172335.fb2
Sie packte zwei Hemden, zwei Paar Socken und ein Paar säuberlich gebügelter Unterhosen ein. Eine brandneue Zahnbürste. Ein Stück Käse, eine Packung Kräcker und eine uralte Schachtel mit den Sultaninen, die er so gerne mochte, aus Zeiten vor der Rationierung, nicht mal eine Hand voll. Sie zog ihr gutes blaues Kleid mit dem Mandarinkragen an und ging nach unten, um den Jungen zu suchen.
Schon vor Brunos Diebstahl hatte Linus die Neigung gehabt, zeitweise zu verschwinden. Er kam ihr weniger wie ein Junge als vielmehr wie der Geist eines Jungen vor, der sich durch das Haus, das Dorf, die Welt stahl. Überall besaß er Verstecke: in schattigen Winkeln des Kirchhofs, unter dem Dach des Pfarrhauses, selbst im Glockenturm der Kirche. Mit dem Vogel auf der Schulter marschierte er hinaus ins Land, und obwohl ihr das stark missfiel, hatte sie es aufgegeben, ihn davon abhalten zu wollen, denn sie konnte sich nicht überwinden, das arme Kind zu bestrafen. Das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem hatte sie ihren Reggie mit einer Strenge erzogen, die ihr nicht leicht gefallen war, und man sah ja, wohin das letztlich geführt hatte.
Sie fand den Jungen am Bach neben dem Kirchhof. Dort stand eine vermooste Steinbank, auf der bestimmt schon sechs oder sieben Jahrhunderte lang Dorfbewohner im Schatten der fülligen Eibe gesessen und ihren trüben Gedanken nachgehangen hatten. Martin Kalb saß neben ihm. Linus hatte Schuhe und Socken abgestreift. Mr Kalb war ebenfalls barfuß. Aus irgendeinem Grund erschütterte Mrs Panicker der Anblick seiner blassen Füße, die nackt aus den Umschlägen der feinen grauen Nadelstreifenhose hervorlugten.
»Ich gehe aus«, sagte sie, zu laut. Sie wusste, dass es furchtbar von ihr war, aber sie konnte sich nicht davon abhalten, den Jungen anzuschreien, als sei er taub. »Ich muss Reggie besuchen. Mr Kalb, ich hoffe, dass Sie die Nacht bei uns verbringen werden.«
Mr Kalb nickte. Er hatte ein langes, hübsches Gesicht, offen und dienstbeflissen. Er erinnerte sie an Mr Panicker im Alter von sechsundzwanzig Jahren. »Natürlich.«
»Sie können in Linus’ Zimmer schlafen. Dort stehen zwei Betten.«
Mr Kalb schaute den Jungen an und hob eine Augenbraue. So als spreche er aus Respekt vor der Stummheit des Jungen so wenig wie möglich mit ihm. Der Junge nickte. Mr Kalb nickte. Mrs Panicker wurde von Dankbarkeit erfüllt.
Der Junge zog seinen Block und den grünen Bleistiftstummel aus der Jacke. Gewissenhaft kritzelte er etwas auf ein Blatt; er schrieb nur mit größter Anstrengung und kaute dabei auf der Unterlippe. Kurz betrachtete er, was er zu Papier gebracht hatte, dann zeigte er es Mr Kalb. Mrs Panicker konnte nie etwas mit dem anfangen, was der Junge fabrizierte.
»Er fragt, ob Mr Shane wirklich tot ist«, sagte Mr Kalb.
»Ja«, rief sie beinahe, und dann, leiser: »Das stimmt.«
Mit seinen großen braunen Augen schaute Linus zu ihr auf und nickte einmal, fast zu sich selbst. Es war unmöglich, zu sagen, was er dachte. Das war es fast immer. Obwohl er ihr Leid tat, sie ihn in ihre Gebete einschloss und auf eine sonderbare Weise auch spürte, dass sie ihn lieb hatte, war irgendetwas an Linus für sie fremdartiger, als seine Nationalität oder Religion erklären konnte. Auch wenn er ein hübscher Junge und der Vogel ein schönes Tier war, besaß ihre gegenseitige Verbundenheit eine Intensität, die Mrs Panicker unheimlicher fand als die numerischen Tiraden des Vogels oder die herzergreifende Süße seines Gesangs.
Der Junge drückte noch ein paar Worte aus dem Bleistiftstummel. Mr Kalb überflog sie seufzend und übersetzte sie.
»Er war nett zu mir«, sagte er.
Mrs Panicker wollte antworten, aber sie schien ihre Stimme verloren zu haben. Irgendetwas in ihrem Brustkorb drängte nach oben. Zu ihrer eigenen Scham und Bestürzung brach sie dramatisch in Tränen aus. Es war das erste Mal seit Ende der zwanziger Jahre, dass sie weinte, auch wenn der Allmächtige wusste, dass sie Grund genug dazu gehabt hätte. Sie weinte, weil dieser Junge, dieser irgendwie Versehrte oder geschundene Junge, seinen Papagei verloren hatte. Sie weinte, weil ihr Sohn in einer Zelle unter dem Rathaus saß, als Häftling der Krone. Und sie weinte, weil sie im Alter von siebenundvierzig Jahren, nach fünfundzwanzig Jahren der Ehrfurcht, Enttäuschung und Selbstbeherrschung, ein völlig törichtes Interesse an dem neuen Untermieter Mr Richard Shane gefasst hatte, wie eine Figur in einem schlüpfrigen Roman.
Sie ging zu dem Jungen und blieb vor ihm stehen. Sie hatte seinen Hintern gewaschen und sein Haar gekämmt. Sie hatte ihn gefüttert und gekleidet und sein Erbrochenes in einer Schüssel aufgefangen, wenn ihm übel wurde. Aber sie hatte ihn noch nie umarmt. Sie streckte die Hände aus; er beugte sich vor und legte seinen Kopf, ein wenig unbeholfen, an ihren Bauch. Mr Kalb räusperte sich. Sie spürte die Schwere seines zur Seite gewandten Blicks, während sie den Kopf des Jungen streichelte und versuchte, sich für den Besuch im Gefängnis zu wappnen. Es war ihr peinlich, vor dem jungen Herrn vom Hilfskomitee zu weinen. Nach einer Weile warf sie ihm einen kurzen Blick zu und sah, dass er ihr ein Taschentuch darbot. Ein Dankeschön murmelnd, nahm sie es an.
Der Junge zog sich zurück und beobachtete, wie sie sich die Augen trocken tupfte. Es berührte sie auf lächerliche Weise, wie besorgt er zu sein schien. Er tippte an ihre Hand, als wolle er, dass sie dem, was er als Nächstes äußern würde, besonders große Aufmerksamkeit schenke. Dann kritzelte er fünf weitere Wörter in seinen kleinen Block. Mr Kalb studierte sie mit gerunzelter Stirn. Die Rechtschreibung des Jungen war miserabel, rudimentär. Er verdrehte Buchstaben und ganze Wörter, besonders bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er versuchte, sich auf Englisch auszudrücken. Einmal hatte er Mrs Panickers Gatten mit einer schriftlichen Anfrage völlig aus der Fassung gebracht, die folgendermaßen lautete: WARUM TOG NOV KRISTEN MAG KEIN JUDEN REDNIK?
»Fragen Sie den alten Mann«, las Mr Kalb vor.
»Was um alles in der Welt soll ich ihn fragen?«, sagte Mrs Panicker.
Nur einmal zuvor hatte sie den alten Mann gesehen, das war 1936, auf dem Bahnhof, als er aus seiner bienentollen Einsiedelei gekrochen war, um fünf gewaltige Lattenkisten in Empfang zu nehmen, die ihm aus London zugegangen waren. Mrs Panicker war an jenem Morgen auf der Reise nach Lewes gewesen, doch als der alte Mann auf den Bahnsteig schlurfte, auf dem die Züge gen Süden hielten, begleitet vom strammen ältesten Sohn seines Nachbarn Walt Satterlee, wechselte sie auf die andere Seite, um ihn besser betrachten zu können. Vor vielen, vielen Jahren hatte sein Name – der mittlerweile selbst den Pomp und die Rechtschaffenheit jener untergegangenen Ära heraufbeschwor – die Zeitungen und Polizeiblätter des Empire geschmückt, doch an jenem Morgen war es sein jüngerer, lokaler Ruf gewesen, der Mrs Panicker auf die andere Seite des Bahnsteigs lockte; er gründete fast ausschließlich auf Legenden über seine Zurückhaltung, Reizbarkeit und Feindseligkeit gegenüber allen menschlichen Wesen. Dünn wie ein Windhund sei er, hatte sie später ihrem Gemahl berichtet, auch im Gesicht habe er etwas Hundeartiges oder eher Wölfisches, seine Augen unter den schweren Lidern seien intelligent, wachsam und blass. Sein Blick hätte Merkmale und Machart des Bahnsteigs, die Texte der angeschlagenen Bekanntmachungen, einen fortgeworfenen Zigarrenstummel und das zerrupfte Starennest in den Sparren des überhängenden Daches registriert. Und dann hätte er seine wölfischen Augen auf sie gerichtet. Die Gier in ihnen erschreckte sie derart, dass sie einen Schritt zurück machte und so heftig mit dem Kopf gegen einen Eisenpfahl schlug, dass sie später getrocknete Blutklumpen in ihrem Haar fand. Es sei eine vollkommen unpersönliche Gier, falls es so etwas gebe – an dieser Stelle geriet ihr Bericht unter dem Druck von Mr Panickers Missbilligung ihrer »romantischen Natur« ins Stocken –, eine Gier frei von Lüsternheit, Appetit, Bosheit oder Wohlwollen. Es war eine Gier, erkannte sie später, nach Information. Und doch wohnte seinem Blick eine Lebendigkeit inne, eine Art kühler Vitalität, die an Vergnügen grenzte, als habe eine regelmäßige, lebenslange Kost prosaischer Beobachtungen die Jugendlichkeit seiner Sehorgane bewahren können. Vornübergebeugt wie viele groß gewachsene alte Männer, hatte er in einem dicken wollenen Inverness-Cape im prallen Aprilsonnenschein gestanden und sie gemustert, inspiziert, ohne jedes Bemühen, seine Prüfung zu verbergen oder zu verhehlen. Das Cape, erinnerte sie sich, war stark geflickt gewesen, jedoch unter völliger Missachtung von Muster oder Stoff, und an hundert Stellen mit bunt gemischten farbigen Garnen gestopft.
Alsbald fuhr der Zug aus London ein und spuckte die mit dem altehrwürdigen Namen des Mannes beschrifteten gewaltigen Kisten aus, in die in regelmäßigen Abständen runde Löcher gestanzt waren. Deutlich lesbar auf der Seite jeder Kiste war die schablonierte Adresse einer Stadt in Texas. Später erfuhr Mrs Panicker, dass die Kisten, unter anderen exotischen Artikeln, schwere Tabletts voller Eier einer bisher in Großbritannien unbekannten Honigbienenart enthielten.
Mr Panickers Antwort, als sie ihren Bericht abgeschlossen hatte, war typisch für ihn gewesen.
»Es betrübt mich zu hören, dass unsere guten englischen Bienen seinen Ansprüchen nicht genügen«, hatte er gesagt.
Und jetzt saß sie neben dem alten Mann in einem Hinterzimmer des Rathauses. Durch das einzige Fenster strömte vom leeren Nachbargrundstück, wie vom alten Mann angezogen, das Gemurmel von Bienen herein, eindringlich wie der stickige Nachmittag selbst. In den letzten fünfzehn Minuten, die sie auf den Häftling gewartet hatten, hatte der alte Mann seine Pfeife gestopft und an ihr gezogen. Noch nie hatte sie, die in einem Haus mit sieben Brüdern und einem verwitweten Vater aufgewachsen war, einen derart stinkenden Qualm einatmen müssen. Er hing so schwer im Raum wie frisch geschorene Schafswolle und malte Arabesken in das grelle, schräg durchs Fenster fallende Licht.
Sie betrachtete die Ranken von Rauch, die sich im Sonnenlicht wanden, und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Sohn sich daranmachte, jenen feinen, vitalen Mann zu ermorden. Nichts, was sie vor ihrem inneren Auge sah, überzeugte sie. In ihrer Kindheit hatte Mrs Panicker, geborene Ginny Stallard, unabhängig voneinander die Ermordung zweier Männer erlebt. Das erste Opfer war Huey Blake gewesen, der im Verlauf eines nur halb freundschaftlichen Ringkampfes von ihren Brüdern im Piltdown Pond ertränkt worden war. Das andere war ihr Vater gewesen, Reverend Oliver Stallard, der vom alten Mr Catley während des sonntäglichen Essens erschossen worden war, nachdem Letzterer den Verstand verloren hatte. Obgleich alle Welt ihrem schwarzen Gatten die Schuld am wankelmütigen Wesen ihres einen, einzigen Sohnes gab, vermutete Mrs Panicker, dass es ganz allein ihr Fehler war. Die Männer der Stallard-Familie waren allesamt Taugenichtse oder Unglücksraben gewesen. Beinahe war sie geneigt zu glauben, es sei ein weiterer Beweis für den schwachen Charakter ihres Sohnes – auch wenn, weiß Gott, keiner nötig wäre –, dass es so lange dauerte, Reggie aus der Zelle heraufzubringen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn aufhalten mochte.
Als die trockenen Finger des alten Mannes unerwartet ihren rechten Handrücken berührten, zuckte das Herz in ihrer Brust zusammen.
»Bitte«, sagte er mit kurzem Blick auf ihre Hand, und sie merkte, dass sie ihren Ehering abgestreift hatte und fest zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Offenbar hatte sie schon länger mit dem Ring auf die Armlehne geklopft, vielleicht von dem Moment an, als sie im Wartezimmer Platz genommen hatte. Schwach hallte der Klang durch ihre Erinnerung.
»Entschuldigung«, sagte sie. Sie musterte die fleckige Hand auf der ihren. Er zog sie fort.
»Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, sagte er und lächelte aufmunternd, was sie – erstaunlicherweise – aufmunterte. »Immer mit der Ruhe.«
»Er war es nicht«, sagte sie.
»Das bleibt abzuwarten«, sagte der alte Mann. »Aber bisher, muss ich gestehen, bin ich geneigt, Ihnen beizupflichten.«
»Ich mache mir keine Illusionen über meinen Sohn, Sir.«
»Daran erkennt man zweifellos vernünftige Eltern.«
»Er hatte eine Abneigung gegen Mr Shane gefasst, das stimmt.« Sie war eine ehrliche Frau. »Aber Reggie fasst eine Abneigung gegen jeden. Er scheint nichts dagegen tun zu können.«
Da öffnete sich die Tür, und der arme Reggie wurde hereingebracht. Auf der Wange hatte er ein Pflaster und an der linken Schläfe eine längliche Narbe, seine Nase wirkte auch irgendwie zu groß und war auf dem Rücken dunkelrot. Kurz durchfuhr seine Mutter die irrige Vermutung, er habe sich diese Verletzungen während seines verhängnisvollen Kampfes mit Mr Shane zugezogen, und durch den Kopf schoss ihr die flüchtige Hoffnung, auf Notwehr zu plädieren, doch dann erinnerte sie sich gehört zu haben, wie Detective Constable Quint ihrem Mann erzählte, Shane sei von hinten getötet worden, mit einem einzigen Schlag auf den Kopf – es hatte keinen Kampf gegeben. Ein Blick in die Gesichter der Polizisten, die mit starr in die Zimmerecken gerichteten Augen Reggie zu dem leeren Stuhl beförderten, und ihr kam die wahre Erkenntnis.
Der alte Mann erhob sich und stieß mit dem Stiel seiner Pfeife in Richtung ihres Sohnes.
»Wurde dieser Mann verletzt?«, sagte er mit einer Stimme, die selbst in ihren Ohren dünn und gereizt klang, als seien die Prügel, die ihr Sohn von der Polizei bezogen hatte, von einer moralischen Selbstverständlichkeit, die über jeden zaghaften Protest erhaben war, den er oder jemand anders anmelden mochte. In ihrem Kopf wetteiferte der Schrecken darüber mit einer tiefen, rauen Stimme, die unablässig flüsterte: Das musste so kommen. Das war schon lange abzusehen. Mrs Panicker musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten – ein beträchtliches Talent, ein Leben lang durch fast ununterbrochene Übung gestärkt –, um nicht quer durch das Zimmer zu gehen und den misshandelten dunklen Kopf ihres Sohnes in die Arme zu nehmen, und sei es nur, um das verfilzte Gewirr seiner schweren schwarzen Haare zu glätten.
Die beiden Polizisten, Kommunikanten von Mr Panicker, hießen, wie ihr schließlich einfiel, Noakes und Woollett; sie schauten den alten Mann mit zusammengekniffenen Augen an, als klebe ein Rest vom Frühstück an seiner Lippe.
»Ist gefallen«, sagte der eine, den Mrs Panicker für Noakes hielt.
Woollett nickte. »War Pech«, sagte er.
»Allerdings«, sagte der alte Mann. Jede Regung wich aus seinem Gesicht, als er die nächste lange, gründliche Musterung vornahm. Sein Objekt war diesmal das empörte Gesicht ihres Sohnes, der den alten Mann mit hasserfülltem Blick anstarrte, was Mrs Panicker nicht sonderlich schockierte; ganz im Gegenteil war sie überrascht zu sehen, dass Reggies Blick schließlich nachgab und sich auf seine mageren, braunen, auf dem Schoß gekreuzten Handgelenke senkte, was ihn viel jünger wirken ließ als zweiundzwanzig Jahre.
»Was will sie denn hier?«, sagte er schließlich.
»Ihre Mutter hat Ihnen ein paar persönliche Dinge mitgebracht«, sagte der alte Mann. »Ich bin sicher, dass Sie sie gebrauchen können. Aber wenn Sie wollen, werde ich Ihre Mutter bitten, draußen zu warten.«
Reggie hob den Blick, schaute zu ihr hinüber, und in seinem Schmollmund lag etwas Dankähnliches, eine boshafte Dankbarkeit, als sei sie vielleicht doch keine gar so schreckliche Mutter, wie er immer gedacht hatte. Obwohl sie ihrer eigenen Buchführung nach – und da war sie gewiss nicht großzügig zu sich selbst – ihren Sohn nie im Stich gelassen hatte, schien er jedes Mal, wenn sie zu ihm hielt, sonderbar skeptisch und erstaunt Zu sein.
»Ist mir scheißegal, was sie macht«, sagte er.
»Ja«, sagte der alte Mann trocken. »Ja, das nehme ich an. Also gut. Aha. Hm. Nun, erzählen Sie mir doch bitte von Ihrem Freund Mr Black aus London.«
»Da gibt’s nichts zu erzählen«, sagte Reggie. »Ich kenne den Kerl nicht.«
»Mr Panicker«, sagte der alte Mann. »Ich bin neunundachtzig Jahre alt. Das kurze Leben, das mir noch vergönnt ist, würde ich sehr viel lieber in Gesellschaft von Personen verbringen, die weitaus intelligenter und geheimnisvoller sind als Sie. Erlauben Sie also bitte im Interesse der spärlichen mir noch verbleibenden Zeit, dass ich Ihnen über Mr Black von der Club Row in London berichte. Ich nehme an, dass ihm kürzlich etwas über einen erstaunlichen Papagei zu Ohren gekommen ist, ein ausgewachsenes Tier von guter Gesundheit, das ein beachtliches Imitationstalent und ein Gedächtnis besitzt, welches bei dieser Art weit über der Norm liegt. Wäre dieser Vogel nun im Besitz von Mr Black, könnte er ihn für eine hübsche Summe an einen Liebhaber hier in Großbritannien oder auf dem Kontinent verkaufen. Daher hatten Sie den Entschluss gefasst, den Vogel zu stehlen, und alles entsprechend vorbereitet, um ihn in der Hoffnung auf Einnahme eines größeren Geldbetrags an Mr Black zu veräußern. Wenn ich mich nicht irre, benötigen Sie dieses Bargeld, um die bei Fatty Hodges aufgelaufenen Schulden zu begleichen.«
Die Worte waren ausgesprochen und zu Boden gefallen, noch ehe Mrs Panickers Gedanken sie auffangen oder den unvermittelten Schock aufhalten konnten, der sie dabei durchfuhr. Nach allgemeiner Übereinkunft und öffentlicher Akklamation war Fatty Hodges der schlimmste Mensch in den South Downs. Nicht auszudenken, in welch Unheil er Reggie geritten haben mochte.
Noakes und Woollett starrten vor sich hin; Reggie starrte vor sich hin, alle starrten vor sich hin. Woher konnte der Alte das nur wissen?
»Meine Bienen fliegen überall«, sagte der alte Mann. Er reckte den Hals und rieb sich mit einem trockenen Schaben die Hände – ein Kartenzauberer, der gerade das Ass aus dem Ärmel gezogen hatte. »Und sie sehen alles.«
Die Schlussfolgerung, dass seine Bienen ihm auch alles erzählten, blieb unausgesprochen. Mrs Panicker nahm an, dass er befürchtete, es klinge verrückt; viele glaubten längst, er habe eine Schraube locker.
»Doch ehe Sie das geliebte Tier, den einzigen Freund eines einsamen, verwaisten Flüchtlingskindes, stehlen konnten, kam Ihnen leider der Untermieter Mr Shane zuvor. Als dieser sich mit dem Vogel aus dem Staub machen wollte, wurde er überfallen und getötet. Nun gelangen wir an den Punkt, oder besser gesagt, an einen Punkt, wo die Polizei und ich unterschiedlicher Auffassung sind. Denn selbstredend sind wir ebenfalls unterschiedlicher Ansicht, was die Ratsamkeit betrifft, Häftlinge der Krone zu schlagen, insbesondere solche, die noch nicht verurteilt sind.«
Oh, dachte sie, was für ein feiner alter Mann! Über seinem Verhalten, seinen Worten, dem Tweedanzug und dem schäbigen Cape schwebte wie der Geruch türkischen Tabaks die Macht und Rechtschaffenheit des ehemaligen britischen Empires.
»Nun, Sir …«, unterbrach ihn Noakes vorwurfsvoll – oder war es Woollett?
»Ich würde sagen, dass die Polizei«, fuhr der alte Mann unschuldig und heiter fort, »weitgehend davon überzeugt zu sein scheint, dass Sie es waren, der Mr Shane bei Brunos Abtransport überraschte und ermordete. Ich hingegen glaube, dass es jemand anders war, ein Mann …«
Jetzt wanderten die gierigen Augen des Alten zu Reggies schwarzen Straßenschuhen, die Mrs Panicker am Morgen, als der Tag noch nichts Ungewöhnliches verhieß, auf Hochglanz poliert hatte.
»… ein Mann mit Füßen, die ein ganzes Stück kleiner sind als die Ihren.«
Reggies Miene verrutschte – die Züge dieses enttäuschten Gesichts, kniescheibenglatt. Reglos bis auf die Augenbraue, die nach oben, und den Mundwinkel, der nach unten gezogen wurde. Jetzt fiel es kurz hinunter, und Reggie grinste, wie ein Junge. Er holte seine gewaltigen Riesenfüße unter dem Tisch hervor, streckte sie vor sich aus und bestaunte wie zum ersten Mal ihre eindrucksvolle Größe.
»Das habe ich den beiden doch die ganze Zeit gesagt!«, rief er. »Sicher, klar, noch ein Tag und ich hätte den Vogel verkauft, Fatty bezahlt, und die Sache wäre geritzt gewesen. Aber ursprünglich war die Idee nicht von mir. Parkins hätten sie sich vorknöpfen sollen. Es war seine Brieftasche, in der ich Blacks Karte gefunden habe.«
»Parkins?« Der alte Mann sah die Polizisten an, die mit den Achseln zuckten, dann Mrs Panicker.
»Mein ältester Mieter«, sagte sie. »Im März waren es zwei Jahre.« Ihr wurde klar, dass sie Mr Simon Parkins nie wirklich getraut hatte, obwohl er dem Anschein nach nichts Anstößiges oder Zwielichtiges besaß. Jeden Morgen stand er zur selben Stunde auf, begab sich in die Bibliothek von Gabriel Park, um Schriftrollen oder Frottagen, oder über was auch immer er bis weit nach Anbruch der Nacht brütete, zu studieren, dann kehrte er zu seinem Zimmer, seiner Lampe und seinem aufgewärmten Abendessen zurück.
»Haben Sie demnach die Angewohnheit, den Inhalt von Mr Parkins’ Brieftasche zu untersuchen, Reggie?«, fragte Noakes oder Woollett kumpelhaft, aber ein wenig zu verbissen, als fürchte er, ihm entschwinde die Grundlage, Reggie einen Mord anzuhängen, und hoffe stattdessen, ihm etwas anderes anzuhängen, ehe es zu spät war.
Mit hörbarem Knacken drehte der alte Mann seinen Kopf den beiden Polizisten zu.
»Ich möchte auch die beiden Herren bitten zu beachten, dass meine Tage gezählt sind«, sagte er. »Stellen Sie bitte keine überflüssigen Fragen. Interessiert Parkins sich für den Vogel?«
Die Frage war an Mrs Panicker gerichtet.
»Alle interessierten sich für Bruno«, sagte sie und fragte sich, warum sie über den Papagei in der Vergangenheitsform sprach. »Alle, außer dem armen Mr Shane. Ist das nicht sonderbar?«
»Sicher interessiert sich Parkins für ihn«, sagte Reggie. Die Widerspenstigkeit, mit der er den alten Mann anfangs behandelt hatte, war verflogen. »Er hat ständig was in sein kleines Notizbuch gekritzelt. Jedes Mal, wenn der Vogel mit diesen verdammten Zahlen anfing.«
Zum ersten Mal seit dem Eintreffen auf der Polizeiwache wirkte der alte Mann ernsthaft an dem interessiert, was vor sich ging. Er erhob sich ohne das Gestöhne und Gemurmel, das diese Tätigkeit bisher begleitet hatte.
»Die Zahlen!« Er legte die Handflächen aneinander, eine Geste zwischen Gebet und Applaus. »Ja! Das gefällt mir! Der Vogel war es gewohnt, Zahlen zu wiederholen.«
»Den ganzen verfluchten Tag lang.«
»Endlose Zahlenreihen«, sagte Mrs Panicker und überhörte sogar den Kraftausdruck, obgleich einer der Polizisten dabei zusammenzuckte. Nun fiel ihr wieder ein, dass sie tatsächlich viele Male gesehen hatte, wie Parkins ein kleines Notizbuch hervorgezogen und die numerischen Arien niedergeschrieben hatte, die Brunos schwarzer Schnabel mit unheimlich uhrwerkartigem Schnalzen hervorbrachte. »Von eins bis neun, immer wieder, ohne bestimmte Reihenfolge.«
»Und alles auf Deutsch«, sagte Reggie.
»Und dieser Mr Parkins, in welchem Beruf ist er momentan tätig? Ist er Handelsreisender wie Richard Shane?«
»Er ist Architekturhistoriker«, sagte sie und bemerkte dabei, dass weder Noakes noch Woollett sich die Mühe machte, irgendetwas schriftlich festzuhalten. Wenn man die beiden so betrachtete, schwitzende Kolosse in blauen Wollmänteln, konnte man meinen, sie würden nicht einmal zuhören, von Mitdenken ganz zu schweigen. Vielleicht fanden sie es zu heiß zum Denken. Der eifrige kleine Inspector aus London, dieser Bellows, tat ihr Leid. Kein Wunder, dass er den alten Mann um Hilfe gebeten hatte. »Er arbeitet an einer Monographie über unsere Kirche.«
»Aber gesehen wird er dort nie«, sagte Reggie. »Schon gar nicht sonntags.«
Der alte Mann schaute sie an, erwartete eine Bestätigung.
»Momentan erstellt er ein Gutachten über einige sehr alte Dorfurkunden, die in der Bibliothek von Gabriel Park aufbewahrt werden«, sagte sie. »Ich verstehe leider nicht sehr viel davon. Er versucht, die Höhe des Kirchturms im Mittelalter zu berechnen. Es ist alles sehr … er hat es mir einmal gezeigt. Es sieht mehr wie Mathematik als wie Architektur aus.«
Langsam ließ sich der alte Mann wieder auf den Stuhl sinken, jetzt wirkte er völlig gedankenverloren. Nicht länger schaute er Mrs Panicker oder Reggie oder, so weit sie es beurteilen konnte, irgendetwas anderes im Raum an. Seine Pfeife war längst erloschen, er entzündete sie erneut mit einer Reihe mechanischer Handgriffe, scheinbar ohne es überhaupt wahrzunehmen. Die vier Menschen, die das Zimmer mit ihm teilten, standen oder saßen herum und warteten in beachtlicher Einmütigkeit darauf, dass er zu irgendeinem Schluss kam. Nach einer vollen Minute kräftigen Schmauchens sagte er klar und deutlich: »Parkins«, dann hielt er eine kleine gemurmelte Rede, die sie nicht verstand. Er schien sich selbst eine Predigt zu halten. Noch einmal hievte er sich auf die Füße, dann steuerte er auf die Tür des Wartezimmers zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Es war, als hätte er die anderen vollkommen vergessen.
»Was ist mit mir?«, rief Reggie. »Sagen Sie denen, sie sollen mich freilassen, Sie alter Spinner!«
»Reggie!« Mrs Panicker war entsetzt. Bisher hatte er nichts von sich gegeben, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Ausdruck des Bedauerns über das Schicksal von Mr Shane hatte. Ohne sich im Geringsten zu schämen, hatte er sein Vorhaben gestanden, einem verwaisten kleinen Judenflüchtling den Vogel zu stehlen, und Mr Parkins’ Brieftasche durchsucht zu haben. Und nun saß er da und beleidigte den einzig wirklich wertvollen Verbündeten, den er, von ihr selbst abgesehen, je gehabt hatte. »Um Himmels willen. Wenn du nicht einmal jetzt siehst, in welches Schlamassel du dich gebracht hast …«
An der Tür drehte sich der alte Mann mit einem verärgerten kleinen Lächeln um.
»Ihre Mutter hat Recht«, sagte er. »Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nur sehr wenige Beweise, die Sie entlasten, aber sehr viele Indizien, die auf Sie zu verweisen scheinen. Diese beiden Herren hier« – er nickte in Richtung Noakes und Woollett – »würden ein Pflichtversäumnis begehen, wenn sie Sie freiließen. Kurz gesagt, Sie scheinen durchaus schuldig zu sein, Mr Shane umgebracht zu haben.«
Dann setzte er seine Jagdmütze auf und ging, mit einem letzten Nicken in Richtung von Mrs Panicker, nach draußen.