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8. DEZEMBER 2005

13. KAPITEL

Dóra saß am Computer in der Kanzlei, als Matthias sie um neun Uhr abholte. Sie war fast fertig mit der Beantwortung der E-Mails vom gestrigen Tag und leitete die meisten Anfragen an þór weiter. Bragi hatte sie am Morgen breit lächelnd begrüßt. Er liebäugelte immer noch mit dem Gedanken, dieser deutsche Fall könne ihnen das Tor zum Ausland öffnen — eine Quelle nicht enden wollender Aufträge für die Kanzlei. Dóra bremste ihn nicht, denn sie war froh, sich auf den Mordfall konzentrieren zu können, ohne sich gleichzeitig zwischen anderen, kleineren Aufgaben aufreiben zu müssen.

Sie hatte Haralds unbekanntem Freund Mal eine E-Mail geschrieben, in der sie kurz und knapp von Haralds Tod berichtete und erklärte, dass Matthias und sie sich im Auftrag der Familie Guntlieb der Sache angenommen hätten. Am Ende der Mail äußerte sie den höflichen Wunsch, Mal möge sich mit ihr in Verbindung setzen, da er möglicherweise über wichtige Informationen verfüge. Als Bella anrief, um Matthias’ Ankunft anzukündigen, bat Dóra das Mädchen, Matthias auszurichten, er solle im Empfang Platz nehmen und fünf Minuten warten.

Zufrieden mit ihrem morgendlichen Arbeitspensum, schaltete sie den Computer aus und holte ein kleines Aufnahmegerät, das sie beim Verhör mit Hugi benutzen wollte, aus einer Schreibtischschublade. Während sie kontrollierte, ob der Akku geladen war, musste sie an ihren Sohn denken, der am Morgen erschreckend frustriert gewirkt hatte. Welche Sorgen er auch hatte, sie schienen sich entgegen Dóras Hoffnung in der Nacht nicht verflüchtigt zu haben. Der Junge hatte abwesend und appetitlos am Tisch gesessen und Dóra hatte ihm nur wenige Worte entlocken können. Sóley dagegen hatte wie üblich ununterbrochen geplappert, weshalb es für Dóra unmöglich gewesen war, ihrem Sohn näher zu kommen. Sie beschloss, sich heute Abend, wenn Sóley ins Bett gegangen war, in aller Ruhe mit ihm zu beschäftigen. Dóra vertrieb diese Gedanken, steckte das Aufnahmegerät in ihre Tasche und ging eilig nach vorn.

Als sie den Empfang betrat, traf sie fast der Schlag. Matthias saß auf Bellas Schreibtischkante und plauderte mit der Sekretärin. Die strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Die beiden bemerk­ten noch nicht einmal, dass Dóra den Raum betreten hatte, und sie musste sich räuspern, um auf sich aufmerksam zu machen.

Matthias schaute auf. »Ach, Sie sind’s. Ich hatte gehofft, es würde noch ein bisschen länger dauern.« Er grinste und blinzelte Dóra zu.

Dóra fiel es schwer, ihren Blick von Bellas Gesicht abzuwenden, das allein durch das Lächeln völlig verändert war. Sie sah richtig nett aus, wenn sie gute Laune hatte. »Also dann, machen wir uns auf den Weg?«, sagte Dóra und holte ihren Mantel. »Schön, dich so gut gelaunt zu sehen, Bella«, fügte sie hinzu und schenkte der Sekretärin ihr lieblichstes Lächeln.

Bellas Lächeln verschwand daraufhin wie Tau in der Sonne. Die Auswirkungen des Charmes, mit dem Matthias die Sekretärin umgarnt hatte, ließen offenbar nach. »Wann kommst du zurück?«, fragte sie mürrisch.

Dóra versuchte, ihre Enttäuschung darüber, dass sie von dem Vergnügen ausgeschlossen gewesen war, zu verbergen. »Ich glaube nicht, dass ich heute noch mal wiederkomme, aber ich rufe dich an, wenn sich etwas ändert.«

»Ja, ja, wie üblich«, entgegnete Bella. In ihren Worten schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit, so als sei es normal, dass Dóra ihr nie etwas mitteilte — was völlig abwegig war.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe.« Dóra konnte nicht so tun, als sei nichts gewesen, obwohl sie genau wusste, dass das vernünftiger wäre. »Kommen Sie, Matthias.«

»Ja, gnädige Frau«, entgegnete Matthias und warf Bella ein Lächeln zu. Zu Dóras Entsetzten erwiderte sie es.

Als sie im Auto saßen, schnallte sich Dóra an und drehte sich zu Matthias. »Können Sie bei Glatteis fahren?«

»Das wird sich zeigen«, entgegnete Matthias prompt und steuerte den Wagen aus der Parklücke. Als er Dóras Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Keine Sorge, ich bin ein guter Autofahrer.«

»Sie dürfen auf keinen Fall bremsen, wenn der Wagen rutscht«, erklärte Dóra, die von Matthias’ Glatteiskenntnissen alles andere als überzeugt war.

»Möchten Sie lieber fahren?«

»Nein, vielen Dank«, antwortete Dóra. »Ich beherrsche diese Bremsregeln nicht; wenn das Auto anfängt zu schlingern, trete ich instinktiv auf die Bremse — obwohl ich es eigentlich besser weiß. Meine Fahrkünste sind ziemlich bescheiden.«

Sie fuhren auf direktem Weg aus der Stadt und oben auf der Heide konnte Dóra ihre Neugier nicht länger zügeln. »Worüber haben Sie sich denn unterhalten?«

»Wer?«, fragte Matthias verwirrt.

»Sie und Bella, meine Sekretärin. Normalerweise ist sie verstockt wie ein Esel.«

»Ach so. Wir haben uns über Pferde unterhalten. Ich habe Lust, mal das Reiten auszuprobieren, während ich hier bin. Man hört so viel Gutes über Islandpferde. Sie hat mir Tipps gegeben.«

»Was weiß Bella denn über Pferde?«, fragte Dóra verwundert.

»Sie ist Reiterin, wussten Sie das nicht?«

»Nein, wusste ich nicht«, antwortete Dóra. Sie bemitleidete die armen Pferde, die Bellas Last zu tragen hatten. »Welche Pferde reitet sie denn? Nilpferde?«

Matthias richtete seinen Blick von der Straße auf Dóra. »Sind Sie eifersüchtig?«, fragte er spöttisch.

»Sind Sie betrunken?«, blaffte sie zurück.

Schweigend fuhren sie durch die Lava auf den Pass zu. Dóra betrachtete durch die Fensterscheibe die Landschaft. Auch wenn ihr vielleicht nicht viele Leute zustimmen würden, war dies für sie eine der schönsten Gegenden des Landes, vor allem im Sommer, wenn das grüne Moos hell leuchtete und die weichen Umrisse der bemoosten Hügel einen krassen Gegensatz zu der scharfkantigen Lava bildeten. Jetzt war die Gegend tief im Schnee versunken und die Konturen verwischten. Es war nicht ganz so beeindruckend wie im Sommer, aber dennoch lag eine Ruhe über der Landschaft, die Dóra verzauberte. Sie durchbrach das Schweigen. »Ist es nicht wunderschön hier?«

Matthias wendete seinen Blick für einen Moment von der Straße ab und betrachtete die Umgebung. Es war so gut wie kein Verkehr. »Sehr.« Er lächelte ihr zu, so als wolle er Frieden schließen.

»Wir sind wohl nicht gerade die besten Kollegen«, bemerkte sie und dachte an die vielen kleinen Streitigkeiten, die sie in der kurzen Zeit schon gehabt hatten. »Vielleicht sollten wir eine neue Taktik ausprobieren.«

Er lächelte ihr wieder zu. »Finden Sie? Ich bin wunschlos glücklich. Sie sind eine wesentlich nettere Gesellschaft, als ich in meinem Beruf gewöhnt bin. Immer nur Männer, und die wenigen Frauen, mit denen ich zu tun habe, sind so affektiert, dass ihre Fassade zu bröckeln beginnt, wenn man sie nur antippt.«

Jetzt musste Dóra lächeln. »Sie sind allerdings auch besser als Bella, das muss ich zugeben.« Sie verstummte. »Beantworten Sie mir eine Frage. In der Mappe war ein Ausschnitt aus einer deutschen Tageszeitung, in dem es um den Tod einiger junger Leute bei dieser sexuellen Würgepraktik ging. Warum haben Sie den Artikel in die Mappe getan?«

»Tjaaa.« Matthias zog das Wort in die Länge. »Ein Unding. Einer der Leute, die in dem Artikel erwähnt werden, war ein guter Freund von Harald. Sie haben sich an der Uni in München kennen gelernt und waren wohl so etwas wie Seelenverwandte. Beide haben sich mit diesem Unsinn beschäftigt. Ich weiß nicht, wer von beiden dieses merkwürdige Spielchen eingeführt hat, aber Harald schwor, sein Freund hätte damit angefangen. Harald war dabei, als der junge Mann starb. Eine Zeit lang wurde er ausgiebig verhört und steckte in erheblichen Schwierigkeiten. Es ist eine Schande, aber ich glaube, er hat sich von einer Strafverfolgung freigekauft. Sie haben vielleicht eine größere Auszah­lung aus dieser Zeit bemerkt, die besonders markiert ist?« Dóra bejahte. »Ich habe den Artikel abgeheftet, weil Harald erwürgt wurde. Es könnte möglicherweise von Bedeutung sein. Wer weiß — es ist zwar fragwürdig, aber durchaus denkbar, dass er auf die gleiche Weise starb wie sein Freund.«

Sie parkten den Wagen vor der Umzäunung am Gefängnis Litla-Hraun und gingen zum Gästeeingang. Ein Gefängniswärter brachte sie in einen kleinen Warteraum in der ersten Etage. »Wir dachten, Sie könnten sich hier aufhalten. Sie werden sich in diesem Raum wesentlich wohler fühlen als im Verhörzimmer«, erklärte er. »Hugi verhält sich ruhig und sollte Ihnen keine Probleme bereiten. Er kommt gleich.«

»Vielen Dank, das ist gut«, sagte Dóra und betrat den Raum. Sie nahm auf einem braunen Ledersofa Platz und Matthias setzte sich direkt neben sie. Dóra wunderte sich über seine Platzwahl, da es genug Stühle gab.

Matthias schaute sie an. »Wenn Hugi gegenüber von uns Platz nimmt, sitzen wir am besten so. Ich möchte ihm direkt ins Gesicht sehen.« Er hob zweimal kurz die Augenbrauen. »Außerdem fühlt es sich richtig gut an, so dicht neben Ihnen zu sitzen.«

Dóra konnte darauf nicht mehr antworten, denn die Tür öffnete sich erneut und Hugi þórisson erschien in Begleitung eines Gefängniswärters. Dieser hatte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes gelegt, der niedergeschlagen vor sich hin starrte. Der Wärter führte ihn durch die Tür. Hugi trug Handschellen. Er kam Dóra so harmlos vor, dass ihr diese Maßnahme völlig überflüssig erschien. Erst als der Wärter Hugi ansprach, blickte der Junge auf. Er strich sich das dichte Haar mit beiden Händen aus den Augen und Dóra sah, dass er sehr hübsch war. Hugi sah ganz anders aus, als sie sich vorgestellt hatte. Er wirkte eher wie 17 als wie 25, hatte dunkle Augenbrauen und große Augen, aber am auffälligsten waren seine ausgeprägten Wangenknochen. Der Junge war insgesamt eher schmächtig. Wenn er Haralds Mörder ist, muss er sich ganz schön angestrengt haben, dachte Dóra. Er sah zumindest nicht so aus, als sei er in der Lage, eine 85 Kilo schwere Leiche weit zu schleppen.

»Du wirst dich doch anständig benehmen, mein Junge?«, fragte der Wärter Hugi freundschaftlich. Hugi nickte schweigend und der Wärter umfasste seine Handgelenke und löste die Handschellen. Dann legte er wieder seine Hand auf Hugis Schulter und führte ihn zu dem Stuhl gegenüber von Dóra und Matthias. Hugi vermied es, die beiden anzuschauen. Er wendete den Kopf ab und starrte auf den Fußboden neben seinem Stuhl, auf dem er mehr hing als saß.

»Wir sind im Nachbarzimmer, falls ihr uns braucht. Er sollte keine Probleme machen.« Der Wärter richtete seine Worte an Dóra.

»In Ordnung«, entgegnete sie. »Wir halten ihn nicht länger auf als nötig.« Dóra schaute auf ihre Armbanduhr. »Es wird be­stimmt nicht länger als bis zum Mittag dauern.«

Der Wächter ließ sie allein. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, war außer dem Atmen der drei Anwesenden nur noch ein leises Geräusch zu hören — Hugi kratzte sich rhythmisch am Knie, das in einer Armeehose steckte. Die Gefangenen durften hier offenbar ihre eigene Kleidung tragen — anders als in ameri­kanischen Gefängnissen, wie sie Dóra aus dem Fernsehen und Kino kannte. Der Junge schaute sie nicht an.

»Hugi«, sagte Dóra so einfühlsam wie möglich. Sie sprach weiter Isländisch, denn es kam ihr komisch vor, das Gespräch auf Englisch zu beginnen. Es würde sich noch herausstellen, ob das überhaupt möglich war. Sie durften sich jetzt aufgrund von lästigen Sprachbarrieren nichts vermasseln; wenn der Junge nicht genug Englisch verstand, müsste Dóra das Gespräch wohl oder übel allein führen. »Du weißt vermutlich, wer wir sind. Ich heiße Dóra Guðmundsdóttir und bin Rechtsanwältin und das ist Matthias Reich aus Deutschland. Wir sind wegen des Mordes an Harald Guntlieb hier und stellen unabhängig von der Polizei Nachforschungen an.«

Keine Reaktion. Dóra redete weiter. »Wir wollten dich treffen, da wir nicht glauben, dass du etwas mit dem Mord zu tun hast.« Sie holte tief Luft, um die folgenden Worte zu unterstreichen. »Wir sind auf der Suche nach Haralds Mörder und halten es für sehr wahrscheinlich, dass du nicht der Schuldige bist. Unser Ziel ist es, denjenigen zu finden, der Harald umgebracht hat, und falls du es nicht warst, wäre es vorteilhaft für dich, uns zu helfen.«

Hugi hob den Kopf und schaute Dóra an. Er öffnete jedoch weder den Mund, noch machte er irgendwelche Anstalten, sich zu äußern, daher sprach Dóra weiter. »Verstehst du das? Wenn es uns gelingen sollte zu beweisen, dass ein anderer Harald ermordet hat, dann bist du in den wesentlichen Punkten von der Anklage befreit.«

»Ich hab ihn nicht umgebracht«, sagte Hugi leise. »Mir glaubt keiner, aber ich hab ihn nicht umgebracht.«

Dóra fuhr fort. »Hugi, Matthias kommt aus Deutschland und hat Erfahrung mit solchen Ermittlungen, aber er spricht kein Isländisch. Traust du dir zu, mit uns Englisch zu sprechen, damit er uns verstehen kann? Wenn nicht, ist das kein Problem. Wir möchten, dass du unsere Fragen verstehst und … –«

»Ich kann Englisch«, war die fast geflüsterte Antwort.

»Gut«, sagte Dóra. »Wenn du etwas nicht verstehst oder Schwierigkeiten mit den Antworten hast, dann wechseln wir einfach wieder ins Isländische.«

Dóra wendete sich an Matthias und teilte ihm mit, sie könnten auf Englisch weitermachen. Matthias ließ sich das nicht zweimal sagen, beugte sich vor und eröffnete das Gespräch. »Hugi, jetzt setz dich erst mal gerade hin und dreh dich zu uns. Lass diesen Jammerton und reiß dich zusammen, zumindest solange wir hier sind.«

Dóra stöhnte innerlich; was sollte dieses Machogehabe? Sie würde sich nicht wundern, wenn Hugi aufstünde, in Tränen ausbräche und sofort gehen wollte, und dann müssten sie sich damit abfinden, denn er war schließlich aus freiem Willen hier. Dóra hatte keine Möglichkeit einzugreifen, denn Matthias redete unaufhörlich weiter. »Du bist in einer ziemlich miesen Lage, das muss ich dir ja nicht lang und breit erklären. Wir sind im Grunde deine einzige Hoffnung, aus dieser Sache rauszukommen, daher solltest du alles dafür tun, uns zu helfen und uns ehrlich antworten. In deiner Situation versinkt man leicht in Selbstmitleid, aber es ist an der Zeit, deinen Mann zu stehen und dich nicht wie ein kleines Kind zu verhalten. Also hör mir zu, setz dich vernünftig hin, schau mich an und antworte uns nach bestem Gewissen. Du wirst dich besser fühlen, wenn du dich ein bisschen zusammenreißt. Versuch’s einfach mal.«

Verblüfft beobachtete Dóra, wie Hugi Matthias’ Worte befolgte. Er richtete sich aus seiner Embryostellung auf und bemühte sich, einen erwachseneren Eindruck zu erwecken. Seine jugendlichen Gesichtszüge standen dem zwar im Wege, aber es fand dennoch eine gewisse Veränderung statt. Als Hugi das Wort ergriff, klang seine Stimme fester und reifer. »Es fällt mir schwer, euch die ganze Zeit anzuschauen. Ich stehe unter Medikamenten, die mich ein bisschen durcheinanderbringen.« Dóra erkannte es an seinen Augen; sie wanderten rastlos umher und wirkten apathisch, was auf Beruhigungsmittel schließen ließ. »Ich werde trotzdem versuchen, euch zu antworten.«

»Wie war dein Verhältnis zu Harald?«, fragte Dóra.

»Wir haben uns beim Feiern in der Stadt kennen gelernt. Ich hab mich ein bisschen mit ihm unterhalten; er war ein netter Typ. Kurz darauf hab ich ihn Halldór vorgestellt.«

»Wer ist das?«, fragte Dóra weiter.

»Halldór Kristinsson. Er studiert Medizin«, antwortete Hugi, wobei er den Stolz in seiner Stimme nicht verbergen konnte. »Wir waren schon als kleine Jungs befreundet. Wir haben in Grafarvogur nebeneinander gewohnt. Er ist super intelligent, aber kein Strebertyp, immer in Partylaune.«

Dóra ging ein Licht auf. Das war der junge Mann, der zu der Party gewollt hatte, bei der Harald am Abend vor dem Mord gewesen war — derjenige, der auf die anderen Gäste im Kaffibrennslan gewartet hatte. »Wart ihr eng befreundet, Harald und du?«

Hugi zuckte die Achseln. »Ja, schon. Zwar nicht so eng wie Harald und Halldór, aber Harald hat manchmal bei mir Ha …« Hugi brach mitten im Satz ab und machte ein besorgtes Gesicht.

»Deine Haschischverkäufe interessieren im Moment niemanden. Red weiter«, sagte Matthias barsch.

Hugis Adamsapfel hüpfte auf und ab; dann beschloss er, weiterzureden. »Okay. Harald hat mich manchmal als seinen besten Freund bezeichnet; aber das war nicht ernst gemeint und nur, wenn er mir was abkaufen wollte. Er war trotzdem super nett; ganz, ganz anders als alle, die ich kenne.«

»Wie anders?«, insistierte Dóra.

»Also, erstens hatte er jede Menge Kohle und gab ständig einen aus und so. Außerdem hatte er eine irre Wohnung und ein Auto.«

Er überlegte kurz, bevor er weitersprach. »Aber das war nicht der Punkt. Er war viel cooler als alle anderen. Er hatte vor nichts Angst, hatte immer abgefahrene Ideen und steckte irgendwie alle damit an. Er sah super cool aus mit seinem ganzen Körperschmuck — keiner von uns hat sich getraut, das nachzumachen. Noch nicht mal Halldór, der total darauf abfuhr. Der bereute es tierisch, dass er sich ein ganz kleines Tattoo auf den Arm hatte stechen lassen. Aber Harald war die Zukunft völlig gleichgültig.«

»Es stellte sich ja auch heraus, dass er keine mehr hatte«, konterte Matthias. »Was habt ihr gemacht? Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben.«

»Hat er irgendwann über seine Studien oder über Hexenverbrennungen gesprochen?«, fragte Dóra erwartungsvoll.

»Hexerei«, entgegnete Hugi und schnaubte. »Am Anfang wurde über nichts anderes geredet. Als ich dazukam, hat Harald mir angeboten, Mitglied in ihrem magischen Verein zu werden.«

Matthias fiel ihm ins Wort. »Magischer Verein? Welcher magische Verein?«

»Malleus irgendwas. Ein Verein für Leute, die sich für die Inquisition und irgendwelchen Geschichtskram interessieren.«

Hugi wich Dóras Blick aus, errötete leicht und wendete sich dann an Matthias. »Das war aber in Wirklichkeit was ganz anderes. Hatte nichts mit einem Harry-Potter-Fanclub zu tun, das könnt ihr mir glauben. Es ging um vier Dinge: Sex, Magie, Drogen und noch mehr Sex.« Er grinste. »Deshalb fand ich’s toll, dabei zu sein. Der historische Kram, die Hexerei und diese magischen Runen und Verse interessieren mich nicht die Bohne. Ich wollte nur meinen Spaß haben. Die Mädels waren echt scharf.« Hugi bekam einen schwärmerischen Gesichtsausdruck — wahrscheinlich im Gedenken an die erfüllten Stunden mit den scharfen Mädels. »Ein paar Geschichten über Hexenverbrennungen waren ganz unterhaltsam. Ich kann mich an eine erinnern, in der eine schwangere Frau auf den Scheiterhaufen kam und mitten in den Flammen ihr Kind zur Welt brachte. Irgendwelche Priester holten das Kind lebend da raus, meinten dann aber, es könnte von der Hexerei der Mutter infiziert sein, und warfen es wieder ins Feuer. Harald meinte, das ist wirklich so gewesen.«

Dóra verzog das Gesicht und holte ihn zurück in die Gegenwart. »Wer war noch in diesem Verein? Wie hießen die scharfen Mädchen?«

»Harald war die Hauptperson; dann Halldór, der war im Prinzip seine rechte Hand; Bríet, die studiert an der Uni Geschichte — ich glaub, sie war die Einzige, die das Ganze wirklich ernst nahm; Brjánsi oder Brjánn, der studiert auch Geschichte; Andri, der studiert Chemie, und Marta Maria, die macht irgendwas mit Frauenforschung. Die war echt unerträglich, hat ständig irgendwas über Frauen gelabert und wie ungerecht alles sei. Sie hat mit ihrem Gequatsche die ganze Stimmung kaputtgemacht. Harald nannte sie Heilige Mutter Gottes und so. Wegen Maria, verstehst du?« Dóra signalisierte ihm, dass sie verstanden hatte, während Matthias nur stumm dasaß. »Das war der harte Kern, ein paar Mal kamen neue Leute dazu, aber am Ende blieben immer nur wir übrig. Ich hab nicht so richtig mitverfolgt, was die anderen gemacht haben. Wie gesagt, ich hatte kein Interesse an Magie — nur an dem Drumherum.«

»Du sagst, Halldór sei Haralds rechte Hand gewesen. Was meinst du damit?«, fragte Dóra.

»Sie haben oft zu zweit rumgehangen. Ich glaub, Halldór hat ihm bei Übersetzungen oder so was geholfen. Außerdem war klar, dass Halldór Haralds Rolle übernehmen sollte, sobald Harald Island verlässt. Halldór hat sich ganz schön was darauf eingebildet; er war vollkommen fasziniert von Harald.«

»Ist Halldór schwul?«, fragte Matthias.

Hugi schüttelte den Kopf. »Nee, ganz bestimmt nicht. Er bekam einfach nur glänzende Augen. Halldór kommt aus einem armen Elternhaus, so wie ich. Harald hat ihn mit Geld überschüttet, mit teuren Geschenken und Anerkennung, und dafür hat Halldór ihn angehimmelt. Man konnte sehen, wie sehr Harald das genoss. Er war allerdings nicht immer nett zu Halldór, hat ihn oft vor den anderen runtergemacht. Aber er hat immer drauf geachtet, es wieder gutzumachen, damit Halldór ihn nicht fallen lässt. Ziemlich merkwürdige Freundschaft.«

»Wie war es für dich, Halldórs Faszination für Harald zu beobachten? Halldór war schließlich dein Jugendfreund. Warst du nicht eifersüchtig?«, fragte Dóra.

Hugi grinste. »Nee, auf keinen Fall. Wir waren immer noch Freunde. Harald war ja nur für eine bestimmte Zeit hier in Island und ich wusste, dass es vorbeigehen würde.« Hugi machte plötzlich ein bekümmertes Gesicht. »Ich hab ihn nicht umgebracht, um meinen Freund zurückzubekommen. So war das nicht.«

»Nein, vielleicht nicht«, entgegnete Matthias. »Aber sag mir eins: Wenn du ihn nicht umgebracht hast, wer war es dann? Du musst doch irgendeine Vermutung haben. Du weißt doch, dass es kein Selbstmord oder Unfall gewesen sein kann.«

Hugis Augen wanderten wieder zum Fußboden. »Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüsste, würde ich es euch natürlich sagen. Ich will nicht im Gefängnis sein.«

»Glaubst du, dein Freund Halldór hat Harald ermordet?«, fragte Dóra. »Willst du ihn schützen?«

Hugi schüttelte den Kopf. »Halldór könnte niemanden umbringen. Schon gar nicht Harald. Ich hab euch doch gesagt, er hat ihn vergöttert.«

»Ja, aber du hast auch gesagt, dass Harald ihn schlecht behandelt und vor euch anderen erniedrigt hat. Vielleicht ist er ausgerastet und hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. So was kommt vor«, sagte Dóra.

Hugi schaute entschlossen auf. »Nein. Halldór ist nicht so. Er will Arzt werden. Er will den Leuten helfen, am Leben zu bleiben, und sie nicht töten.«

»Mein lieber Hugi, es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber auch Ärzte haben im Laufe der Zeit Menschen umgebracht. Jede Berufssparte hat ihre schwarzen Schafe«, erklärte Matthias. »Und wenn es nicht Halldór war — wer war es dann?«

»Vielleicht Marta Maria«, murmelte Hugi wenig überzeugend. Er mochte das Mädchen offenbar nicht besonders. »Vielleicht hat Harald sie einmal zu viel Heilige Mutter Gottes genannt.«

»Marta Maria, tja«, sagte Matthias. »Das ist ein toller Vorschlag, bis auf die Tatsache, dass sie ein wasserdichtes Alibi hat. So wie alle anderen aus eurem Hexenclub. Außer möglicherweise Halldór. Sein Alibi ist am wackeligsten. Es ist durchaus denkbar, dass er dieses Kaffibrennslan kurz verlassen, Harald umgebracht und sich dann wieder mit seinem Drink an die Theke gesetzt hat.«

»An denselben Platz? Im Kaffibrennslan an einem Samstagabend? Wohl kaum«, entgegnete Hugi spöttisch.

»Und dir fällt sonst niemand ein?«, fragte Dóra.

Hugi blähte die Wangen und pustete die Luft langsam wieder aus. »Vielleicht jemand von der Uni. Ich weiß es nicht. Oder jemand aus Deutschland.« Er achtete darauf, Matthias nicht anzusehen, während er das sagte, so als sei Matthias überempfindlich, wenn es um seine Landsleute ging. »Ich weiß, dass Harald an diesem Abend etwas feiern wollte. Das hat er mir gesagt. Er wollte Haschisch von mir kaufen, zur Feier des Tages oder so.«

»Oder so?«, fragte Matthias brüsk. »Du musst konkreter werden. Was hat er genau gesagt?«

Hugi war verärgert. »Konkreter? Ich kann mich nicht richtig erinnern; es hing mit etwas zusammen, das er endlich gefunden hatte. Er schrie irgendwas auf Deutsch und ballte die Faust. Dann umarmte er mich, drückte mich ganz fest an sich und sagte, ich müsse ihm Ecstasy besorgen, weil er so super Laune hätte und richtig einen draufmachen wolle.«

»Und dann habt ihr die Party verlassen?«, fragte Dóra. »Nachdem er dich umarmt und nach Ecstasy gefragt hat?«

»Ja, kurz danach. Ich war schon total durcheinander; ich hatte zu viel getrunken und versucht, mich mit Speed wieder runterzubringen, hat aber nicht funktioniert. Es war alles viel zu viel. Jedenfalls haben wir ein Taxi zu mir nach Hause genommen und ich kann mich nur dran erinnern, dass ich kein Ecstasy finden konnte; ich war total fertig und hätte sogar Schwierigkeiten gehabt, Milch im Kühlschrank zu finden. Harald war ziemlich sauer auf mich und redete davon, was für ein Schwachsinnstrip das Ganze sei. Ich weiß noch, dass ich mich aufs Sofa legte, weil sich vor meinen Augen alles drehte.«

Dóra fiel Hugi ins Wort. »Hast du gesagt, du hättest ihm kein Ecstasy gegeben?«

»Ich hab’s nicht gefunden«, entgegnete Hugi. »Ich war drauf, hab ich doch gesagt.«

Dóra warf Matthias einen Blick zu, sagte aber nichts. Dem Obduktionsbericht nach waren in Haralds Blut Spuren von Ecstasy gefunden worden. Er musste es also irgendwann genommen haben. »Ist es möglich, dass er schon früher am Abend was genommen hatte? Oder bei dir zu Hause was gefunden hat, nachdem du eingeschlafen warst?«

»Bei der Party hat er kein Ecstasy genommen, ausgeschlossen. Er kann auch bei mir zu Hause nichts aufgetrieben haben, denn die Bullen haben das Zeug bei der Hausdurchsuchung in meiner Abstellkammer entdeckt. Ich hatte es da versteckt und hatte den Schlüssel in der Hosentasche. Harald hätte wohl kaum in der Abstellkammer gesucht; er wusste wahrscheinlich überhaupt nicht von ihr. Vielleicht ist er nach Hause gefahren und hat da was genommen. Warum wollt ihr das alles wissen?«

»Bist du sicher, dass Harald nicht in deine Tasche gegriffen und den Schlüssel rausgeholt hat? Vielleicht weißt du es nicht mehr genau, aber du könntest dich ja an die Abstellkammer erinnert und ihm davon erzählt haben?«, fragte Matthias. »Versuch dich zu erinnern. Du liegst auf dem Sofa und alles dreht sich — und was dann?«

Hugi schloss die Augen und versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Auf einmal schlug er die Augen auf und schaute die beiden verwirrt an. »Doch, ich erinnere mich. Ich hab nichts gesagt, aber Harald. Er hat mir was ins Ohr geflüstert. Ich erinnere mich dran, dass ich ihm unbedingt antworten und ihn bitten wollte, auf mich zu warten, aber es ging nicht.«

»Was? Was hat er gesagt?«, fragte Matthias ungeduldig.

Hugi schaute sie zweifelnd an. »Vielleicht bringe ich da was durcheinander, aber ich glaube, er hat gesagt: Schlaf schön, mein Lieber. Wir feiern das später. Ich bin nach Island gekommen, um die Hölle zu suchen, und weißt du was? Ich hab sie gefunden!«

14. KAPITEL

»Benimm dich nicht so idiotisch.« Marta Maria spitze die Lippen und blies eine lange Rauchsäule aus. Sie klopfte die Asche der halbgerauchten Zigarette in den Aschenbecher. Dann drückte sie die Zigarette aus; sie hatte genug. »Damit machst du alles nur noch schlimmer. Glaub bloß nicht, du würdest damit irgendjemandem einen Gefallen tun.« Sie schaute den jungen Mann, der auf dem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß, oder besser gesagt hockte, verärgert mit ihren grünen, mandelförmigen Augen an. Er glotzte wütend zurück, sagte aber nichts. Marta Maria reckte sich und strich mit ihren schlanken Fingern durch ihre rote Locken. »Schau mich nicht so an, mein Lieber. Du hast uns in die Sache mit reingerissen, also glaub bloß nicht, du könntest hier plötzlich das Unschuldslamm spielen, das von Gewissensbissen geplagt wird.« Sie schaute Hilfe suchend zu ihrer Freundin, die neben ihr saß. Das junge, blonde Mädchen nickte nur mit weit aufgerissenen Augen. Sie hatte eine Kurzhaarfrisur und wirkte jungenhaft, aber dennoch hätte sie niemand versehentlich für einen Mann gehalten. Sie war hübsch und zierlich, hatte aber einen üppigen Busen. Von hinten sah sie aus wie ein Kind, wie sie dort neben der hoch gewachsenen Marta Maria saß, für die das Thema noch nicht abgeschlossen war. »Das ist so typisches Machogehabe, dass ich kotzen könnte. Wenn’s drauf ankommt, zieht ihr den Schwanz ein.« Sie lehnte sich selbstzufrieden in ihrem Stuhl zurück. Ihre Freundin traute sich nicht, die beiden anderen anzuschauen, und konzentrierte sich auf ihr Getränk.

»Um Himmels willen«, entgegnete Halldór und tat so, als stecke er sich den Finger in den Hals. »Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung mal ’ne andere Platte auflegen würdest.« Die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben und während er Marta Maria anstarrte, hob sich seine Oberlippe instinktiv und seine weißen Zähne blitzten auf. Er wendete den Blick von ihr ab und zog an seiner Zigarette. Während er den Rauch ausblies, beruhigte er sich ein wenig. Mit beherrschterer Stimme fügte er hinzu: »Du solltest sogar froh sein, wenn ich zur Polizei gehe. Oder glaubst du, es ist toll, im Frauenknast zu landen? Nur Frauen, geil!« Er grinste sie spöttisch an.

Marta Maria ließ das nicht auf sich sitzen. »Dann können wir ja miteinander telefonieren und uns schmutzige Geschichten erzählen. Ein so schnuckeliger Typ wie du, mein Süßer, wird in Litla-Hraun bestimmt äußerst beliebt sein.« Sie erwiderte sein spöttisches Grinsen.

»Ach, jetzt hört endlich auf«, sagte Bríet schließlich. Marta Maria und Halldór blickten sie nur verwundert an, sodass sie wieder in ihr Glas starrte, diesmal mit leicht geröteten Wangen. Dann murmelte sie vor sich hin: »Ich hab keine Lust im Frauenknast zu landen, und ich will auch nicht, dass du nach Litla-Hraun musst.« Sie schaute auf und richtete ihren Blick auf Halldór. »Ich hab eine Scheißangst.«

Halldór lächelte ihr mitfühlend zu. Er mochte Bríet, eigentlich noch viel mehr als das; er fand sie sehr anziehend — auch wenn er sich noch nicht im Klaren darüber war, ob es über rein sexuelle Anziehung hinausging. »Niemand muss ins Gefängnis.« Er warf Marta Maria einen Blick zu. »Da siehst du, wie weit du es gebracht hast; du hast Bríet mit deinem Gerede total verängstigt.«

Marta Maria machte ein beleidigtes Gesicht. »Ich? Aber hallo! Du hast angefangen, über Gefängnisse zu reden — nicht ich.« Sie sah Bríet an, verdrehte die Augen und stöhnte. »Wer hatte eigentlich die Idee, hierher zu kommen?«

Sie saßen im Hótel 101 in der Hverfisgata im Kaminzimmer neben der Bar, wo Rauchen erlaubt war. Ihr Freund Harald hatte dieses Lokal sehr gemocht und als er ihre seltsame Clique angeführt hatte, waren sie ständig hier gewesen. Seit er nicht mehr unter ihnen war, hatte dieser Ort seinen Charme verloren. Halldór senkte den Kopf und schüttelte ihn dann konfus. »Um Gottes willen, Marta. Ich bin echt am Ende. Können wir nicht wie Freunde miteinander reden? Ich dachte, du würdest mir helfen. Ich finde es schrecklich, dass Hugi im Knast sitzt. Das musst du doch verstehen.« Er schaute auf, ohne ihr in die Augen zu sehen, und griff nach der Zigarettenschachtel, die in der Mitte des Tisches lag. »Dieses Durcheinander macht mich noch ganz verrückt. Wann zum Teufel ist eigentlich die Beerdigung?«

Bríet schaute Marta Maria besorgt an. Sie hoffte, ihre Freundin würde einen anderen Ton anschlagen. Bríets Wunsch wurde erhört. Marta Maria atmete tief durch und änderte das hochmütige Verhalten, das sie seit einer Viertelstunde an den Tag gelegt hatte.

»Ach, Dóri.« Sie streckte sich über den Tisch, umfasste Halldórs Kinn und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. »Wir sind doch Freunde, oder?« Er nickte schwach. »Dann hör auf mich. Wenn du dich in die Sache einmischst, hilfst du Hugi nicht.« Er schaute sie konzentriert an und sie redete ruhig weiter. »Denk drüber nach. Nichts von dem, was dich bedrückt, ändert etwas an seiner Lage. Das Einzige, was passieren würde, ist, dass wir mit in die Sache hineingezogen würden. Es ist erst viel später passiert, nach dem Mord. Die Bullen interessieren sich nicht dafür. Die interessieren sich nur für die Todeszeit. Sonst nichts.« Sie lächelte ihn an. »Die Beerdigung findet bestimmt bald statt und danach hast du nichts mehr damit zu tun.« Halldór wich ihrem Blick aus. Marta Maria musste seinen Kopf nach oben drücken, bevor sie weiterredete, damit er sie wieder ansah. »Ich hab ihn nicht umgebracht, Halldór. Ich werde mich nicht für deine Gewissensbisse opfern. Zur Polizei zu gehen ist die schlechteste Idee, die du je hattest. Sobald du was von Haschisch und Drogen erzählst, sitzen wir in der Klemme. Kapiert?«

Halldór schaute ihr tief in die Augen und nickte. »Aber vielleicht …«

Er konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Marta Maria schnitt ihm das Wort ab. »Kein Vielleicht. Jetzt hör mir zu! Du bist ein schlauer Kerl, Halldór. Glaubst du, ein Mediziner, der mit Drogen zu tun hatte, wird noch irgendwo mit Kusshand genommen?« Sie schüttelte den Kopf und blickte dann von Halldór zu Bríet, die die Szene gespannt verfolgte, bereit, dem letzten Redner wie üblich Recht zu geben. Marta Maria wendete sich wieder an Halldór und sagte sehr ruhig: »Benimm dich nicht wie ein kleiner Junge. Wie ich schon sagte, die Bullen interessieren sich nur dafür, wer Harald umgebracht hat. Für nichts anderes.« Sie betonte ihre letzten Worte und wiederholte sie zur Sicherheit. »Für nichts anderes.«

Halldór war wie hypnotisiert. Er starrte direkt in ihre grünen Augen, die ihn unter den gepiercten Augenbrauen anschauten. Dann nickte er gehorsam, wenn auch ein wenig schwach, da Marta Marias Hand immer noch sein Kinn umfasst hielt. Genau dies war der Grund, warum er gedroht hatte, zur Polizei zu gehen — er wusste, dass sie ihn umstimmen würde. Er schob den Gedanken beiseite. »Okay, okay.«

»Oh, super«, murmelte Bríet und lächelte Halldór zu. Sie war offenbar erleichtert und drückte zufrieden Martas Arm. Marta Maria war nicht anzusehen, ob sie es wahrnahm — sie richtete ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf Halldór und hielt immer noch sein Kinn umfasst.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte sie dann, ohne ihren Griff zu lockern.

Bríet holte rasch ein hellrotes Handy aus ihrer Tasche, die über der Stuhllehne hing. Sie klickte auf das Display und verkündete: »Kurz vor halb zwei.«

»Was machst du heute Abend?«, fragte Marta Halldór. Ihre Stimme war ausdruckslos, aber ihr Blick sagte alles.

»Nichts«, war die kurze Antwort.

»Komm bei mir vorbei — ich hab auch nichts vor«, entgegnete Marta. »Es ist lange her, dass wir beide was zusammen unternommen haben, und ich hab das Gefühl, dass dir ein bisschen Gesellschaft guttäte.« Sie betonte jedes einzelne Wort.

Bríet rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Sollen wir ins Kino gehen?« Sie schaute Marta erwartungsvoll an, die sie jedoch keines Blickes würdigte. Bríet spürte einen kräftigen Tritt auf ihren Fuß und als sie zu Boden schaute, sah sie, wie ihr hübscher Schuh unter Martas Lederstiefel verschwand. Bríet errötete; sie hatte begriffen, dass ihre Anwesenheit an diesem Abend nicht erwünscht war.

»Möchtest du ins Kino gehen?«, fragte Marta Halldór. »Oder möchtest du einen ruhigen Abend bei mir verbringen?« Sie neigte den Kopf.

Halldór nickte.

Marta lächelte. »Was denn nun? Das ist keine Antwort.«

»Zu dir.« Halldórs Stimme war rau und tief. Alle drei wussten, worum es ging.

»Ich kann’s kaum erwarten.« Marta ließ Halldórs Kinn los und klatschte in die Hände. Sie winkte dem Kellner, der gerade vorbeiging, und bestellte die Rechnung. Halldór und Bríet schwiegen. Bríet war gekränkt. Und Halldór hatte dem nichts hinzuzufügen. Er fischte einen Tausendkronenschein aus seiner Hosentasche, legte ihn auf den Tisch und stand auf.

»Ich komme zu spät zum Unterricht. Man sieht sich.« Er ging davon und die beiden Mädchen drehten sich um und schauten ihm hinterher.

Als er weg war, wendete sich Marta an Bríet und sagte: »Der Junge hat einen richtigen Knackarsch. Er sollte uns öfter verlassen.« Sie musterte ihre Freundin, die ihr einen verletzten Blick zuwarf. »Um Himmels willen. Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Er ist im Moment in einer kritischen Situation und es steht sehr viel auf dem Spiel.« Sie fasste Bríet am Arm. »Er steht auf dich, daran hat sich nichts geändert.«

Bríet lächelte schwach. »Nein, vielleicht nicht. Er schien aber trotzdem sehr von dir angetan zu sein.«

»Liebes, das hat nichts mit Verliebtheit zu tun. Du bist diejenige, die die Männer verzaubert. Ich — tja … ich bin gut im Bett.«

Sie stand auf und schaute Bríet herablassend an. »Und weißt du, warum?« Keine Antwort. »Ich genieße den Augenblick. Solltest du auch mal probieren. Anstatt ununterbrochen auf den großen Retter zu warten — genieß das Leben.«

Bríet suchte ihr Portemonnaie. Darauf wusste sie keine Antwort. Sie hatte an allen möglichen Spielchen mit dieser Clique teilgenommen und wurde schon allein bei dem Gedanken daran rot. War das etwa nicht das Leben genießen? Hatte sie auf irgendeine Weise signalisiert, sie wolle gerettet werden? Was sollte dieser Unfug? Als die Mädchen das Lokal verließen, tröstete sich Bríet mit dem Gedanken, dass die Jungs auf sie flogen. Nicht auf Marta. Aber jetzt stand so viel auf dem Spiel, dass sie Marta nicht mit irgendwelchen Ausführungen und Vergleichen bezüglich ihrer weiblichen Vorzüge reizen wollte. Marta war nämlich eine Art weiblicher Harald. Sie hatte Halldór im Griff. Bríet wollte nicht ins Frauengefängnis. Nein danke — zum Teufel mit Halldór. Sie könnte ihn sich genauso gut später angeln.

Bríet streckte ihren Rücken, sodass ihre Brüste noch mehr ins Auge fielen. Als die Mädchen in Richtung Tür gingen, genoss Bríet die Blicke der drei Anzugträger, die am Fenster saßen — ihr gafften sie hinterher, nicht Marta. Bríet lächelte verschmitzt. Kleine Triumphe verschafften oft die größte Genugtuung.

15. KAPITEL

»Nichts.« Dóra blickte enttäuscht von ihrem Computerbildschirm zu Matthias. Sie waren nach ihrem Besuch bei Hugi in der Kanzlei vorbeigefahren, unter anderem, um nachzuschauen, ob Dóras E-Mail an den mysteriösen »Mal« beantwortet worden war.

Matthias hob ratlos die Schultern. »Wer weiß? Vielleicht kommt nie eine Antwort.«

Dóra wollte nicht so schnell aufgeben wie Matthias. »Aber vielleicht hat Harald in seinem Computer irgendwelche Informationen über ihn.«

Matthias hob die Augenbrauen. »Haben Sie Informationen über Ihre Bekannten in Ihrem Computer?«

»Ach, Sie wissen doch, was ich meine. Eine Adressliste im E-Mail-Programm von den Personen, mit denen man am meisten korrespondiert.«

Matthias zuckte erneut mit den Schultern. »Ja, ich weiß schon, welche Art Liste Sie meinen. Vielleicht hatte Harald so was. Man weiß ja nie.«

Dóra drehte den Bildschirm zurück an seine normale Position. »Wie wäre es, wenn Sie gleich bei der Polizei anrufen und nach Haralds Computer fragen?« Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Bildschirm. »Es ist erst kurz vor zwei, die Wache sollte also geöffnet haben.« Der Brief mit der Bitte um Herausgabe der Ermittlungsunterlagen war aus Bellas Postkörbchen verschwunden. Alles deutete darauf hin, dass Bella ihn gestern abgeschickt hatte.

Wahrscheinlich war der Brief schon angekommen, aber sie konnten nicht wissen, ob man ihre Anfrage schon bearbeitet hatte. Es wäre vernünftiger, einen oder zwei Tage mit dem Anruf zu warten und dann sowohl nach dem Computer als auch nach den Ermittlungsunterlagen zu fragen. Dóra schob jedoch die Stimme der Vernunft beiseite und überließ der Ungeduld das Steuer. Es blieb ihr ja kaum etwas anderes übrig. Sie hatte im Telefonverzeichnis im Internet nach den Handynummern von Haralds Freunden gesucht und die Nummern von Marta Maria, Bríet und Brjánn gefunden. Als sie die drei endlich erreicht hatte, hatten sie sich geweigert — Bríet nahezu hysterisch –, mit ihr zu sprechen, und sie auf die polizeilichen Aussagen verwiesen. Dóra und Matthias blieben daher zurzeit nicht viele Alternativen. »Rufen Sie an«, drängte Dóra.

Matthias fügte sich und bekam die Auskunft, es stünde ihnen frei, den Computer auf der Polizeiwache abzuholen. Ein Polizeibeamter namens Markús Helgason werde sie dort in Empfang nehmen.

Auf der Polizeiwache begrüßte der besagte Markús Dóra auf Isländisch, wendete sich dann an Matthias und sagte auf Englisch mit starkem Akzent: »Jetzt sind wir uns schon zweimal begegnet, bei der Wohnungsdurchsuchung und als Sie herkamen, um meinen Vorgesetzen, Árni Bjarnason, zu treffen.« Der Polizeibeamte lächelte verlegen. »Sie waren wohl nicht ganz mit ihm auf einer Wellenlänge, deswegen soll ich Sie jetzt in Empfang nehmen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden.«

Der junge Mann trug eine hellblaue Polizeijacke und eine schwarze Uniformhose. Er war recht klein, aber die Zeiten, als von Polizisten eine Mindestgröße gefordert wurde, waren ja schon lange vorüber. Ansonsten sah Markús vollkommen normal aus, war weder hübsch noch hässlich, dunkelblond, mit gräulichen, eher unauffälligen Augen. Als er ihnen seine Hand reichte, lächelte er, und im selben Moment änderte sich Dóras Eindruck von ihm schlagartig. Er hatte wunderschöne, weiße Zähne und Dóra wünschte ihm viele Anlässe zur Freude.

Matthias und Dóra versicherten ihm, es mache ihnen nichts aus, seinen Vorgesetzten nicht zu treffen, und der junge Polizist ergriff erleichtert wieder das Wort. »Es würde mich freuen, wenn wir uns kurz unterhalten könnten. Soweit wir informiert sind, untersuchen Sie den Tatbestand in dem Mordfall, und da unsere Ermittlungen offiziell noch nicht abgeschlossen sind, wäre es gut, wenn wir uns kurz austauschen.« Er zögerte einen Moment und fügte dann vorsichtig hinzu: »Der Computer sowie einige Dokumente, die wir zurückgeben müssen, werden gerade in eine Kiste gepackt. Sie müssen also sowieso einen Augenblick warten. Wir können uns solange in mein Büro setzen.«

Dóra warf Matthias einen Blick zu. Matthias signalisierte ihr durch eine leichte Schulterbewegung, er habe nichts gegen ein Gespräch einzuwenden. Dóra war vollkommen klar, dass es sich bei der Sache mit dem Computer und der Kiste um einen reinen Vorwand handelte — ein einarmiger Mann bräuchte dafür ungefähr drei Minuten. Sie ließ sich nichts anmerken, lächelte arglos und erklärte, das sei kein Problem. Der Polizeibeamte führte sie in sein Büro.

Bis auf eine Kaffeekanne mit der Aufschrift Manchester United gab es in dem Raum keine persönlichen Gegenstände. Der Beamte bat Dóra und Matthias, sich zu setzen. Erst, nachdem sie Platz genommen hatten, setzte er sich selbst hin. Während dieser Prozedur sprach keiner ein Wort und als endlich alle saßen, trat eine unangenehme Stille ein.

»Tja, so ist das also«, sagte der Polizist mit gekünstelter Fröhlichkeit in der Stimme. Dóra und Matthias lächelten nur, erwiderten aber nichts. Dóra wollte, dass der Polizist das Gespräch in Gang brächte, und Matthias’ zusammengekniffene Lippen deuteten darauf hin, dass er derselben Meinung war. Endlich kam der Polizist zum Thema. »Wir haben gehört, dass Sie heute Morgen in Litla-Hraun waren und Hugi þórisson getroffen haben.«

»Das stimmt«, sagte Dóra kurz.

»Jawohl«, entgegnete der Polizeibeamte. »Was ist dabei herausgekommen?« Er schaute sie abwechselnd erwartungsvoll an. »Es ist ziemlich ungewöhnlich, gleichzeitig als Bevollmächtige der Angehörigen und als Unterstützer des Tatverdächtigen aufzutreten, was Sie, soweit ich informiert bin, heute Morgen im Gefängnis gemacht haben.«

Dóra blickte zu Matthias, der sie mit einer Handbewegung aufforderte, zu antworten. »Sollten wir nicht lieber sagen, die Umstände sind ungewöhnlich und nicht alltäglich und wir verhalten uns nur entsprechend. Trotz alledem arbeiten wir in erster Linie für Haralds Familie; die Interessen von Hugi þórisson entsprechen lediglich den Interessen der Familie Guntlieb.« Sie machte eine kleine Pause, um dem Polizeibeamten die Gelegenheit zu geben, Einwände zu erheben, was er nicht tat. Daher redete sie weiter. »Wir glauben nicht, dass er schuldig ist. Unsere Unterredung mit ihm heute Morgen hat uns in unserer Meinung sogar noch bestärkt.«

Der Polizist hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich muss gestehen, ich verstehe nicht ganz, warum Sie da so sicher sind. Sämtliche Ermittlungsergebnisse besagen das Gegenteil.«

»Unserer Meinung nach gibt es sehr viele unbeantwortete Fragen; ich denke, das ist der Hauptgrund«, antwortete Dóra.

Der Polizist nickte und schien ihr beizupflichten. »Das stimmt vollkommen, aber wie gesagt, unsere Ermittlungen sind noch nicht beendet. Andererseits würde es mich sehr überraschen, wenn noch etwas ans Licht kommen sollte, das unsere Theorie, dass Hugi þórisson Harald umgebracht hat, über den Haufen werfen würde.« Er spreizte die Finger seiner einen Hand und zählte, indem er einen Finger nach dem anderen mit der anderen Hand umfasste. »Erstens war er kurz vor dem Mord mit dem Verstorbenen zusammen. Zweitens wurde Haralds Blut auf der Kleidung gefunden, die er an jenem Abend trug. Drittens haben wir in seinem Schrank ein T-Shirt gefunden, mit dem eine beträchtliche Menge Blut aufgewischt wurde — auch dieses Blut war von dem Verstorbenen. Viertens war er Mitglied in diesem Zauberclub des Ermordeten und kannte sich daher mit magischen Runen aus, also auch mit derjenigen, die in die Leiche geritzt war. Und fünftens war er an jenem Abend aufgrund von Drogenkonsum derart benebelt, dass er durchaus fähig gewesen wäre, der Leiche die Augen herauszuschneiden. Glauben Sie mir — so etwas macht niemand im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. Hugi war in Drogengeschäfte verwickelt und hatte vermutlich die Absicht, Drogen ins Land zu schmuggeln. Der Ermordete verfügte über genügend Kapital, um dies zu finanzieren, und kurz vor dem Mord verschwand eine beträchtliche Summe von seinem Konto. Spurlos. So etwas geschieht nicht bei normalen Geschäften. Auf die eine oder andere Weise lassen sich Kapitalbewegungen immer nachvollziehen.« Der Polizist betrachtete seine Hände. Er hielt alle Finger seiner linken Hand mit der rechten Hand umfasst. »Ich könnte es beschwören — meistens reichen wesentlich weniger Beweise, um jemanden zu verurteilen. Uns fehlt lediglich ein Geständnis, wobei ich bereitwillig zugebe, dass ein solches unter ähnlichen Bedingungen meistens schon längst vorliegt.«

Dóra ließ sich nichts anmerken. Die Sache mit dem Blut an Hugis Kleidung traf sie völlig unvorbereitet. Weder in den Polizeiberichten noch in den anderen Dokumenten, die ihr vorlagen, war davon die Rede. Sie beeilte sich, etwas zu sagen, damit der Polizist nicht merkte, dass er sie aufgeschreckt hatte. »Ist das nicht ein heikler Punkt, dass er den Mord nicht gestanden hat?«

Der Polizeibeamte schaute sie aufrichtig an. »Nein, überhaupt nicht. Wissen Sie, warum?« Als Dóra keine Anstalten machte, ihm zu antworten, fuhr er fort. »Er kann sich an nichts erinnern. Er wiegt sich in der Hoffnung, den Mord nicht begangen zu haben. Warum sollte er eine Tat gestehen, an die er sich nicht erinnern kann, wenn so viel auf dem Spiel steht? Ich frage ja nur.«

»Wie erklären Sie sich den Transport der Leiche zur Universität?«, fragte Matthias. »Ein kleiner Drogendealer hatte wohl kaum Zugang zu den Universitätsgebäuden. Es war Wochenende und alles war abgeschlossen.«

»Er hat Haralds Schlüssel gestohlen. Ganz einfach. Wir haben bei der Leiche einen Schlüsselbund gefunden — daran befand sich unter anderem ein Schlüssel, oder besser gesagt eine Zugangskarte, denn es gibt ein Einbruchsicherungssystem. Aus dem System ist ersichtlich, dass die Karte kurz nach dem Mord benutzt wurde, um ins Gebäude zu gelangen.«

Matthias räusperte sich. »Was soll das heißen, kurz nach dem Mord? Könnte es nicht auch kurz vor dem Mord gewesen sein? Die Zeitangaben sind in diesem Zusammenhang schließlich nicht eindeutig.«

»Nein, aber das spielt keine Rolle«, antwortete der Polizist unfreundlicher als zuvor.

Matthias redete weiter — er wollte den Polizisten nicht so leicht davonkommen lassen. »Stellen wir uns vor, Hugi habe den Schlüssel genommen und die Leiche von seiner Wohnung, die sich ja in der Nähe befindet, zur Universität gebracht. Wie ging dieser Transport Ihrer Meinung nach vonstatten? Die Leiche eines ausgewachsenen Mannes steckt man schließlich nicht einfach in die Tasche — und transportiert sie auch nicht in einem Taxi.«

Jetzt grinste der Polizist. »Er hat die Leiche auf seinem Fahrrad transportiert. Es wurde vor dem Árnagarður gefunden und — es gab Spuren. Wir haben Haralds Blut am Lenkrad gefunden. Glücklicherweise wurde das Fahrrad unter ein Schutzdach geworfen, sodass es nicht zuschneite.«

Da Matthias nichts sagte, ergriff Dóra das Wort. »Woher wissen Sie, dass dieses Fahrrad Hugi gehörte?« Eilig fügte sie hinzu: »Und selbst wenn dem so ist, woher wissen Sie, dass es in der besagten Nacht dort zurückgelassen wurde?«

Der Polizeibeamte lächelte noch zufriedener. »Das Rad wurde gegen einen Schuppen mit Mülltonnen geworfen und lehnte an dessen Tür. Der Müll wurde am Freitag geleert und die Angestellten der Müllabfuhr dieses Stadtteils sind sich einig, dass ihnen dabei kein Fahrrad im Weg stand. Hugi selbst hat das Fahrrad identifiziert und bestätigt, es habe am Samstag unangetastet im Fahrradkeller seines Wohnblocks gestanden. Und eine Nachbarin hat ausgesagt, das Rad habe an seinem gewohnten Platz gestanden, als sie gegen Abend ihren Kinderwagen aus dem Fahrradkeller holte, um mit ihrem Kind einkaufen zu gehen.«

»Wie zum Teufel kann sich eine Zeugin daran erinnern, welches Rad sich dort befand und welches nicht? Ich hab auch in einem Wohnblock gewohnt und kann nicht behaupten, dass ich damals Aussagen darüber hätte treffen können, was im Fahrradkeller stand, obwohl ich oft dort war«, sagte Dóra erregt.

»Das Fahrrad war auffällig und Hugi benutzte es häufig. Im Winter, im Sommer, im Frühling und im Herbst. Er hatte keinen Führerschein, daher blieben ihm kaum Alternativen. Er war nicht gerade der Ordentlichste, wenn es um die Benutzung des Fahrradkellers ging — an besagtem Wochenende hatte er das Rad gegen den Kinderwagen dieser Frau gelehnt. Sie kann sich gut daran erinnern, dass sie es wegstellen musste, um an ihren Kinderwagen zu kommen.«

Matthias räusperte sich. »Wenn Hugi den Schlüssel gestohlen hat und dieser zu einem Sicherungssystem gehörte, muss es einen Code oder eine Zugangsnummer geben. Wie soll Hugi sich die beschafft haben?«

»Das ist eine der Fragen, die sich uns von Anfang an gestellt haben, und wir haben die Sache untersucht«, antwortete der Polizist. »Bei den Verhören von Haralds Freunden stellte sich heraus, dass er ihnen allen die Nummer gegeben hatte.«

Dóra schaute ihn ungläubig an. »Wer soll denn das glauben? Warum zum Teufel sollte er das tun?«

»Ich glaube, er fand die Nummer witzig. Er hatte nämlich die Zugangsnummer 0666 und diese Zahl scheint irgendwie mit dem Satan in Verbindung zu stehen und passte daher besonders gut zu ihm.«

»Es ging eher um Magie als um den Satan«, bemerkte Matthias. Dann wechselte er schnell das Thema, um ausufernden Diskussionen über das Wesen der Hexerei zuvorzukommen. »Eine Sache könnten Sie uns noch mitteilen. Wir sind auf den Ausdruck einer E-Mail von Harald gestoßen, eine kurze Mitteilung an einen gewissen ›Mal‹. Haben Sie dazu etwas herausgefunden?«

Der Polizist schaute ihn verständnislos an. »Ich muss gestehen, dass ich mich daran nicht erinnere. Wir haben eine ganze Menge Unterlagen durchgesehen. Wenn Sie möchten, kann ich das nachschlagen und Sie informieren.«

Dóra beschrieb ihm den Inhalt der E-Mail in groben Zügen, obwohl sie nicht glaubte, dass die Polizei in diesem Zusammenhang von großem Nutzen wäre. Der Beamte hätte sich daran erinnern müssen, wenn man etwas darüber herausgefunden hätte. Er versprach, nachzuforschen, ob der Empfänger ausfindig gemacht worden sei. Allerdings hielt er die Sache, die Harald glaubte gefunden zu haben, nicht für besonders wichtig. »Wahrscheinlich meinte er irgendein Mädchen, hinter dem er her war oder so was. Und sonst? Haben Sie vor, sich noch länger mit dem Fall zu beschäftigen?« Er schaute Dóra und Matthias abwechselnd an.

»Solange wie nötig«, entgegnete Matthias mit unergründlichem Gesichtsausdruck. »Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass der richtige Mann in Untersuchungshaft sitzt — trotz Ihrer Informationen. Ich kann mich natürlich irren.«

Der Polizeibeamte lächelte zögerlich. »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns auf dem Laufenden hielten, da unsere Ermittlungen noch nicht beendet sind. Wir möchten jegliche Konflikte vermeiden, und es wäre besser, wenn wir zusammenarbeiten.«

Dóra nutzte die Gelegenheit einzuhaken. »Wir haben einen Teil der Ermittlungsunterlagen erhalten, aber bei weitem nicht alles. Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, den sie voraussichtlich morgen bekommen werden. Darin fordere ich Sie im Namen der Angehörigen auf, sämtliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen — steht dem Ihrer Meinung nach irgendetwas im Wege?«

Der Polizist zuckte mit den Schultern. »An und für sich nicht; das ist allerdings nicht meine Entscheidung. Eine solche Anfrage ist ungewöhnlich, aber ich gehe davon aus, dass sie genehmigt wird. Es könnte nur eine Weile dauern, alles zusammenzustellen. Wir versuchen selbstverständlich …« Er kam nicht weiter, denn es klopfte an der Tür. »Herein«, rief er, und die Tür öffnete sich. Im Türrahmen stand eine junge Polizistin mit einem Pappkarton im Arm. Ein schwarzer Computer ragte aus dem Karton heraus.

»Hier ist der Computer, den du haben wolltest«, sagte die junge Frau und trat ein. Sie stellte den Karton auf den Schreibtisch und holte ein Blatt in einer durchsichtigen Plastikhülle heraus. »Der Bildschirm ist unten am Empfang; er kommt direkt aus dem Archiv, da wir ihn nicht wirklich brauchten. Eigentlich war es völliger Blödsinn, ihn mitzunehmen«, sagte sie freimütig zu dem Polizisten. »Man sollte die Kollegen, die solche Wohnungsdurchsuchungen durchführen, vielleicht darauf hinweisen, dass auf dem Bildschirm abgelegte Dateien sich nicht wirklich auf dem Bildschirm befinden. Es liegt alles auf der Festplatte und kann auf jedem Bildschirm abgerufen werden.« Sie tippte leicht auf den Computer.

Der Polizeibeamte wirkte nicht sehr glücklich darüber, dass die junge Frau ihn vor Dóra und Matthias zurechtwies. »Danke für die Infos.« Er nahm ihr die Plastikhülle aus der Hand und zog das Blatt heraus. »Wenn Sie hier bitte den Empfang quittieren würden«, sagte er zu Matthias. »Die übrigen Unterlagen, die wir noch hatten, sind ebenfalls in dem Karton.«

»Um welche Unterlagen handelt es sich?«, fragte Dóra. »Warum sind sie nicht zusammen mit den anderen zurückgegeben worden?«

»Es waren Dokumente, die wir uns genauer anschauen wollten, ein ziemliches Sammelsurium. Daraus hat sich aber nichts ergeben. Ich bezweifele, dass Sie etwas damit anfangen können.« Er stand auf und gab damit zu erkennen, dass die Unterredung beendet sei.

Dóra und Matthias erhoben sich von ihren Stühlen und Matthias nahm den Karton, nachdem er den Empfang quittiert hatte.

»Vergesst den Bildschirm nicht«, sagte die Polizistin und lächelte Dóra zu. Dóra lächelte zurück und versicherte ihr, sie nähmen ihn mit.

Sie gingen zum Auto, Dóra mit dem Bildschirm im Arm und Matthias mit dem Karton. Dóra holte den Stapel mit den Unterlagen aus dem Karton, bevor sie sich auf den Beifahrersitz setzte.

»Matthias!«, sagte sie verwundert, »was zum Teufel ist das denn?«

16. KAPITEL

Dóra hielt ein rotbraunes Lederfutteral in der Hand, das sie mitten aus dem Stapel gezogen hatte. Es war auf der Rückseite mit einem Riemen zugebunden. Das Leder fühlte sich immer noch weich an, obwohl es schon älter sein musste. Wenn man dem Aufdruck Glauben schenken konnte, war es mindestens sechzig Jahre alt: »NHG 1947«. Der Inhalt interessierte Dóra jedoch mehr als das Futteral. »Was ist das bloß?«, fragte sie und schaute Matthias staunend an. Sie zeigte auf die alten, besser gesagt uralten Briefe, die zum Vorschein gekommen waren. Ihrem Aussehen und ihrer Schrift nach zu schließen mussten sie wesentlich älter sein als der Ledereinband.

Entsetzt betrachtete Matthias das Futteral. »War das in dem Stapel aus dem Karton?«

»Ja«, antwortete Dóra und durchblätterte mit spitzen Fingern flüchtig die obersten Briefe, um herauszufinden, wie viele es waren. Sie erschrak, als Matthias etwas Unverständliches hervorstieß und ihr das Futteral aus den Händen riss.

»Sind Sie verrückt geworden?«, japste er, schloss das Futteral und band hektisch den Riemen zu, was wegen des Steuerrads und des engen Fahrersitzes nicht ganz einfach war.

Dóra wusste nicht, wie ihr geschah. Schweigend verfolgte sie Matthias’ Bemühungen. Nachdem er das Futteral wieder ver­schlossen hatte, legte er es vorsichtig auf den Rücksitz, zog seine Winterjacke aus und bettete sie darüber, sodass nicht die feuchte Außenseite der Jacke, sondern ihr weiches Innenfutter auf dem Leder zu liegen kam. »Sollten wir nicht mal weiterfahren?«, fragte Dóra, um die Stille zu durchbrechen. Das Auto stand nur noch halb auf dem Parkplatz und ragte auf die Fahrbahn.

Matthias umfasste das Steuer mit beiden Händen und atmete tief aus. »Entschuldigen Sie die Aufregung. Ich hab einfach nicht damit gerechnet, diese Dokumente hier zu sehen, in einem unauffälligen Pappkarton von der Polizei.« Er lenkte den Wagen auf die Straße und fuhr los.

»Und was ist das, wenn ich fragen darf?«, sagte Dóra.

»Das sind uralte Briefe aus der Sammlung von Haralds Großvater, aus dem wertvolleren Teil der Sammlung. Die Briefe sind im Grunde unbezahlbar und es ist vollkommen unverantwortlich, dass Harald sie mit nach Island genommen hat. Die Ver­sicherung glaubt bestimmt, sie lägen wie vereinbart sicher im Banksafe.« Matthias verstellte den Rückspiegel, um das wertvolle Frachtgut im Auge behalten zu können. »Ein Adliger aus Innsbruck schrieb sie im Jahr 1485. In den Briefen geht es um Heinrich Kramers Feldzug gegen die Hexen in Innsbruck, noch bevor sich Hexenverfolgungen in späteren Jahren überall verbreiteten.«

»Wer war noch mal Heinrich Kramer?« Dóra wusste, dass sie den Namen kennen sollte, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern.

»Einer der Verfasser des Hexenhammers«, erklärte Matthias. »Er war Großinquisitor in den Gebieten, die heute größtenteils zu Deutschland gehören — ohne Frage eine absolut widerwärtige Person; er hatte es besonders auf Frauen abgesehen. Er jagte angebliche Hexen und war außerdem an der Verfolgung von Juden, Gotteslästerern und anderen Minderheiten, die sich als Opfer anbieten, beteiligt.«

Dóra erinnerte sich an die Zusammenfassung aus dem Internet. »Ach ja, genau.« Dann fügte sie überrascht hinzu: »Geht es in diesen Briefen um ihn?«

»Ja«, antwortete Matthias. »Er kam nach Innsbruck. Sah. Aber siegte nicht. Am Anfang lief alles gut für ihn — er rief einen Hexenprozess ins Leben, bei dem unermessliche Gewalt und Folter angewendet wurden. Die Angeklagten, siebenundfünfzig Frauen, bekamen keinen Rechtsbeistand. Als es zum Prozess kam, wurde dies missbilligt, sowohl von den anwesenden Kirchenoberhäuptern als auch von den weltlichen Herrschern. Kramer ging in seiner Beschreibung der sexuellen Handlungen dieser so genannten Hexen viel zu weit, sodass es dem Bischof zu viel wurde und er Kramer am Ende aus der Stadt verwies. Die Frauen, die er gefangen genommen hatte, wurden im Zuge dessen freigelassen, aber sie waren nach der andauernden Folter in erbärmlichem Zustand. Der Verfasser der Briefe beschreibt, wie mit seiner Frau umgegangen wurde. Wie man sich denken kann, ist das keine vergnügliche Lektüre.«

»An wen ging der Brief?«, fragte Dóra.

»Alle Briefe sind an den Bischof von Brixen, Georg II. Gosier gerichtet. Das war der Bischof, der Kramer am Ende aus der Stadt vertreiben ließ. Ich könnte mir vorstellen, dass die Briefe einen gewissen Einfluss darauf hatten.«

»Wie kam Haralds Großvater an die Briefe?«

Matthias zuckte die Achseln. »In den Nachkriegsjahren wurde in Deutschland einiges versteckt. Die Guntliebs hatten ihr Vermögen so angelegt, dass die Bank durch die Inflation der Reichsmark keinen Schaden erlitt, im Gegensatz zu vielen anderen, die nach dem Krieg ruiniert waren. Es ist keine gewöhnliche Bank — normale Leute legen dort kein Geld an und haben es auch nie getan. In vielerlei Hinsicht ist es Haralds Großvater zu verdanken, dass seine wichtigsten Geschäftspartner zu jener Zeit nicht Pleite gingen. Er merkte schnell, was passieren würde, und konnte daher viele Besitztümer in Sicherheit bringen, ohne dass jemand darauf aufmerksam wurde. Er war in einer recht guten Position und konnte sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten allerlei Dinge anschaffen.«

»Aber wer kann ihm diese Briefe verkauft haben? Briefe aus dem 15. Jahrhundert bewahrt man doch nicht für magere Jahre auf, um sie dann zu verscherbeln, wenn alles um einen herum zusammenbricht.«

Matthias machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe keine Ahnung. Diese Briefe sind nirgendwo verzeichnet und werden in keinen Quellen genannt — daher könnten sie auch gefälscht sein. Allerdings sehr gut gefälscht, wenn das stimmt. Haralds Großvater erzählte nicht viel von seinen Erwerbungen. Die Initialen auf dem Futteral sind seine — Niklas Harald Guntlieb — sie verweisen also nicht auf einen vorherigen Eigentümer. Ich vermute, die Briefe wurden der Kirche irgendwann gestohlen.« Matthias fuhr die Snorrabraut entlang und setzte den Blinker, um die Spur zu wechseln. Sie wollten zur Bergstaðastræti, denn sie waren sich einig, dass der Computer dort am besten aufgehoben sein würde. Sie mussten also gleich rechts abbiegen, befanden sich aber auf der linken Spur. Matthias bekam keine Chance — die anderen Autofahrer schienen sich in den Kopf gesetzt zu haben, Dóras und Matthias’ Routenplan um jeden Preis zu durchkreuzen und sie über die Brücke nach Fossvogur zu zwingen. »Was habt ihr denn alle?«, brummelte Matthias in Richtung der anderen Autofahrer.

»Wechseln Sie einfach die Spur«, sagte Dóra, die dieses Fahrverhalten kannte. »Denen ist ihr Auto wichtiger als unsere Fahrtrichtung.«

Matthias gab Gas und entkam nur knapp einem wild hupenden Auto, vor dem er eingeschert hatte. »Ich werde mich nie daran gewöhnen, hier Auto zu fahren«, sagte er bestürzt.

Dóra grinste nur. »Und was steht in den Briefen? Was ist mit der Frau passiert?«

»Sie wurde gefoltert«, antwortete Matthias. »Auf grausame Weise.«

»Ich nehme an, man kann nur auf grausame Weise gefoltert werden«, bemerkte Dóra, die eine genauere Beschreibung er­wartet hatte. »Was hat man denn mit ihr gemacht?«

»Der Verfasser des Briefes beschreibt verstümmelte Hände und einen Fuß, der von einem Eisenstiefel zerquetscht wurde. Außerdem hat man ihr beide Ohren abgeschnitten. Es gab bestimmt noch mehr, was er nicht zu Papier brachte. Wunden und Ähnliches.« Matthias blickte kurz von der Straße zu Dóra. »Ich erinnere mich an den Schlusssatz in einem der letzten Briefe; er lautete ungefähr so: Suchet ihr nach dem Bösen, so werdet ihr es nicht in der sterblichen Hülle meiner geliebten, jungen, unschuldigen Frau finden. Es wohnt denjenigen inne, die sie der Schuld bezichtigen.«

»Mein Gott«, stieß Dóra hervor und ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Sie erinnern sich aber verdammt gut daran.«

»Man vergisst den Inhalt dieser Briefe nicht so schnell«, entgegnete Matthias trocken. »Das ist natürlich nicht das Einzige, worum es geht. Der Mann hat alles Mögliche versucht, um sie freizubekommen, von juristischen Argumenten bis hin zu puren Drohungen. Er war verzweifelt und liebte seine Frau mehr als sein Leben. Sie muss wunderschön gewesen sein, wenn man seinen Worten glauben darf. Sie waren erst kurz verheiratet.«

»Durfte er sie im Gefängnis besuchen? Hat er diese Briefe geschrieben, während sie in Gefangenschaft war?«, fragte Dóra.

»Nein und ja«, sagte Matthias. »Nein — er durfte sie nicht besuchen, aber einer der Wächter hatte Mitleid mit ihr und überbrachte dem Ehemann ihre Botschaften — Botschaften, die den Briefen zufolge immer niedergeschlagener und hoffnungsloser wurden. Was Ihre zweite Frage betrifft: Alle Briefe außer einem wurden geschrieben, während sie in Gefangenschaft war und ihr Ehemann versuchte, ihre Freilassung zu bewirken. Alle außer dem letzten; den schrieb er, als sie wieder frei war. Allein dieser Brief beschreibt menschliche Schicksale, die man sich vor Augen halten sollte, wenn man mit eigenen Problemen konfrontiert ist.«

»Erzählen Sie«, sagte Dóra, ohne es wirklich hören zu wollen.

»Sie müssen bedenken, dass der damalige Stand der medizinischen Forschung nicht mit heute vergleichbar war, im Grunde war es nur ein Herumdoktern. Sie können sich bestimmt vorstellen, welche Qualen Kranke und Verletzte erleiden mussten, ganz zu schweigen von den seelischen Qualen einer jungen Frau, die bei jedermann beliebt war und für ihre Schönheit bewundert wurde. Als man sie freiließ, waren ihr Fuß und ihre Finger verstümmelt. Sie hatte keine Ohren mehr. Ihr Körper war mit Narben übersät, die man ihr durch Messerstiche zugefügt hatte, weil man nach Stellen suchte, die nicht bluteten. Aus dem Brief lässt sich noch Weiteres herauslesen, wird aber nicht genau beschrieben. Was würden Sie tun?« Matthias blickte Dóra erneut an.

»Hatte sie Kinder?«, fragte Dóra. Instinktiv führte sie ihre rechte Hand zu ihrem Ohr — sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie wichtig Ohren für das Aussehen waren.

»Nein«, antwortete Matthias.

»Dann hat sie sich umgebracht«, sagte Dóra, ohne zu überlegen. »Endlose Qualen und Schmerzen kann man für seine Kinder ertragen, sonst nicht.«

»Bingo«, sagte Matthias. »Sie lebten auf einem Gutshof an einem kleinen Fluss und sie humpelte an dem Abend, an dem sie nach Hause gekommen war, dorthin und ging ins Wasser. Wenn sie in besserer Verfassung gewesen wäre, hätte sie schwimmen und sich retten können, aber in einem schweren Kleid, wie es damals Mode war, mit verstümmeltem Fuß und verstümmelten Händen dauerte es nicht lange.«

»Was hat ihr Mann daraufhin getan? Steht davon etwas in dem Brief?«, fragte Dóra und verdrängte den Gedanken an die junge Frau.

»Ja, allerdings. Er hat dem Inquisitor Kramer das Teuerste im Leben genommen, so wie dieser ihm das Teuerste im Leben nahm — und das befände sich nun auf dem langen Weg zur Hölle«, erklärte Matthias. »Aus der Beschreibung ist nicht ersichtlich, wer diesen Racheakt ausgeführt oder wo er stattgefunden hat, geschweige denn, was die Hölle damit zu tun hat. Historische Quellen geben keine näheren Hinweise. Im Folgenden teilte der Ehemann dem Bischof mit, er möge ruhig schlafen — er schreibt, der Bischof habe auf sein Gesuch nicht rechtzeitig reagiert, aber Gott richte am Ende über seine Diener. Dann zitiert er etwas aus dem Alten Testament — darin ist, wie Sie wissen, nicht von Vergebung die Rede. Ich kann es nicht genau erklären, aber in seinen Schlussworten lag eine Art Drohung, von der ich nicht weiß, ob er sie wahr gemacht hat — der Bischof starb ein paar Jahre später. Könnte gut sein, dass der Bischof die Briefe loswerden und sie nicht zusammen mit anderen kirchlichen Dokumenten aufbewahren wollte.«

»Diese Erklärung ist aber ziemlich heikel«, sagte Dóra. »Wenn er die Briefe loswerden wollte — warum hat er sie dann nicht verbrannt?«

Matthias konzentrierte sich darauf, einen Parkplatz direkt vor Haralds Wohnung zu finden. »Ich weiß nicht. Vielleicht sah er den heiligen Petrus und Gott vor sich und wollte keine Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Briefe lenken, indem er sie verbrannte — Rauch steigt zum Himmel auf, wissen Sie.«

»Sie glauben also, die Briefe sind echt?«, fragte Dóra.

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Es gibt gewisse unlogische Stellen.«

»Zum Beispiel?«

»In erster Linie die Bezugnahme auf das so genannte abscheuliche Buch Kramers. Der Verfasser der Briefe schreibt, es sei verziert und ausgeschmückt gewesen, was aber den teuflischen Ursprung seines Inhalts nicht habe verhehlen können.«

»Könnte er denn nicht den Hexenhammer gemeint haben?«

»Das passt nicht zusammen«, entgegnete Matthias. »Historische Quellen besagen, dass diese hübsche Lektüre erst ein Jahr später herausgegeben wurde, 1486.«

»Wurde denn das Alter von Papier und Tinte der Briefe bestimmt?«, fragte Dóra.

»Ja, das stimmt ungefähr, aber das hat nicht viel zu sagen. Fälscher verwenden altes Papier und alte Tinte oder Farbe, um Forscher zu täuschen.«

»Alte Tinte?«, fragte Dóra zweifelnd.

»Ja, so in etwa. Sie stellen Tinte aus alten Materialien her oder lösen Tinte anderer alter Dokumente, die nicht so wertvoll sind, auf. Damit erzielen sie denselben Effekt.«

»Unglaublich umständlich«, kommentierte Dóra und dankte dem lieben Gott dafür, keine Fälscherin geworden zu sein.

»Hm«, stimmte Matthias zu und sie stiegen aus dem Auto.

»Aber warum hat Harald die Briefe mit nach Island genommen?«, fragte sie. »Hielt er sie für echt oder gefälscht?«

Matthias schlug die Fahrertür zu und öffnete die Hintertür. Er wickelte das Futteral in seine Jacke und legte sie vorsichtig auf den Karton. Dann bückte er sich und hob den Karton heraus. Falls ihm im Pullover kalt war, ließ er sich das nicht anmerken.

»Harald war von ihrer Echtheit überzeugt — ihn faszinierte das Geheimnis, wen oder was Kramer durch die in dem Brief angekündigte Rache verlor. Harald hat alle möglichen Dokumente in ganz Deutschland verzweifelt nach Hinweisen durchforstet und sogar die Bibliothek im Vatikan besucht. Aber er hat nichts gefunden, was ihm weitergeholfen hätte. Über Kramer ist nur wenig bekannt, er lebte schließlich vor über fünfhundert Jahren.«

Dóra entdeckte im Schnee Fußspuren, die um die Hausecke herumführten und auf die Eingangstür von Haralds Wohnung zuliefen. Mit dem Kinn deutete sie auf die frischen Spuren — sie führten nur in eine Richtung, konnten also nicht vom Postboten oder vom Zeitungsausträger stammen.

Der Mann stand ein Stück von der Eingangstür entfernt. Er war zurückgetreten, um zum Fenster in der oberen Etage hinaufzuschauen. Als Matthias und Dóra lautlos um die Ecke bogen, zuckte er zusammen. Er schaute sie mit offenem Mund an und stammelte etwas Unverständliches, bis er endlich die richtigen Worte gefunden hatte. »Kanntet ihr Harald Guntlieb?«

17. KAPITEL

»Seid gegrüßt. Ich heiße Gunnar Gestvík, Leiter der Historischen Fakultät der Universität Islands.«

Der Mann trat unsicher von einem Bein aufs andere. Er war gut gekleidet und trug eine schicke Winterjacke mit einem Markennamen, den Dóra aus dem Kleiderschrank ihres Ex-Mannes kannte, darunter einen Anzug, aus dessen Halsausschnitt ein sorgfältig gebundener Krawattenknoten und ein hellblauer Hemdkragen hervorlugten. Seine ganze Erscheinung ließ darauf schließen, dass es sich um einen seriösen Menschen mit einem guten Job handelte. Allerdings war seine Seriosität im Moment schwer in Mitleidenschaft gezogen. Dieser Gunnar hatte ganz offensichtlich nicht damit gerechnet, jemandem zu begegnen, und versuchte verzweifelt, sich unauffällig zu verhalten. Dóra wusste sofort, dass dies der Mann war, der Haralds Leiche gefunden hatte, oder besser gesagt, dem sie in die Arme gefallen war. Es war ihr ein Rätsel, was er im Haus seines ehemaligen Studenten zu suchen hatte. Vielleicht gehörte das zur Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses und sein Psychotherapeut hatte ihm dazu geraten.

»Ich war gerade zufällig in der Nähe und wollte nachsehen, ob jemand zu Hause ist«, erklärte Gunnar zögernd.

»Hier? In Haralds Wohnung?«, fragte Dóra verwundert.

»Selbstverständlich habe ich nicht damit gerechnet, ihn persönlich anzutreffen«, beeilte sich Gunnar klarzustellen. »Ich meine, es könnte ja jemand da sein, der Hausmeister oder so.«

Matthias verstand kein Wort und überließ Dóra die Gesprächsführung. Er hatte den Namen des Mannes sofort erkannt. Er schlüpfte an Dóra vorbei und gab ihr mit allen möglichen Zeichen zu verstehen, sie solle den Mann hineinbitten. Dann kramte er die Schlüssel aus seiner Tasche und schloss die Eingangstür auf.

Gunnar beobachtete Matthias dabei und wirkte ganz aufgeregt. »Habt ihr Zugang zu der Wohnung?«, fragte er Dóra.

»Ja, Matthias arbeitet für Haralds Familie und ich bin ebenfalls deren Bevollmächtigte. Wir haben heute bei der Polizei ein paar von Haralds Sachen abgeholt und möchten sie zurückbringen. Darf ich dich hineinbitten? Wäre schön, wenn wir uns kurz mit dir unterhalten könnten.«

Gunnar war sehr bemüht, seine Freude zu überspielen. Er nahm dankend an, schaute aber erst auf seine Armbanduhr und tat so, als rechne er aus, ob er genug Zeit habe. Dann folgte er Dóra ins Haus. Trotz seiner feinen Aufmachung schien er kein großer Kavalier zu sein — zumindest bot er ihr keine Hilfe beim Schleppen des schweren Bildschirms in den ersten Stock an.

Gunnar reagierte ähnlich wie Dóra, als sie die Wohnung zum ersten Mal betreten hatte. Er kam noch nicht mal dazu, seine Jacke aufzuhängen, sondern ging wie hypnotisiert ins Wohnzimmer und begutachtete die Gegenstände an den Wänden. Matthias und Dóra ließen sich Zeit und stellten die schweren Lasten ab. Matthias holte das Lederfutteral mit den alten Briefen aus dem Karton, wickelte es aus der Jacke und ging damit in Richtung Schlafzimmer. Dóra blieb zurück, um Gunnar im Auge zu behalten.

»Eine bemerkenswerte Gemäldesammlung«, stellte Dóra fest. Sie rief sich ins Gedächtnis, was Matthias ihr über die Bilder erzählt hatte, traute sich aber nicht zu, es richtig wiederzugeben. Daher beschloss sie, lieber nicht mit ihrem Wissen zu prahlen.

»Woher hatte er diese Bilder?«, fragte Gunnar. »Hat er sie gestohlen?«

Dóra war sprachlos. Wie kam der Mann auf diese Idee? »Nein. Er hat sie von seinem Großvater geerbt.« Sie zögerte, sprach dann aber weiter. »Hast du dich mit Harald nicht gut verstanden?«

Gunnar zuckte zusammen. »Nein, guter Gott. Ich habe mich ausgezeichnet mit ihm verstanden.« Seine Stimme klang nicht sehr überzeugend, was Gunnar wohl bemerkt hatte. Augenblicklich versuchte er, diesen Eindruck zu widerlegen. »Harald war ein außerordentlich begabter junger Mann und hat in seinem Geschichtsstudium gute Leistungen gezeigt. Seine Arbeitsweise war absolut vorbildlich, was heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich ist.«

Dóra war immer noch nicht überzeugt. »Er war also ein vorbildlicher Student?«

Gunnar lächelte gezwungen. »Das könnte man sagen. Sein Äußeres und sein Verhalten waren natürlich ungewöhnlich, aber man sollte die Mode der jungen Leute nicht verurteilen. Ich kann mich gut an die Beatles und die von ihnen ausgelöste Modewelle erinnern. Die Älteren waren damals davon auch nicht besonders angetan. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass jugendlicher Leichtsinn alle möglichen Formen annehmen kann.«

Es war wirklich weit hergeholt, Harald mit den Beatles zu vergleichen. »So habe ich das nicht gemeint.« Dóra schenkte Gunnar ein wohlwollendes Lächeln. »Ich kannte ihn natürlich nicht.«

»Du sagtest, du bist Rechtsanwältin; womit hat Haralds Familie dich denn beauftragt? Geht es um Erbschaftsangelegen­heiten? Das, was hier an der Wand hängt, ist ziemlich wertvoll.«

»Nein, damit hat es nichts tun«, erklärte Dóra. »Wir gehen noch einmal die Mordermittlungen durch — die Familie ist mit der polizeilichen Schlussfolgerung nicht einverstanden.«

Gunnar starrte sie mit großen Augen an. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Was meinst du damit? Hat man den Schuldigen denn nicht gefunden — diesen Drogendealer?«

Dóra zuckte die Achseln. »Unserer Meinung nach weist einiges darauf hin, dass er nicht der Mörder ist.« Gunnar schien aus unerfindlichen Gründen nicht besonders froh zu sein, diese Neuigkeit zu hören. Sie fügte hinzu: »Es wird sich alles herausstellen. Vielleicht haben wir Unrecht — vielleicht auch nicht.«

»Es geht mich vielleicht nichts an, aber was deutet denn auf die Unschuld des Mannes hin? Die Polizei scheint überzeugt zu sein, den richtigen Mann verhaftet zu haben; wisst ihr etwas, das der Polizei nicht bekannt ist?«

»Wir verheimlichen der Polizei nichts, falls du das meinst«, sagte Dóra scharf. »Wir sind nur in einigen schwerwiegenden Punkten nicht mit ihren Ermittlungsergebnissen einverstanden.«

Gunnar schnappte nach Luft. »Entschuldige meine Voreiligkeit; ich bin nicht ganz bei mir selbst, was diese Sache betrifft. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, es wäre bald vorüber. Das Ganze ist wirklich schwer für mich und wirft außerdem ein schlechtes Licht auf die Fakultät.«

»Das verstehe ich«, sagte Dóra. »Aber selbst wenn ein schlechtes Licht auf die Fakultät fällt, ist das kein Grund, den falschen Mann zu verurteilen, nicht wahr?«

Gunnar fasste sich wieder und sagte schnell: »Nein, nein, nein. Natürlich nicht. Man denkt manchmal zu sehr an seine eigenen Probleme, aber das hat selbstverständlich seine Grenzen; versteh mich bitte nicht falsch.«

»Warum bist du eigentlich hergekommen?«, fragte Dóra. Sie überlegte, womit sich Matthias wohl so lange beschäftigte.

Gunnar richtete seinen Blick von Dóra auf eines der Gemälde. »Ich habe gehofft, mit jemandem in Kontakt treten zu können, der sich um Haralds Belange kümmert.«

»Wozu?«

»Kurz bevor Harald ermordet wurde, hat er … wie soll ich es ausdrücken … tja, ein Dokument von der Universität ausgeliehen, das er nicht zurückgegeben hat. Ich suche danach.« Gunnar wendete seinen Blick nicht von dem Bild ab.

»Um was für ein Dokument handelt es sich?«, fragte Dóra. »Hier findet sich so einiges.«

»Es ist ein alter Brief an den Bischof von Roskilde von etwa 1500. Er wurde in Dänemark ausgeliehen und es ist sehr wichtig, dass er nicht verschwindet.«

»Das klingt ziemlich ernst«, stellte Dóra fest. »Warum hast du dein Anliegen nicht der Polizei mitgeteilt? Sie hätte den Brief bestimmt gefunden.«

»Es hat sich gerade erst herausgestellt — ich hatte noch keine Ahnung davon, als ich verhört wurde; sonst hätte ich sie darum gebeten, mir das Dokument auszuhändigen. Die Polizei wollte ich mit der Sache nicht belästigen und hatte gehofft, das Problem auf einfacherem Wege lösen zu können. Ich habe wirklich keine große Lust, schon wieder eine Aussage zu machen. Das ist eine Lebenserfahrung, von der ich erst mal genug habe. Dieses Dokument steht überhaupt nicht mit dem Mord in Verbindung, das kann ich versichern.«

»Vielleicht nicht«, sagte Dóra. »Ich bin leider bisher nicht darauf gestoßen. Wir haben allerdings noch nicht alle Unterlagen von Harald durchgeschaut. Gut möglich, dass der Brief auftaucht.«

Matthias kam mit irgendwelchen Papieren in der Hand ins Zimmer geeilt und setzte sich auf das schicke Sofa. Er bat Dóra und Gunnar mit einer Handbewegung zu sich. Dóra machte es sich im Sessel bequem, während Gunnar auf dem Sofa gegenüber von Matthias Platz nahm. Dóra erläuterte Matthias Gunnars Anliegen. Dieser ging nicht näher darauf ein, sondern fragte nur: »Sie haben Haralds Forschungen betreut oder habe ich das falsch verstanden?«

»Nein und ja, kann man sagen«, antwortete Gunnar bedächtig.

»So?«, sagte Matthias brüsk. »Wird bei der Abschlussarbeit nicht festgelegt, wer sich um welche Studenten kümmert?«

»Doch, doch. Natürlich«, beeilte sich Gunnar zu sagen. »Harald war nur noch nicht so weit vorangekommen, dass er einen Fakultätsbevollmächtigten gebraucht hätte. Das meinte ich damit. þórbjörn Ólafsson hat Haralds Arbeit betreut. Ich habe die Sache nur oberflächlich verfolgt, wenn man so sagen darf.«

»Verstehe. Er hatte aber vermutlich bereits einen Entwurf oder ein Konzept für das Thema eingereicht, oder?«

»Ja. Er hatte ein Exposé abgegeben — wenn mich nicht alles täuscht, war das zu Beginn seines ersten Semesters an unserer Fakultät. Wir haben das Thema begutachtet und es im Großen und Ganzen anerkannt. Das Thema fiel in þórbjörns Gebiet.«

»Worum ging es in der Arbeit?«, fragte Dóra.

»Um einen Vergleich der Hexenverbrennungen in Island und im übrigen Europa, vor allem in den Gebieten, die zum heutigen Deutschland gehören. Dort gab es die heftigsten Auseinandersetzungen, wenn ich so sagen darf. Harald hatte schon vorher verwandte Themenbereiche behandelt — im Zusammenhang mit seiner Magisterarbeit in Geschichte an der Universität München.«

Matthias nickte nachdenklich. »Habe ich das richtig verstanden, dass Hexenverbrennungen in Island erst im 17. Jahrhundert stattfanden?«

»Ja. Quellen berichten auch von Leuten, die schon vor dieser Zeit der Hexerei bezichtigt wurden, aber die eigentliche Hexenverfolgung begann erst im 17. Jahrhundert. Die erste Verbren­nung, von der wir wissen, fand im Jahr 1625 statt.«

»Ja, das dachte ich mir«, sagte Matthias und wirkte irritiert. Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus. »Es gibt merkwürdigerweise nur sehr wenig über isländische Hexenverbrennungen in Haralds Unterlagen und ich verstehe nicht, warum er sich so stark für Ereignisse interessierte, die viel früher stattfanden. Möglicherweise können Sie mich aufklären und einen historischen Zusammenhang herstellen, der uns verborgen ist.«

»Welche Ereignisse meinen Sie?«, fragte Gunnar und beugte sich über die Papiere, die aus ausgedruckten und kopierten Aufsätzen bestanden.

Während Gunnar die Aufsätze beäugte, zählte Matthias auf: »Ausbruch der Hekla im Jahr 1510, Epidemie in Dänemark um die Jahrhundertwende 1500, Reformation im Jahr 1550, Höhlen der Papar seit der Besiedelung des Landes und so weiter. Ich für meinen Teil sehe keinen direkten Zusammenhang, aber ich bin ja auch kein Historiker.«

Gunnar blätterte weiter in den Papieren. Schließlich ergriff er das Wort. »Dies steht wirklich nicht alles in direktem Zusammenhang mit Haralds Arbeit. Er könnte sich diese Aufsätze auch für andere Seminare beschafft haben, an denen er teilnahm. Die Landnahme ist mein Fachgebiet und ich muss gestehen, dass Harald mein Seminar nicht besucht hat, was eine Erklärung für diesen Artikel über die Papar gewesen wäre. Trotzdem glaube ich, diese Unterlagen stammen aus Kursen, in die er sich parallel zu seiner Abschlussarbeit eingeschrieben hatte.«

Matthias schaute Gunnar durchdringend an. »Nein, so einfach ist es nicht. Die meisten dieser Aufsätze befanden sich in einem Ordner mit der Aufschrift Malleus — Ihnen ist der Name vermutlich bekannt.« Matthias zeigte auf die Löcher an den Seitenrändern. »Ich glaube, er hat sie im Zusammenhang mit Forschungen auf dem Gebiet der Hexerei gesammelt.«

»Ja, ich kenne den Begriff — könnte er die Aufsätze nicht einfach in einen alten Ordner geheftet haben, ohne die Aufschrift zu ändern?«, fragte Gunnar.

»Gut möglich«, entgegnete Matthias. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht so war.«

Gunnar schaute wieder auf den Papierstapel. »Das ist zugegebenermaßen nicht so einfach. Das Einzige, was mir auf Anhieb auffällt, ist die Verbindung zur Reformation — sie ging der Inquisition auf gewisse Weise voraus, so wie im übrigen Europa auch. Die Religion veränderte sich und viele Menschen wurden durch diese Entwicklung von einer Glaubenskrise erfasst. Was den Ausbruch der Hekla und die Epidemie angeht, könnte Harald die Verbindung zwischen der Inquisition und den wirtschaftlichen Verhältnissen untersucht haben. Naturkatastrophen und Krankheiten hatten zu jener Zeit einen immensen Einfluss. Obwohl andere Vulkanausbrüche, beispielsweise der Heklaausbruch von 1663, und andere Seuchen, die zeitlich näher an den Hexenverbrennungen liegen, sich für eine genauere Untersuchung besser geeignet hätten.« Er tippte leicht auf den Stapel.

»Er hat also nicht mit Ihnen oder mit diesem þórbjörn darüber geredet, als Sie sich wegen der Abschlussarbeit getroffen haben?«, fragte Dóra.

»Nein, mit mir nicht. þórbjörn erwähnte so etwas nach seinem Treffen mit Harald auch nicht«, antwortete Gunnar, fügte dann aber hinzu: »Wie ich schon sagte, befand sich Haralds Abschlussthema noch im Entwicklungsstadium. Seine Interessen schienen in unterschiedliche Richtungen zu gehen. Er gab þórbjörn sogar zu verstehen, dass er sich mehr für den Einfluss der Reformation als für Hexenverbrennungen interessierte. Als er ermordet wurde, hatte er sein Thema aber noch nicht geändert.«

»Ist das üblich?«, fragte Dóra. »Seine Forschungsthemen derart zu ändern?«

Gunnar nickte. »Ja, das ist weit verbreitet. Man fängt voller Eifer an, merkt dann, dass das Thema gar nicht so spannend ist, wie man zunächst gedacht hat, und beginnt nach neuen Themenbereichen zu suchen. Wir haben sogar eine lange Liste mit interessanten Forschungsthemen, die wir unseren Studenten zur Auswahl vorlegen, wenn sie keine eigenen Vorschläge haben.«

»In Anbetracht von Haralds Interesse an Hexerei im Allgemeinen«, sagte Matthias und zeigte auf die sie umgebenden Wände, »ein Interesse, das ihn schon seit jungen Jahren begleitet, finde ich es fragwürdig, dass er auf einmal von der Reformation fasziniert gewesen sein soll.«

»Harald war katholisch, wie Ihnen zweifellos bekannt ist«, erklärte Gunnar. Dóra und Matthias nickten artig. »Ihn faszinierte nicht zuletzt die Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung hier im Land um 1550 nach der Einführung des Luthertums, vor allem bei den Ärmsten. Die katholische Kirche hatte all ihre Besitztümer im Land gehalten, aber mit der Reformation gingen die Ländereien der Kirche an den dänischen König über und das Land verarmte. Zudem hatte die katholische Kirche Almosen an die Ärmsten verteilt. Nach der Aufnahme des Luthertums wurden sie gestrichen. Harald fand das bemerkenswert, da die katholische Kirche selten in einem solchem Licht gesehen wird. Es hat ihn auch geradezu völlig begeistert, dass es katholischen Geistlichen und Bischöfen in Island gestattet war, Gefährtinnen und Kinder zu haben — was in anderen katholischen Bischofssitzen in Europa bis heute nicht geduldet wird.«

Matthias wirkte nicht überzeugt. »Hm, vielleicht. Ist es möglich, dass die Treffen mit diesem þórbjörn nicht besonders effektiv waren? Harald forschte nach etwas, wovon þórbjörn und vermutlich auch Sie gar nichts wussten?«

»Darüber weiß ich nichts, wie gesagt«, antwortete Gunnar. »Ich hatte damals zumindest nicht den Eindruck. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Selbstverständlich konnte er alle möglichen Dinge ohne mein Wissen bearbeiten; Studenten im Masterstudiengang arbeiten ja sehr eigenständig. Ich empfehle Ihnen allerdings, mit þórbjörn zu sprechen, wenn Sie Näheres darüber in Erfahrung bringen möchten. Ich kann an einem Treffen teilnehmen, wenn Sie wollen.«

Matthias warf Dóra einen Blick zu. Sie nickte zustimmend. »Ja, danke, das nehmen wir gern an«, sagte Matthias. »Wenn Sie wissen, wann þórbjörn Zeit hat, rufen Sie mich bitte an. Auch, wenn Ihnen selbst etwas einfällt, das wichtig für uns sein könnte.« Er überreichte Gunnar seine Visitenkarte.

Dóra angelte ebenfalls eine Karte aus ihrer Handtasche und gab sie Gunnar. »Wir kümmern uns darum, ob sich der Brief, den Sie suchen, unter den Dokumenten befindet.«

»Das wäre mir sehr wichtig — die Sache ist ziemlich unangenehm für die Universität und ich würde den Brief ungern als verschwunden deklarieren. Leider habe ich keine Visitenkarte dabei, aber Sie erreichen mich meistens unter meiner direkten Durchwahl im Büro.« Er erhob sich.

»Was Haralds Kommilitonen anbelangt«, sagte Matthias, »können Sie uns mit ihnen zusammenbringen? Wir würden gern mit den Personen sprechen, die ihn am besten kannten. Wir haben heute Morgen versucht, einige von ihnen zu kontaktieren, aber sie wollten nicht mit uns reden.«

»Sie meinen bestimmt die jungen Leute, die mit ihm in diesem Verein waren«, entgegnete Gunnar. »Ja, das sollte möglich sein. Der Verein nutzt einen Raum in der Universität, daher begegne ich ihnen ab und zu. Ich hatte eigentlich gehofft, der Verein würde nach Haralds Tod aufgelöst. Er macht der Universität meiner Meinung nach keine große Ehre. Allerdings habe ich nicht das alleinige Sagen und kann an diesem Entschluss bedauerlicherweise nichts ändern. Ich kann ein Treffen mit den beiden Studenten meiner Fakultät, die in dem Verein sind, arrangieren.«

»Dafür wären wir Ihnen sehr dankbar.« Dóra lächelte ihm zu. »Warum halten Sie den Verein für untragbar?«

Gunnar schien über eine Antwort nachzugrübeln. »Vor ungefähr einem halben Jahr ist … etwas passiert. Ich war und bin davon überzeugt, dass dieser Verein damit zu tun hatte, konnte es aber nie beweisen. Leider.«

»Was ist geschehen?«, fragte Matthias.

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt darüber reden sollte«, sagte Gunnar, der seine Offenheit schon wieder bedauerte. »Es wurde damals totgeschwiegen und drang nicht an die Öffentlichkeit.«

»Was?«, fragten Matthias und Dóra gleichzeitig.

Gunnar wand sich unschlüssig. »Wir haben einen Finger gefunden.«

»Einen Finger?« Wieder kam die Frage von beiden gleichzeitig, diesmal mit einem sehr erstaunten Tonfall.

»Ja, eine der Putzfrauen hat einen Finger vor dem Vereinsraum gefunden. Ich habe immer noch den Schrei der armen Frau im Ohr. Der Finger wurde zur Untersuchung ins Pathologische Institut der Universität geschickt und es stellte sich heraus, dass er einer älteren Person gehörte — das Geschlecht wurde nicht genau bestimmt, aber wahrscheinlich handelte es sich um einen Mann. Das Gewebe des Fingers war abgestorben.«

»Und die Polizei wurde nicht darüber informiert?«, fragte Dóra entsetzt.

Gunnar wurde rot. »Ich wünschte, ich könnte Ihre Frage bejahen, aber nachdem wir den Finger in unserem Gebäude gefunden hatten und seiner Herkunft auf eigene Faust nachgegangen waren, hielten wir es für unangemessen, den Fund bekannt zu geben. Es war schon so viel Zeit vergangen, verstehen Sie. Außerdem waren Semesterferien und so weiter.«

Dóra fand die Semesterferien in diesem Zusammenhang eher unbedeutend. Man konnte wahrscheinlich froh sein, dass sich beim Fund von Haralds Leiche niemand im Mutterschaftsurlaub befunden hatte. Und die Historische Fakultät nicht beschlossen hatte, den Mordfall selbst zu untersuchen. »Aha.«

»Was haben Sie denn dann mit dem Finger gemacht?«, fragte Matthias.

»Ähm, wir, äh, haben ihn weggeschmissen«, nuschelte Gunnar. Die Röte stieg ihm die Wangen hinauf bis in die Haarwur­zeln. »Das hatte mit Sicherheit nichts mit dem Mord zu tun. Es gibt überhaupt keinen Grund, diesen peinlichen Vorfall der Polizei zu melden. Die haben andere Sorgen.«

»Aha«, wiederholte Dóra. Finger, Augen, abgeschnittene Ohren — was kam als Nächstes?

18. KAPITEL

Dóra reckte sich und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hatte gerade das letzte Kabel in den Computer gesteckt. Sie war mit Matthias in Haralds Arbeitszimmer gegangen, nachdem sie den unergründlichen Gunnar Gestvík verabschiedet hatten. »Ich muss gestehen, Ihre Theorie über den unbekannten Mörder kommt mir immer abwegiger vor.« Dóra schaltete den Computer ein und sogleich erklang ein summender Ton, der die Bereitschaft des Geräts signalisierte. »Zum Beispiel das Blut auf Hugis Kleidung; wie passt das in Ihre Theorie?« Da Matthias nicht reagierte, redete sie weiter. »Und das mit den Aufsätzen vorhin — ich sehe wirklich keinen Zusammenhang zwischen dem Mord und der Abschlussarbeit, zumal sich Harald bei seinen Quellenstudien offensichtlich verzettelt hat.«

»Ich bin mir meiner Sache sicher«, sagte Matthias, ohne Dóra direkt ins Gesicht zu schauen.

Etwas an seinem Verhalten irritierte sie. Es sah ihm nicht ähnlich, ihrem Blick auszuweichen. Außerdem starrte er auf das Display seines Handys, als hoffte er, jemand möge ihn anrufen und von dieser Unterredung erlösen. Dóra verschränkte die Arme und kniff die Augen zusammen. »Sie verheimlichen mir etwas.«

Matthias starrte immer noch erwartungsvoll sein Handy an. »Tja, ich will ja auch hoffen, dass ich noch nicht all meine Geheimnisse preisgegeben habe, wo wir uns erst so kurz kennen«, sagte er mit gespielter Heiterkeit in der Stimme.

»Blödsinn. Sie wissen genau, was ich meine. Es gibt noch andere Gründe als das verschwundene Geld und die Augen. Im Grunde hat sich noch nichts getan — außer einer E-Mail, die eigentlich nichts besagt, und jetzt ein Finger in der Uni, der die Professoren so durcheinandergebracht hat, dass sie ihn in völliger Panik weggeworfen haben.«

Matthias steckte das Handy in seine Tasche. »Angenommen, ich verheimliche Ihnen etwas — wenn ich Ihnen verspreche, dass Hugi nicht der Mörder oder zumindest nicht der alleinige Mörder sein kann, glauben Sie mir das?«

Dóra lachte laut auf. »Nein. Eigentlich nicht.«

Matthias erhob sich. »Schade. Ehrlich gesagt, ich kann Entscheidungen über bestimmte Hintergrundinformationen nicht allein treffen«, erklärte er und fügte dann rasch hinzu: »Das heißt, falls weitere Informationen existieren.«

»Angenommen, es wäre so — und angenommen, derjenige, der in der Lage ist, diese Entscheidung zu treffen, würde mich ein­beziehen wollen — wäre es dann nicht vielleicht sinnvoll, ihn einfach mal zu fragen?«

Matthias schaute Dóra nachdenklich an und verließ dann das Zimmer. Dóra sah, dass er schon wieder sein Handy in der Hand hielt. Hoffentlich war er hinausgegangen, um zu telefonieren. Sie spitzte die Ohren und hörte eine undeutliche Stimme aus dem Flur. Dóra gab das Lauschen auf und wendete sich stattdessen dem Computer zu. Ein kleiner, grauer Kasten in der Bild­schirmmitte forderte sie auf, ein Passwort einzugeben. Dóra musste raten: Harald, Malleus, Windows, Hexen und so weiter. Nichts funktionierte. Sie lehnte sich zurück und schaute sich in der Hoffnung auf irgendeine Eingebung im Zimmer um. Dann griff sie nach einem gerahmten Foto, das in dem Regal über dem Schreibtisch stand. Es war das Foto einer behinderten jungen Frau im Rollstuhl. Man musste kein Detektiv sein, um sofort zu erkennen, dass es sich um Haralds vor einigen Jahren verstorbene Schwester handelte. Wie hieß sie noch gleich? Anna? Nein, aber es war ein Name mit A. Nicht Agathe und nicht Angelika. Amelia — sie hieß Amelia Guntlieb. Dóra tippte den Namen ein. Nichts passierte. Sie seufzte und versuchte dann noch einmal dasselbe mit Kleinbuchstaben, ohne das große A am Anfang — amelia.

Bingo! Der Computer gab den Windows-Ton »du-du-duduuuu« von sich und Dóra war drin. Sie überlegte, wie lange die Polizei wohl an dem Passwort herumgerätselt hatte, rief sich dann aber ins Bewusstsein, dass es dort irgendeinen Computerfreak geben musste, der durch die Hintertür hineingelangt sein dürfte. Die Beamten würden wohl kaum stundenlang dasitzen und ein Wort nach dem anderen ausprobieren. Das Bildschirmmotiv war eher ungewöhnlich und Dóra brauchte eine Weile, bis sie es erkannte. Man blickte schließlich nicht jeden Tag auf einem siebzehn Zoll großen Bildschirm in eine Mundhöhle. Geschweige denn in eine Mundhöhle, in der die Zunge an beiden Seiten mit Zangen aus rostfreiem Stahl festgeklemmt war. In der Mitte der Zungenspitze, oder besser gesagt der Zungenspitzen, war ein feuerroter Schlitz. Obwohl Dóra in diesen Dingen nicht sehr bewandert war, wusste sie, dass die Aufnahme bei der Spaltung der Zunge gemacht worden war. Entweder war die Operation noch im Gange oder gerade fertig. Dóra hätte um alles gewettet, wer der Eigentümer der Zunge war. Es musste Harald persönlich sein. Sie schüttelte sich vor Ekel.

Im Computer befanden sich ungefähr vierhundert Schriftdateien. Dóra sortierte sie chronologisch, sodass die jüngsten zuerst erschienen. Die Dateibezeichnungen sprachen für sich. Zuoberst reihten sich Dateien aneinander, deren Namen alle das Wort Hexen enthielten. Da es schon spät war, holte Dóra ihre Handtasche und kramte ihren USB-Stick heraus. Dann kopierte sie alle Hexendateien darauf, um sie sich in aller Ruhe abends zu Hause ansehen zu können — vorausgesetzt, Matthias vertraute ihr den Grund an, den die Guntliebs ihr bis jetzt verschwiegen hatten. Ansonsten müsste sie am Abend mal ausrechnen, ob sie es sich leisten könnte, die Guntliebs zur Hölle zu wünschen. Sie hatte keinerlei Interesse daran, als eine Art Luxusdienstmädchen zu fungieren.

Matthias war immer noch verschwunden. Dóra beschloss, einen Blick auf die heruntergeladenen Dateien auf der Festplatte zu werfen. Sie bat den kleinen Hund im Suchprogramm, alle Dateien mit dem Kürzel pdf zu suchen und bekam zur Belohnung etwa sechzig Dateien. Diese sortierte sie chronologisch und kopierte die neuesten auf ihren USB-Stick. Heute Abend hatte sie jedenfalls genug zu tun. Als Nächstes kam Dóra auf die Idee, die Fotos auf der Festplatte durchzusehen. Harald hatte offenbar eine Digitalkamera besessen und sie fleißig benutzt. Sie öffnete den Fotoordner im Ansichtsmodus, um sich einen Eindruck von dessen Inhalt zu verschaffen. Wieder sortierte sie die Dateien chronologisch. Die jüngsten Fotos waren in der Wohnung gemacht worden. Die Motive waren etwas merkwürdig — die meisten zeigten das Zubereiten einer Mahlzeit in der Küche. Auf den Fotos war keine Person zu sehen, aber auf zweien erkannte Dóra Hände. Sie kopierte die Bilder auf den USB-Stick, falls es sich um die Hände des Mörders handeln sollte. Man konnte nie wissen. Die übrigen Fotos von dem leckeren Pastagericht in verschiedenen Zubereitungsstadien ließ sie, wo sie waren.

Dóra scrollte weiter nach unten. Viele Fotos waren für die Abgelichteten recht verfänglich, denn sie waren bei unterschiedlichen sexuellen Handlungen geknipst worden. Dóra errötete an Stelle der Betroffenen, je mehr Bilder sie über den Bildschirm flimmern sah. Des Weiteren stieß Dóra auf eine Vielzahl von Bildern von der Zungenoperation, darunter auch Haralds Bildschirmhintergrund. Man konnte nicht erkennen, welche Personen dabei gewesen waren, aber es waren Körperausschnitte zu sehen. Deshalb kopierte Dóra diese Fotos auf den USB-Stick. Es gab noch alle möglichen Schnappschüsse von Partys, bei denen es ziemlich hoch hergegangen sein musste, und dazwischen, wie die Faust aufs Auge, Landschaftsfotos von Reisen durch Island.

Einige waren sehr dunkel und zeigten nur graue Felswände. Dóra glaubte auf einem vergrößerten Foto ein in den Stein gemeißeltes Kreuz zu erkennen. Eine ganze Reihe von Fotos waren auf einem kleinen Hof aufgenommen worden, den Dóra nicht kannte, andere in einem Museum. Sie zeigten Handschriften und einen grauen Steinblock in einer großen Glasvitrine. Auf einem der Fotos war ein Schild zu sehen. Dóra vergrößerte es, da es möglicherweise Aufschluss über das Museum geben könnte, wurde aber enttäuscht — auf dem Schild stand lediglich: Fotografieren verboten. Dóra öffnete das E-Mail-Programm und fand im Posteingang sieben ungeöffnete Mails. Wahrscheinlich waren seit dem Mord an Harald noch mehr Mitteilungen eingegangen, die die Polizei bereits geöffnet hatte.

Als Matthias ins Zimmer kam, schaute Dóra auf. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lächelte sie sonderbar an.

»Und?«, sagte sie mit fragendem Tonfall, gespannt auf die Neuigkeiten.

»Also«, hob Matthias an und beugte sich vor. Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und presste seine Handflächen wie zum Beten gegeneinander. »Bevor ich Ihnen erzähle, was Sie unbedingt wissen möchten«, er betonte das Wörtchen »unbedingt«, »müssen Sie mir eins versprechen.«

»Was?« Dóra kannte die Antwort.

»Was ich Ihnen jetzt sage, ist ein absolutes Geheimnis und darf auf keinen Fall bekannt werden. Bevor ich es Ihnen erzähle, muss ich Ihr Wort haben, dass Sie das akzeptieren. Verstanden?«

»Woher soll ich wissen, ob ich dieses Versprechen halten kann, wenn ich keine Ahnung habe, worum es geht?«

Matthias zuckte mit den Schultern. »Das ist Ihr Risiko. Ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen: Sie werden es weitererzählen wollen — nur damit Sie wissen, dass ich Sie nicht in eine Falle locke.«

»Wem werde ich davon erzählen wollen?«, fragte Dóra. »Das finde ich wichtig.«

»Der Polizei«, antwortete Matthias ohne Zögern.

»Sie wissen etwas, das die Ermittlungen beeinflussen könnte, und halten es geheim? Hab ich das richtig verstanden?«

»Yep«, entgegnete Matthias.

Sie dachte nach. Dóra war sich ihrer moralischen Verpflichtung bewusst. Sie musste die Behörden über alles informieren, was den Gang der Ermittlungen betraf. Daher musste sie ablehnen und der Polizei mitteilen, Matthias verfüge über Beweismittel und andere Informationen bezüglich des Mordfalles. Andererseits wusste sie ganz genau, dass Matthias das schlicht leugnen würde, und somit wäre ihre Teilnahme an der Klärung des Falles beendet. Davon profitierte niemand. Mit einer weiter gefassten Moralvorstellung könnte man die Sache aber auch so sehen, dass es ihre Pflicht sei, mit aller Kraft zu versuchen, den Fall mit den spektakulären neuen Informationen in der Hand zu lösen. Alle wären glücklich. Dóra grübelte schweigend. Das war zwar eine ziemlich fragwürdige Schlussfolgerung, aber in ihrer Situation die beste. Wenn der Zweck die Mittel heiligt, muss die Moral mildernde Umstände gewähren. Wenn nicht — muss man die Moral ändern.

»Okay«, sagte Dóra endlich. »Ich verspreche, niemandem davon zu erzählen, auch nicht der Polizei, was auch immer Sie mir mitteilen werden.« Matthias lächelte zufrieden und Dóra beeilte sich, noch etwas hinzuzufügen: »Im Gegenzug müssen Sie mir auch etwas versprechen. Wenn dieses Geheimnis Hugis Unschuld beweisen sollte und wir diese nicht auf andere Weise belegen können, dann übergeben wir der Polizei die Informationen vor der Gerichtsverhandlung.« Matthias wollte gerade den Mund öffnen, als Dóra ihm das Wort abschnitt: »Und die Behörden werden nie erfahren, dass ich davon wusste. Und …«

Matthias bremste sie. »Jetzt reicht’s aber, danke.« Er starrte Dóra an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Einverstanden. Sie sagen nichts und wenn es uns nicht gelingen sollte, Hugis Unschuld in gebührendem Abstand zur Gerichtsverhandlung zu beweisen, informiere ich die Polizei über den Brief.«

Brief? Ein weiterer Brief? Dóra bekam langsam den Eindruck, dieser ganze Fall sei eine reine Farce. »Welcher Brief?«

»Ein Brief, den Haralds Mutter kurz nach dem Mord bekam«, antwortete Matthias. »Dieser Brief überzeugte die Guntliebs davon, dass der Verhaftete nicht der Schuldige sein kann. Er wurde nämlich abgeschickt, als Hugi schon in Untersuchungshaft war. Er konnte gar nicht mehr zur Post gehen. Und ich bezweifle, dass ihm die Polizei den Gefallen getan hätte — vor allem, wenn sie den Inhalt des Briefes gekannt hätte.«

»Was stand in dem Brief?«, fragte Dóra ungeduldig.

»Der Text ist gar nicht so interessant — bis auf die Tatsache, dass er ziemlich schonungslos mit Haralds Mutter umgeht. Aber der Brief ist mit Blut geschrieben — mit Haralds Blut.«

»Igitt«, stieß Dóra hervor. »Von wem war der Brief? Hatte er einen Absender? Und woher wissen Sie, dass es Haralds Blut ist?«

»Der Brief ist mit Haralds Namen unterschrieben, aber ein Handschriftexperte hat herausgefunden, dass es nicht Haralds Schrift ist. Er konnte es nicht hundertprozentig nachweisen, da der Text mit einem groben Schreibwerkzeug geschrieben wurde und sich daher schlecht mit Haralds Handschrift vergleichen lässt. Im Labor kam man zu dem Schluss, dass es sich um Haralds Blut handelt. Allerdings fand man auch Spuren von Sperlingsblut, das mit Haralds Blut vermischt worden war.«

Dóra riss die Augen auf. Sperlingsblut? Das fand sie sogar noch abstoßender als Menschenblut. »Was stand denn eigentlich in dem Brief?«, fragte sie. »Haben Sie ihn dabei?«

»Ich habe das Original nicht dabei, falls Sie das meinen«, entgegnete Matthias. »Haralds Mutter gibt weder das Original noch eine Kopie aus der Hand. Vielleicht hat sie den Brief sogar vernichtet. Er war ziemlich unangenehm.«

Dóra sah ihn enttäuscht an. »Und jetzt? Ich muss wissen, was drinstand. Haben Sie den Brief übersetzen lassen?«

Er schaute Dóra an und grinste. »Sie haben Glück: Ich wurde nämlich beauftragt, es zu übersetzen — mit Hilfe des deutsch-isländischen Wörterbuchs. Die Übersetzung ist bestimmt nicht preisverdächtig, aber der Sinn sollte deutlich werden.« Während Matthias sprach, zog er ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seines Jacketts. Er reichte es Dóra. »Manche Buchstaben habe ich nicht richtig hingekriegt.«

ICH SCHAU DICH ANUND DU LIEBST MICHVON GANZEM HERZEN.NIRGENDS SOLLST DU WEILEN,NICHTS ERDULDEN KÖNNEN,WENN DU MICH NICHT LIEBST.ICH RUFE ZU ODINUND ALL JENEN,DIE DER RUNENMÄCHTIG SIND.MÖGEST DU NIRGENDSAUF DER WELTRUHE FINDENUND FRIEDEN,WENN DU MICH NICHTVON GANZEM HERZEN LIEBST.DEINE KNOCHENUND DEIN LEIBSOLLEN IM FEUER LODERN.NIE SOLLST DU HOCHZEIT HALTEN,WENN DU MICH NICHT LIEBST,DEINE FÜSSE GEFRIEREN,NIE WIRD DIR EHREODER GLÜCK ZUTEIL.BRENNEN SOLLST DU,DEIN HAAR VERWESE,DEINE KLEIDUNG ZERLUMPE,WENN DU MIR NICHTZU WILLEN BIST.

Dóra konnte sich nur schwer vorstellen, wie viel Blut notwendig war, um all diese Buchstaben zu Papier zu bringen. Matthias hatte das Gedicht in Großbuchstaben geschrieben, vermutlich wie im Original.

Beim Lesen beschlich Dóra ein unheimliches Gefühl — das Gedicht war wirklich eigenartig. Sie schaute Matthias an. »Ich kenne es leider nicht. Wer macht denn so was?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Matthias. »Das Original war noch makaberer, es war auf Haut geschrieben — auf Kalbsleder. Wer der Mutter eines Verstorbenen so etwas antut, muss krank sein.«

»Warum der Mutter? War der Brief nicht auch an den Vater adressiert?«

»Es stand noch mehr dabei, auf Deutsch. Ein kurzer Zusatz — ungefähr so: Mama — ich hoffe das Gedicht und das Geschenk gefallen dir — dein Sohn Harri. Das Wort ›Sohn‹ war zweimal unterstrichen.«

Dóra blickte von dem Zettel zu Matthias. »Welches Geschenk? War noch etwas dabei?«

»Nein, die Guntliebs haben nichts weiter erwähnt und ich glaube ihnen. Sie waren völlig durcheinander, als sie den Brief bekamen. Sie hätten in dem Moment gar nicht die Unwahrheit sagen können.«

»Warum ist der Brief mit Harri unterschrieben? Ist dem Verfasser das Blut ausgegangen?«

»Nein, als Kind wurde Harald von seinem älteren Bruder Harri genannt. Diesen Spitznamen kennen nur wenige — das ist einer der Gründe, warum der Brief so starke Wirkung auf seine Mutter ausübte.«

Dóra schaute Matthias an. »Hat sie ihn schlecht behandelt? Ist das möglich?« Sie dachte an die Fotos mit dem kleinen, teilnahmslosen Jungen.

Matthias antwortete nicht direkt. Er versuchte, die richtigen Worte zu finden — schließlich handelte es sich um seine Arbeitgeber, die er anscheinend sehr schätzte. »Ich schwöre, ich weiß es nicht. Es war, als ginge sie ihm aus dem Weg. Ich bin sicher, Frau Guntlieb hätte den Brief der isländischen Polizei übergeben, wenn ihr Verhältnis zu Harald besser gewesen wäre. Er traf einen wunden Punkt.« Matthias schwieg einen Moment und schaute Dóra nachdenklich an, dann redete er weiter. »Sie möchte mit Ihnen sprechen. Von Mutter zu Mutter.«

»Mit mir?« Dóra schnappte nach Luft. »Was will sie von mir? Mir ihr merkwürdiges Verhalten ihrem Kind gegenüber erklären?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Matthias. »Sie sagte nur, sie will mit Ihnen sprechen, aber zu einem späteren Zeitpunkt. Sie möchte sich erst wieder fangen.«

Dóra sagte nichts dazu. »Ich verstehe den Zweck dieses Schreibens nicht«, bemerkte sie, um das Thema zu wechseln.

»Ich auch nicht«, sagte Matthias augenblicklich. »Es ist vollkommen verrückt, so zu tun, als habe Harald den Brief selbst geschickt. Wahrscheinlich ist der Mörder wirklich geisteskrank.«

Dóra starrte auf den Zettel. »Möglicherweise wollte der Verfasser damit sagen, dass Harald seine Mutter nach seinem Tod heimsuchen wird.«

»Wozu?«, fragte Matthias berechtigterweise. »Wer hat etwas davon, sie auf diese Art und Weise zu quälen?«

»Harald natürlich, aber er war ja schon tot«, sagte Dóra. »Oder Haralds Schwester — vielleicht wurde auch sie von der Mutter schlecht behandelt?«

»Nein«, entgegnete Matthias. »Sie wird nicht schlecht behandelt — das kann ich beschwören. Sie ist der absolute Liebling ihrer Eltern.«

»Aber wer kann es sonst sein?«, fragte Dóra ratlos.

»Jedenfalls nicht Hugi. Es sei denn, er hatte einen Komplizen.«

»Wie dumm, dass wir heute Morgen im Gefängnis noch nichts von dem Blut auf Hugis Kleidung wussten.« Dóra schaute auf die Uhr. »Vielleicht sollte ich ihn anrufen.« Sie rief die Auskunft an und erhielt die Nummer von Litla-Hraun. Der wachhabende Beamte erteilte ihr die Erlaubnis, ein kurzes Telefonat mit Hugi zu führen. Sie wartete ungeduldig ein paar Minuten und lauschte der elektronischen Version von Für Elise. Dann drang Hugis kurzatmige Stimme aus dem Hörer.

»Hallo?«

»Hallo, grüß dich, Hugi. Hier ist Dóra Guðmundsdóttir. Ich will dich nicht lange stören, aber leider konnten wir dich heute Morgen nicht nach dem Blut auf deiner Kleidung fragen. Wie erklärst du dir das?«

»So ein Mist«, jammerte Hugi. »Die Polizei hat mich auch danach gefragt. Ich weiß nicht, welches blutverschmierte T-Shirt die meinen, aber ich hab ihnen das mit dem Blut auf meinen Klamotten an dem Abend erklärt.«

»Wie ist das denn passiert?«, fragte Dóra.

»Harald und ich sind bei der Party aufs Klo gegangen, um was zu schnupfen. Er hat krasses Nasenbluten bekommen und mich mit Blut bespritzt. Das war so’n winziges Klo.«

»Konntest du das beweisen?«, fragte Dóra. »Konnten sich andere Gäste auf der Party daran erinnern — du musst doch blutverschmiert aus dem Bad gekommen sein.«

»Ich war nicht direkt blutverschmiert. Außerdem waren alle total breit und durchgeknallt. Zumindest hat sich niemand darum geschert. Hat bestimmt keiner mitgekriegt.«

Verdammt, dachte Dóra. »Und das mit dem blutverschmutzten T-Shirt in deinem Schrank? Weißt du, wie das passiert ist?«

»Keine Ahnung.« Es trat eine kurze Pause ein, dann fügte er hinzu: »Ich glaub, die Bullen haben es da reingetan. Ich hab Harald nicht ermordet und ich hab kein Blut mit einem T-Shirt aufgewischt. Ich weiß noch nicht mal, ob das überhaupt mein T-Shirt ist. Ich hab das Ding ja nie gesehen.«

»Das sind schwerwiegende Beschuldigungen, Hugi, und unter uns, ich glaube nicht, dass die Polizei so was tut. Wenn du die Wahrheit sagst, muss es eine andere Erklärung dafür geben.«

Daraufhin verabschiedeten sie sich und Dóra berichtete Matthias von dem Telefongespräch.

»Tja, zumindest hat er für die Hälfte eine Erklärung«, sagte er. »Wir müssen die anderen Partygäste fragen, ob sie sich an dieses Nasenbluten erinnern können.«

»Ja«, sagte Dóra. Sie hatte kaum Hoffnung, dass das etwas bringen würde. »Aber selbst wenn sie sich daran erinnern, haben wir keine Erklärung für das T-Shirt im Schrank.«

»Bing« — tönte es aus dem Computer und sie schauten beide im selben Augenblick auf den Bildschirm. »You have new mail«, stand in einem Fenster in der rechten unteren Bildschirmecke. Dóra griff nach der Maus und klickte den kleinen Briefumschlag an.

Eine Mail poppte auf — sie war von Mal.

19. KAPITEL

Hi toter Harald!

Was ist denn bei dir los? Ich hab eine Mail von einem angeblichen isländischen Polizisten gekriegt und von irgendeiner Rechtsanwaltsschlampe Diese Idioten behaupten, du wärst tot — sehr unwahrscheinlich! Melde dich trotzdem kurz — das ist ein bisschen unangenehm.

Gruß,

Mal

Dóra ärgerte sich darüber, obwohl sie in ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn noch weitaus uncharmanteren Titulierungen begegnet war.

»Beeilen Sie sich!«, stieß Matthias hervor. »Antworten Sie ihm, solange er noch am Computer sitzt.«

Dóra klickte schnell auf »Antworten«. »Was soll ich schreiben?«, fragte sie, während sie das obligatorische Lieber Mal eintippte.

»Irgendwas«, sagte Matthias hastig, was wenig hilfreich war.

Dóra schrieb und Matthias las mit, während Dóra tippte. Als sie in Rekordzeit fertig war, wedelte er ungeduldig mit der Hand und murmelte: »Senden, senden.«

Lieber Mal!

Leider stimmt die Nachricht über Haralds Tod. Er ist ermordet worden und wird Ihnen nicht antworten. Ich bin die Rechtanwaltsschlampe, die Ihnen vor einigen Tagen geschrieben hat. Haralds Computer befindet sich in meiner Obhut. Ich arbeite für die Familie Guntlieb — es ist der Familie sehr wichtig, den Mörder ausfindig zu machen. Zurzeit befindet sich ein junger Mann in Untersuchungshaft, der dieses schreckliche Verbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht begangen hat. Sie verfügen möglicherweise über Informationen, die uns helfen können. Wissen Sie, was Harald gefunden zu haben glaubte und wer der »verdammte Idiot« ist, den er in seiner letzten Mail an Sie erwähnte? Bitte geben Sie mir eine Telefonnummer, unter der ich Sie erreichen kann.

Viele Grüße,

Dóra

Dóra schickte die E-Mail ab und sie warteten schweigend ein paar Minuten. Plötzlich erschien die Ankündigung einer neuen Nachricht. Sie schauten sich gespannt an, bevor Dóra sie öffnete. Doch bei beiden machte sich Enttäuschung breit.

Rechtsanwaltsschlampe — fahr zur Hölle! Und nimm die Guntliebs gleich mit. Ihr seid ein Scheißpack. Eher liege ich im Grab, als euch zu helfen.

Hassgrüße,

Mal

Dóra atmete tief durch. Das war deutlich. Sie blickte zu Matthias. »Vielleicht erlaubt er sich nur einen Spaß?«

Matthias begegnete ihrem Blick. Er war nicht sicher, ob Dóra selbst scherzte. Er vermutete es. »Bestimmt — gleich schickt er noch eine Mail mit Smileys, die über den Bildschirm hüpfen und verkünden, wie sehr er die Guntliebs schätzt.« Er seufzte. »Verdammt, Harald hat seinem Freund wohl nicht viel Gutes über seine Eltern erzählt. Diesen Typen können wir vergessen.«

Dóra seufzte ebenfalls. »Aber verschwenden wir dann hier nicht unsere Zeit? Wir könnten doch ins Kaffibrennslan gehen und mit dem Kellner sprechen, der Halldórs Alibi bestätigt hat. Vielleicht arbeitet er gerade. Ich stimme Ihnen zu, dass seine Zeugenaussage ziemlich wackelig ist. Falls er nicht arbeitet, trinken wir einfach einen Kaffee.«

Matthias begrüßte die Idee und stand auf. Dóra löste eilig den USB-Stick, steckte ihn in ihre Handtasche und schaltete den Computer aus.

Im Kaffibrennslan waren nicht viele Gäste, sodass Dóra und Matthias sich einen Platz aussuchen konnten. Sie setzten sich an einen Tisch auf der unteren Ebene neben der Theke. Während Dóra sich damit abmühte, ihren Daunenanorak über die Stuhllehne zu hängen, versuchte Matthias die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. Es war eine junge Frau. Sie bemerkte ihn, lächelte und signalisierte, sie käme gleich. Matthias wendete sich zu Dóra. »Warum haben Sie nicht den Mantel angezogen, den Sie heute Morgen getragen haben?«, fragte er verwundert und beobachtete, wie sich der dicke Daunenanorak auf beiden Seiten ihres Stuhls breitmachte. Die Ärmel waren so aufgeplustert, dass sie fast waagerecht zur Seite ragten.

»Mir war kalt«, sagte Dóra trocken. »Ich habe den Mantel im Büro — morgens komme ich im Anorak und abends gehe ich im Anorak wieder nach Hause. Gefällt er Ihnen nicht?«

Matthias’ Gesichtsausdruck sagte alles, was seiner Meinung nach über den Anorak gesagt werden musste. »Aber ja doch, sehr sogar — vorausgesetzt, Ihr Job ist es, die Eisdichte am Südpol zu messen.«

Dóra verdrehte die Augen. »Schnösel«, konterte sie und lächelte der Bedienung zu, die an ihren Tisch getreten war.

»Möchtet ihr bestellen?«, fragte das Mädchen und lächelte sie an. Sie hatte eine kurze schwarze Schürze um die schlanke Taille gebunden und hielt einen kleinen Block in der Hand — bereit, ihre Bestellung entgegenzunehmen.

»O ja, gern«, antwortete Dóra. »Ich nehme einen doppelten Espresso.« Sie wendete sich an Matthias: »Möchten Sie einen Tee in einer Porzellantasse?«

»Haha, sehr witzig«, entgegnete er und bestellte dasselbe wie Dóra.

»Okay«, sagte die Bedienung lächelnd, ohne etwas aufzuschreiben. »Sonst noch was?«

»Ja und nein«, sagte Dóra. »Wir fragen uns, ob Björn Jónsson da ist. Wir möchten gern kurz mit ihm reden.«

»Bjössi?«, fragte das Mädchen überrascht. »Ja, der ist gerade gekommen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand.

»Seine Schicht fängt gleich an. Soll ich ihn holen?« Dóra bejahte dankend und die junge Frau entfernte sich, um Bjössi und die Espressotassen zu holen.

Matthias schaute Dóra an und lächelte zuckersüß. »Ihr Anorak ist außerordentlich schick. Wirklich. Er ist nur so … gewaltig.«

»Das hat Sie aber nicht gestört, als Sie mit Bella geflirtet haben. Die ist auch gewaltig — so gewaltig, dass sie sogar einem eigenen Gravitationsgesetz unterliegt. Sie zieht die Büroklammern in der Kanzlei magisch an. Sie sollten sich vielleicht auch so einen Daunenanorak kaufen. Er ist superbequem.«

»Geht nicht«, entgegnete Matthias und grinste, »dann müssten Sie sich auf die Rückbank setzen und das wäre doch schade. Zwei solche Anoraks passen auf keinen Fall nebeneinander auf die Vordersitze.«

Weitere Diskussionen über Daunenanoraks wurden vertagt, denn das Mädchen kam mit dem Espresso. Sie hatte einen jungen Mann im Schlepptau. Er sah gut aus und wirkte ein bisschen androgyn — sein dunkles Haar war ungewöhnlich gut geschnitten und frisiert und sein Gesicht war glatt rasiert. »Hi, ihr wolltet mit mir sprechen?«, fragte er mit wohlklingender Stimme.

»Ja, bist du Björn?«, sagte Dóra und nahm ihre Tasse entgegen. Der junge Mann bejahte und sie stellte sich und Matthias vor, wobei sie beim Isländischen blieb. Matthias sagte nichts dazu, sondern saß nur da und nippte an seinem Espresso. »Wir wollten dich nach dem Tatabend und nach Halldór Kristinsson fragen.«

Bjössi nickte ernst. »Ja, kein Problem — darf ich denn auch wirklich mit euch sprechen? Das verstößt nicht gegen irgendwelche Gesetze oder so?« Dóra versicherte es ihm und er sprach weiter. »Ich hab wie gesagt hier gearbeitet, wir waren allerdings mehrere.« Er schaute sich in dem halbleeren Lokal um. »An den Wochenenden sieht’s hier anders aus. Dann ist es brechend voll.«

»Aber du kannst dich trotzdem genau an ihn erinnern?«, fragte Dóra, wobei sie sich bemühte, nicht so zu klingen, als stelle sie seine Aussage in Frage.

»Das kannst du mir glauben, Dóra«, sagte Bjössi wichtigtuerisch. »Ich kenne ihn mittlerweile ganz gut. Ihn und seinen Freund — diesen Ausländer, der ermordet wurde — sie kamen oft hierher und man musste sie einfach bemerken. Dieser Ausländer war ziemlich speziell. Nannte mich immer nur Bär, also deutsch für Björn. Halldór kam manchmal auch allein und unterhielt sich an der Theke mit mir.«

»Hat er sich an diesem Abend auch mit dir unterhalten?«, fragte Dóra.

»Nee, kann man nicht sagen. Es war tierisch viel zu tun und ich bin wie ein Bekloppter hin und her gerannt. Ich hab nur kurz hallo gesagt und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er war aber irgendwie schlecht drauf und ich bin nicht lange bei ihm stehen geblieben.«

»Woher weißt du so genau, wann er kam?«, war Dóras nächste Frage.

»Das kann ich dir erklären«, sagte Bjössi. »Als Halldór kam, ließ er anschreiben — um nicht jedes neue Glas einzeln bezahlen zu müssen. Wir notieren immer, wann ein Gast beginnt, anschreiben zu lassen und wann er damit aufhört und abrechnet.« Bjössi warf Dóra ein verschwörerisches Lächeln zu.

»Ich verstehe«, sagte Dóra. »Und du bist sicher, dass er die ganze Zeit hier saß und zechte, bis seine Freunde gegen zwei Uhr kamen? Er kann nicht kurz rausgegangen sein, ohne dass du es bemerkt hättest?«

Bjössi überlegte, bevor er antwortete. »Also, ich kann natürlich nicht beschwören, dass er die ganze Zeit hier saß. Als ich mit der Polizei sprach, war ich ziemlich sicher, aber so im Nachhinein betrachtet, lag das wahrscheinlich an seinen vielen Bestellungen an der Theke, die er aber selbstverständlich nicht alle bei mir gemacht hat. Vielleicht hat auch jemand anders was auf seine Rechnung anschreiben lassen — das weiß ich nicht.« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Aber das ist ja nun wirklich kein riesiges Lokal und ich denke, ehrlich gesagt, dass ich es bemerkt hätte, wenn er rausgegangen wäre. Glaube ich zumindest.«

Dóra wusste eigentlich nicht, welche weiteren Fragen sie dem Kellner zu diesem Abend noch stellen sollte. Er schien unschlüssig zu sein und ihrer Meinung nach war Halldórs Alibi wesentlich zweifelhafter geworden. Sie dankte Bjössi und gab ihm ihre Visitenkarte, falls ihm noch etwas einfiel, was ihr jedoch eher unwahrscheinlich vorkam. Sie drehte sich zu Matthias und ihrem Espresso, der schon ziemlich kalt geworden war. Während sie an ihrem Espresso nippte, berichtete sie Matthias ausführlich von dem Gespräch mit dem Kellner. Sie tranken ihre Tassen aus und Dóra sah, dass es Zeit war, nach Hause zu fahren. Sie bezahlten und beeilten sich nach draußen.

Es war kurz vor fünf und noch nicht viel Verkehr. Nur wenige Leute waren in der Kälte und der feuchten Luft zu Fuß unterwegs. Vereinzelte Passanten eilten vorüber und ließen sich keine Zeit, die Schaufenster anzuschauen. Dóra beschloss, nicht mehr ins Büro zu gehen, sondern sich von Matthias direkt zum Parkhaus bringen zu lassen und von dort heimzufahren. Sie wählte Bellas Nummer, um ihr Bescheid zu geben, dass sie erst am nächsten Morgen zu erwarten sei, und in Erfahrung zu bringen, ob während ihrer Abwesenheit etwas Wichtiges angefallen sei.

»Hallo«, tönte es wie immer aus dem Hörer — kein Wort darüber, um welche Firma es sich handelte und wer am Telefon war.

»Bella«, sagte Dóra, wobei sie versuchte, freundlich zu klingen. »Hier ist Dóra. Ich komme heute nicht mehr ins Büro. Morgen früh bin ich gegen acht Uhr da.«

»Hm«, war die unerklärliche Antwort.

»Hat mir jemand eine Nachricht hinterlassen?«

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Bella.

»Woher? Tja, ich bin halt ein optimistischer Mensch und kam auf die absurde Idee, du als Sekretärin und Telefonistin hättest eventuell versehentlich eine Nachricht entgegengenommen.«

Am anderen Ende der Leitung trat Stille ein. Dóra glaubte, Bella durch den Hörer leise zählen zu hören. »Es ist fünf — ich darf nicht länger mit dir sprechen. Meine Arbeitszeit ist beendet.« Bella legte auf.

Dóra glotzte auf ihr Handy und sagte mehr zu sich selbst als zu Matthias: »Ob Bella wohl identisch mit diesem Mal ist?«

»Was?« Matthias war beim Parkhaus angekommen und bog in die Einfahrt.

»Ach, nichts«, sagte Dóra und löste den Sicherheitsgurt. »Was machen Sie eigentlich abends?«

»Alles Mögliche«, antwortete Matthias. »Essen gehen, ab und zu schlendere ich in eine Kneipe in der Innenstadt, ein paar Mal habe ich an touristischen Aktivitäten teilgenommen — Museen und so was.«

Dóra bemitleidete ihn; er musste ziemlich einsam sein. »Morgen ist Freitag und die Kinder sind bei ihrem Vater. Ich lade Sie am Wochenende zum Essen ein, was halten Sie davon?«

Matthias grinste. »Viel, wenn Sie versprechen, keinen Fisch zu machen. Wenn ich noch einmal Fisch essen muss, wachsen mir Flossen.«

»Nein, ich dachte an etwas Schlichteres — Pizzaservice zum Beispiel«, entgegnete Dóra, bevor sie aus dem Wagen stieg. Sie hoffte, Matthias würde losfahren, bevor sie bei ihrem Werkstattauto ankam. Wenn er schon ihren Anorak lächerlich fand, bekäme er beim Anblick ihres Gefährts bestimmt einen Anfall. Ihr Wunsch wurde nicht erhört — Matthias wartete, bis Dóra ihren Wagen erreicht hatte, und als sie die Fahrertür aufschloss, rief er ihr etwas zu. Sie drehte sich um und sah, wie er sich aus dem heruntergekurbelten Fenster beugte.

»Sie machen ja wohl Witze«, schrie er laut. »Ist das Ihr Wagen?«

Dóra ließ sich von seinem Gelächter nicht beeinflussen und schrie zurück: »Sollen wir tauschen?«

Matthias schüttelte den Kopf und kurbelte die Scheibe hoch. Soweit sie sehen konnte, fuhr er, immer noch lachend, von dannen.

Am Abend zuvor hatte Dóra organisiert, dass ihre Tochter nach der Schule mit zu ihrer Freundin gehen sollte. Jetzt fuhr Dóra dort vorbei, um Sóley abzuholen. Sie bedankte sich bei der Mutter der Freundin, einer jungen, hoch gewachsenen Frau, für den Gefallen und kündigte an, demnächst wohl öfter darauf zurückgreifen zu müssen, sie könne sich hoffentlich irgendwann dafür revanchieren. Irgendwann, wenn die Sonne im Westen aufgeht.

Zu Hause im Flur sah es aus wie Kraut und Rüben — Gylfis Freunde waren zu Besuch gewesen und gingen gerade. Zahllose Jacken, Turnschuhe und verknautschte Rucksäcke, die als Schultaschen dienten, waren im Flur verteilt. Ihre Besitzer, drei hagere Jungen, die Dóra gut kannte, und ein Mädchen, das ihr weniger vertraut war, sammelten hektisch ihre Klamotten zusammen und suchten zueinanderpassende Schuhpaare.

»Hi«, sagte Dóra kumpelhaft, während sie versuchte, sich durch das Gedränge zu schlängeln. Ihr Sohn stand im Türrahmen und verfolgte das Geschehen. Er sah immer noch genauso niedergeschlagen aus wie am Morgen. »Habt ihr zusammen gelernt?«, fragte Dóra, sich vollkommen bewusst, wie undenkbar das war. In diesem Alter traf man sich nicht, um zu lernen. Aber es war ihre elterliche Pflicht, lächerliche Bemerkungen wie diese zu machen.

»Äh, nö«, antwortete Patti, Gylfis langjähriger bester Freund. Er war ein netter Junge, dessen Hauptmerkmal darin bestand, jederzeit sagen zu können, wie viele Monate, Tage und Stunden es noch dauerte, bis er den Führerschein bekam. Dóra hatte die Zahlen ein paar Mal kontrolliert und sie waren fast immer korrekt.

Dóra lächelte dem Mädchen zu, das schüchtern ihrem Blick auswich. Sie konnte sich unmöglich an ihren Namen erinnern, aber sie hatte sie in der letzten Zeit öfter gesehen. Gylfi hatte einen richtigen Entwicklungssprung gemacht und vielleicht war ihr Sohn in dieses Mädchen verliebt oder sie waren sogar ein Liebespaar? Das Mädchen war hübsch und fast genauso groß wie Gylfi und seine Freunde.

Sóley, die Dóra ins Haus gefolgt war, hatte ihre Schuhe und ihren Anorak ausgezogen und beides ordentlich an seinen Platz geräumt. Sie beobachtete die Jugendlichen, stützte dann die Hände in die Hüften und fragte gouvernantenhaft: »Seid ihr wieder im Bett rumgehüpft? Das ist verboten — die Matratze geht davon kaputt.«

Ihrem Bruder trat die Schamesröte ins Gesicht und er motzte: »Warum muss ich eine so beknackte Familie haben? Ihr beide seid unerträglich.« Er stürmte türeknallend davon. Seine Freunde waren furchtbar verlegen und die allgemeine Hektik beim Jackenanziehen verstärkte sich noch.

»Tschüss«, verabschiedete sich Patti, bevor er die Haustür hinter sich und den anderen zuzog. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, änderte er seine Absicht, steckte den Kopf noch einmal durch den Türrahmen und verkündete: »Ihr seid lange nicht so beknackt wie meine Familie — Gylfi ist in letzter Zeit einfach nicht so gut drauf.«

Dóra lächelte ihm zu und bedankte sich herzlich. Immerhin ein Versuch, ein bisschen Höflichkeit an den Tag zu legen — auch wenn die Wortwahl zu wünschen übrig ließ. »Also dann«, sagte sie zu ihrer Tochter, »sollen wir was kochen?« Die Kleine nickte gewissenhaft und begann, eine Einkaufstüte in die Küche zu schleppen.

Nach dem gemeinsamen Abendessen — tiefgefrorene Lasagne, die Dóra extra ausgesucht, und indisches Nan-Brot, das sie versehentlich für Knoblauchbrot gehalten hatte –, ging ihre Tochter zum Spielen in ihr Zimmer, während ihr Sohn den Tisch abräumte. Offensichtlich bedauerte er seinen Ausfall über die intellektuellen Fähigkeiten seiner Mutter und seiner Schwester, brachte aber keine Entschuldigung über die Lippen. Dóra tat so, als sei nichts gewesen, und hoffte, er würde ihr am Ende von sich aus anvertrauen, was er auf dem Herzen hatte. Dóra küsste ihren Sohn vorsichtig auf die Wange und bedankte sich für die Hilfe. Im Gegenzug schenkte er ihr ein zerknirschtes Lächeln. Anschließend ging er in sein Zimmer.

Dóra beschloss, die plötzlich eingetretene Ruhe zu nutzen, um die Dateien anzuschauen, die sie aus Haralds Computer kopiert hatte. Sie holte ihren Laptop und machte es sich damit auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Dóra betrachtete einige Fotos vom Kochen und von der Zungenoperation. Die Fotos von der Operation waren vom 17. September. Sie öffnete eines nach dem anderen und vergrößerte die Bildausschnitte, auf denen interessante Details auftauchten. Zwischendurch gab es auch weniger abstoßende Bilder. Die meisten zeigten die Mundhöhle und die Operation selbst, aber abgesehen von Haralds Kiefer waren auch allerlei undeutliche Dinge am Bildrand zu erkennen. Zweifellos hatte die Operation in einer Privatwohnung stattgefunden. Was von der Einrichtung zu sehen war, unterschied sich deutlich von einer Arzt- oder Zahnarztpraxis. Dóra erkannte einen Sofatisch, auf dem jeder Zentimeter mit halbleeren oder leeren Gläsern, Bierdosen und anderem Kram bedeckt war, darunter auch ein großer, überquellender Aschenbecher. Es konnte sich nicht um Haralds Wohnung handeln, sie war nicht so durchgestylt und geschmackvoll wie Haralds weißes, modernes Domizil. Auf einem anderen Foto war der Körper der Person zu erkennen, die die Operation durchführte oder dabei assistierte. Er oder sie trug ein hellbraunes T-Shirt mit einem Schriftzug, den Dóra wegen des Faltenwurfs nicht lesen konnte. Es gelang ihr jedoch, die Zahl »100« und »… lico …« zu entziffern. Bei der Aufnahme der ersten zwei Fotos hatte das Schneiden noch nicht begonnen, aber auf dem dritten Bild war das Skalpell in Aktion — Blut rann aus Haralds Mundwinkeln und der abgelichtete Arm war mit Blutspritzern gesprenkelt. Beim Einschneiden der Zunge musste es in alle Richtungen gespritzt sein. Falls Wunden an der Zunge mit üblichen Kopfwunden vergleichbar sind, musste es sehr stark geblutet haben. Dóra musterte den Arm und vergrößerte den Ausschnitt, auf dem sie ein Tattoo zu erkennen glaubte. Richtig; auf dem Arm konnte man das Wort »crap« lesen. Kein Motiv oder Muster — nur »crap«.

Die Fotos vom Kochen waren interessant, weil sie kurz vor Haralds Tod datiert waren — zu der Zeit, von der Hugi behauptet hatte, Harald habe sich abgekapselt und keinen Kontakt zu seinen Freunden gehabt. Die Dateiinfos bestätigten es; die Fotos waren mittwochs geschossen worden, drei Tage vor Haralds Ermordung. Dóra betrachtete die beiden Fotos ausgiebig, vor allem die Hände, die damit beschäftigt waren, einen Salat zuzubereiten und Brot zu schneiden. Ein Halbblinder konnte erkennen, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelte. Ein Händepaar war mit Narben bedeckt — Tattoo-Narben, die unter anderem einen fünfeckigen Stern sowie einen Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln und Hörnern bildeten. Das musste Harald sein. Das andere Händepaar war wesentlich ansehnlicher; Frauenhände mit schlanken Fingern und gepflegten, kurzen Fingernägeln. Dóra vergrößerte das eine Foto, auf dem man am Ringfinger einen schlichten Ring mit einem Diamanten oder einem anderen weißen Edelstein erkennen konnte. Der Ring war recht unauffällig, aber vielleicht erkannte ihn Hugi, wenn man ihm das Foto zeigte.

Etwas regte sich in Dóras Gedächtnis — etwas hatte sie bei ihrem ersten Besuch in Haralds Wohnung gestört. Die deutsche Illustrierte im Badezimmer. Ausgeschlossen, dass Harald eine solche Frauenzeitschrift las. Und Isländer lasen sie natürlich auch nicht. Irgendjemand aus Deutschland musste sie mitgebracht haben — eine Frau. Von der Titelseite der Zeitschrift hatten Tom Cruise und seine Gattin in Vorfreude auf ihren Familienzuwachs in die Kamera gelächelt. Wenn Dóra nicht alles täuschte, war dieses Kind im Herbst auf die Welt gekommen. Hatte Harald Besuch aus Deutschland gehabt — jemand, der bei ihm wohnte, als er sich von seinen Freunden zurückzog? Dóra wählte Matthias’ Nummer. Nach dem dritten Klingeln nahm er ab.

»Wo sind Sie? Störe ich?«, fragte Dóra, als sie Stimmengewirr im Hintergrund wahrnahm.

»Nein, nein«, nuschelte Matthias mit vollem Mund. Er schluckte. »Ich esse gerade, hab Fleisch bestellt. Was gibt’s denn? Möchten Sie herkommen und ein Dessert mit mir teilen?«

»Äh, nein danke.« Dóra merkte, dass sie große Lust dazu hatte. Es machte Spaß, essen zu gehen, etwas Schickes anzuziehen und mit Gläsern anzustoßen, die man nicht selbst spülen musste.

»Morgen ist Schule und ich muss die Kinder rechtzeitig ins Bett bringen. Nein, ich rufe nur an, um zu fragen, ob Sie die Telefonnummer von Haralds Putzfrau haben — ich glaube, jemand hat sich kurz vor dem Mord bei ihm aufgehalten, sogar bei ihm gewohnt. Alles deutet darauf hin, dass es sich um jemanden aus Deutschland handelt — eine Frau.«

»Ja, ich hab die Nummer irgendwo gespeichert. Soll ich für Sie anrufen? Ich habe schon mal mit der Frau gesprochen und sie spricht gut Englisch. Das ist vielleicht am einfachsten — die Frau kennt Sie ja nicht, kann sich aber bestimmt an mich erinnern, da ich ihre letzte Rechnung bezahlt habe.«

Dóra nahm dankend an und Matthias versprach, zurückzurufen. Sie nutzte die Zeit, um ihrer Tochter zu sagen, sie solle ihren Schlafanzug anziehen. Dóra war gerade damit beschäftigt, Sóley die Zähne zu putzen, als Matthias wieder anrief. Sie klemmte sich den Hörer unters Kinn, um gleichzeitig telefonieren und sich der Zahnpflege ihres Schützlings widmen zu können.

»Hören Sie, die Frau sagt, das Bett im Gästezimmer sei benutzt gewesen. Außerdem hätten Kosmetikartikel im Bad gestanden — Einwegrasierer — diese Frauenrasierer. Sie haben offenbar Recht.«

»Hat sie das auch der Polizei erzählt?«, fragte Dóra.

»Nein, sie fand es nicht wichtig, da Harald nicht zu Hause ermordet wurde. Außerdem erzählte sie, es seien oft Gäste da gewesen, mehr als einer und mehr als zwei.«

»Ob er eine deutsche Freundin hatte?«

»Die den weiten Weg nach Island auf sich nimmt, um im Gästezimmer zu schlafen? Das kommt mir komisch vor. Eine deutsche Freundin wurde auch nie erwähnt.«

»Vielleicht hatten sie Streit.« Dóra überlegte. »Oder es war gar keine Freundin, sondern nur eine Bekannte oder Verwandte. Vielleicht seine Schwester?«

Matthias schwieg einen Moment. »Falls das stimmt, sollten wir es auf sich beruhen lassen.«

»Sind Sie verrückt?«, fauchte Dóra. »Warum zum Teufel sollten wir das tun?«

»Sie hatte es in der letzten Zeit nicht leicht — ihr Bruder wurde ermordet und außerdem befindet sie sich in einer kleinen Krise, was ihre eigene Zukunft angeht.«

»Inwiefern?«, fragte Dóra.

»Sie ist eine sehr begabte Cellospielerin und möchte beruflich etwas mit Musik machen. Ihr Vater verlangt aber, dass sie Betriebswirtschaft studiert und die Bank übernimmt. Sonst ist ja keiner mehr übrig — selbst wenn Harald noch am Leben wäre, wäre er dafür nicht in Frage gekommen. Die Sache mit ihrem Studium kam jedenfalls schon auf, bevor Harald ermordet wurde.«

»Trägt sie Schmuck?«, fragte Dóra. »Die Hände auf den Fotos passten gut zu einer Cellospielerin, vor allem die kurzen, gut gepflegten Fingernägel.«

»Nein, gar nicht. Sie ist nicht so«, antwortete Matthias. »Sie macht sich nicht viel aus Schmuck.«

»Noch nicht mal ein kleiner, hübscher Diamantring?«

Eine kurze Pause und dann: »Doch, stimmt genau. Woher wissen Sie das?«

Dóra beschrieb ihm die Bilder. Nachdem Matthias versprochen hatte, noch einmal darüber nachzudenken, ob sie sich mit dem Mädchen in Verbindung setzen sollten, beendeten sie das Gespräch.

»Bissuenlichfeddich?«, nuschelte Dóras Tochter, den Mund voller Zahnpastaschaum. Sie hatte die Zähneputzerei während des gesamten Telefongesprächs über sich ergehen lassen — für heute war sie jedenfalls vor Karies gefeit. Dóra brachte Sóley ins Bett und las ihr etwas vor, bis sie langsam einschlummerte. Sie gab dem halb schlafenden Kind einen Kuss auf die Stirn, knipste das Licht aus und lehnte die Tür an. Danach widmete sie sich wieder ihrem Laptop.

Nachdem sie zwei Stunden lang Haralds Dateien durchgesehen hatte, ohne auf etwas Nützliches zu stoßen, gab sie auf und schaltete den Computer aus. Sie beschloss, ins Bett zu gehen und in der Ausgabe von Malleus Maleficarum, die Matthias ihr mitgegeben hatte, zu lesen. Das war bestimmt aufschlussreich.

Als sie das Buch aufschlug, fiel ein zusammengefalteter Zettel heraus.

»Halt’s Maul«, zischte Marta Maria. »Wir kriegen das nur hin, wenn wir uns richtig konzentrieren.«

»Halt selbst das Maul«, entgegnete Andri lautstark. »Ich darf sprechen, wann ich will.«

Bríet hatte den Eindruck, dass Marta Maria die Zähne zusammenbiss, war sich aber nicht sicher, denn im Raum war es dämmerig — bis auf den Schein einiger hier und dort im Wohnzimmer verteilter Spirituslampen. Sie seufzte. »Ach, jetzt hört schon auf zu streiten und lasst uns weiterkommen.« Sie machte es sich auf dem Fußboden bequem; alle saßen im Schneidersitz in einem engen Kreis.

»Ja, verdammt noch mal«, quengelte Halldór und rieb sich die Augen. »Ich wollte früh ins Bett gehen und hab keinen Bock, mich endlos mit diesem Scheiß zu befassen.«

»Mit diesem Scheiß?«, stieß Marta Maria hervor, deren Wut offenbar noch nicht verflogen war. »Ich dachte, wir sind uns alle darüber einig, dass wir es machen. Hab ich euch da irgendwie falsch verstanden?«

Halldór stöhnte. »Nein, dreh mir nicht die Worte im Mund um. Bringen wir es einfach hinter uns.«

»Es ist ganz anders als bei Harald zu Hause«, tönte Brjánn, der bisher nicht viel gesagt hatte. »Nicht nur wegen der Wohnung.« Er schaute sich um. »Harald fehlt. Ich weiß nicht, ob das ohne ihn geht.«

Andri ließ sich von der Bemerkung über die Wohnung nicht beeinflussen. »Wir können leider nicht viel an Haralds Fehlen ändern.« Er griff nach dem Aschenbecher. »Wie heißt die Alte?«

»Dóra Guðmundsdóttir«, antwortete Bríet. »Rechtsanwältin.«

»Okay«, sagte Andri. »Lasst uns anfangen. Einverstanden?« Er schaute in die Runde; die anderen nickten oder zuckten zustimmend mit den Schultern. »Wer fängt an?«

Bríet schaute Marta Maria an. »Fang du an«, schlug sie vor, in der Hoffnung, die schlechte Laune ihrer Freundin dadurch zu vertreiben. »Du kannst es am allerbesten und es ist wichtig, dass es gut wird.«

Marta Maria überhörte die lobenden Worte. Sie schaute die anderen der Reihe nach an. »Wie ihr wisst, kann uns diese Frau in Teufels Küche bringen, wenn sie in der Geschichte rumschnüffelt. Es ist ein totaler Glücksfall, dass die Bullen auf dem falschen Dampfer sind.«

»Wir sind uns darüber im Klaren«, sagte Brjánn stellvertretend für die anderen. »Hundertprozentig.«

»Gut«, entgegnete Marta Maria. Sie legte die Hände auf ihre Schenkel. »Absolute Ruhe, bitte.« Niemand sagte ein Wort. Sie nahm einen dicken Bogen Papier, der in der Mitte des Kreises lag, und eine kleine Schale mit roter Flüssigkeit. Sie legte das Papier vor sich auf den Fußboden und stellte die Schale daneben. Anschließend reichte Bríet ihr mit todernstem Gesicht ein chinesisches Essstäbchen. Marta Maria tunkte das Stäbchen in die zähe Flüssigkeit und zeichnete mit langsamen Strichen zwei Zeichen auf das Papier. Sie schloss die Augen und sagte dann leise und betörend: »Wenn du deinem Feind Angst einjagen möchtest …«