschwinden. Shane versuchte, ihn davon abzuhalten, und zahlte teuer für seinen Heldenmut. Fasse ich Ihre Sicht der Dinge treffend zusammen?«
Obwohl das in verkürzter Form die vollständige Theorie des Inspectors war, hatte ihn von Anfang an etwas daran gestört – an den Umständen des Mordes selbst – und ihn derart umgetrieben, dass er sich gegen den Rat seines Constables zu einem Besuch bei dem quasi legendären Freund und Widersacher der gesamten Polizeigeneration seines Großvaters aufgemacht hatte. Im Großen und Ganzen war ihm die Theorie eigentlich ganz vernünftig erschienen. Doch der Tonfall des alten Mannes ließ sie so wahrscheinlich klingen, als wolle er die Tat einer Elfe zuschreiben.
»Offenbar gab es einen Wortwechsel zwischen den beiden«, sagte der Inspector und fuhr zusammen, als er merkte, dass ein uraltes Stottern aus der Zeit seiner Kindheit wieder an die Oberfläche stieg. »Sie haben gestritten. Es kam zu Schlägen.«
»Ja, ja. Nun, ich bezweifle nicht, dass Sie Recht haben.«
Der alte Mann verzog seinen runzligen Mund zu dem unehrlichsten Lächeln, das Inspector Bellows je gesehen hatte.
»Wirklich«, fuhr er fort, »es ist ein großes Glück, dass Sie so wenig Unterstützung von mir benötigen, denn ich befinde mich, wie Sie wissen müssen, im Ruhestand. Und zwar seit dem 10. August 1914. Zum damaligen Zeitpunkt, das dürfen Sie mir gerne glauben, war ich weitaus weniger hinfällig als die welke Hülle, die Sie heute vor sich sehen.« Wie vor Gericht klopfte er mit seinem Stock gegen die Türstufe. Sie waren entlassen. »Einen guten Tag.«
Und dann drehte der alte Mann mit einem Anflug seiner Schwäche fürs Theatralische, die schon die Geduld des großväterlichen Inspectors auf eine harte Probe gestellt und Schimpftiraden ausgelöst hatte, sein Gesicht der Sonne zu und schloss die Augen.
Eine Weile standen die beiden Polizisten da und betrachteten diese schamlose Simulation eines nachmittäglichen Nickerchens. Dem Inspector kam der Gedanke, dass der alte Mann vielleicht gebeten werden wollte. Sein Blick streifte DC Quint. Den versponnenen Einsiedler demütig anzuflehen war zweifellos kein Schritt, zu dem sich sein verstorbener Vorgänger je herabgelassen hätte. Dennoch: Wie viel konnte man von einem solchen Mann lernen, wenn man nur – Die Augenlider schnellten hoch, und das Lächeln verhärtete sich zu etwas Ehrlicherem, Roherem.
»Immer noch da?«, sagte der Alte.
»Sir … wenn ich …«
»Nun gut.« Der alte Mann lachte trocken glucksend in sich hinein. »Ich habe über die Bedürfnisse meiner Bienen nachgedacht. Und ich glaube, ich werde ein paar Stunden erübrigen können. Folglich werde ich Ihnen helfen.« Er hob einen langen, mahnenden Finger. »Um den Papagei des Jungen zu finden.« Umständlich und mit einem Gebaren, das von vorneherein jedes Hilfsangebot in die Schranken wies, hievte sich der alte Mann auf die Füße, stützte sich schwer auf seinen vernarbten schwarzen Stock. »Wenn ich dabei zufällig auf den wahren Mörder stoßen sollte, nun, dann wird es für Sie umso besser sein.«