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Es gab zweifellos leichtere Dinge auf dieser Welt, als einen Parkplatz am Landeskrankenhaus zu ergattern. Matthias fand schließlich einen in beträchtlicher Entfernung zum Gebäude, in dem sich das Labor der Pathologie befand. Dóra war früh ins Büro gegangen und hatte einen Brief an die Polizei verfasst, in dem sie als Bevollmächtige der Angehörigen um Akteneinsicht bat. Der Brief befand sich bereits in einem Umschlag in Bellas Postfach. Bella würde ihn hoffentlich heute zur Post bringen, aber Dóra hatte zur Sicherheit einen Zettel auf den Umschlag geklebt: Auf keinen Fall vor dem Wochenende zur Post bringen! Dóra hatte auch schon in der Flugschule angerufen, um sich nach Haralds Kartenzahlung im September zu erkundigen. Dort erhielt sie die Information, Harald habe eine kleine Maschine mit Pilot gemietet, um an einem Tag nach Hólmavík und zurück zu fliegen. Dóra suchte im Internet nach Hólmavík und fand schnell heraus, was Harald dorthin gelockt haben dürfte — das Hexereimuseum von Strandir. Des Weiteren hatte sie im Hótel Rangá angerufen, um sich nach Haralds Reise an die Südküste zu erkundigen: Er hatte zwei Zimmer für zwei Nächte reserviert und bezahlt — im Reservierungsbuch standen die Namen Harald Guntlieb und Harry Potter. Sehr witzig. Während sie um das Landeskrankenhaus kurvten, erzählte Dóra Matthias von Haralds Ausflügen an die Südküste und nach Hólmavík.
»Na endlich«, sagte Matthias und bog in eine soeben frei gewordene Parklücke.
Sie gingen auf das Haus hinter dem Hauptgebäude zu. Es hatte in der Nacht geschneit und Matthias stapfte voraus auf dem Trampelpfad, der sich im Schnee gebildet hatte. Das Wetter war eisig und ein beißender Nordwind fuhr durch Dóras Haar. Sie hatte morgens beschlossen, ihr Haar offen zu tragen. Jetzt bedauerte sie diese Entscheidung, da der Wind es in alle Richtungen zerrte. Das wird am Ende umwerfend aussehen, dachte Dóra. Sie blieb kurz stehen, drehte den Rücken zum Wind und versuchte, ihr Haar zu bändigen, indem sie sich ihren Schal um den Kopf wickelte. Das sah nicht gerade schick aus, schützte sie aber wenigstens vor dem Wind. Dann folgte sie Matthias mit schnellen Schritten.
Als sie endlich beim Labortrakt angekommen waren, drehte sich Matthias zum ersten Mal um, seit sie das Auto verlassen hatten. Er starrte entgeistert auf den Schal um ihren Kopf. Dóra konnte sich gut vorstellen, wie elegant sie aussah, was er bestätigte, indem er die Augenbrauen hochzog und bemerkte: »Hier gibt es bestimmt eine Damentoilette, die Sie aufsuchen können.«
Dóra hielt sich zurück, obwohl sie große Lust hatte, ihm etwas an den Kopf zu werfen. Stattdessen schaute sie ihn nur grimmig an und wuchtete die Eingangstür auf. Drinnen steuerte sie auf eine Frau zu, die ein leeres Stahlwägelchen vor sich herschob, und fragte sie, wo der Arzt zu finden sei, den sie treffen wollten. Nachdem die Frau sich erkundigt hatte, ob der Arzt sie erwarte, wies sie auf ein Büro am Ende des Ganges. Sie bat die beiden, noch einen Moment vor der Tür zu warten, da der Arzt noch bei der morgendlichen Besprechung sei. Dóra und Matthias setzten sich auf zwei verschlissene Stühle an der Wand des Ganges.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen. Entschuldigung«, sagte Matthias, ohne Dóra anzuschauen.
Dóra hatte wenig Interesse daran, mit ihm über ihr Aussehen zu diskutieren, und reagierte nicht. Sie wickelte sich den Schal so würdevoll wie möglich vom Kopf und legte ihn in ihren Schoß. Dann nahm sie einen Stapel abgegriffener Zeitschriften von einem kleinen Tischchen zwischen den Stühlen.
»Wer liest so was eigentlich?«, murmelte sie beim Durchblättern des Stapels.
»Ich glaube, wer hierher kommt, ist nicht auf der Suche nach Lesestoff«, antwortete Matthias. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin.
Dóra legte die Zeitschriften irritiert beiseite. »Nein, vielleicht nicht.« Sie schaute auf die Uhr und bemerkte ungeduldig: »Wo bleibt der Mann eigentlich?«
»Er wird schon kommen«, war die knappe Antwort. »Ich mache mir allerdings gewisse Sorgen wegen Ihnen und dieser Unterredung.«
»Was meinen Sie?«, fragte sie gereizt.
»Ich glaube, es wird äußerst unangenehm für Sie«, antwortete er und wendete sich ihr zu. »Sie haben keine Erfahrung mit so etwas und ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee war. Am besten erzähle ich Ihnen, was Sie erwartet.«
Dóra sah ihn scharf an. »Ich habe zwei Kinder zur Welt gebracht, mit den dazugehörigen Schmerzen und Blut und Nachwirkungen und Schleim und Gott weiß was. Ich werde das schon überleben.« Sie verschränkte die Arme und drehte sich von ihm weg. »Was haben Sie denn eigentlich alles vollbracht?«
Matthias schien nicht begeistert von Dóras großartigem Erfahrungsreichtum zu sein. »So einiges. Ich möchte Sie lieber damit verschonen; im Gegensatz zu Ihnen habe ich kein Bedürfnis, mich selbst zu beweihräuchern.«
Dóra verdrehte die Augen. Dieser Deutsche war nicht gerade eine Stimmungskanone. Sie beschloss, lieber den »Wachturm« zu studieren, als das Gespräch mit ihm fortzuführen. Sie hatte einen Artikel über den schlechten Einfluss des Fernsehens auf die Jugend der Welt zur Hälfte gelesen, als ein Mann in einem weißen Kittel durch den Gang auf sie zueilte. Er war um die sechzig, hatte graue Schläfen und war sonnengebräunt. Um seine Augen zogen sich weiße Lachfältchen, und Dóra stelle sich vor, er habe sich in der Sonne gut amüsiert.
»Guten Tag«, sagte der Mann und reichte ihnen seine Hand. »þráinn Hafsteinsson.«
Dóra und Matthias grüßten zurück und stellten sich vor.
»Treten Sie ein«, sagte der Arzt auf Englisch, damit Matthias ihn verstand, und öffnete die Tür zu seinem Büro. »Entschuldigt, dass ich so spät bin«, fügte er auf Isländisch an Dóra gerichtet hinzu.
»Kein Problem«, entgegnete sie. »Da draußen liegen so viele interessante Zeitschriften; ich hätte gern noch ein bisschen länger gewartet.« Sie lächelte ihn an.
Der Arzt warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Ja, stimmt.« Sie betraten das Büro. An den Wänden waren Regale mit Fachbüchern und allen möglichen Zeitschriften und dazwischen standen Aktenschränke. Der Arzt ging zu einem großen, aufgeräumten Schreibtisch, setzte sich und bot ihnen zwei Stühle an. »Also dann.« Während er dies sagte, presste er seine Hände gegen den Schreibtischrand, wie um den eigentlichen Beginn der Sitzung einzuläuten. »Ich schlage vor, wir sprechen Englisch.«
Dóra und Matthias nickten.
Er fuhr fort: »Ich habe in Amerika studiert. Deutsch dagegen habe ich seit meiner mündlichen Abiturprüfung nicht mehr gesprochen und möchte Sie damit lieber verschonen.«
»Wie ich Ihnen am Telefon bereits gesagt habe, ist Englisch wunderbar«, sagte Matthias, wobei Dóra sich bemühte, nicht über seine harte deutsche Aussprache zu lachen.
»Gut«, entgegnete der Arzt und griff nach einem gelben Ordner, der zuoberst auf dem Papierstapel auf dem Tisch lag. »Ich sollte mich wohl zunächst dafür entschuldigen, wie lange es gedauert hat, die Erlaubnis zu bekommen, Ihnen den gesamten Obduktionsbericht zu zeigen.« Er lächelte entschuldigend. »Die Bürokratie ist bei diesen Dingen immer ungeheuerlich, und es ist oft unklar, wie man auf so ungewöhnliche Umstände wie in diesem Fall reagieren soll.«
»Ungewöhnlich?«, bemerkte Dóra.
»Ja«, antwortete der Arzt. »Ungewöhnlich deshalb, weil die Angehörigen einen Bevollmächtigten bestimmt haben, der die Ergebnisse der Obduktion erhalten soll, wobei es sich auch noch um einen ausländischen Staatsbürger handelt. Zeitweise dachte ich, der Tote müsse den Antrag persönlich unterschreiben, damit die Erlaubnis gewährt wird.« Er lächelte ihnen wieder zu.
Dóra erwiderte dieses Lächeln höflich, wobei sie aus den Augenwinkeln sah, dass Matthias’ Gesicht erstarrt war.
Der Arzt wendete seinen Blick ab und fuhr fort. »Tja, nicht nur der darauf folgende Papierkrieg machte diesen Fall zu einem ganz besonderen. Das sollte Ihnen klar sein, bevor wir beginnen.« Der Arzt blickte sie an und lächelte wieder. »In der Tat eine der merkwürdigsten und außergewöhnlichsten Obduktionen, die ich je gemacht habe, und ich habe während meines Studiums im Ausland schon allerhand gesehen.«
Dóra und Matthias schwiegen und warteten, wobei Dóra viel wissbegieriger wirkte als Matthias, der zur Salzsäule erstarrt war.
Der Arzt räusperte sich und öffnete den Ordner. »Wir sollten dennoch mit den Dingen beginnen, die man als einigermaßen normal bezeichnen kann.«
»Unbedingt«, stieß Matthias hervor, während Dóra versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie wollte lieber das Außergewöhnliche hören.
»Also, die Todesursache ist Ersticken durch Blockierung der Atemwege«, erklärte der Arzt und tippte leicht auf den Aktenordner. »Wenn wir fertig sind, gebe ich Ihnen eine Kopie des Obduktionsberichts, wenn Sie möchten. Bei der Todesursache geht es vor allem darum, wie der Tote erstickt wurde, und zwar glauben wir, dass das mit einem Stoffgürtel geschehen ist, nicht mit einem Ledergürtel. Der Täter muss dabei sehr viel Kraft angewendet haben, denn die Wunde am Hals ist beträchtlich. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass der Druck länger andauerte, als eigentlich nötig war, um das Opfer außer Gefecht zu setzten, aus welchem Grund auch immer — vermutlich blinder Hass oder Raserei.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Dóra.
Der Arzt stöberte in der Mappe und holte zwei Fotos hervor. Er legte sie vor sich auf den Tisch und schob sie dann zu Dóra und Matthias. Sie zeigten Haralds stark verwundeten Hals. »Wie Sie sehen, ist die Haut an den Rändern der Würgemale stellenweise eingedrückt und von der Reibung versengt. Dies deutet darauf hin, dass der Gegenstand eine raue Oberfläche und keine gleichmäßige Form hatte. So wie die Wunde aussieht, muss er ungleichmäßig breit gewesen sein.« Der Arzt hielt inne, während er auf das andere Foto zeigte. »Bemerkenswert sind auch die Anzeichen einer älteren Wunde weiter unten am Hals, bei weitem nicht so schlimm, aber dennoch beachtenswert.« Er schaute die beiden an. »Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
Matthias kam Dóra zuvor. »Nein, nichts.« Dóra hielt sich zurück, obwohl sie sich vorstellen konnte, wie diese Wunde entstanden war.
»Mit dem Mord hat das wohl nichts zu tun, aber man weiß ja nie.« Der Arzt schien sich mit Matthias’ Antwort zufriedenzugeben, zumindest ging er nicht weiter darauf ein. Er deutete auf das zweite Foto, das ebenfalls Haralds Hals in starker Vergrößerung zeigte. »Dieses Foto ist aufschlussreicher, denn hier sieht man, wie sich ein Metallgegenstand, eine verzierte Gürtelschnalle oder ein anderes unbekanntes Teil des verwendeten Gürtels, in den Hals des Ermordeten gebohrt hat. Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie, dass es am ehesten die Form eines kleinen Dolches hat — es kann jedoch auch etwas ganz anderes sein; es handelt sich schließlich nicht um einen Gipsabdruck.«
Dóra und Matthias beugten sich über das Foto, um besser sehen zu können. Der Mann hatte Recht. Am Hals befand sich der deutliche Abdruck eines Gegenstandes. Anhand einer Skala neben dem Foto war zu erkennen, dass er ungefähr acht bis zehn Zentimeter lang gewesen sein musste. Die Umrisse am Hals glichen einem kleinen Dolch oder Kreuz. »Und was ist das?«, fragte Matthias und zeigte auf zwei Wunden auf beiden Seiten des Abdrucks.
»Der kleine Gegenstand scheint auf etwas Scharfkantigem befestigt gewesen zu sein. Die Haut wurde durch den Druck eingerissen. Mehr lässt sich daraus nicht schließen.«
»Was ist mit diesem Gürtel oder was auch immer es war?«, fragte Matthias. »Hat man ihn gefunden?«
»Nein«, antwortete der Arzt. »Der Täter muss ihn beseitigt haben. Er glaubte bestimmt, wir würden darauf Gewebeproben von ihm finden.«
»Wäre das möglich gewesen?«, fragte Dóra.
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Es ist jedenfalls klar, dass solche Gewebeproben jetzt, so lange nach der Tat, kaum mehr von Nutzen sind, selbst wenn wir den Tatgegenstand finden sollten.« Er räusperte sich. »Kommen wir zum Zeitpunkt des Todes. Das ist wesentlich komplizierter.« Der Arzt blätterte in der Akte und nahm ein paar Seiten heraus. »Ich weiß nicht, wie vertraut Ihnen unsere Arbeitsweise ist, das heißt, wie wir welche Schlüsse ziehen.« Er schaute Dóra und Matthias an.
»Darüber weiß ich gar nichts«, beeilte sich Dóra zu sagen. Sie merkte, dass das Matthias auf die Nerven ging. Er sagte kein Wort, was Dóra aber nicht weiter störte.
»Also, wir müssen alle Hinweise sammeln, die sich an oder in der Leiche oder in ihrer direkten Nähe oder an dem Ort, an dem sie gefunden wurde, befinden. Wir nutzen ebenfalls Hinweise aus dem Leben des Verstorbenen, zum Beispiel wann er zum letzten Mal gesehen wurde, wann er zuletzt etwas gegessen hat, welche Gewohnheiten er hatte usw. Das ist besonders bei einem gewaltsamen Tod wie diesem von Bedeutung.«
»Klar«, sagte Dóra und lächelte den Arzt an.
»Diese Informationen oder Hinweise werden dann auf verschiedene Weise benutzt, um die Todeszeit möglichst genau festzulegen.«
»Und wie geht das?«, fragte Dóra.
Der Arzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sichtlich zufrieden mit ihrem Interesse. »Es gibt zwei Herangehensweisen: Zum einen beurteilt man die Veränderungen an der Leiche. Diese gehen mit einer bestimmten Geschwindigkeit vonstatten, wie zum Beispiel Totenstarre, Körpertemperatur und Verwesung. Zum anderen vergleicht man gewisse Informationen mit bekannten Zeitangaben; wann nahm der Verstorbene die Nahrung zu sich, die sich im Magen befindet, wann wurde sie verdaut usw.«
»Wann starb er?« Matthias kam direkt zum Thema.
»Eine vorschnelle Frage«, entgegnete der Arzt und lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich das eben schon erwähnte, aber je eher eine Leiche nach dem Ableben gefunden wird, desto eindeutiger sind die Hinweise. In diesem Fall vergingen etwa anderthalb Tage, was nicht schlecht ist. Zumal sich die Leiche in einem Gebäude befand, wodurch die Raumtemperatur eine relativ bekannte Größe ist.« Er öffnete den gelben Aktenordner und überflog eine Textseite. »Der polizeilichen Ermittlung zufolge wurde Harald zuletzt von einem unbeteiligten Zeugen um 23:42 an besagtem Samstagabend gesehen, als er ein Taxi bezahlte und dieses in der Hringbraut verließ. Daher kann man sagen, dass dies der Anfangspunkt des Zeitrahmens ist, in dem die mögliche Todeszeit liegt. Der Endpunkt des Zeitrahmens ist selbstverständlich der Fund der Leiche um 7:20 am Montagmorgen, dem 31. Oktober.«
Er verstummte und blickte die beiden an. Dóra nickte, um ihm zu signalisieren, dass sie ihm folgen konnte und er fortfahren möge. Matthias war immer noch eine Salzsäule.
»Nachdem die Leiche gefunden und die Polizei am Tatort eingetroffen war, wurde die Körpertemperatur gemessen. Sie war genauso hoch wie die Zimmertemperatur. Dies zeigte sofort, dass nach Eintreten des Todes eine gewisse Zeit vergangen war. Wie schnell die Körpertemperatur abfällt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bei einer schlanken Person geht es beispielsweise schneller als bei einer dicken Person, da der Temperaturaustausch bei einer schlanken Person verhältnismäßig größer ist.« Der Arzt machte eine ausladende Handbewegung. »Es kommt auch auf die Kleidung und den Zustand der Leiche an, auf ihre Körperhaltung, auf die Luftzirkulation und die Luftfeuchtigkeit im Raum und vieles mehr. All diese Informationen sind Teil der Analyse, die ich eben erwähnt habe.«
»Und was ist dabei herausgekommen?«, insistierte Matthias.
»Eigentlich nichts. Wir konnten dadurch den Zeitrahmen etwas besser eingrenzen. Es ist klar, dass diese Herangehensweise uns nur Hinweise zum Todeszeitpunkt geben kann, wenn die Körpertemperatur sich von der Zimmertemperatur unterscheidet.« Er stöhnte. »Wenn die Leiche die Zimmertemperatur angenommen hat, passt sie sich dieser verständlicherweise an. Wir können allerdings berechnen, wie lange eine Leiche braucht, um die Zimmertemperatur anzunehmen, und daraus folgern, dass dies die minimale Zeit ist, die seit dem Tod vergangen sein muss.« Er ließ seinen Blick das Blatt hinunterwandern. »Hier steht es. In diesem Fall setzte die Analyse den Schlusspunkt des Zeitrahmens so, dass über zwanzig Stunden seit dem Tod vergangen sein mussten.«
»Das ist ja alles sehr interessant, keine Frage«, sagte Matthias. »Andererseits wüsste ich gern, wann Harald höchstwahrscheinlich starb und wie man das herausfand.« Er schaute Dóra dabei nicht an.
»Ja, natürlich, entschuldigen Sie«, sagte der Arzt. »Die Todesstarre deutete darauf hin, dass der Tod mindestens 24 Stunden bevor die Leiche gefunden wurde, eingetreten war, was den Zeitrahmen noch weiter eingegrenzt hat.« Der Arzt blickte abwechselnd von Dóra zu Matthias. »Möchten Sie, dass ich die Todesstarre noch etwas ausführlicher erkläre? Ich kann das kurz zusammenfassen, wenn Sie wollen.«
»Ja, bitte«, antwortete Dóra, während Matthias gleichzeitig sagte: »Nein, danke, nicht nötig.«
»Richten wir uns höflichkeitshalber nach der Dame«, entgegnete der Arzt und schenkte Dóra ein Lächeln. Sie erwiderte es mit größtmöglichem Charme. Matthias warf ihr einen schrägen Blick zu, ziemlich sauer, wie es Dóra schien. Sie ließ sich davon nicht beirren.
»Also«, begann der Arzt, »die Totenstarre beginnt in den Muskeln, die am meisten betätigt werden, und geht dann auf alle Muskeln über. Wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, ist der Körper steif. Er verharrt in der Position, die er innehat, wenn die Starre auf den gesamten Körper übergeht. Dieser Zustand hält jedoch nicht lange an, denn die Totenstarre geht vorüber und der Körper entspannt sich vollkommen. Unter normalen Umständen erreicht die Starre zwölf Stunden nach dem Tod ihren Höhepunkt und beginnt dann 36 bis 48 Stunden später abzuebben. Bei Fällen wie diesem, wo die Todesursache Ersticken ist, dauert es allerdings etwas länger.« Der Arzt blätterte in den Papieren, zog ein Foto hervor und reichte es ihnen. »Wie Sie sehen, war Haralds Leiche vollkommen steif, als sie gefunden wurde.«
Matthias griff als Erster nach dem DINA4 großen Foto. Er schaute Dóra ausdruckslos an und reichte es ihr. »Es ist ziemlich abstoßend«, sagte er, als sie das Bild entgegennahm.
Abstoßend beschrieb nicht annähernd, was Dóra vor Augen hatte. Das Foto zeigte Harald Guntlieb in einer merkwürdigen Stellung, die Dóra schon von den Fotos aus der Mappe mit den Ermittlungsunterlagen kannte, auf dem Fußboden. Die anderen Fotos waren allerdings so unscharf und schlecht kopiert gewesen, dass man sie im Vergleich mit dem, was sie jetzt sah, fast in der Kinderstunde zeigen könnte. Haralds Arm richtete sich vom Ellbogen aus gerade nach oben, so als wolle er auf etwas an der Decke zeigen. Es gab nichts, was den Ellbogen in dieser Position hielt oder stützte. Trotzdem war Harald Guntlieb definitiv tot. Sein Gesicht war dick und geschwollen und hatte eine seltsame Farbe. Was Dóra jedoch am meisten zu schaffen machte, waren die Augen, oder besser gesagt die Augenhöhlen. Sie gab Matthias das Foto schnell zurück.
»Wie Sie sehen, lehnte die Leiche vermutlich an etwas, wahrscheinlich an einer Wand, und der Arm versteifte sich in dieser Stellung. Sie wissen bestimmt, dass der Mord nicht in diesem Flur stattfand. Die Leiche fiel aus einer kleinen Kammer, als ein Lehrer am Montagmorgen deren Tür öffnete. Aus der Beschreibung des Mannes lässt sich schließen, dass die Leiche dort hineingebracht worden war. Entweder ist sie gegen die Tür gefallen oder so positioniert worden, dass sie herausfallen musste, sobald jemand die Tür öffnete. Wie auf dem Foto zu sehen ist, öffnet sich die Tür zum Gang hin.«
Matthias betrachtete das Foto und nickte schweigend. Dóra hatte genug; sie wollte sich dieses Foto nicht noch einmal anschauen. »Aber Sie haben uns noch nicht mitgeteilt, wann er aller Voraussicht nach gestorben ist«, sagte Matthias und gab dem Arzt das Foto zurück.
»Ja, entschuldigen Sie«, erwiderte der Arzt und blätterte in der Akte. Als er die richtige Seite gefunden hatte, richtete er sich in seinem Stuhl auf. »In Anbetracht des Mageninhalts und des Amphetamingehalts im Blut liegt die angenommene Todeszeit zwischen eins und halb zwei. Der Zeitpunkt der Einnahme von Nahrung und Amphetaminen ist bekannt. Harald hat gegen neun Uhr an jenem Abend Pizza gegessen. Kurz bevor er um halb zwölf die Party verließ, schnupfte er Amphetamine durch die Nase.«
Der Arzt reichte Matthias ein anderes Foto aus dem Stapel. »Die Verdauung von Pizza ist verhältnismäßig gut bekannt und dokumentiert.«
Matthias betrachtete das Foto, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann sah er mit zweideutigem Gesichtsausdruck auf und reichte Dóra das Foto. Dabei lächelte er zum zweiten Mal an diesem Morgen. »Haben Sie Lust auf eine Pizza?«
Dóra nahm das Foto, das Haralds Mageninhalt zeigte. Es würde wohl eine Weile dauern, bis sie sich zum nächsten Mal eine Pizza bestellte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Die Untersuchungsergebnisse bezüglich des Amphetamins stammen von einem pharmakologischen Institut. In Haralds Magen wurde auch Ecstasy gefunden, halb verdaut, aber wir wissen nicht, wann es eingenommen wurde, für die Bestimmung des Todeszeitpunktes ist es also nicht von Nutzen.«
»Gut«, sagte Matthias kurz angebunden.
Der Arzt ergriff wieder das Wort. »Man kann davon ausgehen, dass die Leiche ein paar Stunden nach dem Eintritt des Todes transportiert wurde. Das erkennen wir an bestimmten Quetschungen, die sich am tiefsten Punkt des Körpers bilden, sobald der Blutkreislauf unterbrochen wird. Das Blut sammelt sich aufgrund der Schwerkraft. Wir stellten fest, dass sich solche Quetschungen an Stellen befanden, die nicht zueinanderpassten, nämlich am Rücken, an den Pobacken und an der Rückseite der Waden einerseits und an Fußsohlen, Fingern und Kinn andererseits. Die zuerst genannten Stellen waren steifer, was darauf schließen lässt, dass die Leiche zuerst auf dem Rücken lag und dann später in eine aufrechte Stellung gebracht wurde. Des Weiteren zeugen die Schuhe davon, dass die Leiche ein Stück gezogen wurde; vermutlich hat derjenige, der das tat, sie unter den Achselhöhlen gepackt und die Füße hinterherschleifen lassen. Warum, können wir nicht sagen. Die schlüssigste Erklärung ist meiner Meinung nach, dass der Mörder Harald in seiner eigenen Wohnung umbrachte, sich der Leiche aber nicht sofort entledigen konnte, wahrscheinlich wegen Trunkenheit. Warum er sie dann ausgerechnet zum Árnagarður brachte, steht auf einem anderen Blatt. Das ist nicht unbedingt der erste Ort, der einem einfällt, wenn man mit einem derartigen Problem konfrontiert ist.«
»Und die Augen?«, fragte Matthias.
Der Arzt räusperte sich. »Die Augen. Das ist ein weiteres Rätsel, zu dem mir nichts einfällt. Wie der Familie bekannt ist, wurden sie erst nach Haralds Tod entfernt, was meiner Meinung nach für die Angehörigen in gewisser Weise tröstlich ist. Warum dies getan wurde, weiß ich allerdings nicht.«
»Wie entfernt man eigentlich die Augen einer Leiche?«, fragte Dóra und bereute die Frage gleich wieder.
»Da gibt es zweifellos verschiedene Möglichkeiten«, antwortete der Arzt. »Es scheint jedoch, als habe unser Mörder ein flaches Werkzeug verwendet. Alle Hinweise, oder besser gesagt der Mangel an Hinweisen, deuten darauf hin.« Der Arzt begann, in den Papieren zu blättern.
Dóra beeilte sich, ihn zu bremsen. »Wir glauben Ihnen vollkommen. Wir brauchen keine weiteren Fotos.«
Matthias schaute sie an und grinste. Nach ihrem Gespräch im Gang amüsierte er sich offenbar über Dóras Abscheu. Das ärgerte sie und sie beschloss, es ihm heimzuzahlen. »Sie sagten am Anfang, die Obduktion sei ungewöhnlich und merkwürdig gewesen. Was meinten sie damit?«
Der Arzt beugte sich vor und sein Gesicht erhellte sich. Er hatte sich offensichtlich darauf gefreut, diesen Punkt anzusprechen.
»Ich weiß nicht, wie nah Sie Harald Guntlieb stehen; vielleicht ist Ihnen das alles schon bekannt.« Er blätterte in der Akte und zog ein paar Fotos hervor. »Ich meine das hier«, sagte er dann und legte die Fotos vor Dóra und Matthias auf den Tisch.
Es dauerte einen Moment, bis Dóra begriff, was sie vor sich hatte. Sie erschauderte. »Igitt, was ist das eigentlich?«, stieß sie hervor.
»Kein Wunder, dass Sie fragen«, entgegnete der Arzt. »Harald Guntlieb hat so genannte Körperveränderungen an sich durchgeführt — man nennt das üblicherweise Body Modifications, jedenfalls in den Ländern, wo dieses Hobby seinen Ursprung hat. Zuerst dachten wir, die Sache mit der Zunge wäre Teil der Misshandlungen der Leiche, aber dann sahen wir, dass die Wunde verheilt war. Er muss es schon vor einer Weile haben machen lassen — das ist noch viel, viel verrückter als Zungenpiercings, muss ich gestehen.«
Dóra betrachtete die Fotos, eins abscheulicher als das andere. Plötzlich überfiel sie ein Brechreiz und sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Verzeihung«, stieß sie mit zusammengekniffenen Lippen hervor und hechtete zur Tür. Als sie im Flur war, hörte sie, wie Matthias mit verwundertem Tonfall zu dem Arzt sagte: »Komisch. Obwohl sie zwei Kinder zur Welt gebracht hat.«
Im Kulturhaus war nicht viel los. Dóra hatte diesen Ort ausgewählt, weil man sich hier in aller Ruhe unterhalten konnte, besser als in den meisten anderen Cafés in der Innenstadt. Dóra und Matthias saßen allein in einem Raum neben dem Hauptsaal des Lokals. Auf dem Mosaiktisch zwischen ihnen lag der gelbe Aktenordner mit dem Obduktionsbericht, den Matthias mitgenommen hatte.
»Nach einer Tasse Kaffee wird es Ihnen besser gehen«, sagte Matthias verlegen und schaute zur Tür, durch die das Mädchen mit der Bestellung soeben entschwunden war.
»Ich bin schon okay«, entgegnete Dóra scharf. Das stimmte sogar; die Übelkeit, die sie im Büro des Arztes überfallen hatte, war vorüber. Nachdem sie aus dem Raum gestürzt war, hatte sie am Flur eine Toilette gefunden und es geschafft, sich mit ein paar Spritzern Wasser wieder auf Vordermann zu bringen. Dóra hatte sich schon immer schnell geekelt und ihr fiel wieder ein, wie sehr sie die Lehrbücher ihres Ex-Mannes verabscheut hatte. Er hatte sie während seines Medizinstudiums immer im ganzen Haus verteilt. Die Bilder in den Lehrbüchern reichten jedoch nicht annähernd an das heran, was sie heute Morgen gesehen hatte. Dóra fügte mit versöhnlicher Stimme hinzu: »Ich weiß auch nicht, was los war. Ich hoffe, ich habe den Arzt nicht beleidigt.«
»Es sind ja schließlich nicht sehr appetitliche Fotos«, stellte Matthias fest. »Die meisten Leute würden so reagieren wie Sie. Machen Sie sich keine Gedanken über den Arzt. Ich habe ihm gesagt, Sie seien gerade von einer Magen-Darm-Erkrankung genesen und daher nicht in der besten Verfassung für solche Anblicke.«
Dóra nickte. »Was zum Teufel war das eigentlich? Ich glaube, das meiste habe ich erkannt, aber im Nachhinein bin ich mir nicht mehr so sicher …«
»Scheint so, als habe Harald alle möglichen Eingriffe an seinem Körper vornehmen lassen. Der Arzt meint, die ältesten sind mehrere Jahre alt und die jüngsten nur ein paar Monate.«
»Aber warum hat er das getan?«, fragte Dóra. Ihr war unbegreiflich, was einen jungen Menschen dazu veranlassen konnte, sich selbst zu entstellen.
»Gott weiß warum«, antwortete Matthias. »Harald war nie so wie die anderen. Seit ich seine Familie kenne, sympathisierte er immer mit gesellschaftlichen Randgruppen. Erst war es die Umweltbewegung, eine Zeit lang eine Antiglobalisierungsgruppe. Als er schließlich anfing, Geschichte zu studieren, dachte ich, er sei stabiler geworden.«
Dóra schwieg und dachte an die Fotos und den Schmerz, den Harald empfunden haben musste. »Was genau … –«
In diesem Moment kam die Bedienung mit dem Kaffee und den Snacks, die sie bestellt hatten. Sie bedankten sich und als das Mädchen gegangen war, ergriff Matthias das Wort. »Das waren alle möglichen chirurgischen Eingriffe und Schnitte. Am meisten hat mich seine Zunge schockiert. Sie haben bestimmt bemerkt, dass eines der Fotos Haralds Mundhöhle zeigte.« Dóra nickte und Matthias sprach weiter. »Er hat seine Zunge in der Mitte einschneiden, also der Länge nach spalten lassen. Sie sollte wohl so aussehen wie eine Schlangenzunge, und ich muss zugeben, dass ihm das ganz gut gelungen ist.«
»Konnte er damit noch normal sprechen?«, fragte Dóra.
»Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er deshalb ein bisschen lispelte. Das kann man aber nicht mit Sicherheit sagen. Der Arzt behauptet, ein solcher Eingriff sei beileibe kein Einzelfall. Verständlicherweise sehr selten, aber ein Vorreiter war Harald damit zumindest nicht.«
»Er wird es wohl kaum selbst gemacht haben? Wer führt denn solche Eingriffe durch?«, fragte Dóra.
»Es handelte sich um einen relativ frischen Eingriff, vermutet der Arzt. Die Wunde war noch nicht ganz verheilt. Jeder, der Zugang zu Betäubungsmitteln, Zangen und Skalpellen habe, könnte so etwas blitzschnell durchführen: Ärzte, Operationsschwestern, Zahnärzte. Der Betreffende müsste allerdings auch desinfizierende und schmerzstillende Medikamente verschreiben oder zumindest beschaffen können.«
»Mein Gott, da fällt einem ja nichts mehr zu ein«, sagte Dóra. »Und das ganze andere Zeug: die Kugeln, die Narben, die Abzeichen, die Kegel und Gott weiß was alles?«
»Dem Arzt zufolge hat Harald sich verschiedene Metallobjekte unter die Haut implantieren lassen, sodass ihre Konturen zu sehen sind. Unter anderem diese kleinen Kegel oder Zacken auf seinen Schultern. Der Arzt hat insgesamt 32 Objekte entfernt, alles Mögliche bis hin zu den kleinen Kugeln, die Sie an seinen Geschlechtsorganen gesehen haben.« Matthias warf Dóra einen verlegenen Blick zu. Sie nippte an ihrem Kaffee und lächelte, um ihm zu signalisieren, dass ihr das nicht peinlich war. Er redete weiter.
»Dann sind da noch die Symbole; sie haben alle mit schwarzer Magie und Okkultismus zu tun. Harald hat immer weitergemacht; es gab nur wenige Körperstellen, die nicht auf irgendeine Weise verziert waren.« Matthias unterbrach sich für einen Moment, um einen Happen zu essen. »Gewöhnliche Tätowierungen scheinen ihm nicht gereicht zu haben, seine Tätowierungen waren Narben.«
»Narben?«, warf Dóra ein. »Hat er Tattoos entfernen lassen?«
»Nein, nein. Es handelt sich um Tätowierungen, die dadurch entstehen, dass die Haut eingeschnitten oder entfernt wird, damit sich Muster oder Symbole aus Narben bilden. Damit trifft man eine ziemlich endgültige Entscheidung. Wenn ich den Arzt richtig verstanden habe, kann man so eine Tätowierung nur durch Hautverpflanzungen rückgängig machen, was wiederum eine noch größere Narbe hinterlässt.«
Dóra war einfach nur verblüfft. Nichts war unmöglich. Als sie jung war, galt es als abgefahren, drei Ohrringe zu tragen.
»Harald wurde übrigens nach seinem Tod noch eine Schnittwunde zugefügt. Zuerst dachte man, es wäre eines der neueren Tattoos, aber dann stellte sich heraus, dass ein Symbol, das einer magischen Rune ähnelt, in seine Brust geritzt wurde.« Matthias zog einen Stift aus der Tasche seines Jacketts und griff nach einer hellen Serviette. Er zeichnete das Symbol und zeigte Dóra dann die Serviette. »Dieses Symbol ist unbekannt. Zumindest ist es der Polizei nicht geglückt, etwas darüber herauszufinden, deswegen hat der Mörder es sich vielleicht einfach an Ort und Stelle ausgedacht. Möglicherweise wurde er gestört und hat das Symbol nicht richtig hingekriegt. Es ist nicht leicht, in Haut zu ritzen.«
Dóra nahm die Serviette und betrachtete das Symbol. Es bestand aus vier Linien, die einen Kasten bildeten, eine Art Mühle. Die Enden der Linien, die über den Kasten hinausragten, wurden jeweils von einer kurzen Linie gekreuzt. Im Inneren des Kastens befand sich ein Kreis, von dem wiederum eine Linie ausging, an deren Ende ein Halbkreis gezeichnet war.
Dóra gab Matthias die Serviette zurück. »Mit magischen Runen kenne mich leider nicht aus. Ich hatte mal eine Rune als Kettenanhänger, aber ich kann mich nicht erinnern, was sie bedeuten sollte.«
»Wir müssen mit jemanden sprechen, der sich damit auskennt. Wer weiß, ob die Polizei nicht einfach zu schnell aufgegeben hat.«
Matthias riss die Serviette in kleine Stückchen. »Irgendwas muss sich der Mörder jedenfalls dabei gedacht haben. Die meisten wollen nur so schnell und so weit wie möglich wegkommen, wenn sie einen Mord begangen haben.«
»Vielleicht ist der Mörder geisteskrank«, schlug Dóra vor. »Es zeugt ja wohl nicht gerade von seelischem Gleichgewicht, Runen in eine Leiche zu ritzen und ihre Augen herauszuschneiden.« Sie schüttelte sich. »Oder er stand unter Drogen. Was allerdings auf den armen Jungen hindeuten könnte, der im Knast sitzt.«
Matthias zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Aber vielleicht auch nicht. Wir müssen ihn jedenfalls so bald wie möglich im Gefängnis besuchen.«
»Ich setze mich mit seinem Anwalt in Verbindung«, entgegnete Dóra. »Er wird einem Gespräch bestimmt zustimmen und sollte außerdem froh sein, uns helfen zu können. Wenn es uns gelingen sollte, den wirklichen Mörder zu finden, entlasten wir schließlich seinen Mandanten. Ich habe der Polizei bereits einen Antrag auf Herausgabe der Ermittlungsunterlagen zukommen lassen.«
Matthias nahm sich noch einen Happen und schaute auf die Uhr. »Was halten Sie davon, in Haralds Wohnung vorbeizufahren? Ich habe die Schlüssel, und die Polizei hat schon einen Teil der Sachen, die sie bei der Durchsuchung mitgenommen hatte, wieder zurückgebracht. Wir könnten einen Blick darauf werfen; vielleicht bringt uns das weiter.«
Dóra fand die Idee gut. Sie schickte ihrem Sohn eine SMS und bat ihn, seine Schwester direkt nach Schulschluss im Hort abzuholen. Dóra hatte ein besseres Gefühl, wenn sie wusste, dass ihre Tochter zu Hause war. Daher beauftragte sie manchmal ihren Sohn. Als Dóra gerade erst die Sendetaste betätigt hatte, erschien schon Gylfis Antwort. Sie öffnete die Nachricht und las. »OK — wann kommst du nach Hause?« Dóra schrieb sofort zurück, sie komme gegen sechs. Ob es pure Einbildung war, dass Gylfi in letzter Zeit ziemlich großes Interesse daran hatte, wann genau sie nach Hause käme? Vielleicht wollte er einfach nur in Ruhe sein Computerspiel spielen. Jedenfalls fragte er auffallend häufig danach.
Bevor Dóra das Handy beiseitelegte, rief sie im Büro an, um auszurichten, sie sei in der nächsten Zeit nicht zu erwarten. Niemand nahm ab; stattdessen sprang der Anrufbeantworter nach dem fünften Klingeln an. Dóra hinterließ eine Nachricht und legte auf. Zu Bellas Hauptaufgaben gehörte der Telefondienst, aber bei den wenigen Malen, die Dóra im Büro anrufen musste, wurde nur selten abgenommen. Dóra seufzte. Sie wusste, dass es nichts bringen würde, das Thema schon wieder mit dieser Schnepfe von Sekretärin zu diskutieren. »Okay, ich bin so weit«, sagte sie zu Matthias, der die Zeit genutzt hatte, um seine Mahlzeit zu beenden. Dóra kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter, bevor sie aufstand und ihren Mantel anzog.
Sie gingen zur Theke, wo Matthias die Rechnung bezahlte, bevor sie das Café verließen. Er betonte, dass alles auf Kosten der Familie Guntlieb ging. Dóra war sich nicht sicher, ob er das sagte, damit sie bloß nicht glaubte, er habe sie eingeladen und es handele sich um ein Rendezvous, oder ob es einfach eine reine Information war. Sie nickte nur beiläufig und bedankte sich.
Sie traten hinaus in die Kälte und gingen zum Parkhaus, in dem sie den Mietwagen geparkt hatten. Haralds Wohnung lag in der Bergstaðastræti, nicht weit von dem Café in der Hverfisgata entfernt. Dóra kannte sich gut im þingholtviertel aus, seit sie im Skólavörðustígur arbeitete. Sie konnte Matthias ohne Schwierigkeiten den Weg zeigen — obwohl das Viertel nicht groß war, verfuhr man sich in den engen Gassen schnell, wenn man sich nicht auskannte. Sie parkten direkt vor einem ehrwürdigen, weißen Steinhaus, einer der begehrenswertesten Immobilien im ganzen Viertel. Das Haus war gut gepflegt; Dóra konnte seinen Wert schwer einschätzen. Dies erklärte zumindest die Schwindel erregend hohe Miete, die sie in Haralds Mietvertrag gesehen hatte.
»Waren Sie schon mal in der Wohnung?«, fragte Dóra, als sie zum Seiteneingang des Hauses gingen. Der Haupteingang befand sich an der Straßenseite und führte zu der zweiten Wohnung im Parterre, wo die Hauseigentümer wohnten.
»Ja, sogar mehrmals«, antwortete Matthias. »Bisher war allerdings immer die Polizei dabei. Jemand musste bezeugen, dass sie Unterlagen und Gegenstände für Ermittlungszwecke mitnahmen und später wieder zurückbrachten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir die Wohnung wesentlich genauer durchsuchen werden als die Polizei. Sie hatten sich schon auf Hugi als Täter eingeschossen und die Wohnung nur noch zum Schein untersucht.«
»Ist die Wohnung denn genauso ungewöhnlich wie ihr ehemaliger Bewohner?«, wollte Dóra wissen.
»Nein, sie ist sehr gewöhnlich«, antwortete Matthias und steckte einen der beiden Schlüssel ins Haustürschloss. Die Schlüssel waren an einer kleinen isländischen Flagge als Schlüsselanhänger befestigt, und Dóra schloss daraus, dass er in einem der Touristenläden in der Stadt extra für diese Schlüssel gekauft worden war. Sie konnte sich Harald nicht so recht bei einer Shoppingtour zwischen Wollpullis und Stoffpapageientauchern vorstellen.
»Hereinspaziert!«, rief Matthias und öffnete die Tür.
Bevor Dóra eintreten konnte, kam eine junge Frau um die Straßenecke gelaufen. Sie rief ihnen in nahezu fehlerfreiem Englisch etwas zu. »Entschuldigen Sie«, japste sie und zog ihren kurzen Pullover nach unten, um sich vor der Kälte zu schützen. »Kommen Sie von Haralds Familie?«
Matthias reichte ihr die Hand und sagte auf Englisch: »Ja, guten Tag, wir sind uns schon mal begegnet, als ich die Schlüssel von Ihnen bekommen habe. Matthias.«
»Ja, das dachte ich mir«, entgegnete die Frau, schüttelte Matthias die Hand und lächelte. Sie war sehr attraktiv, schlank, mit schicker Frisur und gepflegtem Teint, eindeutig aus besseren Kreisen. Als sie lächelte, sah Dóra, dass die Frau wahrscheinlich nicht mehr ganz so jung war, wie sie aussah, denn um ihren Mund und ihre Augen bildeten sich kleine Fältchen. Die Frau gab auch Dóra die Hand. »Guten Tag, ich heiße Guðrún«, stellte sie sich vor und fügte dann hinzu: »Mein Mann und ich waren Haralds Vermieter.«
Dóra nannte ihren Namen und entgegnete Guðrúns Lächeln. »Wir wollten uns nur mal kurz umschauen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.«
»Oh, kein Problem«, sagte die Frau schnell. »Ich bin nur rausgekommen, um zu fragen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt, wann die Wohnung geräumt wird.« Sie lächelte wieder, jetzt entschuldigend. »Wir haben ein paar Anfragen, Sie verstehen.«
Dóra verstand das eigentlich nicht, denn soweit sie informiert war, zahlten die Guntliebs immer noch die Miete, und es musste ein Glücksfall sein, eine Wohnung zu diesem Preis zu vermieten, ohne irgendwelchen Ärger mit einem Mieter zu haben. Sie wendete sich Matthias zu, der die Frage der Frau möglicherweise beantworten konnte.
»Das wird leider noch dauern«, antwortete er kurz angebunden. »Der Mietvertrag besteht ja weiter, wenn ich Sie bei unserem letzten Gespräch richtig verstanden habe.«
Die Frau entschuldigte sich eilig. »Doch, doch — verstehen Sie mich bitte nicht falsch — das tut er. Wir würden nur gern wissen, wann die Guntliebs ihn voraussichtlich kündigen werden. Es handelt sich um eine teure Wohnung und es ist nicht so leicht, einen solventen Mieter zu finden.« Die Frau schaute Dóra Hilfe suchend an. »Wir haben nämlich ein Angebot von einer dieser internationalen Firmen, das wir nicht ausschlagen möchten. Sie brauchen die Wohnung für zwei Monate, deshalb möchten wir wissen, was Sie vorhaben. Sie verstehen bestimmt, was ich meine.«
Matthias nickte. »Ich verstehe ihr Problem, aber ich kann Ihnen im Moment leider nichts versprechen«, sagte er. »Es hängt alles davon ab, wie schnell wir Haralds Sachen durchsehen können. Ich möchte sichergehen, dass nichts in Kisten verpackt wird, was von Bedeutung sein könnte.«
Die Frau, die nun vor Kälte bibberte, nickte eifrig. »Wenn ich etwas tun kann, um die Sache voranzutreiben, lassen Sie es mich bitte wissen.« Sie reichte ihnen die Visitenkarte einer Importfirma, die Dóra nicht kannte. Darauf standen der Name der Frau sowie mehrere Telefonnummern, darunter auch eine Handynummer.
Dóra fischte ihre eigene Karte aus ihrem Portemonnaie und reichte sie der Frau. »Nehmen Sie auch meine. Sie oder Ihr Mann können mich anrufen, wenn Ihnen etwas einfällt, das uns vielleicht weiterhelfen könnte. Wir versuchen, Haralds Mörder ausfindig zu machen.«
Die Frau riss die Augen auf. »Was ist denn mit dem Mann, den die Polizei festgenommen hat?«
»Wir haben unsere Zweifel daran, dass er der Mörder ist.«
Dóra merkte, wie die Frau bei dieser Neuigkeit erschrak. Deshalb fügte sie schnell hinzu: »Ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen — wer auch immer es ist, er wird wohl kaum hierher kommen.« Sie lächelte.
»Nein, darum geht es nicht«, winkte die Frau ab. »Ich dachte nur, der Fall sei abgeschlossen.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Dóra und Matthias betraten das warme Haus. Im Flur führte eine weiß gestrichene Treppe zur Wohnung in der oberen Etage. Es gab noch eine weitere Tür, die laut Matthias zur gemeinsamen Waschküche führte. Sie stiegen die Treppe hinauf und auf dem Treppenabsatz nahm Matthias den Schlüsselbund mit dem Souveniranhänger und schloss die Wohnung auf.
Das Erste, was Dóra auffiel, als sie über die Türschwelle trat, war, dass Matthias stark untertrieben hatte, als er die Wohnung als »sehr gewöhnlich« bezeichnet hatte. Verwundert schaute sie sich um.
Gunnar Gestvík, Leiter der Historischen Fakultät der Universität Islands, ging mit energischen Schritten durch den Gang zum Büro der Direktorin des Árni-Magnússon-Instituts, wobei er abwesend einem jungen Historiker zunickte, der ihm unterwegs begegnete. Der junge Mann lächelte mitfühlend, und Gunnar wurde schon wieder an seine neu gewonnene Berühmtheit in der Universität und den einzelnen Instituten erinnert. Kaum jemand schien vergessen zu haben, dass er derjenige war, dem die Leiche von Harald Guntlieb in die Arme gefallen war, geschweige denn seinen darauf folgenden Nervenzusammenbruch. Man konnte sagen, dass er noch nie so große Beliebtheit genossen hatte. Die wenigsten, die jetzt einen Umweg in Kauf nahmen, um sich mit ihm zu unterhalten, zählten zu seinen Freunden. Dieser Zustand würde natürlich vorübergehen, aber er hatte es weiß Gott satt, die dummen Fragen der Leute zu beantworten und ihre Neugier zu befriedigen. Er verabscheute den Gesichtsausdruck derjenigen, die sich ein Herz fassten, um ihre Trauer über den verfrühten Tod des jungen Mannes und Mitgefühl für Gunnar auszudrücken, denn es kam immer etwas ganz anderes dabei heraus. Ihre Gesichter glühten vor Sensationslust und Erleichterung darüber, dass ihnen dies nicht selbst passiert war. Hätte er vielleicht doch den Rat des Rektors befolgen und sich einen zweimonatigen Forschungsurlaub nehmen sollen? Er war sich nicht sicher. Das Interesse der Leute würde nach einer gewissen Zeit vielleicht nachlassen, aber am Ende sowieso wieder aufflammen, sobald der Fall vor Gericht käme. Wenn er freinähme, würde er lediglich das Unumgängliche hinauszögern. Zu allem Überfluss entstünde dann eine Quelle für endlose Klatschgeschichten: Er säße in einer Nervenheilanstalt, würde zu Hause stinkbesoffen vor sich hin dämmern oder noch Schlimmeres. Nein, vermutlich war es die richtige Entscheidung, den Urlaub abzulehnen und das Ganze über sich ergehen zu lassen. Die Leute würde das Thema früher oder später langweilen und sie würden sich wie üblich von Gunnar fern halten.
Gunnar klopfte mehr aus Höflichkeit sanft an die Tür der Direktorin und öffnete sie dann abrupt, ohne auf ein »Herein« zu warten. Maria Einarsdóttir telefonierte, gab Gunnar aber mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle Platz nehmen, was er auch tat. Er wartete ungeduldig auf das Ende des Telefonats, das sich um eine nicht gelieferte Tonerbestellung für den Drucker drehte.
Gunnar versuchte, sich seinen Unmut darüber nicht anmerken zu lassen. Als Maria ihn ein paar Minuten zuvor angerufen hatte, hatte sie von einer wichtigen Angelegenheit gesprochen und verlangt, er solle sofort zu ihr kommen. Er hatte die Arbeit, mit der er gerade beschäftigt gewesen war, beiseitegelegt; falls diese wichtige Sache mit dem Toner zu tun hatte, würde er ihr unverblümt seine Meinung sagen. Er war gerade dabei, sich einige Sätze zurechtzulegen, als sie auflegte und sich ihm zuwendete.
Bevor Maria das Wort ergriff, betrachtete sie Gunnar nachdenklich — so als wolle sie ihre Sätze sorgfältig auswählen. Sie klopfte mit den Fingern ihrer rechten Hand in einem schnellen Takt gegen die Schreibtischkante und stöhnte. »Mist«, sagte sie schließlich.
Jedenfalls hat sie sich nicht so viel Zeit gelassen, um ihre Ausdrucksweise zu verfeinern, dachte Gunnar und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unpassend er es fand, dass die Direktorin des Árni-Magnússon-Instituts ein solches Wort in den Mund nahm. Seit Gunnar vor vierzig Jahren ein junger Mann gewesen war, hatten sich die Zeiten vollkommen geändert. Damals galt es als erstrebenswert, sich gut auszudrücken — jetzt fanden die Leute es nur noch lächerlich und gestelzt. Gunnar räusperte sich. »Was ist denn so wichtig, Maria?«
»Mist«, wiederholte sie und fuhr sich mit beiden Händen durch das kurz geschnittene Haar. Es war schon leicht ergraut und ein paar silberne Strähnen schimmerten an ihren Schläfen, als sie sich die Haare aus der Stirn strich. »Eine Urkunde ist verschwunden.« Kurzes Schweigen und dann: »Gestohlen.«
Gunnar zuckte zusammen. Er konnte seine Verwunderung und sein Unbehagen nicht verbergen. »Was meinst du eigentlich? Gestohlen? Aus der Sammlung?«
Maria stöhnte. »Nein. Nicht aus der Sammlung. Von hier, aus dem Institut.«
Gunnar blieb der Mund offen stehen. Aus dem Institut? »Wie ist das möglich?«
»Das ist eine gute Frage; es ist meines Wissens das erste Mal, dass hier so etwas passiert ist.« Mit scharfer Stimme fügte sie hinzu: »Wer weiß, vielleicht ist noch mehr verschwunden als dieser eine Brief.« Im Árni-Magnússon-Institut wurden ungefähr 1600 Handschriften und Teile von Handschriften aufbewahrt, dazu die ganzen Urkunden und etwa 150 Handschriften aus der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Maria starrte Gunnar direkt in die Augen. »Eines ist klar: Wir werden jedes einzelne Dokument überprüfen und herausfinden, ob noch weitere Urkunden fehlen. Ich wollte aber erst mal unter vier Augen mit dir sprechen, bevor wir die Sache öffentlich machen. Sobald ich eine Zählung anordne, wissen alle, was los ist.«
»Warum besprichst du das mit mir?«, fragte Gunnar verblüfft und ein bisschen nervös. Als Fakultätsleiter hatte er nicht viel mit der Handschriftensammlung zu tun. »Du willst mich ja wohl nicht beschuldigen, diesen Brief gestohlen zu haben?«
»Um Gottes willen, Gunnar. Ich erkläre dir die Sache lieber, bevor du fragst, ob ich den Rektor verdächtige.« Sie reichte ihm einen Brief, der auf dem Tisch gelegen hatte. »Erinnerst du dich an die Urkunden, die wir vom dänischen Staatsarchiv ausgeliehen haben?«
Gunnar schüttelte den Kopf. Das Institut lieh im Zusammenhang mit eigenen Forschungsarbeiten oft ausländische Sammlungen aus. Gunnar wurde meistens darüber benachrichtigt, nahm aber keine große Notiz davon, wenn die Urkunden nicht mit seinem Forschungsgebiet zu tun hatten. Diese dänische Briefesammlung hatte ihn nicht interessiert. Er überflog das Schreiben von irgendeinem Karsten Josephsen, Abteilungsleiter im dänischen Staatsarchiv. Der Mann mahnte an, es sei an der Zeit, die Urkunden zurückzuschicken. Gunnar gab Maria den Brief zurück. »Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«
Sie nahm den Brief und legte ihn wieder auf dieselbe Stelle vor sich auf den Tisch. »Das mag sein. Es handelt sich um eine Sammlung von Briefen an die Pastoren der Domkirche von Roskilde. Sie stammen alle aus der Zeit zwischen 1500 und 1550. Ich habe den Eindruck, ihr Inhalt war nicht von übermäßigem Interesse für unsere Forscher, obwohl die Briefe aus der Zeit der dortigen Reformation von 1536 ganz aufschlussreich sind. Der verschwundene Brief gehörte jedoch nicht dazu.«
»Worum ging es in dem Brief?«, fragte Gunnar, immer noch unsicher, was er mit der Sache zu tun haben sollte.
»Ich weiß natürlich nicht genau, was in dem Brief stand, da er ja verschwunden ist — mir ist allerdings bekannt, dass er aus dem Jahr 1510 stammt und von Stefán Jónsson, dem damaligen Bischof von Skálholt, an den Pastor der Domkirche von Roskilde geschrieben wurde. Diese Informationen habe ich aus einem Verzeichnis, das der Sammlung beilag, als sie hier ankam. So habe ich übrigens überhaupt entdeckt, dass der Brief verschwunden ist; ich benutzte das Verzeichnis als Referenz beim Sortieren und Einpacken der Sammlung vor ihrem Transport zurück nach Dänemark.«
»Besteht die Möglichkeit, dass der Brief nie hier ankam — einfach von Anfang an gefehlt hat?«, fragte Gunnar hoffnungsvoll.
»Ausgeschlossen. Ich war dabei, als die Sammlung letztes Jahr ausgepackt wurde, und wir haben sorgsam darauf geachtet, die Sammlung mit der beigefügten Liste abzugleichen. Es war alles in bester Ordnung, alles an seinem Platz.«
»Kann dieser Brief nicht einfach woanders gelandet sein?«, insistierte Gunnar. »Könnte er versehentlich bei irgendwelchen anderen Urkunden liegen?«
»Also weißt du«, antwortete Maria, »wenn nicht noch andere Dinge dazukämen, wäre das bestimmt eine Möglichkeit.« Sie machte eine kurze Pause, um ihre nächsten Sätze zu unterstreichen. »Als ich den Verlust bemerkt habe, da habe ich sofort unser Computerarchiv geöffnet, um mir den eingescannten Brief anzusehen — und ob du’s glaubst oder nicht, die Datei war gelöscht — nur dieser eine Brief.«
Gunnar dachte kurz nach. »Warte mal. Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass sich der Brief gar nicht in der Sendung befunden hat? Wurden die Briefe nicht direkt nach dem Auspacken eingescannt?«
»Doch, direkt am nächsten Tag. Der Brief war dabei und wurde auch eingescannt. Ich kann das an dem Nummernsystem erkennen, mit dem wir das elektronische Archiv kennzeichnen. Die Sammlung bekommt eine bestimmte Kennziffer und die einzelnen Dokumente je nach Alter eine fortlaufende Archivnummer, angefangen mit dem ältesten.« Sie fuhr sich wieder mit den Fingern durchs Haar. »An der Stelle, an der sich der Brief befunden hat, fehlt eine Nummer.«
»Aber was ist mit dem Sicherheits-Backup des Servers? Es reiten doch immer alle darauf herum, wie gut wir vor Computerabstürzen gesichert sind. Kannst du die Datei nicht in einem dieser Backups finden?«
Maria lächelte zögernd. »Das habe ich schon überprüft. Laut unseres EDV-Leiters ist die Datei weder in einem der wöchentlichen Backups noch im letzten Monats-Backup zu finden. Er sagt, die Tages-CDs würden einmal pro Woche überschrieben, es gibt also eine spezielle Montags-CD, eine spezielle Dienstags-CD und so weiter. Auf diesen CDs befinden sich also niemals Dateien, die älter als eine Woche sind. Dasselbe gilt für die monatlichen Backups; sie werden ebenfalls überschrieben, sodass das älteste Backup höchstens einen Monat alt ist. Die Datei muss also vor über einem Monat gelöscht worden sein. Es gibt sogar halbjährliche Backups, die im Institutssafe aufbewahrt werden. Die habe ich aber noch nicht holen lassen, da mir bis jetzt noch nicht klar war, wie ernst die Sache wirklich ist.«
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, was das Ganze mit mir zu tun hat«, war das Einzige, was Gunnar dazu einfiel. Computer und Computersysteme waren nicht seine Sache.
»Selbstverständlich habe ich untersuchen lassen, wer mit dieser Sammlung gearbeitet hat. Das wird ja alles von vorn bis hinten dokumentiert. Der Letzte, der entsprechend der Liste Zugang zu der Sammlung hatte, war ein Student von deiner Fakultät.« Marias Gesicht verhärtete sich. »Harald Guntlieb.«
Gunnar griff sich mit der Hand an die Stirn und schloss die Augen. Was jetzt? Würde das denn niemals aufhören? Er atmete tief ein und bemühte sich, ruhig und leise zu sprechen, um nicht die Kontrolle über seine Stimme zu verlieren. »Es müssen sich doch noch andere diese Sammlung angesehen haben. Wie kannst du dir sicher sein, dass Harald den Brief genommen hat und nicht irgendein anderer vor ihm? Hier arbeiten schließlich 15 Leute Vollzeit, plus zahlreiche Gäste und Studenten, die hier forschen.«
»Oh, ich bin mir sicher«, sagte Maria mit fester Stimme. »Diejenige, die die Sammlung vor ihm angesehen hat, war niemand anders als ich selbst, und da war noch alles an seinem Platz. Außerdem wurde ein anderer Zettel in die Mappe gelegt, in der sich der Brief befunden hat, vermutlich, um sie nicht leer zurückgeben zu müssen. Das wäre sofort aufgefallen. Dieser Zettel …«
Sie nahm ein Blatt vom Tisch und reichte es Gunnar mit einer hektischen Handbewegung, die ihre Nervosität über den Vorfall deutlich machte.
»Du bist dir hoffentlich im Klaren darüber, dass du die Verantwortung dafür trägt, dass den Studenten der Historischen Fakultät Zugang zu unserem Quellenmaterial, unseren Handschriften und Dokumenten gewährt wird. In deiner Funktion als Fakultätsleiter kannst du dich um diese Verantwortung nicht drücken. Das Árni-Magnússon-Institut darf auf keinen Fall mit dem Verschwinden alter, wertvoller Dokumente in Verbindung gebracht werden. Unsere Arbeit hängt von einer guten Kooperation mit anderen Einrichtungen in den skandinavischen Ländern ab, und ich möchte gar nicht daran denken, dass diese Kooperation wegen der Unehrlichkeit eines eurer Studenten gefährdet werden könnte.«
Gunnar schluckte und betrachtete den Zettel, den Maria ihm gegeben hatte. Er wäre am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt. Es handelte sich um einen Ausdruck aus dem Studentenverzeichnis mit einer Zusammenfassung der Abschlussnoten und Fächer, oben auf der Seite sorgfältig mit dem Namen Harald Guntlieb versehen. Gunnar legte das Blatt in seinen Schoß.
»Wenn Harald den Brief gestohlen und mit diesem Zettel ausgetauscht hat, ist er einer der dämlichsten Diebe aller Zeiten.« Gunnar hob den Ausdruck hoch und wedelte damit herum. »Er muss sich darüber im Klaren gewesen sein, dass ihn das sofort überführen würde.«
Maria zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich wissen, was er sich dabei gedacht hat? Vielleicht wollte er den Brief ja zurückbringen. Du weißt am allerbesten, was ihm dazwischengekommen ist — er hatte einen Monat lang Zugang zu der Briefesammlung, dann fiel er aus der Kammer in deine Arme. Er hat zweifellos an den Einträgen gesehen, dass die Sammlung zwei Monate lang unangetastet war. Alle, die daran forschten, hatten sie bereits von vorn bis hinten durchgearbeitet. Er ging zu Recht davon aus, dass er genug Zeit hatte, bevor die Sache auffallen würde. Er hätte den Brief leicht wieder austauschen können, bevor es jemand merken würde. Was er in der Zwischenzeit mit dem Dokument machen wollte, ist mir allerdings ein absolutes Rätsel. Seine Lebenszeit reichte jedenfalls nicht mehr aus, um es zurückzugeben. Nähere Erklärungen für diesen Vorfall habe ich nicht.«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte Gunnar matt.
»Tun?«, entgegnete Maria ironisch. »Ich habe mich nicht an dich gewendet, um moralische Unterstützung zu bekommen. Ich möchte, dass du den Brief findest.« Sie machte eine ausladende Handbewegung: »Such an seinem Leseplatz und überall da, wo er den Brief möglicherweise versteckt haben könnte. Du weißt besser als ich, wo man am ehesten suchen sollte. Er war immerhin dein Student.«
Gunnar presste die Lippen fest aufeinander. Er verfluchte den Tag, an dem Harald Guntlieb an der Historischen Fakultät aufgenommen worden war, und erinnerte sich daran, dass er sich als Einziger gegen Haralds Aufnahme ausgesprochen hatte. Er hatte sofort ein komisches Gefühl gehabt, vor allem als er das Thema von Haralds Magisterarbeit sah, bei der es um Hexenverfolgung in Deutschland ging. Da wusste er sofort, dass mit dem jungen Mann Unheil im Anzug war. Aber er musste sich der Demokratie beugen, und jetzt hatte er die Misere, zusätzlich zu allem anderen, was der junge Mann verursacht hatte. »Wer weiß davon?«
»Ich. Du. Sonst habe ich mit niemandem darüber gesprochen, außer mit dem EDV-Leiter, aber der kennt nicht die ganze Geschichte. Er glaubt, es geht nur um die Datei.« Sie zögerte. »Und dann habe ich noch Bogi gefragt; er hat mit der Sammlung gearbeitet, als sie ankam, und ich habe versucht, etwas aus ihm herauszubekommen. Er vermutet wohl, dass da etwas faul ist. Wahrscheinlich glaubt er, der Brief sei verschlampt worden. Ich habe ihm nichts über meinen Verdacht erzählt.«
Bogi war einer der fest angestellten Wissenschaftler des Instituts. Er war ein ruhiger Typ und Gunnar fand es unwahrscheinlich, dass Bogi die Sache an die große Glocke hängen würde.
»Wann soll die Sammlung zurück in Dänemark sein? Wie viel Zeit habe ich, den Brief zu finden?«
»Ich kann das höchstens noch eine Woche hinauszögern. Wenn der Brief dann immer noch nicht aufgetaucht ist, habe ich keine andere Wahl, als den Verlust bekannt zu geben. Und ich weise dich schon mal darauf hin, dass dein Name dabei eine ziemlich große Rolle spielen wird. Mir ist übrigens zu Ohren gekommen, dass es nicht das erste Mal ist, dass Dokumente verschwinden und die Historische Fakultät damit in Verbindung steht.« Sie sah ihn forschend an.
Gunnar stand mit erröteten Wangen auf. »Ich verstehe.« Er traute sich in Anbetracht der Sachlage nicht, dem noch etwas hinzuzufügen, drehte sich aber in der Türöffnung noch einmal um, um eine letzte Frage zu stellen, die ihm auf der Seele lag — auch wenn er am liebsten mit lautem Türknallen hinausgerannt wäre. »Hast du eine Ahnung, was in dem Brief gestanden haben könnte? Irgendjemand muss sich doch daran erinnern.«
Maria schüttelte den Kopf. »Bogi arbeitete eigentlich an einer Forschungsarbeit über die Gründung der Diözese von Seeland und deren Einfluss auf die Kirchengeschichte Islands und konnte sich nur dunkel daran erinnern. Er weiß aber immerhin noch, dass der Brief schwer zu verstehen war und dass es um die Hölle, die Pest und den Tod irgendeines Boten ging. Das war das Einzige, was ich aus ihm herausbekommen konnte, ohne dass er Verdacht schöpfen konnte.«
»Ich melde mich«, sagte Gunnar zum Abschied. Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich, ohne auf Marias Abschiedsgruß zu warten.
Eins war klar. Er musste diesen Brief finden. Unbedingt.
Dóra drehte sich langsam auf dem glänzenden Parkett in dem riesigen Wohnzimmer. Es war minimalistisch eingerichtet, so wie es heutzutage als schick gilt. Den wenigen Möbeln sah man ihren hohen Preis an. In der Mitte des Zimmers standen zwei stilvolle, niedrige schwarze Ledersofas. Dóra hätte sich liebend gern probeweise in eines von ihnen sinken lassen, wollte Matthias gegenüber aber nicht zugeben, wie ungewohnt diese Umgebung für sie war. Zwischen den Sofas stand ein noch niedrigerer Tisch. Er schien kaum Beine zu haben — die Tischplatte befand sich fast direkt auf dem Fußboden. Dóra ließ ihren Blick über die Wände schweifen. Bis auf einen großen Flachbildschirm mitten an einer Wand wirkte die Wanddekoration sehr altertümlich. Im Raum standen einige antike Gegenstände, darunter ein alter, klobiger Holzstuhl, den Dóra für echt hielt. Sie dachte darüber nach, ob Harald selbst die Wohnung so eingerichtet hatte oder ob dies das Werk eines Innenarchitekten war. Die Kombination von alten und modernen Möbeln machte den Raum sehr ungewöhnlich und verlieh ihm eine persönliche Note.
»Wie gefällt es Ihnen?«, fragte Matthias beiläufig. Seinem Tonfall nach zu schließen, war er im Gegensatz zu Dóra an Luxus gewöhnt.
»Das ist wirklich eine tolle Wohnung«, entgegnete sie und trat zu einer der weißen Wände, um den uralten, gerahmten Kupferstich zu begutachten. Sie musterte das Bild und wich abrupt zurück. »Was ist das denn Abscheuliches?« Das Bild wimmelte von Menschen; der Künstler hatte sich redliche Mühe gegeben, sie alle darauf unterzubringen. Der schwarz-weiße Kupferstich zeigte etwa zwanzig Menschen, überwiegend Männer. Sie waren paarweise angeordnet, wobei jeweils der eine damit beschäftigt war, den anderen zu foltern oder auf irgendeine Art zu quälen.
Matthias trat zu Dóra und betrachtete das Bild. »Dies«, er verzog sein Gesicht ein wenig, »dies ist ein Bild, das Harald von seinem Großvater geerbt hat. Es stammt aus Deutschland und stellt den dortigen Zustand um 1600 dar, als die religiösen Auseinandersetzungen am heftigsten waren. Wie Sie unschwer erkennen können, war es eine grausame Zeit.« Matthias wendete sich von dem Kupferstich ab. »Das Besondere an diesem Bild ist, das es auch aus jener Zeit stammt, also keine spätere Interpretation ist. Diese sind meistens weniger realistisch und übertriebener. Vielleicht ist das Bild aber dennoch stilistisch ein wenig modifiziert.«
»Übertriebener?«, fragte Dóra entgeistert. Was konnte übertriebener sein als das hier?
»Tja«, erwiderte Matthias und zuckte mit den Schultern. »Durch meine Arbeit für die Guntliebs habe ich diese Epoche ein wenig kennen gelernt, und glauben Sie mir, dieses Bild ist bei weitem nicht das Schlimmste aus ihrer Sammlung.« Er grinste sarkastisch. »Dieses könnte man, im Vergleich zu den anderen, sogar gut ins Kinderzimmer hängen.«
»Meine Tochter hat ein Poster von Minnie Maus an der Wand«, bemerkte Dóra und trat zum nächsten Gemälde. »Sie können davon ausgehen, dass ein solches Bild niemals bei ihr im Zimmer hängen würde, und auch nicht an irgendeiner anderen Wand in meinem Haus.«
»Nein, das ist nicht jedermanns Sache«, antwortete Matthias und folgte Dóra zu einem Bild, das einen Mann zeigte, der auf einer Streckbank verstümmelt wurde. Eine Gruppe von in Talare gekleideten Männern saß dicht beieinander und schaute zwei Henkern konzentriert dabei zu, wie diese unter großer Anstrengung ein Rad an der Streckbank drehten. Das Ziel war wohl, die Gliedmaßen des Mannes noch weiter auseinanderzureißen und seine Qual dadurch noch zu verstärken. Matthias deutete auf die Bildmitte. »Dieses zeigt die Foltermethoden der Inquisition, stammt ebenfalls aus Deutschland. Sie sind damals sehr weit gegangen, um Geständnisse zu erzwingen, wie man sehen kann.« Er schaute Dóra an. »Für Sie als Rechtsanwältin ist es bestimmt interessant, den Ursprung der Folter in Europa zu ergründen. Daraus entwickelte sich schließlich im weiteren Sinne die Rechtswissenschaft.«
Dóra stellte sich auf weitere Beleidigungen ihres Berufszweiges ein. Dies hatte sie seit dem Beginn ihres Jurastudiums über sich ergehen lassen müssen. »Ja, klar — wir Rechtsanwälte übernehmen natürlich die volle Verantwortung.«
»Nein, ernsthaft«, erwiderte Matthias. »Im Mittelalter hatte jeder das Recht zur Anklage. Wer sich beleidigt oder als Opfer eines Gewaltverbrechens fühlte, musste den Täter selbst beschuldigen und Anklage erheben. Die Verhöre waren im Grunde lächerlich. Falls der Angeklagte vor Gericht nicht alles gestand oder es einen direkten Beweis für seine Schuld gab, wurde das Urteil in Gottes Hände gelegt. Der Angeklagte musste eine Prüfung absolvieren; über glühende Kohlen laufen oder er wurde gefesselt ins Wasser geschmissen und Ähnliches. Wenn seine Wunden beispielsweise nach einer gewissen Zeit verheilt waren oder er im Wasser unterging, galt er als unschuldig. Das brachte den Ankläger in eine verzwickte Lage, denn nun wurde er vor Gericht gestellt. Wie man sich denken kann, vermieden es die Leute, ihren Nachbarn anzuklagen, da die Gefahr bestand, dass sich die Sache plötzlich gegen sie selbst richtete.« Matthias zeigte auf den Mann auf der Streckbank. »Dieses System kam auf, als die Obrigkeit und die Kirchenoberhäupter merkten, dass Verbrechen, sowohl weltliche als auch religiöse, aufgrund der schwachen Stellung der Gerichtshöfe zunahmen. Um die Verbrechen zu bekämpfen, stützten sie sich auf römische Gesetze, bei denen die Anklage und das Gerichtsverfahren völlig anders aufgebaut waren. Angeklagte wurden verhört oder inquiriert; daher die Bezeichnung Inquisition. Die Kirche begann damit, die weltlichen Gerichtshöfe folgten und nun musste das Opfer eines Verbrechens weder Anklage erheben noch einen Fall vor Gericht bringen.« Matthias lächelte Dóra zu. »Ergo — Rechtsanwälte.«
Dóra lächelte zurück. »Es ist aber ziemlich weit hergeholt, die Rechtswissenschaft für diesen Unfug verantwortlich zu machen.«Jetzt war sie an der Reihe, auf den armen Mann auf der Streckbank zu zeigen. »Verzeihen Sie, aber ich verstehe auch nicht ganz den Zusammenhang zwischen einer Ermittlung und Folter.«
»Nein«, entgegnete Matthias. »Das war leider das Problem an dem neuen System. Um einen Schuldigen verurteilen zu können, musste man entweder zwei Zeugen des Verbrechens ausfindig machen oder den Angeklagten zu einem Geständnis bewegen. Manche Verbrechen, wie etwa Gotteslästerung, sind schwer zu bezeugen, daher drehte sich alles um Geständnisse. Die Richter brauchten Geständnisse und bekamen sie durch Folter. Dies nannte sich Ermittlung.«
»Ekelhaft«, sagte Dóra und drehte sich von dem Gemälde zu Matthias. »Woher wissen Sie das alles?«
»Haralds Großvater wusste sehr viel über jene Zeit und erzählte leidenschaftlich gern davon. Es war sehr interessant, ihm zuzuhören, aber im Vergleich zu dem alten Mann habe ich nur ein sehr oberflächliches Wissen.«
»Ach so«, sagte Dóra. »Haben Sie all diese Bilder schon mal gesehen?«
»Die meisten, glaube ich. Es handelt sich allerdings nur um einen kleinen Teil der Gemälde und Gegenstände aus der Sammlung. Harald hat offenbar nur einen Bruchteil davon mitgenommen. Sein Großvater verbrachte etliche Jahre seines Lebens damit, die Sammlung zu vervollständigen, und sicherlich floss auch ein Großteil seines Geldes hinein. Ich könnte mir vorstellen, dass es die weltweit wichtigste Sammlung über Folter und Hinrichtungen durch die Jahrhunderte ist. Dazu gehört beispielsweise auch ein vollständiger Satz der verschiedenen Ausgaben des Malleus Maleficarum.«
Dóra schaute sich um. »Hing die Sammlung einfach so im Wohnzimmer?«
»Nein, was glauben Sie!«, entgegnete Matthias. »Die Bücher und einige andere Dokumente, Briefe und so weiter, liegen in einem Banksafe, weil sie so wertvoll sind. Dann gibt es noch zwei spezielle Säle im Haus der Guntliebs, in denen die Stücke ausgestellt werden. Ein Teil der Bilder, die Sie hier sehen, stammt daher. Ich nehme an, die Familie war nicht besonders unglücklich darüber, einen Teil der Werke abzugeben. Die meisten Leute fanden das Ganze furchtbar; Haralds Mutter betrat die Säle beispielsweise nie. Harald war der einzige Nachkomme, der das Interesse seines Großvaters teilte. Aus diesem Grund vererbte der ihm seine Sammlung.«
»Konnte Harald das Zeug einfach durch die Gegend transportieren, wie er wollte?«, fragte Dóra.
Matthias lächelte. »Ich kann mir gut vorstellen, dass er die Sachen auch hätte mitnehmen dürfen, wenn er sie nicht geerbt hätte. Ich glaube, Haralds Eltern waren schlichtweg erleichtert, wenigstens einen Teil davon aus dem Haus zu haben.«
Dóra nickte. »Gehört dieser Stuhl auch zu der Sammlung?« Sie zeigte auf den alten Holzstuhl, der in einer Ecke des Raumes stand.
»Ja«, antwortete Matthias. »Das ist ein Tauchstuhl, mit dem Leute ins Wasser getaucht wurden. Hierbei handelt es sich allerdings um ein Beispiel für Folter als Bestrafung, eine andere Sache als Folter im Zuge einer Ermittlung. Vor allem Lästermäuler und Klatschbasen wurden so bestraft. Der Stuhl stammt aus England.«
Dóra trat zu dem Stuhl und ließ ihre Finger über die Schnitzerei an seiner Rückenlehne wandern. Sie konnte die Aufschrift nicht lesen, denn sie war stark verblichen, und Dóra kannte die Buchstaben nicht. In der Mitte des Stuhlsitzes befand sich ein großes Loch, und auf den Armlehnen waren Reihen von knittrigen, steifen Lederriemen befestigt. Damit wurden wohl die Hände des Opfers, das auf dem Stuhl saß, festgeschnallt.
»Durch das Loch konnte Wasser fließen, damit der Stuhl auch ganz bestimmt sinken würde und man die Leute untertauchen konnte. Dies galt als Schmach. Manchmal endete es damit, dass die Leute auf dem Stuhl ertranken, weil diejenigen, die für das Untertauchen zuständig waren, sich ungeschickt anstellten. Das ist noch eines der harmloseren Stücke der Sammlung.«
»Ach?«
»Die Erfindungsgabe dieser Menschen war unglaublich«, erzählte Matthias weiter, »die Lust am Quälen scheint die Fantasie beflügelt zu haben.«
»Ich würde diesen einladenden Raum eigentlich ganz gern verlassen; sollen wir weitergehen?«
Matthias nickte. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen die anderen Zimmer. Die sind nicht ganz so schlimm. Die Küche ist sogar völlig harmlos. Fangen wir dort an.«
Sie betraten die Küche, die vom Flur abging. Sie war nicht besonders groß, aber trotzdem sehr schick und komplett mit neuen, modernen Geräten ausgestattet. In den Regalen lagen jede Menge Weinflaschen, es gab einen riesigen Gasherd mit einer großen Abzugshaube aus Edelstahl, eine Spülmaschine, ein Waschbecken, so groß wie in einer Kantine, Weinkühler und einen Kühlschrank im XXL-Format. Dóra ging zu ihm hin. »Ich wollte schon immer eine Eiswürfelmaschine haben.«
»Warum kaufen Sie sich nicht einen solchen Kühlschrank?«, fragte Matthias.
Dóra drehte sich vom Kühlschrank zu Matthias. »Aus demselben Grund, warum ich mir andere Dinge nicht kaufe, die ich gern hätte. Weil ich sie mir nicht leisten kann. Auch wenn es Ihnen schwerfällt, sich das vorzustellen, haben manche Haushalte nicht so viel Geld zur Verfügung.«
Matthias zuckte mit den Schultern. »Ein Kühlschrank ist ja nicht unbedingt ein Luxusartikel.«
Dóra gab keine Antwort. Sie ging zu den Schränken und schaute hinein. In einem der Unterschränke standen mehrere Edelstahltöpfe mit Glasdeckeln, die so makellos sauber waren, dass sie nicht glaubte, dass sie je benutzt worden waren. »Ich habe den Eindruck, Harald hatte nicht viel fürs Kochen übrig, trotz dieser schicken Küche«, sagte sie und schloss den Schrank wieder. Sie reckte sich.
»Nein, wenn mich nicht alles täuscht, kaufte er lieber Fertiggerichte oder aß in Restaurants.«
»Wie man an seinen Kreditkartenzahlungen sehen konnte.« Sie schaute sich um, entdeckte aber nichts, was ihnen irgendwelche Hinweise hätte geben können. Sogar die Kühlschranktür war blank — keine Magnete oder angehefteten Zettel. Bei Dóra fungierte die Kühlschranktür als eine Art Infotafel für die ganze Familie. Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, welche Farbe die Tür hatte; sie war übervoll mit Stundenplänen, Geburtstagseinladungen und anderen Notizen. »Sollen wir uns den Rest anschauen?«, fragte Dóra, die genug von der Küche gesehen hatte. »Ich bezweifle, dass wir hier etwas finden, das uns weiterhilft.«
»Es sei denn, jemand hat ihn wegen des Kühlschranks umgebracht«, sagte Matthias und fügte neckend hinzu: »Wo waren Sie denn in der Mordnacht?«
Dóra grinste ihn nur spöttisch an. »Auf der Kreditkartenliste waren ein paar kleinere Zahlungen an eine Tierhandlung — hatte Harald ein Haustier?«
Matthias schüttelte überrascht den Kopf. »Nein, hier war kein Tier und nichts, was darauf hingewiesen hätte.«
»Ich dachte, er hätte vielleicht etwas für sein Haustier gekauft.« Dóra suchte in den Küchenschränken nach Katzen- oder anderem Tierfutter. Nichts.
»Rufen Sie dort an«, schlug Matthias vor. »Vielleicht erinnert sich jemand an ihn — wer weiß?«
Dóra tat es. Sie suchte die Nummer der Tierhandlung heraus, rief an, sprach mit einem Mitarbeiter und legte dann auf. »Merkwürdig«, sagte sie zu Matthias. »Die erinnern sich tatsächlich: Harald hat mehrmals Hamster gekauft. Sind Sie sicher, dass hier nicht irgendwo ein Hamsterkäfig steht?«
»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Matthias.
»Seltsam«, sagte Dóra. »Der Junge, mit dem ich gesprochen habe, hat auch erzählt, Harald wollte einen Raben bei ihm kaufen.«
»Einen Raben?«, sagte Matthias aufgeregt. »Wozu?«
»Er hatte nicht die geringste Ahnung. Sie verkaufen keine Raben und haben nicht weiter darüber gesprochen. Ihm kam das nur komisch vor, deshalb hat er sich an Harald erinnert.«
»Es würde mich nicht überraschen, wenn er einen solchen Vogel als eine Art Symbol für seinen spirituellen Unsinn gebraucht hätte«, sagte Matthias.
»Vielleicht«, antwortete Dóra. »Aber wohl kaum Hamster.«
Sie verließen die Küche und betraten den Flur, von dem die anderen Zimmer der Wohnung abgingen. Matthias öffnete die Badezimmertür und Dóra warf einen Blick hinein — hier schien sich nichts Geheimnisvolles zu verbergen. Wie die Küche war es sehr modern und blitzsauber, aber ansonsten nicht weiter bemerkenswert. Sie gingen weiter zu Haralds Schlafzimmer, das sich als wesentlich interessanter entpuppte.
»Hat hier jemand aufgeräumt oder war es bei ihm immer so akkurat?«, fragte Dóra und zeigte auf das ordentlich gemachte Bett. Es war außergewöhnlich niedrig, wie das Sofa im Wohnzimmer.
Matthias setzte sich auf den Bettrand. Seine Knie stießen dabei fast an sein Kinn. Er streckte seine Beine aus. »Er hatte eine Putzfrau, die an dem Wochenende, als er ermordet wurde, alles sauber gemacht hat. Die Polizei war darüber nicht sehr begeistert. Die Frau wusste zu der Zeit natürlich nicht mehr über den Mord als jeder andere. Sie kam einfach zur üblichen Zeit und putzte. Ich habe mit ihr gesprochen und sie hat sich nicht über Harald beklagt. Sie erzählte allerdings, die meisten Frauen bei der Firma, bei der sie angestellt ist, hätten diese Wohnung nicht übernehmen wollen.«
»Wie das wohl kommt?«, sagte Dóra ironisch und deutete auf die Bilder an den Wänden. Sie ähnelten den Bildern im Wohnzimmer, allerdings wurden auf diesen vor allem Frauen gefoltert, gequält oder umgebracht. Die meisten Frauen waren von der Taille an aufwärts nackt, andere vollkommen nackt. »Das sieht ja aus wie bei jedem anderen im Schlafzimmer.«
»Vielleicht hatten Sie bisher einfach mit den falschen Leuten zu tun«, entgegnete Matthias und lächelte kurz.
»Das war ein Witz«, konterte Dóra. »Ich war selbstverständlich noch nie in einem Schlafzimmer, das so dekoriert war.« Sie ging zu einem großen Bildschirm, der an der Wand gegenüber vom Bett hing. »Ich möchte lieber nicht wissen, welche Filme er sich angeschaut hat«, sagte sie und bückte sich zu dem DVD-Player, der auf einer niedrigen Kommode unter dem Bildschirm stand. Sie schaltete ihn ein und betätigte die Ausgabetaste, aber der Auszug war leer.
»Ich habe die DVD schon rausgenommen«, sagte Matthias, der ihre Bemühungen vom Bett aus beobachtete.
»Was hat er sich angesehen?«, fragte Dóra und drehte sich zu Matthias.
»König der Löwen«, entgegnete Matthias, ohne mit der Wimper zu zucken, und stand auf. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Arbeitszimmer. Da finden wir am ehesten etwas, das uns weiterhelfen könnte.«
Dóra erhob sich, um ihm zu folgen, beschloss dann aber, einen kleinen Umweg einzulegen und Haralds Nachttisch zu untersuchen. Sie zog die einzige Schublade heraus. Darin befanden sich eine Menge Cremedöschen und Tuben, die offenbar privaten Zwecken dienten, sowie eine aufgerissene Packung Kondome, aus der schon ein paar Stück fehlten. Es muss also Frauen geben, die sich von dem Wandschmuck nicht abschrecken lassen, dachte Dóra. Sie schloss die Schublade und folgte Matthias.
Laura Amaming schaute auf die Uhr. Es war zum Glück erst Viertel vor drei — sie hatte noch genug Zeit, um ihre Arbeit fertig zu machen und pünktlich um vier beim Unterricht zu sein. Sie lebte jetzt seit einem Jahr in Island und hatte es endlich geschafft, sich im Herbst für den Studiengang ›Isländisch für ausländische Studenten‹ einzuschreiben. Laura wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Es traf sich gut, dass der Unterricht im Hauptgebäude der Universität stattfand, in direkter Nähe zum Árnagarður, wo sie putzte. Es wäre fast unmöglich für sie gewesen, dieses Studium anzufangen, wenn der Unterricht woanders stattfinden würde — sie war erst eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn mit der Arbeit fertig und besaß kein Auto. Heute mussten die Innenseiten aller Fenster auf der Nordseite im ersten Stock geputzt werden; Laura hatte Glück; die ersten drei Büros waren leer. Man konnte viel besser putzen, wenn niemand im Raum war. Wenn jemand ihr dabei zuschaute, mit dem sie sich nicht unterhalten konnte, war ihr das sehr unangenehm. Es würde aber alles besser werden, wenn sie erst die Sprache gelernt hatte. Zu Hause auf den Philippinen war sie gesellig und alles andere als schüchtern gewesen. Hier kam sie sich immer fehl am Platze vor, außer im Kreis ihrer Landsleute — bei der Arbeit fühlte sie sich sogar oft eher wie ein Gegenstand als wie ein Mensch; die Leute sprachen und verhielten sich so, als sei sie gar nicht da. Alle, außer Tryggvi, dem Chef der Putzkolonne. Der Mann behandelte sie immer zuvorkommend und bemühte sich sehr, mit Laura und ihren Kolleginnen Kontakt aufzunehmen, auch wenn dieser oft aus wilden Gebärden bestand, die manchmal ziemlich lustig aussahen. Wenn die Frauen versuchten, zu erraten, was er ihnen sagen wollte, ließ er sich von ihrem Gekicher nie aus der Ruhe bringen. Tryggvi war ein hochanständiger Mensch, und Laura freute sich darauf, sich bald mit ihm in seiner eigenen Sprache unterhalten zu können. Aber eins war klar — sie würde niemals seinen Namen aussprechen können, selbst wenn sie alle Isländischkurse dieser Welt besuchte. Sie sagte leise »Tryggvi« und musste beim Klang ihrer eigenen Worte lächeln.
Laura ging zum großen Zimmer für die Studenten, das als eine Art Aufenthaltsraum genutzt wurde. Sie klopfte sanft an die Tür und trat ein. Auf dem verschlissenen Sofa am anderen Ende des Raumes saß ein junges Mädchen, das Laura aus der Clique des ermordeten Studenten kannte. Diese jungen Leute waren allerdings leicht zu erkennen und erinnerten an Gewitterwolken, sowohl in ihrem Verhalten als auch in ihrer Kleidung. Das rothaarige Mädchen war in ein Handygespräch vertieft, und obwohl sie mit leiser Stimme sprach, handelte es sich unverkennbar um ein unangenehmes Thema. Das Mädchen blickte Laura griesgrämig an, verdeckte den Mund und den unteren Teil des Handys mit der Hand und verabschiedete sich von ihrem Gesprächspartner. Sie stopfte das Handy in eine armeegrüne Umhängetasche, stand auf und stapfte hochmütig an Laura vorbei. Laura versuchte, ihr zuzulächeln, und gab sich große Mühe, ihr ein »Tschüss« hinterherzurufen. Das Mädchen drehte sich auf der Türschwelle um, verwundert über den Gruß, und nuschelte etwas Unverständliches, bevor sie hinausging und die Tür hinter sich zumachte. Schade, dachte Laura. Das Mädchen war sehr hübsch, man könnte sie sogar als richtig attraktiv bezeichnen, wenn sie sich ein bisschen Mühe mit ihrem Äußeren geben, diese fürchterlichen Ringe aus den Augenbrauen und der Nase entfernen und wenigstens ab und zu einmal lächeln würde.
Als Laura fast mit dem letzten Fenster fertig war, fiel ihr Blick auf den ersten wirklichen Schmutz. Er befand sich allerdings nicht auf dem Glas selbst, sondern es handelte sich um einen kleinen, bräunlichen Fleck neben dem metallenen Fenstergriff.
Laura sprühte das Putzmittel auf den Griff und wischte mit dem Lappen von allen Seiten darüber. Manchmal übersahen die jüngeren Putzfrauen schmutzige Stellen, die nicht direkt ins Auge fielen. Laura schüttelte den Kopf über das Verhalten der Studenten in diesem Raum — der Fenstergriff war nur ein weiteres Beispiel für die Schweinerei, die sie veranstalteten. Wer konnte eigentlich so schmutzige Finger haben? Das Zeug ließ sich jedenfalls leicht abwischen. Laura betrachtete zufrieden das glänzend saubere Metall und fühlte sich, als hätte sie einen kleinen Sieg über den Fakultätsleiter Gunnar errungen. Als sie den Lappen wieder in ihre Kitteltasche stopfen wollte, starrte sie auf den Fleck, der sich auf dem Tuch gebildet hatte. Er war dunkelrot. Die braune Farbe hatte sich offenbar auf dem feuchten Stoff aufgelöst. Es war Blut — daran bestand kein Zweifel. Aber wie war es an den Fenstergriff gekommen? Laura konnte sich nicht an Blut auf dem Fußboden erinnern; derjenige, der den Fenstergriff angefasst hatte, musste doch noch an anderen Stellen Blut verloren haben. Ob das Blut möglicherweise mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnte? Die Fenster waren aber doch nach dem Vorkommnis geputzt worden. Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, sie selbst geputzt zu haben, aber das hieß ja nicht, dass es nicht jemand anderes getan hätte. War im Ostflügel nicht genau an dem Tag nach dem Mord geputzt worden? Doch, natürlich! Die Polizei hatte sogar eine der jüngeren Frauen verhört, Gloria. Sie übernahm die Wochenendschichten.
Was zum Teufel sollte Laura tun? Sie war nicht gerade scharf darauf, der Polizei den Sachverhalt auf Isländisch zu erklären. Außerdem bekäme sie vielleicht Schwierigkeiten mit den Behörden, nur weil sie den Fenstergriff und somit mögliche Fingerabdrücke des Mörders abgewischt hatte. Sie könnte auch Probleme bekommen, wenn sie eine große Sache aus etwas machte, für das es vielleicht eine ganz einfache Erklärung gab. Was für eine blöde Situation. Laura suchte den Fußboden nach weiteren Blutspuren ab. Wenn sie welche fände, wäre die Sache klar, denn sie hatte selbst seit dem Mord mehr als einmal den Fußboden hier drinnen geputzt. Dann wäre das Blut von einem neueren Unfall und es gäbe eine natürliche Erklärung.
Aber auf dem Boden war kein Blut, noch nicht mal an den Fußleisten. Laura knabberte nervös auf ihrer Unterlippe. Sie sprach sich selbst Mut zu. Die Polizei hatte den Mörder verhaftet. Das hier spielte keine Rolle. Falls das Blut mit dem Mord in Verbindung stünde, wäre dies zweifellos nur ein weiterer Beweis dafür, dass der Verhaftete den Mord wirklich begangen hatte. Laura atmete tief ein. Nein, sie machte sich unnötige Gedanken — irgendein Student hatte Nasenbluten gehabt, ihm war schwindelig geworden und er hatte Luft schnappen wollen. Ihr Atem ging ruhiger, etwa eine Minute lang, bis ihr einfiel, was ihre eigenen Kinder bei Nasenbluten taten. Sie gingen ins Badezimmer — nicht ans offene Fenster.
Laura zog den Lappen wieder hervor, um zu prüfen, ob sich in den Ritzen der Fußleisten Blut befand — falls in dem Zimmer eine heftige Auseinandersetzung stattgefunden hatte, wäre es denkbar, dass beim Beseitigen der Spuren etwas zurückgeblieben war. Dann allerdings — sie bekreuzigte sich — würde sie die Polizei benachrichtigen, auch wenn das bedeutete, den netten Tryggvi zu beunruhigen. Laura kniete sich auf den Boden und tastete sich an den Wänden des Zimmers entlang. Nichts. Bis auf ein bisschen Staub und normalen Schmutz waren die Fußleisten und der Putzlappen vollkommen sauber. Sie fühlte sich besser und richtete sich auf, zufrieden mit dem Ergebnis. So ein Quatsch — selbstverständlich gab es eine einfache Erklärung für das Blut. Dass ihr überhaupt etwas anderes durch den Kopf ging, hing zweifellos mit dem Schock zusammen, den sie erlitten hatte, als die Leiche auftauchte — eine furchtbar übel zugerichtete und gottlose Leiche. Sie bekreuzigte sich erneut.
Als sie das Zimmer verließ, blieb ihr Blick an der Türschwelle hängen. Diese stand etwas vom Fußboden ab, mehr als die Fußleisten, und Laura bückte sich, um mit dem Lappen darüber zu wischen. Der Lappen blieb an etwas hängen. Laura bückte sich noch tiefer, um herauszufinden, was den Widerstand ausgelöst hatte. Etwas Silbernes leuchtete auf, und Laura suchte nach einem Werkzeug, um die Türschwelle anzuheben. Ihr Blick fiel auf ein Lineal auf einem der Tische und sie holte es. Dann versuchte sie vorsichtig, den Gegenstand herauszuschieben, was ihr nach einigen Versuchen gelang. Laura hob den Gegenstand auf und rappelte sich wieder hoch. Es war ein kleines Sternchen aus Metall, etwa so groß wie der Nagel ihres kleinen Fingers. Laura legte den Stern auf ihre Handfläche und musterte ihn. Er kam ihr irgendwie vertraut vor, aber sie wusste beim besten Willen nicht, woher. Wo hatte sie ihn schon einmal gesehen? Laura hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn sie musste mit dem Fensterputzen weitermachen, wenn sie nicht zu spät zum Unterricht kommen wollte. Sie steckte das Sternchen mit dem festen Vorsatz in ihre Tasche, es Tryggvi später zu geben. Vielleicht wusste er, woher der Stern stammte. Dies hatte wohl kaum etwas mit dem Mord zu tun — ebenso wenig wie das Blut auf dem Fenstergriff, für das es gewiss eine simple Erklärung gab. Oder etwa nicht? Plötzlich fiel ihr der Finger wieder ein. Sie verdrängte die Erinnerung an dieses abscheuliche Vorkommnis und beschloss, ein Wort mit Gloria zu wechseln. Das Mädchen würde sicherlich am Wochenende arbeiten und Laura ebenfalls. Es war gut möglich, dass Gloria mehr wusste, als sie den anderen und der Polizei erzählt hatte.
Marta Maria lehnte an der Wand im Flur und regte sich darüber auf, wie lange es dauerte, bis diese Putzfrau endlich fertig war. Es gab da drinnen ja nicht besonders viel zu putzen — man musste nur ein paar Dosen wegschmeißen, ein paar Tassen spülen und den Boden wischen. Sie schaute auf die Zeitangabe auf ihrem Handy. Verdammt — die blöde Kuh hatte sich bestimmt für ein Nickerchen aufs Sofa gelegt. Marta Maria tippte eifrig auf die Tastatur ihres Handys und suchte im Adressbuch Bríets Nummer. Bríet sollte endlich rangehen; es gab kaum etwas, das Marta Maria mehr nervte, als zu wissen, dass derjenige, den sie anrief, auf sein Display schaute, sah, dass sie es war, und den Anruf wegdrückte. Ihre Sorge erwies sich als unberechtigt.
»Hi«, meldete sich Bríet.
Marta Maria sparte sich die Höflichkeitsfloskeln. »Ich hab ihn nicht gefunden«, sagte sie mürrisch. »Bist du dir sicher, dass du ihn in die Schublade gelegt hast?«
»Shit, Shit, Shit«, wiederholte Bríet mit nervöser Stimme. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn da reingelegt habe. Du hast es doch auch gesehen.«
Marta Maria lachte spöttisch. »Vergiss es, ich konnte überhaupt nichts klar sehen.«
»Ich hab ihn da reingetan. Ich weiß es«, antwortete Bríet trotzig. Sie seufzte tief. »Was soll ich Dóri sagen? Er wird stinksauer sein.«
»Nichts. Du sagst ihm kein Sterbenswörtchen.«
»Aber …«
»Nichts aber. Er ist nicht da, und was nun? Was wirst du tun?«
»Tja … Ich weiß nicht«, sagte Bríet ratlos.
»Dann sei froh, dass ich es weiß«, entgegnete Marta Maria rasch. »Ich hab mit Andri gesprochen und er ist derselben Meinung wie ich — wir sagen nichts und tun nichts! Bleibt uns ja auch nichts anderes übrig.« Sie sagte Bríet nicht, dass es sie zwanzig Minuten gekostet hatte, Andri davon abzubringen, Halldór davon zu erzählen. Mit sanfterer Stimme fügte sie hinzu: »Mach dir keine Sorgen. Wenn das ein Problem wäre, wäre es schon längst rausgekommen.«
Die Zimmertür öffnete sich und die Putzfrau kam heraus. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gab es in der Welt des Putzens und Reinemachens große Neuigkeiten. Sie hatte einen Zug um den Mund, als habe man sie gezwungen, sauren Rhabarber zu essen. »Bríet«, sagte Marta Maria ins Telefon, »die Alte ist gerade rausgekommen. Ich suche noch mal genauer. Ich ruf dich später wieder an.« Sie legte auf, ohne auf Bríets Abschiedsgruß zu warten. Immer dieser verdammte Ärger.
Dóra saß an Harald Guntliebs Schreibtisch und blätterte in einem Stapel Papiere. Sie schaute auf, streckte den Rücken und richtete ihren Blick auf Matthias. Er saß, in dieselbe Arbeit vertieft, in einem Sessel in einer Ecke des Arbeitszimmers. Sie hatten entschieden, zuerst die Unterlagen durchzusehen, die die Polizei bei der Wohnungsdurchsuchung mitgenommen und vor kurzem wieder zurückgebracht hatte. Es handelte sich um drei große Pappkartons voller Unterlagen, und nach ungefähr einer Stunde Lesen und Sortieren hatte Dóra den Zweck dieser Aktion aus den Augen verloren. Die Papiere stammten von hier und dort, Briefe von der Bank oder von Kreditkartenfirmen und anderen Institutionen. Da das meiste auf Isländisch war, war Matthias nicht von großem Nutzen.
»Wonach suchen wir eigentlich?«, fragte sie plötzlich.
Matthias legte den Papierstapel, den er in der Hand gehabt hatte, auf einen kleinen Beistelltisch und rieb sich müde die Augen. »Erstens suchen wir nach etwas, das uns auf eine Spur führen könnte, etwas, das die Polizei übersehen hat. Etwas, das zum Beispiel erklärt, was mit dem Geld geschah, das auf Haralds Konto überwiesen wurde. Außerdem könnten wir auf etwas stoßen, das …«
Dóra fiel ihm ins Wort. »Das hilft mir nicht. Ich meine, wir könnten vielleicht versuchen, uns darüber klar zu werden, wer möglicherweise mit dem Mord in Verbindung stehen oder davon profitiert haben könnte. Ich habe überhaupt keine Erfahrung mit Mordermittlungen und würde gern ein paar Dinge wissen, bevor ich weitere Unterlagen durchackere. Den Gedanken, das ganze Spiel noch mal von vorn zu beginnen, falls wir irgendwann eine Eingebung haben, finde ich nicht sehr verlockend.«
»Nein, das kann ich verstehen«, sagte Matthias. »Ich bin aber trotzdem nicht sicher, was ich Ihnen antworten soll. Wir suchen nicht nach etwas genau Festgelegtem. Leider. Vielleicht suchen wir überhaupt nicht nach irgendetwas. Wir versuchen im Grunde nur, uns ein Bild von Haralds Leben vor dem Mord zu machen, um eine Ahnung davon zu bekommen, welche Umstände und Ereignisse zu dem Mord geführt haben könnten — dabei etwas zu finden, das auf den Mörder hinweist, wäre lediglich ein Pluspunkt. Die meisten Menschen, so viel ist klar, begehen einen Mord aus Eifersucht, Hass, Geldgier, Rache, Geisteskrankheit, Selbstschutz oder sexuellen Störungen.«
Dóra wartete auf weitere Gründe, aber Matthias hatte seine Aufzählung offenbar schon beendet. »War’s das?«, fragte Dóra. »Es muss doch noch mehr Motive geben.«
»Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet«, antwortete Matthias irritiert. »Es gibt bestimmt noch mehr Motive, aber mir fällt nichts anderes mehr ein.«
Dóra dachte über seine Worte nach. »In Ordnung, nehmen wir an, dies sind die Hauptmotive. Welches Motiv könnte zum Mord an Harald passen? War er zum Beispiel mit einer Frau zusammen? Könnte Eifersucht eine Rolle gespielt haben?«
Matthias zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er war Single. Trotzdem könnte Eifersucht mit im Spiel gewesen sein. Vielleicht war eine Frau in ihn verliebt und er nicht in sie.« Er schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Ich glaube allerdings, dass Frauen ihre Opfer ziemlich selten erwürgen, daher ist ein Verbrechen aus Leidenschaft unwahrscheinlich.«
»Stimmt«, sagte Dóra gedankenverloren. »Es sei denn, es war ein Verbrechen aus Leidenschaft, das von einem anderen Mann begangen wurde. War Harald vielleicht schwul?«
Wieder zuckte Matthias mit den Schultern. »Nein, sicher nicht.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Dóra.
»Ich weiß es halt«, antwortete Matthias. Er sah Dóras zweifelnden Gesichtsausdruck und fügte hinzu: »Es ist irgendwie komisch; ich spüre es normalerweise sofort, wenn ein Mann vom anderen Ufer kommt. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich bin wirklich gut darin.«
Dóra beschloss, dazu nichts Weiteres zu sagen, wusste aber aus eigener Erfahrung, dass Matthias höchstwahrscheinlich genauso wenig wie andere die sexuellen Gelüste seiner Mitmenschen einschätzen konnte. Ihr Ex-Mann hatte denselben Tick gehabt, und Dóra hatte ihm unzählige Male bewiesen, dass er Unrecht hatte. Sie wechselte das Thema. »Es scheint keine Vergewaltigung gewesen zu sein und es wurden keine Anzeichen für sexuelle Handlungen gefunden, sodass wir dies ausschließen können.«
»Damit haben wir die möglichen Motive eingegrenzt«, antwortete Matthias und grinste Dóra spöttisch an. »Dann ist ja jetzt alles klar.«
Dóra ließ sich davon nicht irritieren. »Was glauben Sie, warum er ermordet wurde?«
Matthias schaute sie einen Moment an, bevor er antwortete. »Es hat am ehesten etwas mit Geld zu tun. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass der Mord irgendwie mit seinen Hexenforschungen in Verbindung steht. Das mit den Augen und der magischen Rune, die in seine Haut geritzt wurde, weist eindeutig darauf hin. Ich kann mir nur einfach keinen Grund vorstellen und das ärgert mich. Wer begeht einen Mord wegen Hexerei oder irgendwelchen jahrhundertealten Geschichten?«
»Ist das nicht ziemlich fragwürdig? Die Polizei hat nichts gefunden, was darauf hindeutet, dass der Mord etwas mit Hexerei tun hat, trotz der Verstümmelung der Leiche. Die Polizei muss dieser Möglichkeit zumindest nachgegangen sein«, sagte Dóra und beeilte sich hinzuzufügen: »Und sagen Sie nicht, die Polizei sei zu dämlich; das wäre viel zu simpel.«
»Da haben Sie allerdings vollkommen Recht«, sagte Matthias. »Die Polizei hat untersucht, ob es da irgendwelche Verbindungen gibt. Ich glaube, sie waren sich einfach nicht im Klaren darüber, dass Haralds Forschungen nichts mit wirrem Unsinn oder Hexenquatsch zu tun hatten. Sie kamen hierher, sahen die Bilder an der Wand und schlossen daraus, Harald sei ein verrückter Spinner gewesen. Für die Polizei sind diese wertvollen Antiquitäten einfach nur Ekel erregend, was vielleicht gar nicht so weit von Ihrer Reaktion entfernt ist.«
Matthias wartete auf Dóras Erwiderung, aber als sie auf seine letzten Worte nicht einging, redete er weiter. »Als sie in seinem Blut Drogen fanden, haben sie sich bestätigt gefühlt. In den Augen der Polizei war Harald ein geisteskranker, sadistischer Junkie, der zuletzt in Gesellschaft einer ähnlichen Person gesehen wurde. Die hatte kein Alibi und sich außerdem das Gehirn zugeknallt. Im Grunde ist es also keine unvernünftige Schlussfolgerung, aber ich bin absolut nicht damit zufrieden. Es gibt viel zu viele unbeantwortete Fragen.«
»Sie glauben also, Haralds Forschungen über Hexenverbrennungen und Magie stehen direkt mit dem Mord in Verbindung?«, fragte Dóra und hoffte, er würde es verneinen. Wenn dies für die Ermittlung nicht von Bedeutung wäre, könnten sie die Hälfte der Unterlagen beiseitelegen.
»Ja, ich bin mir natürlich nicht sicher«, entgegnete Matthias. »Aber ich habe einen starken Verdacht. Sehen Sie sich zum Beispiel das hier an.« Er blätterte in dem Papierstapel, der in seinem Schoß lag, und reichte Dóra den Ausdruck einer E-Mail, die Harald geschrieben hatte.
An der Kopfzeile des Ausdrucks konnte Dóra erkennen, dass Harald Guntlieb die Mail acht Tage vor seiner Ermordung an die Adresse malcolm@gruniv.uk geschickt hatte. Der Text war auf Englisch.
Hi Mal,
so, Junge, setz dich erst mal hin. GEFUNDEN!
VIELEN DANK!
Ab jetzt darfst du mich »hochehrwürdiger Herr« nennen. Ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es — aber ich will dir deine Zweifel nicht unter die Nase reiben. Oder so.
Muss nur noch ein paar Kleinigkeiten erledigen — der verdammte Idiot will abspringen. Es ist — bereite dich schon mal auf die Neuigkeit vor — absolut genial; werde ordentlich einen drauf machen plus du weißt schon, was ich meine.
Melde mich wieder, du Penner.
Als Dóra die E-Mail gelesen hatte, schaute sie Matthias an. »Glauben Sie, das ist ein Hinweis?«
»Vielleicht«, antwortete Matthias. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Die Polizei muss mit diesem Malcolm Kontakt aufgenommen haben. Sie werden die Mail ja wohl nicht nur ausgedruckt haben.«
»Vielleicht.« Matthias zuckte mit den Schultern. »Vielleicht auch nicht.«
»Tja, wir können ihn jedenfalls kontaktieren und versuchen herauszufinden, was Harald damit gemeint hat.«
»Und ob er etwas über diesen verdammten Idioten weiß, von dem in der Mail die Rede ist.«
Dóra legte den Ausdruck beiseite. »Wo ist Haralds Computer? Er muss doch einen Computer gehabt haben.« Sie zeigte auf das Mauspad auf dem Schreibtisch.
»Ist noch bei der Polizei«, antwortete Matthias. »Sie bringen ihn wahrscheinlich mit Haralds restlichen Sachen zurück.«
»Vielleicht finden wir noch mehr solche Mails«, sagte Dóra hoffnungsvoll.
»Aber vielleicht auch nicht«, konterte Matthias und grinste. Er stand auf und griff in das Bücherregal über dem Schreibtisch. »Hier, nehmen Sie das mit nach Hause und lesen Sie’s. Eine ganz gute Lektüre, um sich in Haralds Welt hineinzuversetzen.« Er reichte ihr eine Taschenbuchausgabe des Hexenhammers.
Dóra nahm das Buch und blickte Matthias verwundert an. »Das gibt es als Taschenbuch?«
Er nickte. »Es wird immer noch gedruckt — ich glaube, die meisten kaufen es heutzutage aus reiner Neugier. Denken Sie beim Lesen daran, dass das nicht immer so war.«
Dóra steckte das Buch in ihre Tasche. Sie stand auf und streckte sich. »Ist es in Ordnung, die Toilette zu benutzen?«
Matthias grinste schon wieder. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Dann beeilte er sich, hinzuzufügen: »Doch, ich denke, das ist in Ordnung. Falls die Polizei die Wohnung stürmt, um weitere Nachforschungen anzustellen, werde ich sie so lange aufhalten, bis Sie fertig sind.«
»Nett von Ihnen.« Dóra betrat den Flur, wo weitere Bilder und Antiquitäten ihre Aufmerksamkeit weckten. Sie erzeugten eher Unbehagen als Neugier, besaßen jedoch eine große Anziehungskraft. Zweifellos handelte es sich dabei um dasselbe Empfinden, das Leute dazu veranlasst, das Tempo zu drosseln, wenn sie an einem Unfall vorbeifahren. Die Bilder stammten eindeutig aus der Sammlung des Großvaters, denn die Motive waren dieselben wie im Wohnzimmer und im Schlafzimmer: der Tod und der Teufel.
Im Badezimmer betrachtete Dóra sich in dem tadellos sauberen Spiegel über dem Waschbecken, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und frischte sich ein wenig auf. In einem der Regale sah sie eine Zahnbürste. Sie schien unbenutzt zu sein. Dóra schaute sich kritisch um. Es musste noch ein zweites Badezimmer in dieser Wohnung geben, das Harald benutzt hatte — dieses hier war viel zu ordentlich. Das war die einzige mögliche Erklärung.
Als Dóra ins Arbeitszimmer zurückkam, blieb sie in der Türöffnung stehen und verkündete: »Es muss noch ein zweites Badezimmer in der Wohnung geben.«
Matthias schaute verwundert auf. »Was meinen Sie?«
»Das Badezimmer am Flur ist so gut wie unbenutzt. Es ist völlig unmöglich, dass Harald noch nicht mal eine Schachtel Zahnseide besaß, die farblich nicht zur übrigen Deko passte.«
Matthias lächelte sie an. »Na, wer sagt’s denn! Und Sie wollen noch keine Ermittlung geführt haben!« Er deutete auf den Teil der Wohnung, in dem sie vorher gewesen waren. »Es geht noch eine Tür vom Schlafzimmer ab. Dort ist ein Bad.«
Dóra drehte sich auf dem Absatz um. Sie erinnerte sich an eine Tür, von der sie gedacht hatte, sie führe in einen begehbaren Kleiderschrank. Sie wollte einen Blick in das Badezimmer werfen, zumal sie keine Lust hatte, sich direkt wieder in die Unterlagen zu vertiefen. Dóra musste grinsen, als sie in den kleinen Raum schaute. Darin gab es keine Badewanne, sondern nur eine Duschkabine, aber ansonsten sah es aus wie in jedem anderen Badezimmer in einem stinknormalen Haushalt. Verschiedene Kosmetikartikel, die vom Design her überhaupt nicht zueinander passten, waren auf dem Rand des Waschbeckens verteilt. Dóra warf einen Blick in die Duschkabine. Auf einem an der Wand befestigten Plastikregal standen zwei Shampooflaschen, die eine falsch herum, ein Rasierer, eine benutzte Seife und eine Tube Zahnpasta. An der Mischbatterie hing eine Flasche mit der Aufschrift »Shower Power«. Das ähnelte schon eher dem, was sie kannte. Dóra atmete erleichtert auf. Am meisten freute sie sich allerdings über den Zeitungsständer neben der Toilette; wenn das nicht typisch für einen Single war. Dóra war neugierig, welche Zeitschriften Harald gelesen hatte. Es handelte sich um ein beachtliches Sammelsurium: ein paar Autozeitschriften, eine historische Fachzeitschrift, zwei Ausgaben vom SPIEGEL, ein Magazin über Tätowierungen, das Dóra schnell beiseitelegte, sowie eine Ausgabe der BUNTE. Dóra hielt sie erstaunt in der Hand. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, dass Harald so etwas gelesen hatte. Tom Cruise und seine neueste Ehefrau lächelten sie von der Titelseite aus an; darunter stand die Schlagzeile: »Tom Cruise wird Papa!« Der Kindersegen des Schauspielerpaares interessierte Dóra ungefähr genauso sehr wie ein Artikel über Gurkenanbau, weshalb sie die Zeitschrift zurück an ihren Platz legte.
»Ich wusste es«, tönte Dóra siegessicher, als sie wieder ins Arbeitszimmer zurückkam.
»Ich wusste es auch«, entgegnete Matthias. »Ich wusste nur nicht, dass Sie es nicht wussten.«
Dóra wollte gerade etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. Sie fischte es aus ihrer Handtasche.
»Mama«, piepste das dünne Stimmchen ihrer Tochter Sóley. »Wann kommst du?«
Dóra schaute auf die Uhr. Es war später, als sie gedacht hatte. »Jetzt gleich, mein Schatz. Ist alles in Ordnung?«
Schweigen und dann: »Hm. Mir ist nur langweilig. Gylfi will nicht mit mir reden. Er hüpft auf seinem Bett rum und will mich nicht reinlassen.«
Dóra war sich nicht ganz klar, was das zu bedeuten hatte, aber offenbar vernachlässigte Gylfi seine Babysitterpflichten. »Hör mal, Liebling«, sagte sie sanft ins Telefon. »Ich beeile mich, nach Hause zu kommen. Sag deinem Bruder, er soll sich nicht so idiotisch benehmen und zu dir kommen.«
Als sie das Handy wieder in ihre Handtasche steckte, stieß Dóra auf den Zettel mit ihren Notizen zu den Unterlagen in der Mappe. Sie holte den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. »Ich möchte Sie ein paar Dinge zu der Mappe fragen …«
»Ein paar?«, sagte er überrascht. »Ich habe mehr als ›ein paar‹ erwartet — ziemliche viele, um ehrlich zu sein. Aber schießen Sie los.«
Dóra schaute unsicher auf ihre Liste. Mist, hatte sie so viele Punkte übersehen? Sie ließ sich nichts anmerken. »Es handelt sich nur um die Hauptfragen, es gab zu viele Kleinigkeiten, um sie alle aufzuschreiben.« Sie grinste ihn an und redete weiter. »Zum Beispiel die Bundeswehr. Warum waren diese Unterlagen in der Mappe? War Harald tatsächlich zu krank, um seinen Wehrpflicht abzuleisten?«
»Die Bundeswehr, ja. Ich habe das eigentlich nur hinzugefügt, damit Sie ein möglichst genaues Bild von Haralds Lebenslauf bekommen. Es tut vielleicht nichts zur Sache, aber man weiß nie, wie die Fäden zusammenlaufen.«
»Sie denken, der Mord hat etwas mit der Bundeswehr zu tun?«, fragte Dóra ungläubig.
»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Matthias. Er zuckte mit den Schultern. »Andererseits weiß man bei Harald ja nie so genau.«
»Und warum ist er überhaupt zur Bundeswehr gegangen?«, fragte Dóra. »Den Beschreibungen nach zu urteilen, müsste er doch eigentlich gegen jegliche militärische Aktivitäten gewesen sein.«
»Da haben Sie vollkommen Recht. Er wurde einberufen, aber unter normalen Umständen hätte er sich mit Sicherheit für den Zivildienst entschieden. Sie wissen bestimmt, dass man in Deutschland diese Möglichkeit hat.« Dóra nickte. »Aber er tat es nicht. Seine Schwester Amelia war kurz zuvor gestorben, was ihm sehr nahe ging. Ich könnte mir vorstellen, dass er diese Entscheidung in einer seelischen Krisensituation getroffen hat. Es war zu Beginn des Jahres 1999, und im November oder Dezember desselben Jahres kam der Bescheid, Truppen in den Kosovo zu schicken. Harald reiste geradezu euphorisch ab. Ich kenne keine Details über seine militärische Laufbahn, weiß aber, dass er als vorbildlich, kooperativ und belastbar galt. Daher kam der Vorfall im Kosovo für seine Vorgesetzten völlig überraschend.«
»Welcher Vorfall?«, fragte Dóra.
Matthias verzog das Gesicht. »Eine unangenehme Geschichte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieser Einsatz im Kosovo der erste Auslandseinsatz einer deutschen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg war. Davor haben deutsche Soldaten im Ausland nur an Friedensmissionen teilgenommen. Die Vorbildfunktion unserer Soldaten spielte natürlich eine große Rolle.«
»Und die hat Harald nicht erfüllt, oder was?«, fragte Dóra.
»Doch, im Grunde schon. Man kann vielleicht sagen, er ist in unglückliche Umstände geraten. Als er drei Monate lang im Kosovo war, nahm seine Einheit einen Serben gefangen, der unter dem Verdacht stand, Informationen über tödliche Sprengstoffattentate zu besitzen. Dabei waren drei deutsche Soldaten ums Leben gekommen und weitere Männer schwer verletzt worden. Der Serbe wurde im Keller des Hauses untergebracht, in dem Haralds Truppe ihren Stützpunkt hatte. Harald war einer derjenigen, die den Mann bewachen sollten. Der Gefangene war bereits zwei oder drei Nächte lang verhört worden, ohne ein Wort zu sagen, als Harald Wache hatte. Harald hatte seinem Vorgesetzten gegenüber erwähnt, er kenne sich mit Verhörmethoden aus, und bekam tatsächlich die Erlaubnis, in der Nacht zu versuchen, etwas aus dem Mann herauszubekommen.« Matthias schaute Dóra ins Gesicht. »Dieser Mann, der Harald die Erlaubnis erteilte, hatte selbstverständlich keinen blassen Schimmer, dass Harald sich in der Geschichte der Folter auskannte. Er war wahrscheinlich davon ausgegangen, Harald würde ab und zu die Nase durch die Tür stecken und dem Gefangenen ein paar ganz harmlose Fragen stellen.«
Dóra riss die Augen auf. »Hat er den Mann gefoltert?«
»Na ja, man könnte sagen, der Serbe hätte wahrscheinlich gern mit den nackten Männern aus der Pyramide in Abu Ghraib getauscht. Ich möchte die Vorkommnisse dort auf keinen Fall entschuldigen, aber verglichen mit dem, was dieser arme Mann in jener Nacht erleiden musste, waren sie wie eine Eröffnungfeier bei den Olympischen Spielen. Bei der Wachablösung am nächsten Morgen hatte Harald alles aus dem Mann herausbekommen, was dieser wusste — und wahrscheinlich noch einiges mehr. Aber anstatt gelobt zu werden, was Harald sich seiner Meinung nach redlich verdient hatte, wurde er sofort suspendiert — nachdem seine Vorgesetzten das menschliche Wrack gesehen hatten, das in seinem eigenen Blut auf dem Zellenfußboden lag. Das Ganze wurde natürlich runtergespielt und verheimlicht. In allen offiziellen Unterlagen steht, Harald habe aus gesundheitlichen Gründe die Armee verlassen.«
»Woher wissen Sie es denn dann?«, fragte Dóra, froh, nach etwas fragen zu können, das einigermaßen normal war.
»Ich habe meine Verbindungen«, antwortete Matthias mit ironischem Gesichtsausdruck. »Außerdem habe ich mich mit Harald unterhalten, als er aus dem Kosovo zurückkam. Er war völlig verändert, das kann ich Ihnen versichern. Ich weiß nicht, ob wegen seiner Erfahrungen mit Gewalt in der Armee oder warum auch immer. Er war jedenfalls noch seltsamer als vorher.«
»Wie denn?«, fragte Dóra neugierig.
»Einfach seltsam«, antwortete Matthias. »Sowohl äußerlich als auch in seinem Verhalten. Er ging danach ziemlich bald zur Uni — zog zu Hause aus, sodass man ihn nicht mehr allzu oft zu Gesicht bekam. Wenn wir uns seitdem noch ab und an begegneten, wurde jedes Mal deutlicher, dass er sich in einer Achterbahn befand — und die raste abwärts. Als sein Großvater kurz darauf starb, wurde es vermutlich noch schlimmer; die beiden standen sich sehr nahe.«
Dóra wusste nicht, was sie sagen sollte. Harald Guntlieb war gewiss kein einfacher Mensch. Sie spähte auf ihren Zettel und beschloss, nach den Opfern der sexuellen Würgespiele zu fragen, von denen in den Zeitungsausschnitten die Rede war. Aber eigentlich hatte sie genug. Sie warf einen Blick auf ihr Handy.
»Matthias, ich muss nach Hause. Meine Liste ist noch nicht zu Ende, aber ich muss das erst mal verdauen.«
Sie räumten die Unterlagen, die sie im Arbeitszimmer durchgewühlt hatten, flüchtig auf. Dabei achteten sie darauf, die Stapel, in die sie die Dokumente aufgeteilt hatten, nicht durcheinanderzubringen. Der Gedanke, die ganze Arbeit noch einmal zu machen, war unerträglich.
Als Dóra den letzten Stapel ordentlich beiseitegelegt hatte, wendete sie sich zu Matthias und fragte: »Hat Harald ein Testament gemacht — bei seinem hohen Vermögen?«
»Ja, es gibt ein Testament — ein ziemlich neues sogar«, erklärte Matthias. »Er hatte schon vor längerer Zeit eins gemacht, es aber Mitte September geändert. Er ist extra nach Deutschland gereist, um den Rechtsanwalt der Guntliebs zu treffen und sein Testament ändern zu lassen. Allerdings weiß niemand, was drinsteht.«
»Was?«, fragte Dóra verwundert. »Wieso nicht?«
»Es besteht aus zwei Teilen — mit der Anweisung, einen von ihnen zuerst zu öffnen. In diesem steht, dass der zweite Teil erst geöffnet werden darf, wenn die Beerdigung vorbei ist. Die hat aber aufgrund der Umstände noch nicht stattgefunden.«
»War das alles, was in dem Testament stand?«, fragte Dóra.
»Nein, es gab auch Anweisungen, wie er beerdigt werden wollte.«
»Wie denn?«
»In Island — was ein bisschen komisch ist, da er erst so kurze Zeit hier war. Das Land schien ihn auf gewisse Weise fasziniert zu haben. Außerdem stand in dem Testament, seine Eltern müssten bei der Beerdigung zugegen sein und mindestens zehn Minuten am Fußende des Grabes stehen, nachdem der Sarg hinabgelassen worden ist. Wenn sie das nicht tun, geht sein gesamtes Vermögen an einen Tattooladen in München.«
Dóra war bestürzt. »Hat er angenommen, seine Eltern würden gar nicht kommen?«
»Anscheinend«, sagte Matthias. »Mit dieser Bestimmung hat er das allerdings sichergestellt — seine Eltern haben kein Interesse daran, in der Zeitung zu stehen, weil ihr Sohn einem Tattooladen einen Haufen Geld vermacht hat.«
»Glauben Sie, seine Eltern werden ihn beerben?«, fragte Dóra. »Wenn sie denn bei der Beerdigung erscheinen.«
»Nein«, antwortete Matthias. »Seinen Eltern kann das im Grunde völlig egal sein — sie wollen nur nicht in die Klatschpresse kommen. Ich könnte mir vorstellen, dass Haralds Schwester Elisa einen Großteil von Haralds Vermögen erbt. Außerdem geht ein beträchtlicher Teil an jemanden in Island — der Anwalt hat das durchblicken lassen. Der zweite Teil des Testaments soll nach Haralds Anweisungen hier in Island verlesen werden.«
»Wer könnte das sein?«, fragte Dóra neugierig.
»Keine Ahnung«, antwortete Matthias. »Der- oder diejenige hätte zumindest einen guten Grund gehabt, Harald umzubringen — vorausgesetzt, er oder sie wusste von dem Testament.«
Dóra war erleichtert, als sie die Wohnung verließen. Sie war müde und wollte nach Hause zu ihren Kindern. Trotzdem spürte sie eine gewisse Unruhe. Sie hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Aber wie sehr sie sich auch den Kopf darüber zerbrach, als sie allein in ihrem Werkstattauto saß, sie kam nicht darauf. Und als sie den Wagen in die Hauseinfahrt bugsierte, hatte sie es schon völlig vergessen.
Ehescheidungen brachten nicht nur Vorteile mit sich, das wusste Dóra schon lange. Früher hatten ihrem Haushalt beispielsweise zwei Einkommen zur Verfügung gestanden, jetzt musste eins reichen. Es war kinderleicht gewesen, die Ausgaben und damit die Annehmlichkeiten zu erhöhen, zumindest konnte sich Dóra nicht an besondere Schwierigkeiten erinnern, als sie sich von einer armen Studentin in eine Arbeitnehmerin verwandelte. Eine andere Sache war jedoch, den Gürtel enger zu schnallen, was sie jetzt versuchte. Hannes, ihr Ex-Mann, war Unfallarzt — mit anderen Worten: Er hatte einen guten Job und ein hohes Einkommen. Nach der Scheidung musste Dóra daher einiges aufgeben. Jetzt war es nicht mehr selbstverständlich, essen zu gehen, Wochenendtrips ins Ausland zu machen, teure Klamotten zu kaufen oder andere Dinge zu tun, die typisch für das Leben von Leuten sind, für die Geld keine Rolle spielt. Auch wenn die Nachteile sich nicht ausschließlich um Finanzen drehten — Dóra fielen zum Beispiel sofort die »nichtsexuellen Spiele« ein –, vermisste sie am meisten die Frau, die zweimal in der Woche bei ihnen geputzt hatte. Als Dóra und Hannes sich trennten, musste sie ihr kündigen, denn das Geld reichte einfach nicht aus. Deshalb stand Dóra nun selbst vor dem Putzschrank und versuchte so gut es ging die Schranktür zu schließen, ohne den Staubsaugerschlauch zu zerquetschen, der immer wieder herausfiel. Endlich glückte es ihr und sie atmete tief durch. Dóra hatte alle Fußböden in dem etwa zweihundert Quadratmeter großen Haus gesaugt und war ganz zufrieden mit sich.
»Sieht das nicht viel besser aus?«, fragte sie ihre Tochter Sóley, die in eine Zeichnung vertieft in der Küche saß.
Das kleine Mädchen blickte auf. »Wie besser?«, fragte sie neugierig.
»Der Boden«, antwortete Dóra. »Ich habe gestaubsaugt. Sieht doch gut aus, oder?«
Sóley schaute auf den Fußboden und dann wieder zu ihrer Mama. »Hier hast du was vergessen.« Sie deutete mit einem grünen Wachsmalstift auf eine Fluse unter ihrem Stuhlbein.
»Oh, entschuldigen Sie, mein Fräulein«, sagte Dóra und gab ihrer Tochter einen Kuss auf den Scheitel. »Was zeichnest du denn da Schönes?«
»Das sind ich und du und Gylfi«, antwortete Sóley und zeigte auf drei unterschiedlich große Figuren auf ihrem Blatt. »Du hast ein schönes Kleid an und ich auch und Gylfi hat Shorts an.« Sie sah ihre Mutter an. »Auf dem Bild ist Sommer.«
»Wow, ich bin ja schick«, sagte Dóra. »So ein Kleid kaufe ich mir im Sommer.« Sie schaute auf die Uhr. »Komm jetzt Zähne putzen. Zeit, ins Bett zu gehen.«
Während Sóley ihre Stifte wegräumte, ging Dóra zu ihrem Sohn. Sie klopfte vorsichtig an seine Zimmertür, bevor sie eintrat. »Ist das nicht ein ganz neues Gefühl?«, fragte sie, womit sie den Fußboden in seinem Zimmer meinte.
Gylfi antwortete nicht sofort. Er lag ausgestreckt auf dem Bett und telefonierte. Als er seine Mutter erblickte, verabschiedete er sich hastig und flüsterte in den Hörer, er melde sich später wieder. Gylfi richtete sich auf und legte das Telefon beiseite. Er kam Dóra fast ein wenig verstört vor. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so blass.«
»Was?«, fragte Gylfi. »Doch, doch, es ist alles in Ordnung. Alles prima.«
»Na dann«, entgegnete Dóra. »Ich wollte nur wissen, ob du die Luft im Zimmer nicht viel angenehmer findest, nachdem ich gesaugt habe. Bekomme ich zur Belohnung vielleicht einen Kuss?«
Gylfi erhob sich vom Bett. Er schaute sich geistesabwesend im Zimmer um. »Äh, ja. Sieht toll aus.«
Dóra schaute ihren Sohn prüfend an. Es bestand kein Zweifel — irgendetwas stimmte nicht. Normalerweise hätte er mit den Schultern gezuckt oder gemurmelt, der Fußboden interessiere ihn nicht die Bohne. Gylfi hatte ein Problem und Dóra spürte einen Stich in der Magengegend. Sie hatte sich zu wenig um ihn gekümmert. Er hatte sich seit der Scheidung von einem kleinen Jungen fast in einen Mann verwandelt, und Dóra war zu sehr mit sich selbst und ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen. Jetzt wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen und ihm über sein zu langes Haar gestrichen, aber das wäre nicht sehr schlau — diese Zeiten waren ein für alle Mal vorüber. »Hey«, raunte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter. Sie musste sich fast den Hals ausrenken, um ihm ins Gesicht schauen zu können, da er seinen Kopf zur Seite drehte. »Irgendwas stimmt doch nicht. Du kannst es mir ruhig erzählen. Ich verspreche dir, nicht wütend zu sein.«
Gylfi blickte sie abwesend an, sagte aber nichts. Dóra merkte, wie sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten, und ihr kam in den Sinn, er könne eine Grippe haben. »Hast du Fieber?«, fragte sie und wollte ihre Hand auf seine Stirn legen.
Gylfi wich ihr geschickt aus. »Nee. Bestimmt nicht. Hab nur schlechte Nachrichten bekommen.«
»Ach so?«, sagte Dóra vorsichtig. »Wer war denn da eben am Telefon?«
»Sigga … äh, Siggi, meine ich«, antwortete Gylfi, ohne seiner Mutter in die Augen zu schauen. Dann fügte er hastig hinzu: »Arsenal hat gegen Liverpool verloren.«
Ihr war vollkommen klar, dass das eine dumme Ausrede war. Dóra kannte in Gylfis Freundeskreis keinen Siggi — allerdings hatte Gylfi jede Menge Bekannte, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Aber sie kannte ihren Sohn gut genug, um zu wissen, dass er kein so großer Fußballfan war, dass ihn die Ergebnisse der englischen Liga dermaßen aus dem Gleichgewicht brächten. Sie überlegte, ob sie weiter nachfragen oder so tun sollte, als sei nichts geschehen. Dóra hielt die zweite Möglichkeit für angemessener, jedenfalls im Moment. »Ach, wie blöd. Immer diese verdammten Liverpooler.« Sie blickte ihm fest in die Augen.
»Gylfi, wenn du mit mir darüber reden möchtest, dann versprich mir, es nicht hinauszuzögern.« Als sie sah, dass er zurückwich, fügte sie schnell hinzu: »Ich meine das mit dem Spiel. Mit Arsenal. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, Schatz. Ich kann zwar nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, aber ich kann es mit unseren eigenen probieren.«
Gylfi schaute sie kommentarlos an. Er lächelte schwach und murmelte, er müsse noch einen Aufsatz zu Ende schreiben. Dóra brummelte etwas zurück, ging hinaus und schloss die Zimmertür. Sie konnte sich schwer vorstellen, welches Ereignis einen 16-jährigen Jungen aus dem Gleichgewicht brachte — sie war schließlich selbst nie in seiner Lage gewesen und erinnerte sich nicht besonders gut an ihre eigene Jugend. Das Einzige, was ihr einfiel, waren mädchentypische Probleme. Vielleicht war er unglücklich in ein Mädchen verliebt. Dóra beschloss, die Sache geschickter anzugehen — sie würde ihm morgen beim Frühstück ein paar Fangfragen stellen. Vielleicht hatte er diese Krise morgen sogar schon überwunden. Gut möglich, dass es sich nur um einen Sturm im Wasserglas handelte — ein Hormonschub.
Nachdem sie Sóley die Zähne geputzt und ihr etwas vorgelesen hatte, machte Dóra es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher gemütlich. Sie brachte ein Telefonat mit ihrer Mutter hinter sich, die gemeinsam mit ihrem Vater einen Monat Urlaub auf den Kanarischen Inseln machte. Bei jedem Anruf musste sie sich dasselbe Gejammer anhören. Letztes Mal war es der fehlende isländische Quark gewesen, der ihre Eltern fast ins Grab gebracht hätte, jetzt war es der Discovery Channel im Fernsehen im Hotel, von dem ihr Vater nach Aussage ihrer Mutter abhängig geworden war. Sie verabschiedeten sich, und ihre Mutter sagte betrübt, sie würde jetzt neben ihrem Mann aufs Sofa sacken und sich darüber belehren lassen, wie sich Raupen vermehren. Dóra schmunzelte, legte auf und starrte weiter auf den Bildschirm. Als sie fast bei einer albernen Reality-Serie eingeschlafen wäre, klingelte das Telefon. Sie richtete sich auf dem Sofa auf und reckte sich nach dem Telefon.
»Dóra«, meldete sie sich, wobei sie darauf Acht gab, ihre Stimme nicht so klingen zu lassen, als sei sie eben eingenickt.
»Ja, grüß dich, hier ist Hannes«, tönte es vom anderen Ende der Leitung.
»Ja, hallo.« Dóra wusste nicht, ob es jemals aufhören würde, ihr unangenehm zu sein, mit ihrem Ex-Mann Hannes zu sprechen. Dieses verklemmte Miteinanderumgehen resultierte zweifellos daraus, dass sich ihre intime Beziehung in ein gezwungenes Höflichkeitsverhältnis verwandelt hatte, was so ähnlich war, wie einem früheren Liebhaber oder jemandem, mit dem man in jungen Jahren geschlafen hat, zu begegnen — in einem so kleinen Land wie Island war das unumgänglich.
»Hör mal, wegen des Wochenendes, ich wollte dich fragen, ob ich die Kinder am Freitag ein bisschen später abholen kann. Ich möchte mit Gylfi eine Probefahrt machen und glaube, das geht besser, wenn der Berufsverkehr vorbei ist, so gegen acht.«
Dóra willigte ein, obwohl sie wusste, dass diese Verspätung nichts mit der Probefahrt zu tun hatte. Hannes musste wahrscheinlich länger arbeiten oder wollte nach der Arbeit noch ins Fitnessstudio. Genau das war einer der Gründe für ihre endlosen Streitigkeiten vor der Trennung gewesen: dass Hannes nie für irgendetwas Verantwortung übernahm; Schuld hatten immer die anderen oder es lag angeblich an den äußeren Umständen, auf die er keinen Einfluss hatte. Aber das war jetzt nicht mehr Dóras, sondern Klaras Problem, seine jetzige Lebensgefährtin. »Was habt ihr am Wochenende vor?«, fragte Dóra, nur um etwas zu sagen. »Soll ich was Besonderes einpacken?«
»Ja, wir gehen vielleicht reiten und es wäre gut, wenn sie dafür geeignete Klamotten dabeihätten«, antwortete Hannes.
Klara war Reiterin und hatte Hannes mit in diesen Sport hineingezogen. Dies bereitete Sóley und Gylfi großen Kummer, denn sie hatten Dóras Ängstlichkeit geerbt, und diese angeborene Angst war bei den Kindern sogar noch stärker als bei der Mutter. Dóra fuhr nicht gern bei Straßenglätte Auto, kletterte nicht gern auf Berge, fuhr nicht gern Aufzug, aß nicht gern rohe Lebensmittel und mied alles, was möglicherweise schlimm enden könnte. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie jedoch keine Flugangst. Daher hatte sie volles Verständnis dafür, dass ihre Kinder bei dem Gedanken, auf ein Pferd zu steigen, von Panik befallen wurden. Hannes hingegen versuchte ständig, den Kindern einzureden, sie würden sich schon daran gewöhnen. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Dóra, obwohl sie wusste, dass sie keinen Einfluss auf Hannes’ Pläne hatte. »Gylfi ist zurzeit ein bisschen niedergeschlagen und ich bin mir nicht sicher, ob ein Ausritt das ist, was er im Moment braucht.«
»So ein Blödsinn«, erwiderte Hannes barsch. »Er wird ein immer besserer Reiter.«
»Das sagst du. Versuch bitte trotzdem, mal mit ihm zu reden. Ich glaube, er hat irgendwelche Probleme mit Mädchen. Darüber weißt du schließlich mehr als ich.«
»Probleme mit Mädchen? Was soll ich denn darüber wissen?« Hannes klang ganz aufgewühlt und Dóra grinste in sich hinein.
»Du weißt schon, etwas, das ihm dabei hilft, mit den Problemen des Lebens zurechtzukommen.« Dóras Grinsen verbreiterte sich.
»Du machst Witze«, sagte Hannes hoffnungsvoll.
»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete Dóra. »Du wirst schon eine Lösung finden. Ich tue dasselbe für unsere Tochter, wenn bei ihr die Probleme mit den Jungs beginnen. Du kannst doch zum Beispiel mal versuchen, ihn bei eurem Ausritt beiseite zu nehmen und in aller Ruhe mit ihm zu sprechen.«
Dóra beendete das Gespräch und war sich ziemlich sicher, dass es ihr gelungen war, die Wahrscheinlichkeit eines Ausritts zu verringern. Sie versuchte, wieder in die Unwirklichkeit der Fernsehwelt abzutauchen. Aber es gelang ihr nicht, denn das Telefon klingelte sofort aufs Neue.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber ich dachte mir, Sie denken sowieso gerade an mich«, sagte Matthias seelenruhig, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Ich wollte Ihnen die Chance geben, ein wenig mit mir zu plaudern.«
Dóra war fassungslos — entweder hatte Matthias den Verstand verloren oder war betrunken oder machte einen schlechten Witz.
»Äh, ich habe Sie nicht unbedingt vermisst.« Sie griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher leiser zu stellen, damit er nicht hören konnte, welchen Blödsinn sie sich anschaute. »Ich hab gelesen.«
»Was lesen Sie denn gerade?«
»Krieg und Frieden, Dostojewski«, log Dóra.
»Aha«, sagte Matthias. »Ist das vergleichbar mit Krieg und Frieden von Tolstoi?«
Dóra verfluchte sich selbst, nicht irgendein Werk von Laxness oder einem anderen isländischen Autor, den er nicht kannte, genannt zu haben. Lügen konnte sie noch nie gut. »Äh, Tolstoi! Meinte ich. Haben Sie ein bestimmtes Anliegen? Sie rufen mich wohl kaum an, um mit mir über Literatur zu diskutieren?«
»Nein, glücklicherweise nicht, denn dann hätte ich offenbar die falsche Nummer gewählt«, antwortete Matthias prompt. Da Dóra nicht darauf einging, fügte er hinzu: »Nein, entschuldigen Sie, ich rufe an, weil der Anwalt des Mannes, der in Polizeigewahrsam ist, mich eben kontaktiert hat.«
»Finnur Bogason?«, fragte Dóra.
»Ja, Sie sprechen den Namen bedeutend besser aus als ich«, bemerkte Matthias. »Er hat mir mitgeteilt, dass wir den Jungen morgen treffen können, wenn wir wollen.«
»Bekommen wir eine Erlaubnis?«, fragte Dóra verwundert. Untersuchungshäftlinge durften normalerweise nicht von jedem besucht werden.
»Dieser Finnur«, Matthias sprach den Namen mit extrem deutschem Akzent aus, »er konnte die Polizei davon überzeugen, dass wir bei der Verteidigung des Jungen mit ihm zusammenarbeiten. Was wir ja indirekt auch tun.«
»Was hat ihn dazu veranlasst?«
»Sagen wir mal so, ich habe ihm einen kleinen Anreiz gegeben.«
Dóra fragte nicht weiter nach, denn sie hatte kein Interesse daran, sich etwas zu Schulden kommen zu lassen. Allerdings glaubte sie nicht, dass Matthias dem Anwalt gedroht hatte. Wahrscheinlich hatte er ihm Geld angeboten, damit er das Gespräch arrangierte — was man bestenfalls als unsittlich bezeichnen konnte. Sie fühlte sich besser bei der Vorstellung, den Verteidiger zu unterstützen. Zum Teufel mit der Moral. Sie musste diesen Hugi treffen. Vielleicht war er letztendlich doch schuldig. Es war immer am besten, mit den Leuten persönlich zu sprechen, seinem Gegenüber in die Augen zu schauen und seine Bewegungen und seine Körpersprache zu beobachten. »Dann sollten wir uns beeilen. Natürlich müssen wir ihn treffen.«
»Ich bin bereit. Ich muss nur Finnur Bescheid geben.«
»Warum hat er Sie so spät angerufen?«, fragte Dóra. »Die Erlaubnis wurde doch bestimmt nicht erst heute Abend erteilt.«
»Nein, nein. Er hat mir hier im Hotel eine Nachricht hinterlassen und ich bin gerade erst zurückgekommen. Ich möchte meine Telefonnummer nicht jedem geben.«
Dóra ärgerte sich darüber, dass sie gern gewusst hätte, wohin Matthias gegangen war, nachdem sie sich getrennt hatten — wahrscheinlich war er einfach zum Essen in der Stadt gewesen.
Sie vereinbarten, dass Matthias Dóra um neun Uhr im Büro abholen würde, um dann gemeinsam Richtung Osten zum Gefängnis Litla-Hraun zu fahren. Dóra blickte aus dem Fenster auf den Schnee, der in dichten Flocken hinabfiel, und hoffte inständig, dass Matthias bei winterlichen Verhältnissen Auto fahren konnte. Sonst hätten sie ein Problem.