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Der Wetterbericht am Vorabend hatte nicht zu viel versprochen. Das Wetter war gut und Dóra und Matthias saßen im Büro der Flugschule, wo sie am Tag zuvor eine Maschine reserviert hatten. Matthias füllte ein Formular für den Piloten aus, während Dóra die Gelegenheit nutzte, einen Kaffee zu trinken. Der Preis für den Flug hatte Dóra überrascht — der knapp einstündige Hin- und Rückflug nach Hólmavík war günstiger, als wenn sie mit dem Auto gefahren wären und im Hotel übernachtet hätten.
»Okay, wir wären dann soweit«, sagte der Pilot lächelnd.
Sie flogen über Reykjavik und die Stadt sah aus der Luft viel größer aus. Matthias blickte interessiert nach unten, während Dóra lieber nach vorn schaute — dazu hatte man im Flugzeug schließlich nur selten die Möglichkeit. Der Flug nach Hólmavík dauerte nicht lange; schon rückte der Flugplatz ins Blickfeld: eine Landebahn und ein winziges Gebäude, direkt neben dem Ort, auf der gegenüberliegenden Seite der Nationalstraße. Der Pilot überflog die Landebahn und begutachtete sie; zufrieden mit dem, was er sah, wendete er die Maschine und landete weich. Sie lösten ihre Sicherheitsgurte und stiegen aus.
Matthias schaltete sein Handy ein. »Wie ist die Nummer der Taxizentrale?«, fragte er den Piloten.
»Taxizentrale?«, entgegnete der Pilot und lachte herzlich. »Hier gibt’s noch nicht mal ein Taxi — geschweige denn eine Taxizentrale. Da müssen Sie schon zu Fuß gehen.«
Dóra lächelte dem Piloten wissend zu, obwohl sie, genau wie Matthias, damit gerechnet hatte, ein Taxi vom Flugplatz zum Museum nehmen zu können. »Kommen Sie, es ist nicht weit«, sagte sie zu dem pikierten Matthias und zog ihn mit sich. Sie überquerten die völlig autofreie Straße und kamen zu einer Tankstelle mit einem Laden am Ortseingang. Dort fragten sie nach dem Weg. Die junge Bedienung war sehr freundlich, ging sogar mit ihnen nach draußen und zeigte ihnen das Museum. Es sei ein Kinderspiel, einfach die Straße runter, am Strand entlang, in den Ort hinein und dort, kurz vorm Hafen, befände sich das Museum. In der Ferne war ein schwarzes Holzhaus mit einem Torfdach zu erkennen, es waren nur ein paar hundert Meter. Dóra und Matthias machten sich auf den Weg.
»Ich kenne das Haus von den Fotos in Haralds Computer«, sagte Dóra und drehte sich zu Matthias um. Der Weg war so schmal, dass sie nicht nebeneinandergehen konnten.
»Gab es viele Fotos von hier? Ich meine, irgendwas Brauchbares?«
»Nein, eigentlich nicht. Nur diese typischen Touristenfotos und ein paar Bilder aus dem Museum, wo Fotografieren eigentlich verboten ist«, erklärte Dóra, während sie vorsichtig an einer gefrorenen Pfütze auf dem Gehweg vorbeibalancierte.
»Passen Sie auf!«, warnte sie Matthias, der einen großen Schritt über die Pfütze machte, »sie haben nicht die besten Schuhe zum Wandern an.«
Dóra musterte Matthias’ schwarze Lackschuhe. Sie passten gut zu seiner übrigen Kleidung: Anzughose mit Bügelfalte, Hemd und knielanger Wollmantel. Dóra trug Jeans und feste Schuhe und hatte vorsichtshalber ihre Daunenjacke angezogen. Matthias hatte ihre Jacke diesmal nicht beanstandet, sondern nur die Augenbrauen hochgezogen, als er Dóra abgeholt und sie sich mit dreifachem Oberkörperumfang ins Auto gequetscht hatte.
»Mit dem Tod habe ich ja gerechnet, aber nicht mit einer Expedition«, sagte Matthias genervt. »Der Mann hätte mich ruhig vorwarnen können.« Er meinte den Leiter des Hexereimuseums, mit dem er am Tag zuvor telefoniert hatte, damit sie nicht vor verschlossenen Türen stünden.
»Das tut Ihnen gut. So lernen Sie endlich, ihre Eitelkeit zu überwinden«, entgegnete Dóra. »Damit werden Sie es in Island nämlich schwer haben. Wenn wir den Fall nicht bald abschließen, muss ich Ihnen in der Stadt einen Fliespulli kaufen.«
»Niemals«, konterte Matthias mürrisch. »Und wenn ich bis zu meinem Tod hier bleiben muss.«
»Der kommt sonst aber früher, als Ihnen lieb ist«, gab Dóra zurück. »Frieren Sie nicht? Möchten Sie meine Jacke haben?«
»Ich werde heute Abend für uns Zimmer im Hótel Rangá reservieren«, wechselte Matthias abrupt das Thema, »und meinen Mietwagen gegen einen Jeep eintauschen.«
»Sehen Sie, Sie sind doch schon zu einem halben Isländer geworden.«
Von außen wirkte das Museumsgebäude altmodisch. Der Vorplatz war von einem niedrigen Steinmäuerchen umgeben und mit Kies und Treibholzstücken bedeckt. Die Eingangstür war feuerrot und hob sich von den Erdtönen des Gebäudes ab. Auf einer Holzbank vor der Tür hockte ein schwarzer, wohlgenährter Rabe. Als sie näher kamen, schaute er zum Himmel, öffnete den Schnabel weit und krächzte. Dann breitete er seine Flügel aus und flatterte auf die Dachkante. Von dort beobachtete er, wie sie ins Haus gingen. »Wie passend«, kommentierte Matthias und hielt Dóra die Tür auf.
Drinnen stand rechter Hand ein kleiner Empfangstisch und direkt vor ihnen befanden sich ein paar Regale mit Verkaufsartikeln, die mit Hexerei zu tun hatten. Alles war schlicht und ordentlich. Hinter dem Tisch saß ein junger Mann und blickte von der Morgenzeitung auf. »Guten Tag«, sagte er lächelnd. »Willkommen im Hexereimuseum von Strandir.«
Als sich Dóra und Matthias vorgestellt hatten, entgegnete der junge Mann, er habe sie schon erwartet. »Ich bin nur vertretungsweise hier«, erklärte er, nachdem er ihnen die Hand geschüttelt und sich vorgestellt hatte. »þorgrímur …« þorgrímurs Handschlag war fest und Vertrauen erweckend. »Mein Kollege, der sich normalerweise um das Museum kümmert, ist in Urlaub. Ich hoffe, das macht nichts.«
»Nein, kein Problem«, sagte Dóra. »Aber habe ich das richtig verstanden, dass Sie auch im Herbst hier waren?«
»Ja, genau. Ich hab im Juli übernommen.« Er musterte sie neugierig und sagte: »Darf ich fragen, warum Sie das wissen möchten?«
»Wie Matthias Ihnen schon erzählt hat, recherchieren wir im Fall von jemandem, der an Hexerei interessiert war. Sie erinnern sich bestimmt an ihn.«
Der Mann lachte. »Da bin ich mir nicht so sicher. Wir haben viele Besucher.« Als ihm klar wurde, dass außer ihnen niemand anwesend war, fügte er verlegen hinzu: »Diese Jahreszeit ist natürlich eine Ausnahme — in der Urlaubszeit kommen jede Menge Leute.«
Matthias lächelte zögernd. »Wissen Sie, diesen Mann vergisst man nicht so schnell. Er war ein deutscher Geschichtsstudent und sah sehr unkonventionell aus. Er hieß Harald Guntlieb und wurde vor kurzem ermordet.«
þorgrímurs Gesicht erhellte sich. »Trug er allen möglichen, tja, wie soll ich sagen — Schmuck?«
»Ja, man könnte es als Schmuck bezeichnen«, entgegnete Dóra.
»Doch, doch — ich erinnere mich genau an ihn. Er kam zusammen mit einem anderen Mann, der war etwas jünger, traute sich aber nicht rein, weil er verkatert war. Es ist noch gar nicht so lange her, da hab ich in der Zeitung gelesen, dass der Deutsche ermordet wurde.«
»Das war er«, bestätigte Matthias. »Dieser Verkaterte — wissen Sie etwas über ihn?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht direkt — als sich Ihr Bekannter von mir verabschiedete, erzählte er, sein Freund sei Arzt. Ich dachte, er macht einen Witz. Als er wieder draußen war, hat er seinen Kumpel mit Geschrei und Getue geweckt. Ich stand in der Tür und hab das ganze Theater beobachtet. Ich fand es irgendwie unwahrscheinlich, dass dieser weggetretene junge Mann draußen auf der Bank Arzt sein sollte.«
Dóra und Matthias wechselten einen Blick. Halldór.
»Erinnern Sie sich sonst noch an etwas?«, fragte Dóra.
»Der Deutsche wusste unheimlich viel. Es macht Spaß, wenn man Besucher hat, die sich so gut in Geschichte und Magie auskennen wie er. Meistens wissen die Leute gar nichts; die wenigsten können einen Tilberi von einer Leichenhose unterscheiden.« þorgrímur erkannte an ihren Gesichtern, dass er zwei ebensolche Exemplare vor sich stehen hatte. »Wie wär’s, wenn wir erst mal durch das Museum gehen und ich Ihnen die wichtigsten Exponate erkläre? Dann können wir uns über Ihren Bekannten unterhalten.«
Dóra und Matthias schauten sich an, zucken mit den Schultern und folgten dem Mann in die Ausstellung.
»Ich weiß nicht, wie kundig Sie auf diesem Gebiet sind, daher erzähle ich Ihnen am besten etwas über die Hintergründe.« þorgrímur ging zu einer Wand, an der das Fell eines undefinierbaren Tieres hing. Auf das Leder war ein magisches Symbol gezeichnet. Es war wesentlich komplizierter als das Symbol, das in Haralds Leiche geritzt worden war. Unter dem Fell hing eine Holzkiste, die einem alten Schreibkästchen ähnelte. Sie stand halb offen und darin lag eine Silbermünze auf einem Büschel Haare. In den Deckel war ein schlichtes magisches Zeichen geritzt. Auf dem Kästchen hockte eine monsterhafte Gestalt, die aussah wie ein mutierter Igel. »Zur Zeit der Hexerei waren die Lebensumstände der einfachen Leute sehr primitiv. Die meisten Besitztümer im Land gehörten nur einigen wenigen Familien, während die Massen am Hungertuch nagten. Für viele waren Hexerei und übernatürliche Kräfte der einzige Ausweg aus dem Elend. Das war damals nichts Ungewöhnliches. Man glaubte zum Beispiel, dass der Teufel zwischen den Menschen umherspaziert und Seelen fängt.« þorgrímur zeigte auf das Fell an der Wand. »Dies ist ein Beispiel für Reichtum — das Seemauszeichen oder der Ringhelm. Dafür muss man dieses magische Symbol, das Ringhelmzeichen, mit dem Menstruationsblut einer Jungfrau auf das Fell eines schwarzen Katers zeichnen.«
Matthias verzog das Gesicht. Als þorgrímur es bemerkte, sagte er unwirsch zu dem Deutschen: »Wir haben karminrote Tinte verwendet.« Dann erklärte er weiter: »In den Volkssagen heißt es, man muss ein kleines Tier fangen. Es lebt am Strand und nennt sich Seemaus oder Seeraupe. Man fängt es mit einem Netz aus dem Haar einer Jungfrau.« Dóra spürte, wie Matthias mit der Hand über ihr langes, offenes Haar strich. Sie bemühte sich, nicht loszuprusten, und schob seine Hand unauffällig weg. »Dann muss man der Maus in einem Holzkasten ein Nest aus Haaren bereiten und ein gestohlenes Geldstück hineinlegen. Die Maus zieht daraufhin einen Schatz aus dem Meer in das Kästchen. Man muss das Kästchen mit dem Ringhelmsymbol versiegeln, damit die Maus nicht entkommen kann — sonst gibt es über dem Meer ein Unwetter.«
Er drehte sich zu ihnen. »Die Leute glaubten wirklich daran.«
»Ja«, entgegnete Matthias und zeigte auf eine Wand mit einer Glasvitrine, in der sich die untere Körperhälfte eines Mannes befand. »Was zum Teufel ist das denn?«
»Ah, das ist eines unserer beliebtesten Exponate. Eine Leichenhose. Sie sorgte ebenfalls für Reichtum.« þorgrímur ging zu der Vitrine. »Es handelt sich natürlich um eine Nachbildung — das ist ja offensichtlich.« Dóra und Matthias nickten eifrig. Hinter der Glasscheibe befand sich die Haut der unteren Körperhälfte eines Mannes; sie war ausgehöhlt. Das Ding erinnerte Dóra an ekelhafte, bleiche Strumpfhosen, behaart und mit Geschlechtsteilen. »Um an eine Leichenhose zu kommen, muss man mit einem Mann einen Vertrag abschließen, der besagt, dass man nach dessen Tod die Haut seiner unteren Körperhälfte abziehen darf. Wenn der Mann verstorben ist, wird seine Leiche ausgegraben und seine Haut von der Taille an abwärts in einem Stück abgezogen. Dann kann der Vertragspartner die Leichenhose anziehen und sie wird sofort mit ihm verwachsen. Wenn er im Hodensack eine Münze aufbewahrt — eine Münze, die er einer armen Witwe an Weihnachten, Ostern oder Pfingsten stiehlt — werden beständig Münzen in den Hodensack gelangen, sodass er immer genug Geld hat.«
»Hätte man sich dafür nicht eine andere Stelle aussuchen können?«, fragte Dóra, doch þorgrímur zuckte nur die Achseln und ging mit ihnen zu einem großen Bild von einer Frau in einem langen, groben Rock, wie es damals Sitte war. Die Frau saß mit hochgezogenem Rock da, sodass ihr nackter Schenkel zu sehen war. An dem Schenkel war eine Warze oder eine andere Verunstaltung zu erkennen.
»Und was ist das?«, fragte Matthias.
»Sie wissen bestimmt, dass in Island überwiegend Männer wegen Hexerei getötet wurden; auf zwanzig Männer kam eine Frau. Die Zauberei war hierzulande anscheinend vor allem ein Männerberuf — anders als im übrigen Europa. Dieser Zauber, Tilberi, ist interessant, da es sich um den einzigen isländischen Zauber handelt, der nur von Frauen ausgeführt werden konnte. Um einen Tilberi zu bekommen, muss die Frau in der Nacht zum Pfingstsonntag aus einem Grab eine menschliche Rippe stehlen, sie in Wolle wickeln und unter der Kleidung zwischen ihren Brüsten aufbewahren. Dann muss sie dreimal hintereinander das Heilige Abendmahl empfangen, den Messwein auf das Bündel spucken und es dadurch zum Leben erwecken. Daraufhin wächst der Tilberi. Um ihn weiterhin unter ihren Kleidern verstecken zu können, muss die Frau mit einem Stück Haut an der Innenseite ihres Schenkels eine Zitze formen. Daraus saugt der Tilberi seine Nahrung — zwischendurch streicht er durch die Gemeinden und stiehlt von Schafen und Kühen Milch. Diese speit er morgens in das Butterfass der Frau.«
»Der Arme war ja nicht gerade ansehnlich«, bemerkte Dóra und zeigte auf das Ausstellungsstück. Die Nachahmung des Tilberi war in Wolle gehüllt. Nur der geöffnete, zahnlose Mund und zwei kleine, weiße Augen ohne Pupillen lugten daraus hervor.
Matthias’ Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er derselben Meinung. »Diese eine Frau, die wegen Hexerei getötet wurde, hatte sie auch einen Tilberi?«
»Nein. Es gab allerdings 1635 einen Fall im Südwesten des Landes. Eine Frau und ihre Mutter wurden verdächtigt, einen Tilberi zu besitzen. Die Sache wurde untersucht, stellte sich aber als falsch heraus, und die beiden kamen mit dem Schrecken davon.«
Sie wanderten weiter durch die Ausstellung und schauten sich die Exponate an. Am realistischsten fand Dóra einen Holzpfahl mit einem Reisigbündel. Während sie schweigend die Szenerie betrachtete, erzählte ihr þorgrímur, dass alle 21 Menschen, die wegen Hexerei auf den Scheiterhaufen gekommen waren, bei lebendigem Leib verbrannt worden seien. Drei von ihnen hätten versucht zu entkommen, nachdem die Fesseln, mit denen sie an den Pfahl gebunden waren, verbrannt seien. Aber man stieß sie wieder ins Feuer und sie starben. Die erste Hinrichtung habe 1625 stattgefunden; den Auftakt der eigentlichen Hexenverfolgung markiere jedoch die Verbrennung dreier Männer in Trékyllisvík in den nördlichen Westfjorden im Jahr 1654.
Als sie im Erdgeschoss genug gesehen hatten, ging þorgrímur mit ihnen in den ersten Stock. Dabei kamen sie an einem Fotografieren verboten-Schildvorbei — dasselbe, das Dóra auf dem Foto in Haralds Computer entdeckt hatte. þorgrímur wies sie auf eine Tafel mit einem riesigen Stammbaum hin, der die verwandtschaftlichen Beziehungen der wichtigsten Hexenverfolger im 17. Jahrhundert darstellte. Er erklärte, dass die herrschende Oberschicht ihre Angehörigen in die Positionen von Amtmännern erhoben hatte. Diese leiteten die Gerichtsverhandlungen bei Hexerei. Dóra studierte den Stammbaum, während Matthias zu einer Vitrine mit Nachbildungen von Zauberbüchern und anderen Handschriften ging. Als Dóra und þorgrímur dort ankamen, stand Matthias tief über die Vitrine gebeugt.
»Es ist unglaublich, dass überhaupt Zauberbücher überliefert sind«, erklärte þorgrímur und deutete auf eine der Handschriften.
»Meinen Sie, weil sie so alt sind?«, fragte Dóra und musterte die Exponate.
»Ja, auch, aber vor allem, weil auf den Besitz solcher Schriften die Todesstrafe stand«, antwortete þorgrímur. »Bei einigen handelt es sich um Abschriften älterer Dokumente, die vermutlich beschädigt waren. Die Urfassungen stammen also nicht alle aus dem 16. und 17. Jahrhundert.«
Dóra richtete sich auf. »Gibt es ein Verzeichnis der magischen Runen?«
»Nein, merkwürdigerweise nicht. Meines Wissens hat sich niemand die Mühe gemacht.« Mit einer ausschweifenden Handbewegung unterstrich er die folgenden Worte: »Hier sehen Sie unzählige Symbole und dabei handelt es sich nur um ein paar Seiten aus Handschriften und Büchern — nur einige wenige Beispiele. Sie können sich also vorstellen, wie viele Symbole es insgesamt geben muss.«
Dóra nickte. Verdammt. Es wäre perfekt gewesen, wenn þorgrímur eine Liste von Zeichen hätte, in der sie die unbekannte magische Rune hätten suchen können. Sie betrachtete die übrigen Handschriften. Dóra umrundete die Vitrine, die in der Mitte des Raumes stand. Plötzlich richtete sich Matthias auf.
»Was ist das für eine Rune?«, fragte er aufgeregt und klopfte mit dem Finger gegen die Glasscheibe.
»Welche meinen Sie?«, fragte þorgrímur.
»Diese hier«, entgegnete Matthias.
Dóra erkannte schneller als þorgrímur, welche Rune Matthias’ Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war eines der wenigen Symbole, die sie kannte — die magische Rune, die in Haralds Körper geritzt worden war. »Das ist sie«, flüsterte sie.
»Die da unten auf der Seite?«, fragte þorgrímur.
»Nein«, entgegnete Matthias. »Die am Seitenrand, Was bewirkt sie?«
»Tja, das weiß ich nicht«, antwortete þorgrímur. »Dazu kann ich leider nichts sagen. Das Zeichen gehört nicht zu dem Text auf der Seite — der Besitzer des Buches hat die magische Rune selbst an den Rand geschrieben. Das war nicht unüblich; solche Zeichen findet man auch in Handschriften und Büchern, die nicht direkt von Hexerei handeln.«
»Aus welcher Handschrift stammt diese Seite?«, fragte Dóra und versuchte, den Text zu entziffern.
»Aus einer Handschrift aus dem 17. Jahrhundert aus dem Besitz der Königlich-Archäologischen Sammlung in Stockholm. Sie wird Isländisches Zauberbuch genannt. Ihr Verfasser ist natürlich unbekannt. In dem Buch stehen etwa fünfzig verschiedene Zaubersprüche — die meisten sind harmlos, sollen die Leute im Leben voranbringen oder sie vor etwas schützen.« Er beugte sich vor und überflog den Text, den Dóra zu entziffern versucht hatte. »Bei einigen handelt es sich um schwarze Magie — eine Formel ist eine Todesbeschwörung und einer der beiden Liebeszauber ist ebenfalls recht dunkel.« Er blickte von der Vitrine auf. »Interessant. Ihr Bekannter, dieser Harald, interessierte sich ganz besonders für diesen Teil der Ausstellung, die Bücher und Handschriften.«
»Erkundigte er sich auch nach dieser Rune?«, fragte Matthias.
»Nein, daran kann ich mich nicht erinnern«, antwortete þorgrímur, fügte dann aber hinzu: »Ich bin allerdings auf diesem Gebiet kein Spezialist und konnte ihm nicht weiterhelfen — ich hab ihn an Páll verwiesen, den eigentlichen Museumsleiter. Páll kennt sich sehr gut mit Runen aus.«
»Wie können wir Kontakt zu ihm aufnehmen?«, fragte Matthias gespannt.
»Das ist nicht so einfach; er ist im Ausland.«
»Na und? Wir können ihn doch anrufen oder ihm eine Mail schicken«, sagte Dóra, ebenso eifrig wie Matthias. »Die Bedeutung des Symbols ist sehr wichtig für uns.«
»Tja, ich muss seine Nummer irgendwo haben«, erklärte þorgrímur seelenruhig. »Am besten rufe ich ihn an. Ich rede zuerst mit ihm und erkläre ihm die Sache. Anschließend können Sie dann mit ihm sprechen.« þorgrímur trat hinter den Empfangstisch und blätterte in einem kleinen Notizbuch. Dann nahm er das Telefon und wählte eine Nummer, wobei er darauf achtete, dass die beiden sie nicht sehen konnten. Nach einer Weile begann er zu sprechen. Er hinterließ eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter. »Er geht leider nicht ran. Wenn er die Nachricht abhört, ruft er bestimmt direkt zurück — vielleicht heute Abend, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen.« Dóra und Matthias gaben þorgrímur ihre Visitenkarten und versuchten nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Dóra bat ihn, sie sofort zu informieren, sobald sich dieser Páll gemeldet hätte. þorgrímur versprach es ihr und legte die Visitenkarten in sein Notizbuch. »Was ist denn nun mit Ihrem Bekannten? Sie wollten doch wissen, was er hier suchte«, sagte er dann.
»Ja, unbedingt«, entgegnete Dóra. »Hat er sich außer für die Handschriften noch für etwas anderes interessiert oder einen Gegenstand erwähnt, nach dem er suchte?«
»Er interessierte sich vor allem für die Handschriften, wenn ich mich recht erinnere«, sagte þorgrímur nachdenklich. »Außerdem hat er mir ein Angebot gemacht für die Opferschale da drinnen — ich war nicht sicher, ob es ein Scherz sein sollte.«
»Eine Opferschale? Welche Opferschale?«, fragte Matthias.
»Kommen Sie mit — sie ist da hinten.« Sie folgten ihm in einen kleinen Raum, in dessen Mitte sich ein Glasschrank mit einer steinernen Schale befand. »Die wurde hier in der Nähe gefunden. Ein Laborbericht hat bestätigt, dass sich Blutreste darin befinden. Uralte Blutreste.«
»Was für ein Brocken«, sagte Dóra laut. »Hätte man keine Schale aus Holz herstellen können?« Der Steinbrocken wog mit Sicherheit mehrere Kilo. In die Mitte war eine Kerbe gehauen.
»Die Schale war also nicht verkäuflich?«, fragte Matthias.
»Nein, auf keinen Fall. Erstens ist sie das einzige Stück in der Sammlung, bei dem es sich nicht um eine Nachahmung handelt, und zweitens darf ich die Exponate nicht verkaufen.«
Dóra betrachtete den Stein prüfend. Konnte dies der Gegenstand sein, hinter dem Harald her war? Unwahrscheinlich. »Und das ist ganz bestimmt derselbe Stein?«
»Was meinen Sie?«, fragte þorgrímur irritiert.
»Ach, nur so. Könnte es nicht sein, dass der Museumsleiter Harald beim Wort nahm? Ihm den Stein verkaufte und eine Kopie anfertigen ließ?«
þorgrímur lächelte. »Ausgeschlossen. Das ist derselbe Stein, der schon immer hier war. Darauf würde ich meinen Kopf verwetten.« Er drehte sich auf dem Fuß um und ging mit Dóra und Matthias im Schlepptau aus dem Zimmer. »Wie gesagt, er hat das halb im Scherz vorgeschlagen.«
»Gab es denn sonst noch irgendetwas Ungewöhnliches?«, fragte Dóra.
»Er hat mich nach dem Hexenhammer gefragt, ob ich wüsste, dass sich eine uralte Ausgabe im Land befinden soll. Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Sie wissen vielleicht nicht, wovon ich spreche?« Er schaute die beiden an.
»Doch, doch. Wir kennen das Buch«, antwortete Matthias.
»Ich hab ihn gefragt, wie er auf so was kommt, und er hat erzählt, in alten Briefen sei davon die Rede, dass es ein Exemplar des Buches nach Island verschlagen hat.«
Es gibt nicht viele Häuser in Island mit einem so prachtvollen Portal wie das Hauptgebäude der Universität. Bríet genoss den Blick von den Treppenstufen der hufeisenförmigen Auffahrt. Sie hätte alles für ein Auto gegeben. Aber das war bei ihrem schäbigen Studentendarlehen ja nicht drin — den Geizhals, der die zugrunde liegenden Lebenshaltungskosten berechnet hatte, hätte sie gern einmal kennen gelernt. Wenn sie doch nur bald ihr Studium beenden und einen Job finden würde. Historiker gehörten natürlich nicht gerade zu den Besserverdienern; unter finanziellen Gesichtspunkten hatte sie auf das völlig falsche Pferd gesetzt. Bríet konnte es kaum erwarten, sich einen solventen Versorger zu angeln, so wie ihre ältere Schwester, die einen Rechtsanwalt geheiratet hatte. Er arbeitete bei einer großen Bank, verdiente ein Heidengeld und ihre Schwester lebte in Saus und Braus. Die beiden bauten gerade ein riesengroßes Haus oben in Vatnsendi und ihre Schwester, Politikwissenschaftlerin, arbeitete halbtags in einem Ministerium und verbrachte den Rest des Tages mit Shoppen. Bríet lehnte sich an Halldórs Schulter. Er sah wirklich gut aus, war ein netter Kerl und Ärzte hatten schließlich sehr gute Aussichten.
»Woran denkst du gerade?«, fragte er und warf den frisch geformten Schneeball in die Ferne.
»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Bríet betrübt. »Vor allem an Hugi.«
Halldór verfolgte den Schneeball mit den Augen — er machte einen hohen Bogen und landete dann direkt neben der Statue von Sæmundur und dem Seehund. »Er war Zauberer«, sagte Halldór.
»Wusstest du das?«
»Wer?«, fragte Bríet irritiert. »Hugi?«
»Nein, Sæmundur, der Gelehrte.«
»Ach der. Ja, klar weiß ich das.« Bríet zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche. »Möchtest du eine? Deine Marke.« Sie reichte ihm das weiße Päckchen und grinste.
Halldór schaute auf das Päckchen und grinste zurück. »Nein danke. Ich hab selbst.« Er nahm eine seiner eigenen Zigaretten und gab ihnen beiden Feuer. Dabei lehnte er sich vor, sodass Bríet ihren Kopf von seiner Schulter nehmen musste. »Das ist echt eine Scheißsituation.«
»Du sagst es.« Bríet wusste nicht genau, was sie weiter sagen sollte. Sie wollte nicht, dass Halldór einen Fehler machte, der sie beide in Schwierigkeiten brächte. Aber sie wollte ihm auch zeigen, dass sie verständnisvoller und aufrichtiger war als Marta Maria.
»Ich hab eigentlich von diesem ganzen Blödsinn die Schnauze voll.« Er stierte geradeaus und dachte kurz nach, bevor er weiterredete. »Andere Studenten sind ganz, ganz anders als wir.«
»Ich weiß«, sagte Bríet.
»Was mich am meisten nervt, ist, dass andere Studenten — die nicht ständig durch die Stadt tingeln und einen draufmachen wie wir — auch nicht unglücklicher mit ihrem Leben sind. Die sind sogar zufriedener.«
Bríet witterte ihre Chance. Sie legte Halldór den Arm um die Schulter und neigte ihren Kopf zu seinem. »Ich hab genau dasselbe gedacht. Wir sind zu weit gegangen; wenn Andri und die anderen so weitermachen wollen, dann ohne mich. Ich werde mich zusammenreißen, im Studium und sonst auch. Es macht einfach keinen Spaß mehr.« Sie vermied es, Marta Marias Namen zu nennen.
»Komisch — das sehe ich auch so.« Er schaute sie an und lächelte. »Wir beide sind so verschieden.«
Bríet küsste ihn sanft auf die Stirn. »Wir passen gut zusammen. Zum Teufel mit den anderen.«
»Bis auf Hugi«, sagte Halldór und sein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war.
»Nein, er natürlich nicht«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich denke ständig an ihn — wie es ihm wohl gehen mag?«
»Schrecklich. Ich halte das nicht mehr aus.«
»Was denn?«
Halldór wollte aufstehen. »Ich gebe dieser Rechtsanwältin noch ein paar Tage, dann gehe ich zur Polizei. Scheißegal, was passiert.«
Verdammt. Bríet versuchte verzweifelt, sich etwas einfallen zu lassen, um Halldór wieder zur Vernunft zu bringen — in diesem Moment hätte sie Marta Maria liebend gern das Feld überlassen.
»Dóri, du hast Harald doch nicht umgebracht, oder? Du warst doch die ganze Zeit im Kaffibrennslan, nicht wahr?«
Er stand auf und schaute sie an, alles andere als zärtlich. »Ja, ich war im Kaffibrennslan. Und wo warst du?« Er stapfte los.
Bríet reagierte. Sie sprang schnell auf und sagte hastig: »Ich hab das nicht so gemeint, entschuldige. Ich meine bloß — warum willst du denn zur Polizei gehen?«
Halldór drehte sich abrupt um. »Weißt du — ich verstehe eigentlich nicht, warum ihr beide, Marta Maria und du, total dagegen seid. Der Tag der Abrechnung kommt immer. Vergiss das nicht.« Er stolzierte davon.
Bríet wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie holte ihr Handy heraus und wählte eine Nummer.
Laura Amaning steuerte auf den Flur im Árnagarður zu, wo Gloria gerade den Teppichboden saugte. Laura hatte den ganzen Morgen nicht unter vier Augen mit ihr sprechen können. Jetzt ergriff sie die Gelegenheit. »Gloria, ich muss dich was fragen«, sagte sie in ihrer Muttersprache.
Gloria schaute überrascht auf. »Was denn? Ich mache alles so, wie du es mir gezeigt hast.«
Laura winkte ab. »Es geht nicht ums Putzen. Ich möchte dich fragen, ob dir an dem Mordwochenende im Studentenzimmer etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Du hast doch da geputzt. Bevor die Leiche gefunden wurde.«
Glorias dunkle Augen weiteten sich. »Ich hab’s euch doch gesagt — und der Polizei auch. Da war nichts.«
Sie log. Laura schaute sie ernst an. »Gloria. Sag mir die Wahrheit. Du weißt, dass es eine Sünde ist zu lügen. Gott weiß, was du dort gesehen hast. Willst du ihn auch anlügen, wenn du am Ende vor ihm stehst?« Laura packte das Mädchen an der Schulter und zwang sie, ihr in die Augen schauen. »Es ist alles in Ordnung. Du konntest nichts von dem Mord wissen. An dem Wochenende hat niemand die Druckerkammer betreten. Was hast du gesehen?«
Eine Träne rann Gloria über die Wange. Laura ließ sich davon nicht beirren, zumal das Mädchen nicht zum ersten Mal bei der Arbeit weinte. »Gloria. Wisch dir das Gesicht ab. Sag es mir! Ich hab Blutspuren am Fenstergriff gefunden. Was war da drinnen?«
Aus einer Träne wurden zwei, dann drei und dann ein ganzer Wasserfall. Plötzlich stieß Gloria schluchzend hervor: »Ich wusste doch nicht, ich wusste doch nicht …«
»Ich weiß, Gloria. Wie hättest du es wissen können?« Sie strich dem Mädchen die Tränen von der Wange. »Was hast du da drinnen gefunden?«
»Blut«, entgegnete das Mädchen und schaute Laura angsterfüllt an. »Es war keine richtige Blutlache. Nur ein bisschen Blut. Jemand hatte versucht, es wegzuwischen. Ich hab es erst gemerkt, als ich es schon mit dem Lappen abgewischt hatte. Ich hab nicht weiter drüber nachgedacht — ich konnte doch nicht ahnen … du weißt schon.«
Laura atmete auf. Blutspuren — das war alles. Das würde Gloria nicht in Schwierigkeiten bringen. Laura hatte den Lappen mit dem Blut vom Fenster aufbewahrt und würde ihn Tryggvi und der Polizei übergeben. Die würden schon herausfinden, von wem das Blut stammte. Laura hatte keinen Zweifel daran, dass der Mord im Studentenzimmer begangen worden war. »Gloria, mach dir keine Sorgen. Das ist nebensächlich. Du musst nur eine neue Aussage machen — sag einfach die Wahrheit, dass du dir nicht über die Wichtigkeit dieser Information im Klaren warst.« Sie lächelte, merkte aber zu ihrer Verwunderung, dass das Mädchen immer noch weinte.
»Da ist noch was«, sagte sie unter Schluchzen.
»Noch was?«, fragte Laura verwundert. »Was denn?«
»Ich hab an dem Morgen noch was dort gefunden. In der Schublade mit den Messern. Ich zeig’s dir«, sagte Gloria weinend. »Ich hab’s aufbewahrt. Komm mit.«
Laura folgte Gloria zu einer Putzkammer im ersten Stock. Dort stieg Gloria in Tränen aufgelöst auf einen kleinen Hocker und reckte sich zum obersten Regal. Sie reichte Laura einen kleinen, in ein Handtuch gewickelten Gegenstand und hörte endlich auf zu weinen. »Ich hab ihn aufbewahrt, weil ich wusste, dass da was nicht stimmt. Und als die Leiche gefunden wurde, hab ich begriffen, was es damit auf sich hat, und furchtbare Angst bekommen. Meine Fingerabdrücke sind da drauf und die Polizei glaubt sicher, ich hätte … — Aber ich hab ihn nicht umgebracht!«
Laura schlug das Handtuch vorsichtig auseinander. Sie schrie auf und bekreuzigte sich. In diesem Moment brach Gloria erneut in Tränen aus.
Guðrún, oder Gurra, wie ihre Freunde sie nannten, nahm all ihre Kraft zusammen und verdrängte das Verlangen, an ihren Nägeln zu kauen. Sie hatte schon vor so langer Zeit damit aufgehört, dass sie sich kaum daran erinnern konnte, ob es vor oder nach der Heirat mit Alli gewesen war. Gurra musterte ihre gepflegten Hände. Sie dachte kurz darüber nach, sich die Nägel zu lackieren, nur um den Lack wieder abkratzen zu können, sobald er hart geworden war. Stattdessen stand sie auf und ging in die Küche. Es war Samstag und sie würde etwas Leckeres kochen. Alli arbeitete jeden Tag außer sonntags, daher konnte er sich nur an den Samstagabenden ein bisschen entspannen. Gurra schaute auf die Uhr — es war noch zu früh, um mit dem Kochen zu beginnen. Sie seufzte. Alles war sauber und frisch geputzt. Aber sie musste sich eine Beschäftigung suchen, wenn sie nicht verrückt werden wollte. Etwas, das sie von dieser nagenden Angst ablenken würde. Sie dachte daran, wie schlecht sie sich gefühlt hatte, als die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl für die Wohnung in der oberen Etage bei ihr geklopft hatte. Und dann war gar nichts passiert. Unglaublich, aber wahr. Ihre Sorgen waren vollkommen unbegründet gewesen und sie hatte sich wieder beruhigen können. Bis vor kurzem.
Warum mischten sich diese Leute in die Sache ein? War die Polizei mit dem Ermittlungsergebnis nicht zufrieden? Warum musste das Ganze wieder aufgewirbelt werden? Gurra stöhnte laut. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Auch wenn Alli todlangweilig war und das Interesse an ihrer Ehe schon längst verloren hatte, hieß das nicht, dass sie ihn verlieren wollte. Sie bürdete sich sogar einiges auf, um ihn zu halten. Sie war schließlich schon 43, zu alt für den Singlemarkt.
Wie dumm sie gewesen war. Mit dem Mieter zu schlafen. Zumal schon wesentlich attraktivere Männer in der Wohnung gelebt hatten als dieser höchst sonderbare Deutsche. Sie war völlig kopflos gewesen — und es war öfter als einmal und öfter als zweimal passiert. Der Sex mit ihm war gut gewesen — das ließ sich nicht leugnen. Irgendwie aufregend, wahrscheinlich, weil sie genau wusste, dass sie etwas Verbotenes tat. Außerdem war Harald viel, viel jünger als ihr Mann und wesentlich ausdauernder. Wenn sein Körper nur nicht durch diese ganzen Narben und Ringe und Stacheln entstellt gewesen wäre.
Gurra holte tief Luft. Wodurch könnten sie es herauskriegen? Niemand wusste davon, zumindest hatte sie niemandem ein Sterbenswörtchen erzählt. Ein letzter Funke von Vernunft hatte sie davon abgehalten, vor ihrer besten Freundin mit dem Seitensprung zu prahlen. Und auch Harald hatte bestimmt nicht darüber gesprochen. Er hatte es nicht nötig, mit so etwas anzugeben — in seiner Wohnung gaben sich die jungen Frauen die Klinke in die Hand, hauptsächlich zwei Mädchen, eine große Rothaarige und eine kleine Blonde. Die Polizei wusste davon nichts; Gurra hatte mehrmals kurz mit den Beamten gesprochen und die hatten weder mit Worten noch mit Gesten durchblicken lassen, dass sie das Verhältnis zwischen Harald und ihr für etwas anderes hielten als für ein Mietverhältnis. Am Ende war es allerdings auch nichts anderes mehr gewesen. Harald hatte ihr mitgeteilt, er habe keine Lust mehr, er habe wichtigere Dinge zu tun. Beim Gedanken daran verzog sie das Gesicht. Sie hatte diejenige sein wollen, die Schluss macht. Man musste ihm jedoch zugute halten, dass er sich ausgesprochen nett bedankt hatte. Trotzdem hatte sie die Fassung verloren. Gurra errötete bei dem Gedanken. Wie lächerlich und primitiv von ihr. Die Sache hatte sie nur deswegen so aufgeregt, weil sie gewusst hatte, was dahintersteckte, er es ihr aber verschwiegen hatte. Harald hatte nämlich eine Freundin. Gurra hatte sie in der Woche vor dem Mord mehrmals die Wohnung betreten und verlassen sehen. Ein anderes Mädchen, das, wenn Gurra nicht alles täuschte, vorher noch nie bei Harald gewesen war. Sie hatten Deutsch miteinander gesprochen; Isländerinnen waren ihm vielleicht nicht gut genug, wenn’s darauf ankam. Aber am meisten ärgerte sie sich über Haralds Doppelmoral; sie konnte ihren Ehemann betrügen, aber er war sich zu fein, seine kleine Freundin zu hintergehen.
Aber es war nun mal aus und vorbei, jetzt kam es darauf an, sich nicht mit Dingen zu belasten, die wahrscheinlich eh nie ans Licht kommen würden. Gurra ging in die Waschküche. Es war schon lange her, seit sie hier aufgeräumt hatte. Die Waschküche lag am Flur und man gelangte sowohl aus ihrer Wohnung als auch aus Haralds Diele hinein. Gurra schloss auf und betrat den Raum. Doch, hier konnte man sich eine Weile beschäftigen. Es gab sogar noch Pfotenabdrücke der Drogenspürhunde. Zum Glück war in der Waschküche nichts gefunden worden — Gurra wusste nicht, ob Alli und sie auf eine schwarze Liste gekommen wären, wenn man in der Gemeinschaftswaschküche Drogen gefunden hätte. Mit Drogen hatte Gurra nie zu tun gehabt. Jedenfalls hatte die Polizei nichts gefunden — die Hunde hatten überall herumgeschnüffelt und einer der Beamten hatte aus Neugier in den Trockner und die Waschmaschine geschaut. Mehr hatten sie nicht kontrolliert.
Gurra öffnete den Schrank und holte einen Schrubber und einen Eimer heraus. Als sie den Eimer nach vorn zog, kam ein Karton zum Vorschein. Normalerweise war der Schrank bis auf die Putzutensilien beider Wohnungen leer. Sie zog den Karton vorsichtig heraus. Er musste von Harald sein. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt in der Waschküche den Boden geputzt hatte. Guter Gott — es war genau an dem Tag gewesen, als Harald mit ihr Schluss gemacht hatte. Er war reingekommen, um Klamotten in die Waschmaschine zu schmeißen. Als sie ihm signalisiert hatte — damit auch keine Missverständnisse aufkamen –, dass sie nicht abgeneigt wäre, verkündete er lächelnd, es sei an der Zeit, die Sache zu beenden. Er musste den Karton kurz vor dem Mord in den Schrank gestellt haben. Warum nur? Er hatte den Platz, den sie ihm in der Abstellkammer angeboten hatte, nie in Anspruch genommen. Vielleicht wollte er vor seiner neuen Freundin etwas verstecken, hatte es in die Kiste getan und diese in den Schrank gestopft. In Anbetracht seines Äußeren und seiner merkwürdigen Wohnungseinrichtung war es nur schwer vorstellbar, dass er etwas zu verbergen hatte. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Es sei denn, er hatte seine sexuellen Abenteuer heimlich gefilmt und nicht gewollt, dass das Mädchen dahinterkam. Es gab wohl kaum etwas Abstoßenderes, als zu erfahren, dass man schon bald in die Sammlung eingereiht würde. Gurra stützte ihren Kopf in die Hände. Vielleicht war sie selbst auf einem Video oder einem Foto verewigt. Reglos stand sie da und starrte den Karton an. Sie musste ihn öffnen. Unbedingt. Den Karton öffnen und sich vergewissern, dass nichts darin war, was ihr Geheimnis enthüllen könnte.
Gurra bückte sich und öffnete den Pappdeckel. Sie starrte in den Karton. Keine Fotos — keine Videos. Stattdessen Küchenhandtücher, die um irgendwelche, vermutlich zerbrechlichen Gegenstände gewickelt waren, außerdem einige Dokumente in Plastikhüllen. Gurra fiel ein Stein vom Herzen. Sie griff nach einem Dokument — es war ein uralter, gewiss wertvoller Brief. Da sie den Text nicht richtig lesen konnte, klemmte sie sich den Brief unter den Arm, um ihn später genauer zu untersuchen. Sie blätterte durch die übrigen Papiere und sah zu ihrer großen Erleichterung, dass sie nichts mit Sex oder Haralds Privatleben zu tun hatten. Eines der Dokumente machte sie neugierig. Es war ziemlich unleserlich, irgendein Gekritzel mit roter Tinte, und das Papier — falls es sich überhaupt um Papier handelte — war dick, dunkel und wachsartig. Der Text war höchst merkwürdig und unten auf dem Blatt war eine Rune oder irgendein Symbol. Der Text war mit zwei Namen unterschrieben, beide schwer zu entziffern, aber Haralds Unterschrift erkannte sie aus dem Mietvertrag. Sie legte das Blatt wieder in den Karton. Seltsam.
Gurra schob die Dokumente beiseite, um an die zerbrechlichen, in Küchentücher gewickelten Gegenstände ganz unten in dem Karton zu gelangen. Sie griff nach einem Bündel und hob es vorsichtig heraus. Es war leicht, so als wären die Tücher leer. Sie öffnete es achtsam und starrte entsetzt auf den Inhalt. Dann stieß sie einen Schrei aus, zerknitterte dabei den alten Brief, den sie in der Hand hielt und warf das Küchentuch weg. In Panik rannte Gurra aus der Waschküche und warf die Tür ins Schloss.
Gunnar nahm den Hörer und wählte die Durchwahl von Maria, der Leiterin des Árni-Magnússon-Instituts. Es wäre nicht ungewöhnlich, sie noch in ihrem Büro anzutreffen, obwohl Samstag war. Eine große Ausstellung stand bevor und in Anbetracht der Hektik bei der letzten Ausstellung dieser Größenordnung stand wahrscheinlich das gesamte Institut Kopf. »Hallo Maria, hier ist Gunnar.« Er bemühte sich, seine Stimme autoritär klingen zu lassen — die Stimme eines Mannes, der alles im Griff hatte.
»Ach, du bist es.« Der kurzen Antwort nach zu schließen, war ihm dies gründlich misslungen. »Ich wollte dich auch gerade anrufen. Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Ja und nein«, antworte Gunnar zögernd. »Ich bin kurz davor, den Brief zu finden, glaube ich.«
»Da bin ich aber erleichtert, dass du glaubst, ihn zu finden«, sagte sie ironisch.
Gunnar hütete sich davor, einen Streit vom Zaun zu brechen. »Ich habe hier im Haus überall gesucht und Kontakt mit Bevollmächtigen von Haralds Familie aufgenommen. Sie suchen in seiner Wohnung. Der Brief muss dort sein — davon bin ich überzeugt.«
»Meinst du vielleicht, du glaubst, du bist davon überzeugt?«
»Hör zu, ich hab nur angerufen, um dich zu informieren — deine Spitzfindigkeiten kannst du dir sparen«, entgegnete Gunnar, obwohl er am liebsten aufgelegt hätte.
»Schon gut, entschuldige. Wir haben hier sehr viel zu tun wegen der Ausstellung. Ich bin ein bisschen gestresst. Nimm das nicht so ernst«, sagte Maria mit wesentlich freundlicherer Stimme. Dann fügte sie im selben Ton wie vorher hinzu: »Aber ich stehe zu meinem Wort, Gunnar. Du hast nur noch ein paar Tage Zeit, um den Brief zu finden. Ich kann nicht wegen deines Studenten irgendetwas geheim halten.«
Gunnar überlegte, wie viele Tage »ein paar« waren. Kaum mehr als fünf, wahrscheinlich eher drei. Aus Angst, sie könne die Frist verkürzen, wollte er sie nicht zu einer konkreteren Angabe drängen. »Das ist mir klar — ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt.«
Sie verabschiedeten sich wortkarg. Gunnar stützte sich auf die Ellbogen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er musste den Brief finden. Sonst wäre er vermutlich seinen Job los. Es war undenkbar, einen Institutsleiter des Diebstahls von Unterlagen einer ausländischen Bibliothek zu bezichtigen. Er spürte, wie Hass in ihm hochkochte. Dieser verfluchte Harald Guntlieb. Bevor er auf der Bildfläche erschienen war, hatte Gunnar sogar mit dem Gedanken gespielt, sich für die Position des Rektors zu bewerben. Jetzt sehnte er sich nur danach, dass sein Leben wieder in geregelten Bahnen verlief. Mehr nicht. Es klopfte an der Tür.
Gunnar erhob sich und rief: »Herein.«
»Guten Tag, darf ich dich kurz stören?« Es war Tryggvi, der Hausmeister. Er kam ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ruhig trat er an Gunnars Schreibtisch, lehnte aber den angebotenen Stuhl ab. Er streckte seinen Arm aus und öffnete die Hand.
»Eine der Putzfrauen hat das im Studentenzimmer gefunden.«
Gunnar griff nach dem kleinen Metallstern. Er betrachtete ihn von allen Seiten und schaute Tryggvi dann fragend an. »Was ist das? Das kann nicht viel wert sein.«
Der Hausmeister räusperte sich. »Ich glaube, der Stern stammt von den Schuhen dieses toten Studenten. Die Putzfrau hat ihn vor ein paar Tagen gefunden, mir aber erst jetzt davon erzählt.« Gunnar schaute ihn verständnislos an. »Na und? Ich verstehe nicht ganz.«
»Da war noch was. An einem Fenster hat sie getrocknetes Blut entdeckt.« Tryggvi schaute Gunnar in die Augen und wartete auf eine Reaktion.
»Blut? Aber er ist doch erwürgt worden«, entgegnete Gunnar erstaunt. »Das ist vielleicht irgendein älteres Blut.«
Tryggvi zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich wollte dir das Sternchen nur geben — du kannst selbst entscheiden, was du damit machst.« Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, hielt dann aber inne. »Er wurde natürlich mehr als nur erwürgt.«
Gunnar spürte, wie sich ihm beim Gedanken an die schreckliche Entstellung der Leiche der Magen umdrehte. »Ach ja, stimmt.« Ratlos starrte er das Sternchen an. Als Tryggvi wieder das Wort ergriff, schaute Gunnar auf.
»Ich bin sicher, dass der Stern von den Schuhen stammt, die Harald anhatte, als er ermordet wurde. Aber ich hab natürlich keine Ahnung, ob er schon vorher abgefallen ist.«
»Tja«, murmelte Gunnar. Er biss die Zähne zusammen, schaute Tryggvi entschlossen an, stand auf und sagte: »Danke, selbst wenn die Sache vielleicht keine Rolle spielt, war es richtig, mich darüber zu informieren.«
Der Hausmeister nickte bedächtig. »Da ist noch was«, sagte er dann und holte ein zusammengefaltetes Handtuch aus seiner Tasche. »Die Frau, die damals das Studentenzimmer geputzt hat, hat Blutspuren auf dem Fußboden entdeckt. Jemand hatte versucht, sie wegzuwischen. Und sie hat das hier gefunden.« Er reichte Gunnar das Handtuch. »Ich glaube, wir sollten die Polizei informieren.« Daraufhin bedankte er sich und ging hinaus. Gunnar setzte sich wieder, glotzte das Sternchen an und überlegte, was er tun sollte. War die Sache wichtig? Würde ein Anruf bei der Polizei alles wieder aufwühlen und den Fall erneut lostreten? Das durfte nicht passieren. Das durfte einfach nicht passieren, jetzt, wo sich die Wogen gerade wieder geglättet hatten. Aber da war natürlich noch dieser verdammte Brief. Gunnar stöhnte und legte den Stern beiseite. Er würde bis Montag warten. Er schlug das Handtuch auseinander. Es dauerte einen Moment, bis Gunnar begriff, was dieser unauffällige Gegenstand mit der Sache zu tun hatte. Als es ihm klar wurde, konnte er gerade noch die Hand vor den Mund schlagen, bevor er einen Schrei ausstieß. Er nahm das Telefon und wählte 112. Das konnte nicht bis Montag warten.
Die Fahrt nach Rangá war traumhaft. Das gute Wetter hatte sich gehalten, Schnee bedeckte die Landschaft und es war windstill und klar. Dóra saß höchst zufrieden auf dem Beifahrersitz des neu gemieteten Jeeps und betrachtete die Umgebung. Ihre Bitte an Matthias, den Gebirgskamm langsam hinunterzufahren, schmückte sie mit endlosen Geschichten von Verkehrsunfällen aus, was zur Folge hatte, dass sie sich nur im Schneckentempo vorwärts bewegten. Dóra zählte schon lange nicht mehr die Autos, die sie überholt hatten. Stattdessen nutzte sie die Zeit, um einen der beiden Ordner der Polizei mit den vollständigen Ermittlungsunterlagen durchzublättern. Dabei stieß sie auf die Beschreibung des T-Shirts, das man in Hugis Schrank gefunden hatte.
»Hören Sie sich das mal an!«, rief sie empört.
Matthias erschrak und der Wagen kam leicht ins Rutschen. »Was denn?«
»Das T-Shirt«, sagte Dóra aufgeregt und tippte energisch mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite. »Das T-Shirt ist dasselbe wie das von den Fotos von der Zungenoperation. 100% Silicon. Steht vorne drauf.«
»Na und?«, fragte Matthias verständnislos.
»Auf den Fotos war ein T-Shirt zu erkennen, auf dem 100 und ilic oder so was stand. Hier steht, dass das T-Shirt aus Hugis Schrank den Aufdruck 100% Silicon trägt. Das Blut muss von der Operation stammen.« Zufrieden schlug Dóra den Ordner zu.
»Hugi wird sich schon noch daran erinnern«, sagte Matthias. »Man bespritzt seine Klamotten ja schließlich nicht tagtäglich mit dem Blut anderer Leute.«
»Wir vielleicht nicht«, entgegnete Dóra. »Wissen Sie noch, dass Hugi behauptet hat, man hätte ihm das T-Shirt gar nicht gezeigt? Vielleicht konnte er sich wirklich nicht daran erinnern.«
»Vielleicht«, sagte Matthias. Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Als sie die Brücke über die Ytri Rangá nach Hella passierten, sagte Matthias plötzlich: »Sie kommen morgen.«
»Sie? Wer?«
»Amelia Guntlieb und ihre Tochter Elisa«, sagte Matthias. Sein Blick wich nicht von der Straße.
»Was? Sie kommen?«, fragte Dóra irritiert. »Warum?«
»Sie hatten Recht. Haralds Schwester war kurz vor dem Mord bei ihm. Sie möchte mit uns sprechen — ich habe ihre Mutter so verstanden, dass Harald seiner Schwester erzählt hat, woran er gerade arbeitete. Selbstverständlich nicht in allen Einzelheiten.«
»Tja«, sagte Dóra. »Ich verstehe ja, dass die Schwester kommt, aber warum die Mutter? Will sie uns überwachen, wenn wir mit ihrer Tochter sprechen?«
»Nein. Sie kommt, um sich mit Ihnen zu unterhalten. Unter vier Augen. Von Mutter zu Mutter — das waren ihre Worte. Sie wussten doch, dass Frau Guntlieb mit Ihnen sprechen möchte. Dachten Sie, das Gespräch würde am Telefon stattfinden?«
»Ja, eigentlich schon. Von Mutter zu Mutter? Sollen wir Bücher über Erziehungsfragen austauschen?« Dóra hatte nicht die geringste Lust, diese Frau zu treffen.
Matthias zuckte mit den Schultern. »Was weiß denn ich — ich bin keine Mutter.«
»Oh, Mann«, stieß Dóra hervor und sank in ihren Sitz. Sie dachte kurz nach, bevor sie vorsichtig weiterredete. »Diese Schwester — könnte sie irgendwie in die Sache verstrickt sein?«
»Nein. Ausgeschlossen.«
»Darf ich fragen, warum das ausgeschlossen ist?«
»Weil es ausgeschlossen ist. Elisa ist nicht so. Außerdem hat sie gesagt, dass sie freitags wieder zurück nach Hause geflogen ist, von Keflavík nach Frankfurt.«
»Und das genügt Ihnen? Dass sie das behauptet?«, fragte Dóra, überrascht, wie leichtgläubig er war.
Matthias warf Dóra einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder auf die Straße. »Nicht ganz. Ich habe es natürlich überprüfen lassen und glauben Sie mir, sie war wirklich in der Maschine.«
Dóra wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Am Ende beschloss sie, sich weitere Bemerkungen zu sparen, bis sie das Mädchen getroffen und mit ihm gesprochen hatte. Vielleicht hatte Matthias ja Recht. Gut möglich, dass die Schwester als Mörderin nicht in Frage kam. Dóra sah ein Schild mit der Aufschrift »Hótel Rangá«. »Dort«, Dóra zeigte Matthias einen Abzweig nach rechts, der zum Hotel führte. Sie folgten dem Weg in Richtung Fluss und auf die Anhöhe zu einem großen Blockhaus.
»Wissen Sie, dass ich seit zwei Jahren nicht mehr im Hotel übernachtet habe?«, sagte sie, während sie mit ihrem Reiseköfferchen auf das Gebäude zuging. »Seit meiner Scheidung.«
»Sie machen Witze«, entgegnete Matthias und nahm seine Tasche.
»Nein, ich schwöre es«, sagte Dóra. »Es war ein letzter Versuch, unsere Ehe zu retten. Vor zwei Jahren haben wir einen Wochenendtrip nach Paris gemacht. Seitdem war ich nicht mehr im Ausland oder in einem Hotel. Seltsam.«
»Der Trip nach Paris hat also keine Wunder bewirkt?«, fragte Matthias und hielt ihr die Tür auf.
Dóra schnaubte. »Nicht direkt. Da waren wir nun, um einen letzten Versuch zu unternehmen, unsere Beziehung zu retten, und anstatt bei einem Glas Wein über unsere Probleme zu sprechen, bat er mich andauernd, Fotos von ihm vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten zu machen.«
Direkt hinter der Eingangstür des Hotels stießen sie auf einen riesigen Eisbären — er stand auf den Hinterbeinen, mit weit aufgerissenen Augen, angriffsbereit. Matthias trat zu ihm und stellte sich in Positur. »Machen Sie doch mal ein Foto. Bitte!«
Dóra schnitt eine Grimasse und ging zur Rezeption. Hinter dem Computer saß eine ältere Frau in einem dunklen Kostüm und einer weißen Bluse. Sie lächelte Dóra entgegen. Dóra sagte ihr, sie habe zwei Zimmer reserviert, und nannte ihre Namen. Die Frau tippte etwas in den Computer, holte zwei Schlüssel und erklärte ihnen, wo die Zimmer waren. Dóra wollte gerade ihren Koffer nehmen und losgehen, als sie auf die Idee kam, die Frau zu fragen, ob sie sich an Harald erinnern konnte. Vielleicht hatte er nach einem Weg oder nach Informationen gefragt, die Matthias und sie auf die richtige Spur führen würden. »Ein Bekannter von uns ist im Herbst hier abgestiegen, er heißt Harald Guntlieb. Du erinnerst dich nicht zufällig an ihn?«
Die Frau schaute Dóra geduldig an, so als sei sie selbst die dümmsten Fragen gewöhnt. »Nein, an diesen Namen kann ich mich leider nicht erinnern«, antwortete sie höflich.
»Könntest du mal nachschlagen? Er war Deutscher, mit allen möglichen Piercings im Gesicht.« Dóra versuchte zu lächeln und so zu tun, als sei die Sache ganz alltäglich.
»Ich kann’s versuchen. Wie buchstabiert man den Namen?«, fragte die Frau und drehte sich wieder zum Bildschirm.
Dóra buchstabierte und wartete dann, während die Frau Informationen über Haralds Reservierung abrief. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Fenster nach dem anderem. »Hier ist es«, sagte die Frau endlich. »Harald Guntlieb, zwei Zimmer für zwei Nächte. Der andere Gast war Harry Potter. Kommt das hin?« Die Frau ließ sich von dem zweiten Namen nicht im Geringsten irritieren.
Dóra bejahte. »Kannst du dich an die beiden erinnern?«, fragte sie erwartungsvoll.
Die Frau betrachtete den Monitor und schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich habe zu der Zeit gar nicht gearbeitet. Ich war im Ausland. Wenn man in dieser Branche arbeitet, ist es schwierig, im Sommer Urlaub zu nehmen«, sagte sie entschuldigend, so als habe Dóra sie der Faulheit bezichtigt. Die Frau blickte wieder auf den Bildschirm. »Vielleicht erinnert sich der Barmann an ihn. Ólafur, wird Óli genannt, der war auf jeden Fall hier. Er arbeitet heute Abend.«
Dóra bedankte sich bei der Frau und sie gingen zu ihren Zimmern. Als sie fast um die Ecke des Flurs verschwunden waren, rief die Frau ihnen hinterher: »Ich kann hier sehen, dass er sich an der Rezeption eine Taschenlampe geliehen hat.«
Dóra drehte sich um. »Eine Taschenlampe?«, fragte sie. »Steht da auch, wozu?«
»Nein«, antwortete die Frau. »Es ist nur ein Vermerk, um sicherzugehen, dass er sie beim Auschecken zurückgibt.«
»Kannst du sehen, ob das nachts war?«, fragte Dóra. Vielleicht hatte Harald auf dem Vorplatz etwas verloren und wollte danach suchen.
»Nein, er hat die Taschenlampe bei einem Kollegen von der Tagesschicht geliehen«, antwortete die Frau. »Nur aus reiner Neugier — ist das nicht der Name des ausländischen Studenten, der in der Universität ermordet wurde?«
Dóra bejahte und bedankte sich bei der Frau für ihre Hilfe. Dann gingen Matthias und sie zu ihren direkt nebeneinanderliegenden Zimmern.
»Sollen wir uns eine halbe Stunde ausruhen?«, fragte Dóra, als sie ihr gut ausgestattetes Zimmer sah. Das große Bett war verführerisch und weckte in ihr sofort den Wunsch, sich einen Moment hinzulegen — die Bettdecke war groß und weich und das Laken frisch gebügelt. So etwas wurde einem schließlich nicht jeden Tag geboten. Dóras eigenes Bett war abends meistens immer noch unordentlich, weil sie sich morgens so beeilen musste.
»Ja, so eilig haben wir’s ja nicht«, antwortete Matthias, dem es offenbar ähnlich ging, »klopfen Sie einfach bei mir, wenn Sie fertig sind. Sie sind jederzeit in meinem Zimmer willkommen.« Er blinzelte ihr zu und schloss die Tür hinter sich, bevor Dóra antworten konnte.
Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen, ihren Reisekoffer ausgepackt und das Badezimmer und die Minibar inspiziert hatte, ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen. Dort lag sie, Arme und Beine weit von sich gestreckt, und genoss den Augenblick — der jedoch nicht lange anhielt, denn aus ihrer Handtasche ertönte ein Klingelton. Stöhnend erhob sie sich und holte ihr Handy. »Hallo.«
»Hi Mama!«, erklang eine muntere Stimme.
»Hallo Liebes«, sagte Dóra. Sie musste lächeln, als sie Sóleys Stimme hörte. »Was machst du gerade?«
»Oh«, sagte sie, weniger fröhlich als zuvor. »Wir fahren gleich zum Stall.« Dann flüsterte Sóley so leise, dass Dóra kaum ein Wort verstehen konnte, zumal ihre Tochter den Mund ganz dicht an den Hörer hielt. »Ich hab überhaupt keine Lust. Diese Pferde sind böse.«
»Ach komm schon!«, sagte Dóra. Sie versuchte, ihrer Tochter Mut zuzusprechen. »Sie sind nicht böse, Pferde sind sogar sehr lieb. Es wird bestimmt schön — ihr habt doch gutes Wetter, oder?«
»Gylfi hat auch keine Lust«, flüsterte Sóley. »Er sagt, Pferde sind out.«
»Erzähl mir mal was Schönes, was habt ihr denn heute gemacht?«, fragte Dóra, da sie wusste, dass sie nicht die richtige Person war, um eine Lanze für Pferde zu brechen.
Die Laune ihrer Tochter besserte sich. »Wir haben Eis bekommen und ich durfte Zeichentrickfilme ansehen. War super. Hör mal, Gylfi will mit dir sprechen.«
Bevor Dóra sich von ihrer Tochter verabschieden konnte, war ihr Sohn am Apparat. »Hi«, sagte er dumpf.
»Hallo, mein Schatz«, entgegnete Dóra, »Wie geht’s dir?«
»Schrecklich.« Gylfi versuchte gar nicht erst zu flüstern; Dóra hatte sogar den Eindruck, dass er extra laut sprach.
»Oh, ist es wegen der Pferde?«, fragte sie.
»Auch. Es ist einfach alles.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich muss dir was erzählen, wenn du morgen nach Hause kommst.«
»Natürlich, mein Schatz«, antwortete Dóra. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, dass er sich ihr endlich öffnen wollte, oder ob sie Angst davor hatte. »Ich freue mich darauf, euch morgen Abend zu sehen.« Sie verabschiedeten sich und Dóra machte einen erneuten Versuch, ein Nickerchen zu halten — ohne Erfolg. Schließlich stand sie auf und stellte sich unter die heiße Dusche.
Während sich Dóra mit den dicken, schneeweißen Handtüchern abtrocknete, fiel ihr Blick auf einen Prospekt mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Sie suchte darin nach Orten, die Harald interessiert haben könnten. Es gab zwar viel zu sehen, aber das Wenigste schien eine Verbindung zu dem Fall zu haben. Einige Orte weckten jedoch Dóras Aufmerksamkeit. Eine ganze Seite war Skálholt gewidmet. Dieser Ort hatte Harald natürlich wegen der Bischöfe interessiert: Jón Arason in Hólar und Brynjólfur Sveinsson in Skálholt. Zwei weitere Sehenswürdigkeiten schienen Dóra in Frage zu kommen: der Berg Hekla sowie einige Höhlen aus der Zeit der Papar, die Ægisíða-Höhlen in der Nähe des Städtchens Hella. Sie hatte noch nie zuvor von den Höhlen gehört. Dóra überlegte, ob der Ort Hella nach diesen Höhlen benannt war. Sie markierte die Seiten mit den Beschreibungen der drei Orte. Dann zog sie sich schnell an: warme, dicke, wenn auch etwas unbequeme Kleidung. Falls sie in den Höhlen umhertapern würden, wäre es sicher von Vorteil, gut ausgerüstet zu sein. Im Geiste sah sie Matthias in Lackschuhen vor sich, wie er durch das Geröll stolperte. Aus reiner Schadenfreude beschloss sie, ihm erst von den Höhlen zu erzählen, wenn sie sich schon ein Stück vom Hotel entfernt hätten. Sie band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz, zog den Daunenanorak über und verließ das Zimmer. Dann klopfte Dóra leicht an Matthias’ Zimmertür. Ihr Knöchel hatte sich kaum von der Tür gelöst, da öffnete er schon. Dóra musterte Matthias’ Aufmachung und grinste breit. »Schicker Anzug«, kommentierte sie voller Vorfreude. »Und elegante Schuhe.« Aus frisch poliertem Leder, hatten zweifellos ein Vermögen gekostet. Dóra verdrängte ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihn nicht vorwarnte. Er besaß bestimmt eine Unmenge von Schuhen.
»Das ist kein Anzug«, gab Matthias halb beleidigt zurück. »Das ist ein Jackett mit einer separaten Hose. Da gibt es einen Unterschied. Anscheinend wissen Sie das nicht.«
»Oh, Verzeihung, Mister Kate Moss«, sagte Dóra, mit ihrem Gewissen und der drohenden Misshandlung der Schuhe nun wieder vollkommen im Reinen.
Matthias ließ ihr das letzte Wort, schloss die Tür und rasselte mit den Autoschlüsseln. »Also dann, wohin soll’s gehen?«
Dóra schaute auf die Uhr in ihrem Handy. »Es ist jetzt kurz vor vier. Am besten wir beginnen in Skálholt und dann schauen wir mal.«
»Alles klar, Frau Reiseleiterin«, sagte Matthias, während er nachdenklich ihre Aufmachung musterte. »Ist Ihnen bekannt, dass es hier im Hotel ein ausgezeichnetes Restaurant gibt? Wir müssen nicht auf die Jagd gehen.«
»Ha, ha«, entgegnete Dóra. »Ich sehe lieber lächerlich aus und friere nicht, als dass ich die ganze Zeit versuche, cool zu wirken.«
Als sie in Skálholt ankamen, dämmerte es. Sie eilten in die offen stehende Kirche und stießen auf einen jungen Mann, der sie herzlich grüßte und fragte, ob er ihnen helfen könne. Sie erklärten ihm, sie hofften, jemanden anzutreffen, der vor einiger Zeit ihrem Bekannten begegnet sei. Sie beschrieben Haralds Äußeres.
»Hören Sie«, rief der junge Mann, als Dóra gerade dabei war, die Piercings in Haralds rechter Augenbraue zu beschreiben. »Meinen Sie den ermordeten Studenten? Den hab ich getroffen!«
»Erinnern Sie sich vielleicht daran, was ihn hergeführt hat?«, fragte Dóra mit breitem Lächeln.
»Lassen Sie mal sehen — wenn mich nicht alles täuscht, wollte er etwas über Jón Arason und dessen Hinrichtung wissen. Ja, und über Brynjólfur Sveinsson.« Er schaute die beiden an und fügte hastig hinzu: »Das ist nichts Ungewöhnliches — wir haben viele Besucher, die diese Geschichten kennen und mehr darüber wissen möchten. Selbstverständlich haben sie eine gewisse Anziehungskraft, obwohl sie grauenhaft und traurig sind. Die Leute staunen beispielsweise darüber, dass Jón Arason mit sieben Schlägen geköpft wurde; sein Kopf wurde im Grunde zertrümmert.«
»Ging es dem Studenten nur um die Bischöfe im Allgemeinen?«, fragte Dóra. »Oder interessierte er sich in diesem Zusammenhang für etwas Spezielles?«
Der junge Mann wendete sich an Matthias. »Ich weiß nicht, wie viel Sie über die Geschichte von Jón Arason wissen.«
Matthias merkte, dass er angesprochen wurde, und entgegnete: »Ich weiß ungefähr genauso viel über ihn wie über seine Mutter. Nämlich gar nichts.«
»Ach so.« Der junge Mann konnte seine Empörung nicht verbergen. »Um es kurz zu machen: Jón Arason war der letzte katholische Bischof in Island, er residierte ab 1524 in Hólar im Hjaltadalur, und Skálholt war zeitweise ebenfalls seine Diözese. 1550 wurde er hier in Skálholt geköpft. Dies geschah im Zuge eines Beschlusses des dänischen Königs, Christian III., aus dem Jahr 1537. Er ordnete an, den Katholizismus in Island, wie in den anderen dänischen Herrschaftsgebieten, abzuschaffen. Jón Arason wollte dies verhindern und stritt mit den Anhängern der Reformation, aber es war alles umsonst und er endete auf dem Schafott. Die Hinrichtung ist ziemlich speziell, da er zwei Wochen vorher bis zur nächsten Thing-Versammlung für unantastbar erklärt worden war. Erst dann hätte ein Urteil über ihn und seine beiden Söhne gefällt werden müssen. Sie wurden ebenfalls hingerichtet.«
Matthias runzelte die Stirn. »Seine Söhne? Er war doch katholischer Bischof. Wieso hatte er Söhne?«
Der junge Mann lächelte. »Island war eine Art Sonderfall — ich weiß nicht, wie es dazu gekommen war –, aber Pfarrer, Küster und Bischöfe durften Gefährtinnen haben. Sie durften sogar mit einer Frau einen Gütervertrag eingehen, der einem Ehevertrag fast gleichgestellt war. Wenn sie Kinder bekamen, zahlten sie eine Geldbuße, und alle waren glücklich und zufrieden.«
»Das ist ja praktisch«, sagte Matthias mit verwundertem Gesichtsaudruck.
»Sehr«, war die amüsierte Antwort. »Ihr Bekannter Harald schien diese Geschichte gut zu kennen; er muss sie ausgiebig studiert haben. Das war jetzt natürlich nur ein Schnelldurchlauf. Aber es führt mich endlich zu ihrer Frage.« Er schaute Dóra an, die ihre Frage schon längst vergessen hatte, aber versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ihr Bekannter interessierte sich bei unserem Gespräch besonders für eine Sache: die erste Druckerpresse, die Jón Arason im Jahr 1534 nach Island brachte und die in Hólar in Betrieb genommen wurde. Und für die Texte, die dort gedruckt wurden.«
»Und?«, fragte Dóra. »Was wurde dort gedruckt?«
»Eine gute Frage«, antwortete der junge Mann. »Eigentlich weiß man so gut wie nichts darüber. In einigen Quellen ist von einem Jahrbuch für Priester die Rede, eine Art Handbuch mit einem Messkalender, Psalmen und Ähnlichem. Außerdem wurden irgendwann die vier Evangelien aus dem Neuen Testament gedruckt. Anderes ist, soweit ich weiß, aus der Zeit von Bischof Jón nicht überliefert. Ihr Bekannter stellte allerdings recht ungewöhnliche Fragen — zum Beispiel, ob Jón Arason nicht möglicherweise ein damals sehr beliebtes Buch hatte herausgeben wollen. Ich dachte, er meinte die Bibel, aber er lachte mich nur aus. Ich hab seinen Humor wohl nicht richtig verstanden.«
»Nein, das kann ich mir vorstellen«, entgegnete Matthias und warf Dóra einen Blick zu. »Malleus?« Sie hatte genau dasselbe gedacht. Malleus Maleficarum war neben der Bibel das meistgedruckte Buch der damaligen Zeit. Vielleicht wollte Harald herausfinden, ob es in Island gedruckt worden war. Ein solches Exemplar wäre natürlich sehr wertvoll, zumal es für einen leidenschaftlichen Sammler wie Harald einen hohen Sammlerwert hatte.
»Und was wollte er über Brynjólfur Sveinsson wissen?«, fragte Dóra.
»Das war ein bisschen sonderbar«, antwortete der junge Mann. »Erst wollte er nur sein Grab sehen — was nicht möglich ist, da es nie gefunden wurde.«
Dóra fiel ihm ins Wort. »Nie gefunden? Wurde er nicht hier begraben?«
»Doch, schon, aber er wurde auf eigenen Wunsch außerhalb der Kirche neben seiner Frau und seinen Kindern begraben. Es gibt eine Beschreibung der Grabstelle, aber sie wurde noch nicht ausgehoben. Er wollte in ungeweihter Erde ruhen.«
»Ist das nicht eigenartig?«, fragte Dóra.
»Ja, allerdings. Die Grabstelle wurde später markiert, mit einer Holzbefestigung, die dreißig Jahre lang standhielt. Dann verfiel sie und wurde nicht wieder aufgebaut. Im Grunde weiß niemand, warum er sich nicht unter dem Kirchenboden begraben ließ, wie es damals Sitte war. Man sagt, er habe bei der Grablegung eines Priesters der Skálholt-Kirche gesehen, wie eng es dort unten geworden sei. Wahrscheinlich wollte er diese Sitte abschaffen.«
»Und tat er das?«, fragte Matthias. »Wurde sie abgeschafft?«
»Nein, nein, keinesfalls. Vielleicht gab es aber auch einen anderen Grund. Brynjólfur war ein gebrochener Mann, als er starb. Verständlicherweise — dieser bemerkenswerte Mann starb ganz allein, seine gesamte Familie war tot und er hatte keine lebenden Nachkommen. Dieses Schicksal berührt die meisten.«
»Aber Sie sagten doch«, wandte Dóra ein, »Harald habe zunächst nur Brynjólfurs Grab sehen wollen — und dann?«
»Ja, genau. Als ich merkte, wie enttäuscht er wegen des Grabes war, sprach ich mit ihm über Brynjólfur im Allgemeinen. Ich hab ihm den Keller mit der archäologischen Sammlung gezeigt, dann die Ausgrabungsstätte. Wir kamen auf Brynjólfurs Handschriften zu sprechen — wissen Sie, dass er eine große Sammlung mit isländischen und ausländischen Handschriften besaß?« Dóra und Matthias schüttelten die Köpfe. »Wissen Sie, dass er dem dänischen König Friedrich einige der bemerkenswertesten Pergamente des Landes überließ? Ihr Bekannter war ganz aufgeregt, als ich ihm von den Handschriften erzählte, und wollte wissen, was nach Brynjólfurs Tod mit ihnen geschehen war. Ich konnte ihm nichts Genaues darüber sagen, wusste aber, dass er dem Sohn des damaligen Landvogts in Bessastaðir, einem Dänen namens Johann Klein, die ausländischen Bücher übergab. Die isländischen Bücher teilte er zwischen seiner Kusine Helga und seiner Schwägerin Sigríður auf. Ein Teil der ausländischen Bücher kam wohl abhanden; jedenfalls fehlten einige, als Johann Klein aus Bessastaðir herkam, um sie abzuholen. Man glaubt, die Leute von Skálholt hätten einen Teil der Bücher versteckt, damit sie nicht nach Dänemark gelangten. Diese Bücher und Handschriften sind nie gefunden worden. Man weiß noch nicht mal genau, um welche Art Schriften es sich handelte.«
»Wo könnte man sie denn versteckt haben?«, fragte Dóra und schaute sich um.
Der junge Mann lächelte. »Hier drinnen jedenfalls nicht. Dieses Gebäude ist von 1956. Die alte Kirche, die Brynjólfur in den Jahren 1650 und 1651 bauen ließ, fiel 1784 einem Erdbeben zum Opfer.«
»Aber hat man nicht versucht, die Bücher zu finden?«
»Wir haben noch nicht mal die Grabstätte von Brynjólfur und seiner Familie gefunden, obwohl es eine Ortsbeschreibung gibt. Er starb 1675. Es ist völlig abwegig, nach Büchern zu suchen, die vielleicht damals hier vergraben wurden. Es ist auch nicht genau überliefert, was mit den vererbten Büchern geschah. Árni Magnússon fand angeblich einige von ihnen, als er Ende des 17. Jahrhunderts begann, Handschriften zu sammeln. Ein paar Bücher sind an Brynjólfurs Monogramm zu erkennen.«
»BS?«, fragte Dóra, nur um etwas zum Gespräch beizutragen.
»Nein. LL«, antwortete der junge Mann und lächelte.
»LL?«
»Loricatus Lupus — lateinisch für ›geharnischter Wolf‹ oder auf Isländisch: Brynjólfur.« Er lächelte Dóra zu, die instinktiv mit den Fingern schnippte — Loricatus Lupus stand auf Haralds Notizzettel. Falls dieses Gekritzel etwas mit dem Mord zu tun hatte, waren sie ganz gewiss auf der richtigen Spur.
Kurz darauf war das Gespräch beendet. Matthias und Dóra bedankten sich für die Auskünfte und verabschiedeten sich. Bevor Matthias den Motor anließ, drehte er sich zu Dóra und sagte:
»Loricatus Lupus, tja. Sollen wir warten, bis alle weg sind, und dann die ganze Gegend umgraben?«
»Ja, unbedingt«, entgegnete Dóra grinsend. »Fangen wir auf dem Friedhof an.«
»Okay, die Schaufel nehmen Sie — immerhin tragen Sie die passende Kleidung fürs Graben. Ich leuchte Ihnen mit den Autoscheinwerfern.«
Sie ließen Skálholt hinter sich. »Ich weiß, wohin wir als Nächstes fahren«, sagte Dóra unschuldig. »In der Nähe von Hella gibt es ein paar Höhlen, angeblich von den Papar. Vielleicht entdecken wir dort etwas, das Haralds Interesse an diesen Einsiedlermönchen erklärt. Mein Gefühl sagt mir, dass er sich die Taschenlampe ausgeliehen hat, um sich in den Höhlen umzusehen.«
Matthias zuckte die Achseln. »Die sind bestimmt einen Blick wert — haben wir eine Taschenlampe?«
»Wir halten an der Tankstelle und besorgen uns eine.«
Als sie in Hella ankamen, war es stockdunkel. Sie fuhren zur Tankstelle und kauften zwei Taschenlampen. Auf ihre Frage nach den Höhlen verwies sie der Tankwart an das Hótel Mosfell. Da es nur einen Katzensprung entfernt war, gingen sie zu Fuß. Ein sympathischer, älterer Mann kam mit ihnen hinaus und zeigte ihnen die Höhlen, deren Umrisse sich jenseits der Nationalstraße auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses abzeichneten. Er erklärte ihnen auch den besten Fußweg, da man mit dem Auto nicht bis an die Höhlen heranfahren konnte. Nachdem sie sich herzlich bei ihm bedankt hatten, gingen sie wieder zum Auto und fuhren über die Brücke bis zu der Stelle, an der sie nach Aussage des Mannes den Wagen parken sollten. Zu Dóras großer Freude mussten sie ein kurzes Stück über eine Wiese laufen, die zu einem Bauernhof gehörte. Matthias rutschte unentwegt mit seinen glatten Schuhsohlen aus, fing sich aber jedes Mal wieder, indem er wild mit den Armen wedelte. Als sie den Rand der Senke, die zu den Höhlen führte, erreicht hatten, war Dóra in bester Laune.
»Da«, sagte sie und zeigte geradeaus. Sie schaute ihn mit gespielter Sorge an. »Glauben Sie, Sie schaffen es ohne Probleme den Hang hinunter?«
Matthias schnitt eine Grimasse und bemühte sich, männlich zu erscheinen. Anschließend tippelte er wie ein neunzigjähriger Greis den Abhang hinunter, während Dóra wie ein junges Reh nach unten hüpfte. Dort angekommen, genoss sie den Anblick und rief ihm hämisch zu: »Beeilen Sie sich!« Matthias ignorierte sie. Schließlich kam er heil unten an.
»Was für eine Hektik«, sagte er und schaltete seine Taschenlampe ein. »Sind Sie so ungeduldig, weil Sie es nicht erwarten können, mit mir essen zu gehen?«
Dóra knipste ihre Taschenlampe ebenfalls ein und richtete den Lichtstrahl auf Matthias’ Gesicht. »Nicht unbedingt. Kommen Sie.« Sie drehte sich auf dem Fuß um und betrat die erste Höhle.
»Wow, wie haben die das bloß hingekriegt?«, sagte sie verdutzt und ließ den Lichtstrahl durch den riesigen Raum wandern. Die Papar mussten die Höhlen mit primitiven Werkzeugen in den Sandstein gehauen haben.
»Wozu sollten die Höhlen eigentlich gut sein?«, fragte Matthias.
»In erster Linie Schutzunterkünfte«, tönte eine unbekannte Stimme vom Höhleneingang.
Dóra stieß einen spitzen Schrei aus und ließ ihre Taschenlampe fallen. Sie rollte über den unebenen Höhlenboden und der Lichtschein wirbelte über die gegenüberliegende Wand. »Oh Gott, hab ich mich erschreckt«, sagte Dóra und bückte sich nach der Lampe. »Wir haben nicht damit gerechnet, hier jemanden zu treffen.«
»Entschuldigung, ich wollte euch keinen Schreck einjagen«, sagte der Mann, der schon recht betagt wirkte. »Aber jetzt sind wir ja quitt«, fügte er hinzu. »Ich hab mich schon lange nicht mehr so erschreckt, wie bei deinem Geschrei eben. Ich habe einen Anruf vom Hótel Mosfell bekommen und die haben mir erzählt, dass Touristen zu den Höhlen unterwegs sind. Ich dachte, ihr hättet vielleicht Interesse an einer Führung. Ich heiße Grímur, mir gehört das umliegende Land. Die Höhlen sind ein Teil davon.«
»Ja, gern«, sagte Dóra überrascht. Diese Ländereien waren nicht zu verachten. »Wir hätten sehr gern eine Führung — wir wissen nur wenig über diese Gegend.«
Der Mann betrat die Höhle und begann zu erklären. Er sprach Isländisch und Dóra übersetzte das Wichtigste für Matthias. Unter anderem zeigte Grímur ihnen, wie die Lagerstätten an den Wänden hergestellt worden waren, außerdem einen Entlüftungsschacht, der durch die Decke gehauen worden war, um Luft hinein- und Rauch hinauszulassen, und einen Altar mit einem Kreuz, das die Papar in die Wand gemeißelt hatten. »Aha«, sagte Dóra beeindruckt. »Das ist ja wirklich beachtlich.«
»Ja, das ist es«, sagte der Mann mit verschmitztem Gesichtsausdruck. »Dieses Land war nicht leicht zu besiedeln, das steht fest. Man musste eine Menge durchmachen, um sich eine Behausung zu schaffen.«
»Da hast du Recht.« Dóra schaute sich noch einmal mit Hilfe der Taschenlampe um. »Wurden die Höhlen erforscht? Ich meine, könnten sich hier irgendwelche Schätze verbergen?«
»Schätze?« Der Mann war überrascht. Dann lachte er auf. »Meine Liebe, die Höhle wurde bis 1950 als Stall benutzt. Hier ist kaum etwas zu finden. Es müsste schon verdammt gut versteckt sein.«
»Hm«, sagte Dóra enttäuscht. »Die ganze Gegend wurde also untersucht?«
»Nein, das hab ich nicht gesagt«, antwortete der Mann. »Meines Wissens gab es nur einmal eine Ausgrabung in meinen Höhlen.«
»Wann war das?«, fragte Dóra. »Kürzlich?«
Der Mann lachte. »Nein, das kann man wohl kaum als kürzlich bezeichnen. Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber es ist schon ein paar Jahre her. Wie nicht anders zu erwarten, kam nicht viel bei der Sache herum. Es wurden Reste von Tierknochen gefunden und ein Loch, das wohl zum Kochen verwendet wurde.« Er zeigte auf eine Ausbuchtung in der Erde, unweit des Altars.
Dóra fragte den Mann am Ende, ob er etwas von Haralds Besuch in den Höhlen mitbekommen habe. Die Beschreibung von Harald sagte dem Mann nichts, aber er betonte, das bedeute nicht unbedingt, dass er nicht da gewesen sei — die Höhlen seien nicht eingezäunt und es gelangten leicht Leute hinein, ohne dass die Bewohner des Hofes davon etwas merkten.
»Ziehen Sie sich was anderes an, Crocodile Dundee«, sagte Matthias, als sie wieder beim Hotel waren. »Ich bin in der glücklichen Lage, nur meinen Mantel ausziehen zu müssen und direkt an die Bar gehen zu können. So hole ich die Zeit wieder heraus, die ich an diesem Hang vergeudet habe.«
Dóra schmollte, eilte aber dennoch ins Hotel, um sich umzuziehen. Sie zog eine schicke Hose und eine schlichte, weiße Bluse an, wusch sich das Gesicht und trug ein wenig Lippenstift auf. Man konnte sich ruhig ein bisschen zurechtmachen, wenn man zum Essen eingeladen wurde.
An der Bar stand Matthias, bereits im Gespräch mit dem Barmann — hoffentlich dieser Óli. Matthias lächelte ihr entgegen, offensichtlich erfreut über ihre Verwandlung.
»Schick«, sagte er kurz und bündig. »Das ist Óli. Er hat mir von Harald und Harry Potter erzählt, er kann sich gut an die beiden erinnern. Tranken jede Menge und waren anders als die anderen Gäste.«
»Das ist vorsichtig ausgedrückt«, sagte Óli und fragte Dóra, was sie trinken wolle.
»Ein Glas Weißwein, bitte.« Sie fragte Óli, was er mit »anders« gemeint habe.
»Ach, nur so«, entgegnete er. »Sie haben sich einen Tequila nach dem anderen hinter die Binde gekippt, einen auf Luftgitarre gemacht und so — das wird uns hier nur selten geboten. Und dann das Aussehen von diesem Harald. Die anderen Gäste haben nur mit offenen Mündern dagesessen und die beiden angeglotzt. Außerdem haben sie gequalmt wie die Schlote, ich musste sie ununterbrochen mit Zigarren versorgen.«
Dóra schaute sich in der gemütlichen, unter einer Dachschräge gelegenen Bar um. An diesem Ort war Luftgitarre wirklich nicht gerade das Erste, was einem in den Sinn kam, eher Luftgeige, falls es so etwas gab. Sie drehte sich wieder zu Óli. »Harry Potter — wissen Sie, wie er wirklich hieß?«
Der Barmann grinste. »Er hieß Dóri. Im Laufe des Abends wurden sie viel zu betrunken, um sich noch daran zu erinnern, dass er eigentlich Harry Potter heißen sollte. Am Anfang haben sie das allerdings ziemlich konsequent durchgezogen.«
Mehr war aus Óli, dem Barmann, nicht herauszubekommen. Dóra und Matthias setzten sich in ein großes Ledersofa, stießen an und unterhielten sich über die Ereignisse des Tages. Eine Bedienung kam mit den Speisekarten und nachdem sie bestellt hatten, nahm Matthias einen weiteren Drink. Sehr zu ihrer Verwunderung war Dóras Glas ebenfalls leer und sie hatte nichts gegen ein zweites einzuwenden. Nach dem Essen gingen sie wieder in die Bar und nach dem dritten Glas Cointreau war Dóra kurz davor, für Matthias und den Barmann Óli ein Luftgitarrensolo aufs Parkett zu legen. Stattdessen lehnte sie sich an Matthias’ Schulter.
Dóra erwachte mit pochenden Adern, so als ob ihr Gehirn versuchte, aus ihrem Schädel zu entfliehen. Sie legte sich die Hand auf die Stirn und stöhnte. Ausgerechnet Cointreau. Eigentlich sollte sie wissen, dass Likör der lateinische Ausdruck für Kater ist. Sie atmete tief ein und drehte sich auf die Seite. Dabei stieß ihr Kopf gegen etwas Warmes. Entsetzt riss sie die Augen auf. In ihrem Bett lag ein Mann. Sie blickte auf Matthias’ Rücken. Oder Ólis? In Gedanken spulte sie die Ereignisse des gestrigen Abends ab und seufzte dann erleichtert. Immerhin hatte sie die richtige Wahl getroffen. Der Nebel in ihrem Kopf machte es nicht gerade leichter, einen Ausweg zu finden — wie konnte sie sich unbemerkt, ohne Matthias zu wecken, aus dem Staub machen? Und was noch schwieriger war: Wie sollte sie sich verhalten? Sollte sie so tun, als wäre nichts geschehen? Vielleicht erinnerte er sich nicht mehr daran? Das war die Lösung: Hinausschleichen, ihn anschließend treffen und hoffen, dass er viermal so viel getrunken hatte wie sie.
Der Plan zerbröselte, als Matthias sich plötzlich umdrehte und sie anlächelte. »Guten Morgen«, sagte er mit rauchiger Stimme. »Wie geht’s dir?«
Dóra zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn. Unter der Decke war sie nackt. Wenn sie jetzt einen Wunsch freihätte, dann wollte sie vollständig bekleidet sein. Sie gab ein schwer verständliches Röcheln von sich, bis ihre Stimmbänder wieder funktionierten.
»Nur eine Sache. Damit wir uns einig sind, weißt du.« Matthias schaute sie verständnislos an, ließ sie aber weiterreden. »Das mit gestern Abend, das war nicht ich, sondern der Alkohol. Du hast mit einer Cointreau-Flasche geschlafen — nicht mit mir.«
»Aha«, sagte Matthias und stützte sich auf den Ellbogen. »Diese Alkoholflaschen überraschen einen immer wieder. Ich wusste gar nicht, dass sie zu so etwas in der Lage sind. Du hast sogar meine Schuhe angehimmelt. Wolltest unbedingt, dass ich sie anbehalte.«
Dóra errötete. Sie überlegte, wie sie ihre Sittsamkeit weiter verteidigen könnte, aber ihr fiel nichts ein. Nach und nach drangen die Ereignisse des gestrigen Abends wieder in ihr Gedächtnis und sie musste sich eingestehen, dass sie es nicht bedauerte. »Ich weiß auch nicht, was mit mir passiert ist«, sagte sie und wurde wieder rot.
»Warum bist du denn so nervös?«, fragte Matthias und legte seinen Kopf auf ihr Kissen.
»Ich mache so was eben nicht — das ist alles. Ich bin Mutter von zwei Kindern und du bist Ausländer.«
»Da du Mutter von zwei Kindern bist, sollte dir das Ganze ja nicht unbekannt sein.« Er grinste. »Es ist wohl überall ungefähr gleich, nehme ich an.«
Dóras Gesicht wurde noch röter. Ihre Panik verstärkte sich, als ihr auf einmal Amelia Guntlieb einfiel. »Wirst du den Guntliebs davon erzählen?«
Matthias lehnte den Kopf zurück und prustete los. Als sein Gelächter nachgelassen hatte, schaute er sie an und sagte ruhig: »Selbstverständlich. In meinem Vertrag gibt es eine Klausel, die mich dazu verpflichtet, jeweils zum Monatsende einen Bericht über mein Sexualleben abzugeben.«
Als er merkte, dass Dóra wegen seines Witzes verunsichert war, fügte er hinzu: »Natürlich nicht; wie kommst du denn auf so was?«
»Ich weiß nicht — ich möchte nur nicht, dass die Leute denken, ich würde es darauf anlegen, mit meinen Kollegen zu schlafen. So was hab ich noch nie gemacht.« In Anbetracht der Tatsache, dass sie mit dem betagten Bragi, der nervigen Bella und dem tugendhaften þór zusammenarbeitete, war diese Erklärung eigentlich überflüssig.
»Das hab ich nie gedacht«, sagte Matthias. »Ich bin davon ausgegangen, dass du in diesem Moment einfach mit mir schlafen wolltest — du konntest meinem Sexappeal eben nicht widerstehen.« Er schaute sie neckisch an.
Dóra verdrehte die Augen. »Ich hab einen tierischen Kater. Ich kann noch nicht wieder klar denken.«
Matthias erhob sich. »Ich habe Alka-Seltzer. Ich gebe dir ein Glas, dann fühlst du dich sofort besser.«
Bevor Dóra »nein« schreien konnte — ihr war klar, dass er ebenso wenig bekleidet war wie sie –, war Matthias schon aufgestanden und ins Bad gegangen. Splitterfasernackt. Warum haben Männer so viel weniger Schamgefühl als Frauen?, dachte Dóra. Eine andere Erkenntnis verdrängte ihre Grübeleien — er war verdammt gut gebaut! Bei Licht betrachtet, war die Sache vielleicht gar nicht so dumm gewesen. Sie hörte, wie im Badezimmer das Wasser aus dem Hahn floss, und schloss wieder die Augen.
Dóra öffnete ihre Augen erst wieder, als sie spürte, wie Matthias unter die Bettdecke kroch. Er hielt ein Glas mit sprudelndem Wasser in der Hand und Dóra riss sich zusammen — sie richtete sich auf und trank das Glas in einem Zug aus. Dann ließ sie sich wieder ins Kissen fallen und wartete darauf, dass das mulmige Gefühl vorüberging. Nachdem sie ein paar Minuten so dagelegen hatte, spürte sie durch die Bettdecke ein Piksen in ihrer Schulter. Sie schlug die Augen auf.
»Hör mal.« Matthias drehte ihr den Kopf zu. »Was hältst du davon?«
»Wovon?«, fragte Dóra unschuldig. Es ging ihr jetzt schon viel besser.
»Was hältst du davon, deine Meinung zu überdenken, dass es ein Fehler war?« Er lächelte ihr zu. »Wenn du darauf bestehst, ziehe ich auch die schicken Schuhe an.«
Dóra wurde vom Brausen des fließenden Wassers aus der Dusche geweckt. Sie sprang auf wie eine Feder und schmiss sich hüpfend in ihre Klamotten. Sie fand die zweite Socke nicht und nahm die restlichen Sachen in die Hand. Dann rief sie ins Badezimmer, sie träfen sich beim Frühstück. Erleichtert schloss sie ihre Zimmertür hinter sich.
Nachdem Dóra lange und heiß geduscht hatte, fühlte sie sich körperlich und seelisch gestärkt. Bevor sie ihr Zimmer wieder verließ, holte sie ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Freundin Laufey.
»Weißt du, wie spät es ist?«, antwortete Laufey verschlafen.
Dóra ging nicht darauf ein, zumal es kurz vor zehn war. »Mein Gott, rate mal, was passiert ist«, sagte sie atemlos.
»Äh, da du so aufgeregt klingst und zu einer derart unchristlichen Zeit anrufst, muss es etwas wahnsinnig Wichtiges sein.«
Darauf folgte ein Gähnen.
»Ich hab mit einem Mann geschlafen!« Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Laufey war bei der Neuigkeit offenbar aufgesprungen, denn als Dóra den Satz gerade beendet hatte, ertönte ein schreckliches Gepolter.
»Autsch! Nun sag schon — wer? Wer ist es?«
»Matthias, der Deutsche. Alles andere erzähle ich dir später; ich treffe ihn gleich zum Frühstück. Wir sind in einem Hotel.«
»In einem Hotel? Man darf dich wirklich nicht aus den Augen lassen!«
»Wir reden später miteinander — ich hab ein bisschen Bammel. Ich muss ihm irgendwie verständlich machen, dass das Ganze nur ein Zufall war und dass ich keine Beziehung möchte.«
Vom anderen Ende der Leitung erklang brüllendes Gelächter. »Hallo? Wo bist du denn in der letzten Zeit gewesen? Hast du zu viel Teletubbies geguckt? Die wenigsten Single-Männer in diesem Alter sind auf der Suche nach einer komplizierten Beziehung. Mach dir keine Gedanken, Süße.«
Dóra verabschiedete sich, ein wenig enttäuscht über diese Neuigkeit, die sie eigentlich hätte erfreuen sollen. Sie beeilte sich, in den Speisesaal zu kommen, nachdem sie ihr Bettzeug ein bisschen in Unordnung gebracht hatte. Das Hotelpersonal sollte sie schließlich nicht für ein Flittchen halten. Matthias saß an einem kleinen Tisch am Fenster des Speisesaals und nippte an seinem Kaffee. Dóra stellte fest, wie gut er aussah, was sie sich vorher nicht eingestanden hatte. Er hatte kantige, sehr attraktive Gesichtszüge. Ein kräftiger Kiefer, große Zähne, ein gut geformtes Kinn und tiefe Augenhöhlen. Das musste sie von ihren Urmüttern aus grauer Vorzeit geerbt haben — sie fand Äußerlichkeiten anziehend, die auf eine gewisse Härte und Zähigkeit schließen ließen; der perfekte Jäger. Dóra nahm Platz. »Uff, jetzt habe ich aber Hunger«, sagte sie, um das Eis zu brechen.
Matthias goss aus einer Edelstahlkanne Kaffee in ihre Tasse. »Du hast eine Socke bei mir vergessen. Es war keine Wollsocke — unglaublich, aber wahr.«
Ihre Gestik ließ nicht erkennen, dass sich die beiden näher standen als beim gestrigen Abendessen, bis Matthias wie beiläufig seine Hand auf Dóras Hand legte und ihr verschwörerisch zublinzelte. Dann zog er sie wieder weg und frühstückte weiter. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, ging jeder in sein eigenes Zimmer zum Packen.
Während Dóra an der Rezeption auf Matthias wartete, klingelte ihr Handy. Es war Gylfi. »Hallo mein Schatz«, sagte sie und versuchte, möglichst natürlich zu klingen.
»Hi.« Gylfis Stimme war tief und es dauerte einen Moment, bis er sein Anliegen vortrug. »Äh, ich wollte dir doch was erzählen — wo bist du?«
»Ich bin im Hótel Rangá. Ich hab am Wochenende gearbeitet. Bist du schon zu Hause?«
»Ja.« Wieder eine Pause. »Wann kommst du zurück?«
Dóra schaute auf die Uhr. Es war kurz vor elf. »Tja, ich denke, ich bin vor ein Uhr zurück.«
»Okay. Wir sehen uns.«
»Warum bist du nicht mehr bei deinem Vater? Und wo ist deine Schwester?«, sagte Dóra schnell, bevor er auflegen konnte.
»Sie ist noch bei ihm. Ich bin schon gegangen.«
»Du bist gegangen? Warum? Hattet ihr Streit?«
»Kann man so nennen«, antwortete er. »Er hat angefangen.«
»Warum denn?« Dóra war sprachlos. Hannes hatte eine außerordentliche Begabung, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Bisher war er gut mit seinem Sohn ausgekommen, auch wenn Gylfi ihn nicht besonders unterhaltsam fand.
Gylfi stöhnte. »Er wollte was mit mir besprechen und als ich dachte, er würde mich verstehen, hab ich ihm eine bestimmte Sache erzählt und er ist völlig ausgerastet. Ich schwöre es, er ist an die Decke gegangen und hat sich fast überschlagen. Ich hatte keine Lust, mir das anzuhören. Ich dachte echt, er versteht mich.«
Dóras Gedanken wirbelten durcheinander. Ihr war klar, dass Gylfis Beschreibung der Reaktion seines Vaters übertrieben war. Was war eigentlich passiert? Dóra bedauerte es zutiefst, Hannes bedrängt zu haben, mit dem Jungen zu sprechen — das hatte die Sache offensichtlich nur verschlimmert. »Gylfi, mein Schatz, was hat deinen Vater denn so wütend gemacht? Ist es das, was du mit mir besprechen wolltest?«
»Ja.« Keine weiteren Erklärungen. Sie musste wohl oder übel auf die Lösung des Rätsels warten, bis sie sich trafen.
»Hör zu, ich bin schon unterwegs. Ich bin nicht so cholerisch und es sollte uns gelingen, die Sache in Ruhe zu besprechen. Geh nicht weg.«
»Du musst vor ein Uhr hier sein. Wir müssen Leute treffen.«
Leute? Leute? War er einer Sekte beigetreten? Dóra spürte ein Stechen in der Brust. »Gylfi — du wirst niemanden treffen, bevor ich zu Hause bin. Verstanden?«
»Sei vor ein Uhr hier«, entgegnete er. »Papa ist auch dabei.« Er verabschiedete sich und legte auf.
Dóras schlug das Herz bis zum Hals. Sie musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um nicht loszuschreien. Zitternd wählte sie Hannes’ Mobilnummer, aber sein Handy hatte entweder keinen Empfang oder war ausgeschaltet. Dóra starrte auf das Telefon. Hannes würde sein Handy niemals ausschalten — er hatte es immer auf dem Nachttisch liegen, falls ihn jemand mitten in der Nacht erreichen wollte. Selbst seine Reittouren plante er nach dem Telefonnetz. Dóra versuchte es auf dem Festnetzanschluss, aber niemand ging ran. Was konnte der Junge bloß gemacht haben? Hatte er angefangen zu rauchen? Unwahrscheinlich. War er drogensüchtig und musste eine Therapie machen? Nein, unmöglich. Das wäre ihr aufgefallen. War er schwul? Wollte er mit ihnen zu einem Treffen des Vereins der Lesben und Schwulen? Dann wäre Hannes bestimmt nicht so ausgerastet, denn tolerant war er, das musste man ihm lassen. Außerdem hatte sie das Gefühl gehabt, Gylfi sei in das Mädchen verliebt, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Nein, das war es nicht. Alle möglichen Ideen schossen ihr durch den Kopf, eine abwegiger als die andere. Que sera sera. Sie stand auf und hielt im Flur Ausschau nach Matthias. Er stand im Türrahmen seines Zimmers und mühte sich damit ab, seine Tasche hinauszubugsieren.
Als er es geschafft hatte, fasste Dóra ihn am Arm und zog ihn mit sich.
»Was ist los?«, fragte er irritiert, während sie ihn durch die Eingangstür schob.
»Bei mir zu Hause ist was passiert und ich muss ganz, ganz schnell heimfahren.«
Er nahm sie beim Wort, schmiss ohne weitere Fragen die Taschen ins Auto und setzte sich hinters Steuer. Sie fuhren auf direktem Weg nach Reykjavik, über Hella, Selfoss und Hveragerði. Matthias sagte nicht viel. Erst als sie den Gebirgskamm erreicht hatten, fragte er, ob er etwas für sie tun könne. Dóra erklärte ihm, dass es um ihren Sohn ging, der ihr etwas sagen musste. An der Skihütte lagen sie gut in der Zeit und bei der kleinen Kaffeestube immer noch. Am Rauðavatn platzte ein Reifen.
»Verdammt noch mal«, fluchte Matthias. Er umklammerte das Lenkrad, um nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Dann drosselte er das Tempo und hielt am Straßenrand.
»Oh nein, oh nein«, jammerte Dóra. Sie schaute auf die Uhr. Fünf vor halb eins. Wenn es ihnen gelänge, den Reifen schnell zu wechseln, wären sie um kurz vor eins zu Hause in Seltjarnarnes.
»Dieses blöde Ding«, brummelte Matthias, während er sich damit abplagte, den Ersatzreifen aus dem Kofferraum zu zerren. Nachdem er es endlich geschafft hatte, konzentrierten sich Dóra und Matthias auf den Wagenheber und wechselten gemeinsam den Reifen. Als sie fertig waren, nahm Matthias den kaputten Reifen und warf ihn in hohem Bogen in den Kofferraum, wo er auf Dóras Reiseköfferchen landete. Es war ihr vollkommen gleichgültig. Die Zeit raste. Sie hasteten ins Auto und Matthias schoss los.
»Warte hier«, sagte Dóra, als sie in die Einfahrt zu ihrem Haus bogen. Sie rannte zum Haus. Im Laufen zog sie ihren Schlüssel hervor. Sie klingelte mit der linken Hand, um Gylfi wissen zu lassen, dass sie da sei, steckte mit der rechten Hand den Schlüssel ins Türschloss und öffnete. »Gylfi«, rief sie keuchend.
»Hi Mama.« Sóley kam ihr entgegengelaufen, ein einziger Sonnenschein. Falls etwas passiert war, hatte sie davon überhaupt nichts mitbekommen.
»Hallo mein Engel. Wo ist dein Bruder?« Dóra drängte sich an Sóley vorbei und schaute sich nach ihrem Sohn um.
»Er ist weggegangen. Ich hab einen Zettel für dich«, erklärte Sóley und zog einen Schnipsel aus ihrer Hosentasche.
Dóra riss ihr den Zettel aus der Hand. Während sie ihn auseinanderfaltete, fragte sie: »Wann ist er gegangen? Und wohin?«
»Er ist eben erst gegangen. Vor einer Stunde.« Sóley kannte sich noch nicht richtig mit der Uhr aus. Gylfi hätte demzufolge vor einer Sekunde oder vor zwei Wochen das Haus verlassen haben können. »Er ist dahin gegangen, es steht da drauf.« Ihr kleiner Finger zeigte auf den Zettel, so als wolle sie einer Verwechslung mit anderen Papierschnipseln zuvorkommen.
»Komm mit.« Die Adresse war in Seltjarnarnes, nicht weit entfernt. »Wir machen mit dem Onkel eine Autofahrt.« Sie stopfte Sóley in Gylfis Daunenjacke, zwängte sie in ihre Gummistiefel und schob sie aus dem Haus. Dóra riss die Hintertür des Jeeps auf und half ihrer Tochter mit schnellen Handbewegungen hinein. Dann sprang sie selbst auf den Beifahrersitz und bat Matthias, loszufahren. »Matthias, das ist meine Tochter Sóley. Sie spricht nur Isländisch. Sóley, das ist Matthias. Er kann kein Isländisch, aber ihr werdet bestimmt gute Freunde.«
Matthias drehte sich gemächlich um und lächelte dem kleinen Mädchen zu. »Süß wie die Mama«, sagte er und steuerte den Wagen Dóras wilden Gebärden folgend um eine Ecke. »Auch modisch derselbe Geschmack.«
»Hier — und dann rechts. Ich suche die Nummer 45«, erklärte Dóra, immer noch nervös. Kurz darauf kam das Haus ins Blickfeld. Das musste es sein, denn sie sahen Gylfi über den Eingangspfad auf das Haus zulaufen. »Da, da«, rief Dóra außer Atem und zeigte auf ihren Sohn. Matthias gab Gas und parkte dann auf dem Gehsteig vor dem Haus — die Einfahrt war bereits besetzt. Dóra kannte das Auto; es gehörte Hannes. Dóra stieß die Tür auf, sobald der Wagen zum Halten gekommen war. »Sóley, du wartest hier mit dem lieben Matthias.«
Gylfi drehte sich erst um, nachdem seine Mutter mehrmals seinen Namen gerufen hatte. Nun stand er mit hängenden Schultern an der Haustür und betätigte die Türklingel. »Hi«, sagte er bedrückt.
»Ich hab mich verspätet«, entschuldigte sich Dóra keuchend. Sie legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter. »Was ist eigentlich los, Liebling? Wer wohnt denn hier?«
Gylfi schaute sie an. Sein Gesichtsausdruck zeugte von absoluter Verzweiflung. »Sigga ist schwanger. Sie ist erst in der zehnten Klasse. Ich bin der Vater. Hier wohnen ihre Eltern.«
Als er seinen Satz beendet hatte, ging die Haustür auf. Dóra erstarrte. Aus irgendwelchen Gründen konnte sie ihren Blick nicht von dem iPod lösen, der um den Hals ihres Sohnes baumelte, vielleicht, weil sie ihn gerade zufällig angeschaut hatte, als die Welt zusammengebrochen war. Wenn der Mann, der die Tür geöffnet hatte, nicht dunkelrot vor Wut gewesen wäre, hätte er bestimmt über ihren dämlichen Gesichtsausdruck gelacht. »Hallo«, sagte der Mann mittleren Alters zu ihr, blickte dann zu Gylfi, kniff voller Verachtung die Augen zusammen und sagte: »Grüß dich.« In diesen beiden Worten verbarg sich jedoch alles andere als gute Wünsche. Zwischen den Zeilen war zu lesen: Geh zum Teufel; du hast die junge, unschuldige Tochter eines ehrbaren Mannes verführt.
Aus alter Gewohnheit siegte die Höflichkeit und Dóra versuchte zu lächeln. »Grüß dich, ich heiße Dóra. Gylfis Mutter.«
Der Mann schnaubte, bat sie aber dennoch hinein. Unter den wachsamen Augen des Mannes zogen sie ihre Schuhe aus. Der Mann baute sich bedrohlich im Türrahmen des Flurs auf.
»Vielen Dank«, sagte Dóra zur Luft, als sie an dem Mann vorbeiging. Sie umfasste die Schultern ihres Sohnes mit beiden Händen und führte ihn so vor sich her — falls der Mann zum Angriff übergehen würde. Sie kamen geradewegs in ein großes, offenes Wohnzimmer, in dem sich drei Personen befanden; Hannes, den Dóra an seinem Hinterkopf erkannte, eine Frau in Dóras Alter, die sich erhob, als sie sich näherten, und ein junges Mädchen, das auf einem Stuhl saß und niedergeschlagen den Kopf hängen ließ.
»Ach, da seid ihr ja endlich.« Die Frau schrie fast mit schriller Stimme. Guter Gott, lass das Kind meine tiefe Altstimme erben, bat Dóra lautlos. Sie versuchte erneut, ein Lächeln herauszupressen. Ihre Hände wichen nicht von den Schultern ihres Sohnes.
»Hannes«, sagte Dóra und sah zu ihrem Ex-Mann. Sie versuchte, ihm zu signalisieren, er möge seine Pflicht tun und ihr erlauben, sich in Luft aufzulösen. Stattdessen schaute er sie streng an. »Grüß dich, Sigga«, sagte Dóra so freundlich wie möglich zu dem jungen Mädchen, das daraufhin aufschaute. Ihre Augen waren verweint und zwei große, schwere Tränen schimmerten in den Augenwinkeln.
Gylfi löste sich endlich aus Dóras Griff und ging zu ihr. »Sigga!«, ächzte er, offenbar gerührt, seine Geliebte so mitgenommen zu sehen.
»Oh, wie großartig!«, krähte Siggas Mutter. »Romeo und Julia. Ich kotz gleich.«
Dóra drehte sich blitzschnell zu ihr. Wut kochte in ihr hoch. Diese beiden Jugendlichen hatten einen Riesenfehler begangen und die Frau besaß die Frechheit, ihr Schicksal zu verspotten, obwohl es sich um ihre eigene Tochter handelte. Dóra verlor nicht oft die Nerven, aber es kam vor. »Entschuldige bitte, aber das Ganze ist schon schwierig genug — mach es nicht durch deinen Sarkasmus noch schlimmer.« Hannes sprang auf die Füße und Dóra spürte, wie er sie aufs Sofa zog, ohne dass sie dagegen protestieren konnte. Die Frau rang nach Luft — ihre Augen blitzten vor Wut.
»Daher hat dein Sohn also seine Manieren«, bemerkte sie und setzte sich, mit geradem Rücken wie eine Ballerina. Ihr Mann zog es vor, stehen zu bleiben, und von seiner Position mitten im Zimmer überragte er die anderen wie ein riesiger Eiszapfen.
»Mama!«, stieß Sigga schluchzend hervor. »Hör doch auf!«
Dóra fand das Mädchen, ihre zukünftige Schwiegertochter, sofort sympathisch.
»Was soll dieses verdammte Theater«, tönte der Eiszapfen.
»Wenn wir nicht in der Lage sind, wie kultivierte Menschen darüber zu sprechen, können wir es gleich bleiben lassen.«
Hannes streckte sich. »Das sehe ich genauso. Versuchen wir, sachlich zu bleiben.«
Die Frau schnaubte erneut.
»Ja«, begann Hannes ernst, »ich sollte vielleicht sagen, dass mich das alles sehr traurig macht und ich mich im Namen meiner Familie für das Verhalten meines Sohnes und den Schmerz, den er euch bereitet hat, von ganzem Herzen entschuldigen möchte.«
Dóra atmete tief ein, um Hannes’ Worte zu verarbeiten und ihn nicht auf der Stelle umzubringen. Dann wendete sie sich ihm seelenruhig zu. »Erstens, nur damit das klar ist, sind wir keine Familie. Ich, mein Sohn und meine Tochter sind eine Familie. Du bist ein bedauernswerter Wochenendvater, der, anders als die meisten anderen, nicht hinter seinem eigenen Sohn steht, wenn’s drauf ankommt.« Sie löste ihren Blick von Hannes und merkte, wie die anderen sie anstarrten. Das Gesicht ihres Sohnes drückte Stolz aus. Sie wiederholte noch einmal: »Nur, damit das klar ist.«
Hannes holte neben ihr tief Luft, schaffte es aber nicht, etwas zu sagen, da ihm die andere Mutter zuvorkam. »Wie passend. Ich möchte die Gelegenheit ergreifen und dich darauf hinweisen, dass dein Sprössling, euer oder von mir aus dein Sohn, schon sehr bald …« Die schauspielerischen Fähigkeiten waren in dieser Familie offenbar breit gestreut. Die Frau verlieh ihren Worten eine dramatische Betonung, indem sie mit einer übertriebenen Geste auf Gylfi zeigte, »… schon sehr bald genauso ein bedauernswerter Wochenendvater sein wird wie dein Ex-Mann.«
»Nein!«, ertönte ein Schrei. Es war Gylfi. Selbstbewusst redete er weiter: »Ich … ich meine, wir … wir bleiben zusammen. Wir mieten uns eine Wohnung und ziehen das Kind groß.«
Dóra war plötzlich zum Lachen zumute. Gylfi mietete sich eine Wohnung! Er wusste offensichtlich nicht, dass das meiste, was er für selbstverständlich hielt — Heizung, Strom, Fernsehen, Wasser, Müllabfuhr — Geld kostete. Aus Angst, ihrem Sohn den Mut zu nehmen, mischte sie sich nicht in das Gespräch ein. Wenn er der Meinung war, er würde eine Wohnung mieten, dann war das eben so.
»Ja!«, piepste Sigga. »Wir können das — ich bin fast sechzehn.«
»Das ist doch Vergewaltigung!«, schrie die Frau. »Natürlich. Sie ist noch nicht mal sechzehn! Das ist Missbrauch Minderjähriger!« Sie richtete ihren Blick auf Gylfi und schrie außer sich: »Vergewaltiger!«
Dóra war nicht ganz klar, wie dies zu einer Lösung führen sollte. Sie wendete sich an Sigga. »Wie weit bist du denn, Schatz?«
»Ich weiß es nicht — vielleicht im dritten Monat. Jedenfalls hatte ich seit drei Monaten keine Periode mehr.« Ihr Vater errötete bis in die Haarwurzeln.
Gylfi war vor sechs Wochen sechzehn geworden. Nicht, dass das etwas ändern würde. »Ich möchte darauf hinweisen, dass in einem Fall wie diesem gesetzlich ein Alter von vierzehn verankert ist, nicht sechzehn. Zudem war mein Sohn selbst noch keine sechzehn, als das Kind gezeugt wurde, und im Gesetz steht nichts über das Geschlecht, wenn es um sexuelle Übergriffe geht.«
»Was soll dieses dumme Geschwätz«, blaffte der Vater. »Als ob eine Frau einen Mann vergewaltigen könnte! Geschweige denn ein Kind, wie im Fall meiner Tochter.«
»Und meines Sohnes«, entgegnete Dóra. »Von Schuljahren ist im Gesetz nicht die Rede, das kann ich beschwören.«
Er verzog das Gesicht. »Diese verdammten Schwuchteln im Parlament.«
»Ihr seid doch verrückt!«, tönte Sigga. »Das ist mein Kind. Ich bin schwanger und bekomme einen dicken Bauch und hässliche Brüste und kann nicht mehr ausgehen.« Weiter kam sie nicht, denn sie brach in Tränen aus.
Gylfi versuchte, sie auf eine Weise zu trösten, die er vermutlich für sehr romantisch hielt. Mit bewegter Stimme sagte er, sodass es alle hören konnten: »Das ist mir ganz egal — und wenn du einen richtig dicken Bauch und hängende Titten bekommst. Ich verlass dich nicht und geh mit keiner anderen aus. Ich liebe dich von allen Mädchen am meisten.«
Sigga heulte nur noch lauter, während die Erwachsenen Gylfi mit offenen Mündern anstarrten. Irgendwie öffnete ihnen diese alberne Liebeserklärung die Augen dafür, dass Mutter Natur entschieden hatte — sie waren Kinder, die ein Kind erwarteten, und wer die Schuld daran trug, war nebensächlich.
Dóra stand auf. »Also wisst ihr — ich habe ja keine Ahnung, welcher Schlaumeier auf die Idee gekommen ist, dass wir uns treffen.« Sie drehte sich zu Hannes. »Ihr könnt gern mit Gylfis Vater sprechen, bis in die tiefe Nacht hinein, wenn nötig. Aber mir reicht’s jetzt.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, musste sich aber noch einmal zu der Sofagruppe wenden, als ihr einfiel, dass sie ihren Sohn in Sicherheit bringen sollte. »Gylfi, komm mit!«
Ihre abschließenden Worte richtete Dóra an die arme Sigga, die immer noch den Kopf hängen ließ und weinte. »Sigga, euer Kind ist jederzeit bei mir willkommen — und ihr beide auch, wenn ihr zusammenwohnen wollt. Auf Wiedersehen.«
Dóra ging völlig ermattet mit Gylfi im Schlepptau hinaus. Sie knallten die Haustür hinter sich zu und gingen zu dem Mietwagen, der glücklicherweise immer noch am selben Platz stand. Wortlos setzten sich Dóra noch vorn und Gylfi nach hinten neben seine Schwester. »Hannes-ar-dóttir«, buchstabierte Sóley gerade konzentriert.
»Fahr los«, sagte Dóra und fasst sich an die Stirn. Sie schaute Matthias an, froh, dass ihre Kinder kein Deutsch verstanden. »Rate mal, was passiert ist. Ich bin ein bisschen im Wert gefallen. Du hast mit einer Großmutter geschlafen.«
Dóra hatte nicht erwartet, dass Matthias laut auflachen würde. »Ich muss schon sagen, isländische Großmütter sind ziemlich anders als deutsche.« Er warf einen Blick auf Gylfi, der auf dem Rücksitz hockte, seines Lebens und seiner Zukunft nicht mehr sicher. In diesem Moment war seine Mutter, die allen die Meinung gegeigt hatte, weil sie immer noch nicht ganz nüchtern war, sein einziger Haltepunkt. »Hallo, Dóras Sohn, ich heiße Matthias.«
Matthias blinzelte Dóra zu. Diese drehte sich zum Rücksitz, bereit, ihrem Sohn nun ihrerseits reinen Wein einzuschenken. Sie würde ihm sagen, dass Matthias mehr als nur ihr Freund und Arbeitskollege war. Als ihr Blick auf den iPod fiel, der immer noch am Hals ihres Sohnes baumelte, änderte sie jedoch ihre Meinung.
»Gylfi, das ist Matthias, wir arbeiten zusammen. Ich habe ihn zum Essen eingeladen. Wir sprechen in aller Ruhe miteinander, wenn er gegangen ist.« Sie schluckte den Kloß hinunter, der plötzlich in ihrem Hals steckte. Sie wurde Oma, mit 36. Jesus, Maria und Heiliger Geist und alle anderen Heiligen, die ihr gerade nicht einfielen — lasst das Kind gesund und das Leben seiner Eltern trotz dieses Fehltritts ein einziger Tanz auf Rosen sein. Sie unterdrückte die Tränen, die ungebeten aufkamen. Eine verschlüsselte Botschaft und weitere Signale, die sie hätte deuten können, strömten plötzlich auf sie ein. Ich will nicht mit Gylfi allein zu Hause sein — er hüpft immer auf seinem Bett rum und ächzt …
»Dóra.« Matthias riss sie aus ihren Gedanken. »Ich habe eben einen Anruf aus dem Hexereimuseum bekommen. Wir wissen jetzt, warum Haralds Leiche so entstellt wurde.«
Dóra wollte die Einladung zum Essen auf keinen Fall rückgängig machen. Zerstreut und planlos warf sie irgendwelche Lebensmittel aus dem Schrank und aus der Tiefkühltruhe in einen Topf.
»Guten Appetit«, rief sie mit gekünstelt fröhlicher Stimme. Matthias saß bereits am Küchentisch und verfolgte mit großen Augen, wie eine Schüssel nach der anderen auf dem Tisch erschien. Als alles aufgetragen war, bestand die Mahlzeit aus Erbsen, Pommes Frites, Reis, Couscous, Suppe, Marmelade und Fladenbrot.
»Köstlich«, sagte er höflich, als alle am Tisch saßen und er die Dosenerbsen zu sich heranzog.
Dóra ließ ihren Blick über den Tisch schweifen und stöhnte. »Das Hauptgericht fehlt«, sagte sie resigniert. »Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmt.« Dóra musste etwas ausfindig machen, um zu retten, was noch zu retten war — tiefgefrorene Lasagne, Pasta, Fleisch oder Fisch. Allerdings wusste sie, dass nichts im Haus war — sie hatte noch einkaufen wollen, war aber völlig durcheinander gebracht worden. Matthias griff nach ihrem Arm und zog sie auf ihren Stuhl zurück.
»Ist schon in Ordnung. Das ist zwar ein unkonventionelles Abendessen, aber die Uhrzeit ist ja auch ziemlich seltsam, also passt es schon.« Er lächelte den Kindern zu, die in dem Mischmasch auf ihren Tellern herumstocherten.
Dóra schaute auf die Uhr. Es war kurz vor drei — sie stand völlig neben sich. Sie versuchte zu lächeln. »Ich stehe noch halb unter Schock, vielleicht geht es mir ja in einem Jahr besser. Dann lade ich dich noch mal zum Essen ein.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig. Lieber lade ich dich in ein Restaurant ein«, entgegnete Matthias und steckte sich ein Stück Fladenbrot in den Mund. »Ganz ausgezeichnet«, kommentierte er grinsend.
Keiner aß seinen Teller leer und der Mülleimer füllte sich am Ende der Mahlzeit mit Resten. Sóley wollte rausgehen und ihre Freundin Kristina treffen, was Dóra ihr ohne Einwände erlaubte. Gylfi verschwand in seinem Zimmer, angeblich um im Internet zu surfen. Dóra hoffte inständig, dass er sich keine Seiten über Babypflege anschauen würde. Wenn er schwarz auf weiß lesen würde, worauf er sich da einließ, würde ihn der Mut bestimmt wieder verlassen. Als sie allein waren, setzten sich Dóra und Matthias mit einem Kaffee ins Wohnzimmer.
»Tja«, sagte er verlegen. »Unter diesen Umständen werde ich nicht lange bleiben. Müssen sich Großmütter nicht nach dem Essen hinlegen?«
Dóra schnaubte. »Diese Großmutter würde einen Gin-Tonic bevorzugen.« Sie gab sich jedoch mit einem Schluck Kaffee zufrieden. »Aber wir wissen ja beide, wohin das führen kann, daher verzichte ich im Moment lieber drauf.« Sie lächelte ihm zu und ihre Wangen überzogen sich mit einer leichten Röte. »Aber ich würde gern hören, was der Mann aus dem Hexereimuseum gesagt hat.« Sie lehnte sich im Sofa zurück und zog die Füße hoch.
Matthias holte einen Zettel hervor und faltete ihn auf dem Sofatisch auseinander. »þorgrímur hat angerufen. Er hat mit diesem Páll gesprochen, der angeblich alles weiß. Kurz gesagt, Páll konnte alles nur Denkbare über diese Zauberrune herunterleiern — und weißt du auch, warum?«
Dóra schüttelte den Kopf. Sie sah, dass Matthias mit einer euphorischeren Reaktion gerechnet hatte, und sagte: »Keine Ahnung. Weil er ein Genie ist?«
»Nein. Oder doch, kann schon sein, dass er ein Genie ist. Aber er wusste alles über die magische Rune, weil ihm noch sehr gut in Erinnerung war, wie unglaublich spannend Harald seine Ausführungen gefunden hatte.«
»Harald hat sich also speziell nach diesem Symbol erkundigt?«, fragte Dóra.
»Ja und nein. Ursprünglich setzte er sich wegen magischer Runen im Allgemeinen mit Páll in Verbindung und wollte Informationen über Symbole haben, die nirgendwo verzeichnet sind. Dann fragte er Páll nach dem isländischen Zauberbuch aus der Ausstellung. Páll erklärte ihm die wichtigsten Zauberformeln aus dem Buch. Er sagte, eine Formel hätte Harald ganz besonders interessiert — eine recht dunkle Formel, die aber thematisch trotzdem zu den Liebeszaubern zählt. Sie war auf der Seite in der Ausstellung. Rate mal, um welchen Zauber es sich handelt.«
»Du schneidest einem Toten die Augen heraus und machst etwas mit ihnen?«, sagte Dóra erwartungsvoll.
»Nein, leider nicht, aber das spielt auch eine Rolle. Wenn ich den Mann richtig verstanden habe, dient der Zauber dazu, die Liebe einer Frau zu gewinnen. Dazu muss man eine Grube graben, über die die Frau steigen soll. In die Grube gießt man Schlangenblut, schreibt ihren Namen und zeichnet ein paar magische Runen. Am Ende sagt man eine Beschwörungsformel auf — einen Vers, und zwar genau denselben, der in dem Brief an Haralds Mutter stand.« Matthias lächelte selbstzufrieden.
»Das Gedicht!«, rief Dóra aus.
»Genau«, entgegnete Matthias. »Aber das ist noch nicht alles. Páll erzählte, Harald habe sich wahnsinnig für diesen Liebeszauber interessiert und alles Mögliche darüber wissen wollen: ob sich der Zauber ausschließlich auf eine Geliebte bezieht oder auch auf andere Arten von Liebe, ob das Loch unbedingt in einen Erdboden gegraben werden muss und so weiter. Daraus entwickelte sich ein Gespräch über die Rune auf dem Seitenrand neben der Zauberformel.« Matthias machte eine Pause.
»Und?«, fragte Dóra ungeduldig.
»Diese Rune ist unbekannt, ähnelt aber einer nordischen Zauberrune für eine Rachebeschwörung. Nur eine kleine Linie ist anders. Diese nordische Rune steht in einer Handschrift, aber die dazugehörige Beschwörung ist nicht vollständig. Da steht nur, was man tun muss, und die erste Zeile der Beschwörungsformel: ICH SCHAU DICH AN — derselbe Anfang wie in dem Liebeszauber. Der Besitzer des Buches hat die Rune neben den Liebeszauber geschrieben, weil sie für beide Beschwörungsformeln anwendbar sein soll. Das Buch ist wahrscheinlich von vier Männern geschrieben worden, drei Isländern und einem Dänen. Páll erzählte, diese nordische Zauberformel sei wesentlich dunkler als andere Formeln und ihr Ursprung unbekannt. Der Text in der Handschrift ist dänisch. Sie ist in Privatbesitz und soll aus dem späten 16. Jahrhundert stammen, während das isländische Zauberbuch etwa 1650 geschrieben wurde.«
»Warum ist diese Rune dunkler als andere?«, fragte Dóra.
»Páll meint, sie sei verwendet worden, um jemandem Schaden zuzufügen. Wenn man sie sich nach seinem Tod in den Körper ritzen lässt, kann man einen Menschen heimsuchen, der einen im Leben enttäuscht hat. Man kann ihn aus dem Grab heraus beobachten und ihn dazu bringen, sein früheres Verhalten zu bereuen. Diese Reue führt die Person am Ende ins Verderben. Und — zur Durchführung der Formel benötigt man Körperteile. Du kannst dir bestimmt denken, welche.«
»Augen«, sagte Dóra mit fester Überzeugung.
Matthias nickte. »Aber warte noch. Harald war total aufgeregt, als Páll ihm von der Formel erzählt hat, und wollte eine genaue Anweisung haben, wie man sie ausführen muss. Páll hat ihm das alles am Telefon erklärt und ihm dann eine Kopie des Zauberbuchs und der Handschrift geschickt.«
»Ja. Und?«, murmelte Dóra ungeduldig.
»Es funktioniert so: Derjenige, der sich rächen möchte, muss einen Vertrag mit einer zweiten Person abschließen, die den Zauber nach seinem Tod ausführt. So ähnlich wie bei der Leichenhose. Die beiden müssen die Rune gemeinsam auf ein Stück Pergament schreiben. Und zwar mit ihrem eigenen Blut, vermischt mit dem Blut eines Raben. Man braucht mehr als nur ein paar Tropfen, denn unter die Rune muss man schreiben, dass X verspricht, den Zauber für Y durchzuführen, und dann müssen X und Y das Ganze mit ihrer Unterschrift besiegeln.« Matthias nahm einen Schluck Kaffee. »Jetzt kommt die Hauptsache. Wenn Y stirbt, muss X die Rune in die Leiche ritzen, ihr eine größere Menge Blut entnehmen und — sehr appetitlich — die Augen herausschneiden.«
»Igitt«, sagte Dóra und schüttelte sich. »Warum ist es denn nicht genug, mit Blut zu schreiben?«
Matthias grinste. »Die Rune muss in die Leiche geritzt werden, um den Verstorbenen daran zu erinnern, dass seine Augen auf eigenen Wunsch entfernt werden. Sonst kommt er aus dem Grab und sucht nach ihnen — und wahrscheinlich auch nach seinem Freund, um ihn umzubringen. Mit dem Blut aus der Leiche muss die dazugehörige Beschwörungsformel geschrieben werden, ebenfalls mit dem Blut eines Raben vermischt.«
»Das Sperlingsblut!«, fiel ihm Dóra ins Wort. »Der Rabe ist der größte Sperlingsvogel Islands.«
»Tja, diesmal muss allerdings nicht das Blut des lebenden Vertragspartners hinzugefügt werden. Die Augen werden in das Pergament mit der Beschwörungsformel gewickelt und der Person übergeben, an der man sich rächen will. Von diesem Zeitpunkt an ist sie ausgeliefert. Der Tote verfolgt sie und erinnert sie ständig an ihre Missetaten, bis sie immer schwächer wird und einen schrecklichen Tod stirbt.«
»Und das ist die Beschwörungsformel, die Haralds Mutter per Post bekommen hat«, sagte Dóra betrübt. Das war ja wirklich widerwärtig. Warum hatte Harald seine Mutter so sehr gehasst? Was hatte die Frau ihm angetan? Vielleicht hatte er sich das alles ja auch nur eingebildet; vielleicht war er einfach verrückt und machte seine Mutter für seine Probleme verantwortlich. »Warte mal — hat sie auch die Augen zugeschickt bekommen?«
»Nein«, sagte Matthias. »Die waren nicht dabei. Ich hab keine Ahnung, wieso. Vielleicht gingen sie verloren oder waren kaputt; ich weiß es nicht.«
Dóra saß eine Weile grübelnd da. »Halldór, der Medizinstudent. Natürlich hat er die Leiche so zugerichtet«, sagte sie. »Er hat Harald umgebracht.«
»Sieht ganz so aus«, entgegnete Matthias. »Es sei denn, Harald hat sich selbst umgebracht und Halldór hat den Rest erledigt.«
»Wie soll denn das gehen?«, fragte Dóra. »Harald wurde erwürgt.«
»Vielleicht bei diesen Würgespielen? Wir können das jedenfalls nicht ausschließen. Es kann auch jemand anders den Vertrag mit Harald abgeschlossen haben. Die Studenten haben ja alle gleich scheinheilig getan, als wir ihnen die magische Rune gezeigt haben. Genau genommen käme auch Hugi in Frage.«
»Wir müssen unbedingt noch mal mit Halldór sprechen. Oder am besten mit allen. Wer weiß, ob wir sie noch einmal dazu überreden können.«
Matthias lächelte Dóra zu. »Jedenfalls sind wir nicht völlig auf dem falschen Dampfer. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Das Einzige, was noch unklar ist, ist die Sache mit dem Geld. Was ist damit passiert?«
Dóra zuckte die Achseln. »Vielleicht hat Harald die dunkle Handschrift damit gekauft. Das würde mich nicht wundern.«
Matthias dachte eine Weile über ihre Worte nach. »Kann sein. Ich bezweifle es aber. Die Handschrift ist im Besitz der Königlich Norwegischen Bibliothek. Das ist auch der Grund, warum die Polizei nichts über die Rune herausgefunden hat. Sie ist kaum bekannt, eigentlich kennt sie hierzulande niemand, außer eben Páll, der im Ausland ist. Deshalb wurde er nie dazu befragt.«
»Aber vielleicht hat Harald das Geld ins Land geholt, weil er diesem Páll das Zauberbuch abkaufen wollte, ist dann aber wegen des Geldes von einem seiner angeblichen Freunde ermordet worden. Sie könnten doch das Geld gestohlen haben, oder? Es wurden schon für kleinere Summen Morde begangen.«
Matthias stimmte ihr zu. Er schaute auf die Uhr und sah Dóra nachdenklich an. »Die Maschine aus Frankfurt ist um halb vier gelandet.«
»Verdammt«, rutschte es Dóra heraus. »Ich kann jetzt nicht mit Frau Guntlieb sprechen, es geht einfach nicht. Wenn sie mich nach meinen eigenen Kindern fragt, was soll ich denn dann sagen? Ja, liebe Frau Guntlieb, mein Sohn ist außerordentlich frühreif — habe ich Ihnen schon erzählt, dass er Vater wird?«
»Glaub mir, sie interessiert sich nicht für deine Kinder«, sagte Matthias ruhig.
»Es ist auch nicht gerade leichter, über ihren Sohn zu reden. Wie kann ich ihr ins Gesicht schauen und ihr erzählen, dass Harald einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, um ihr das Leben zur Hölle zu machen und sie am Ende ins Grab zu bringen?« Dóra suchte Matthias’ Blick in der Hoffnung auf eine erbauliche Antwort.
»Ich überbringe ihr die Neuigkeiten, mach dir keine Sorgen. Du kommst trotzdem nicht darum herum, mit ihr zu reden. Wenn nicht heute, dann morgen. Die Frau hat den langen Weg auf sich genommen, um mit dir zu sprechen, das weißt du doch. Als sie mir gesagt hat, sie will dich persönlich kennen lernen, klang ihre Stimme viel entspannter als je zuvor. Du brauchst keine Angst zu haben.«
In Dóras Ohren klangen seine Worte nicht sehr überzeugend. »Rufen sie uns an oder wie soll das vonstatten gehen?«
»Sie rufen an, wenn sie im Hotel sind.« Er schaute auf die Uhr. »Wahrscheinlich bald. Ich kann aber auch anrufen, wenn du möchtest.«
Uff. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Dóra konnte sich nicht entscheiden. »Ja, ruf an«, sagte sie plötzlich, nur um im nächsten Moment hinzuzufügen: »Nein, tu’s nicht!«
Bevor sie ihre Meinung noch einmal ändern konnte, klingelte Matthias’ Handy. Dóra stöhnte, als er das Telefon in die Hand nahm, sie anschaute und sagte: »Das sind sie.« Er drückte auf die Antworttaste. »Hallo, hier ist Matthias.«
Dóra konnte nicht viel verstehen, hörte nur den fernen Klang einer Stimme am anderen Ende der Leitung. Das Gespräch wirkte sehr oberflächlich: »Wie war der Flug?« »Wie bedauerlich.« »Ihr habt doch den Namen des Hotels, nicht wahr?« und so weiter. Das Telefonat endete mit Matthias Worten: »Bis später. Auf Wiederhören.« Er schaute zu Dóra und lächelte. »Du hast Glück, alte Großmutter.«
»Wieso?«, fragte Dóra gespannt. »Ist sie nicht mitgekommen?«
»Doch, sie ist mitgekommen. Aber sie hat Migräne und möchte das Treffen mit dir auf morgen verschieben. Das war Elisa; sie sind mit dem Taxi unterwegs zum Hótel Borg. Elisa möchte uns in einer halben Stunde dort treffen.«
Die junge Frau sah ihrer Mutter überhaupt nicht ähnlich, war aber ebenso attraktiv. Sie hatte den dunklen Teint ihres Vaters geerbt, und ihr gesamtes Erscheinungsbild war dezent: das lange, glatte Haar zum Zopf gebunden, elegante, schwarze Hose und schwarze Seidenbluse. Der einzige sichtbare Schmuck war ein Diamantring am Ringfinger ihrer rechten Hand, derselbe Ring, den Dóra auf dem Küchenfoto gesehen hatte. Elisa war sehr schlank und als Dóra ihr die Hand schüttelte, kam sie ihr fast zerbrechlich vor. Matthias wurde überschwänglich begrüßt; Elisa umarmte ihn und sie gaben sich Küsschen auf die Wange.
»Wie geht es dir?«, fragte er, nachdem er Elisa wieder aus seiner Umarmung freigegeben hatte. Dóra fiel auf, dass er sie nicht siezte, was in Anbetracht seiner Position als Angestellter der Familie zu erwarten gewesen wäre. Matthias stand diesen Leuten offenbar näher oder hatte eine höhere Position in der Firma, als sie gedacht hatte.
Elisa zuckte mit den Schultern und lächelte schwach. »Nicht besonders«, sagte sie. »Die letzte Zeit war nicht leicht.« Sie wendete sich an Dóra. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass Sie mit mir sprechen wollen. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass mein Besuch bei Harald wichtig sein könnte.«
Dóra fand diese Einstellung sonderbar; schließlich hatte der Besuch kurz vor dem Mord stattgefunden. Aber sie sagte nur: »Jetzt sind Sie ja da.«
»Ja, als Matthias anrief, hab ich sofort ein Flugticket gekauft. Ich möchte Ihnen helfen«, erklärte sie und es klang überzeugend. Dann fügte sie hinzu: »Und meine Mutter auch.«
»Gut«, sagte Matthias unnötig laut. Vielleicht fürchtete er, Dóra könnte etwas Unpassendes sagen.
»Sollen wir uns setzen?«, fragte Elisa. »Darf ich Sie zu einem Kaffee oder einem Glas Wein einladen?« Dóra hatte beschlossen, in Zukunft auf Alkohol zu verzichten, und nahm eine Tasse Kaffee. Matthias und Elisa bestellten Weißwein.
»Also dann«, sagte Matthias und ließ sich in seinen Sessel sinken. »Was kannst du uns über den Besuch erzählen?«
»Sollen wir nicht auf den Wein warten? Ich glaube, den brauche ich jetzt«, entgegnete Elisa und schaute Matthias fragend an.
»Aber selbstverständlich«, antwortete er, beugte sich vor und drückte ihren Arm, der auf der Sofalehne ruhte.
Elisa schaute Dóra entschuldigend an. »Ich kann das nicht genau erklären, aber es fällt mir wirklich schwer, über diesen Besuch zu sprechen. Ich hab damals die ganze Zeit nur über mich geredet. Wenn ich gewusst hätte, dass ich Harald nie wieder sehen würde, hätte ich ihm gesagt, wie viel er mir bedeutet.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Aber ich hab’s nicht getan und jetzt ist es zu spät.«
Die Bedienung kam mit den Getränken und sie stießen an. Dóra nippte an ihrem Kaffee und beobachtete die beiden beim Leeren ihrer Weingläser. Sie würde bei der nächsten Gelegenheit wieder mit dem Trinken anfangen, wollte aber jetzt im Nachhinein keinen Wein mehr bestellen.
»Am besten erzähle ich Ihnen, warum ich Harald besucht habe«, erklärte Elisa, nachdem sie ihr Glas abgestellt hatte. Dóra und Matthias nickten. »Wie du weißt, Matthias, habe ich zurzeit große Probleme mit meinen Eltern. Sie möchten, dass ich Betriebswirtschaft studiere und dann in der Bank anfange. Harald war der Einzige, der mir immer gesagt hat, ich soll tun, wozu ich Lust habe — Cello spielen.«
»Ich verstehe«, sagte Dóra, obwohl sie eigentlich gar nichts verstand.
»Harald hat gesagt, ich soll mich nicht um Papa und Mama scheren und weiterspielen. Es gäbe an jeder Ecke irgendwelche Deppen mit Krawatte, die eine Bank leiten könnten, aber die wenigsten hätten die Begabung, ein Instrument so meisterhaft zu beherrschen.« Sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Er hat ›Deppen mit Krawatte‹ gesagt, nicht ich.«
»Darf ich fragen, wofür Sie sich entschieden haben?«, fragte Dóra neugierig.
»Weiterzuspielen«, entgegnete Elisa mit verbitterter Stimme. »Und trotzdem habe ich mich für Betriebswirtschaft eingeschrieben und fange bald mit dem Studium an.«
»Dann ist dein Vater bestimmt glücklich«, bemerkte Matthias.
»Ja, vor allem erleichtert. In unserer Familie ist man selten wirklich glücklich. Und momentan schon gar nicht.«
»Elisa, wir haben E-Mails von Harald und eurem Vater gesehen. Die beiden haben sich anscheinend nicht besonders gut verstanden.« Dóra verstummte, fügte dann aber hinzu: »Außerdem haben wir triftige Gründe, anzunehmen, dass Haralds Verhältnis zu eurer Mutter alles andere als harmonisch war.«
Elisa trank ihr Glas leer, bevor sie antwortete. Sie schaute Dóra direkt in die Augen. »Harald war der beste Bruder, den man sich denken kann. Auch wenn er anders war als die meisten anderen Leute, besonders zum Schluss.« Sie streckte ihre Zungenspitze heraus und machte eine Handbewegung, um Haralds gespaltene Zunge anzudeuten. »Aber ich bin immer stolz auf ihn gewesen. Er war ein toller Mensch, und zwar nicht nur mir gegenüber. Er hat unsere Schwester auf Händen getragen; niemand konnte besser mit Behinderten umgehen als er.« Traurig betrachtete sie das auf dem Tisch stehende Weinglas. »Mama und Papa, sie … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … sie waren immer ungerecht zu ihm. Meine ersten Erinnerungen an meine Eltern sind voller Umarmungen, Liebe und Fürsorge, aber Harald kam darin nicht vor. Sie schienen ihn … ja, sie schienen ihn nicht ausstehen zu können.« Hastig berichtigte sie sich selbst. »Sie waren nie wirklich böse zu ihm oder so. Sie haben ihn einfach nicht geliebt. Ich weiß nicht, warum, falls es überhaupt einen Grund gibt.«
Dóra versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unsympathisch ihr die Guntliebs waren. Sie musste den Mörder dieses armen Jungen finden. Auf einmal war Dóra auf das Treffen mit Haralds Mutter gespannt. »Ja«, sagte sie, um die Stille zu durchbrechen. »Sprechen wir am besten über Ihren Besuch bei Ihrem Bruder.«
Elisa lächelte erleichtert. »Wir haben nichts Besonderes unternommen, waren nur in der Blauen Lagune und haben eine heiße Quelle besichtigt. Ansonsten sind wir durch die Stadt gelaufen oder waren zu Hause, haben DVDs geguckt, gekocht oder uns erholt.«
Dóra fiel es schwer, sich Harald in der Blauen Lagune vorzustellen. »Welche Filme haben Sie sich denn angeschaut?«, fragte sie neugierig.
Elisa lächelte. »König der Löwen, auch wenn’s unglaubwürdig klingt.«
Matthias warf Dóra einen Blick zu und fragte Elisa: »Hat Harald dir erzählt, womit er sich gerade beschäftigte?«
Elisa sah nachdenklich aus. »Nicht viel. Er war gut drauf und fühlte sich offenbar sehr wohl in Island. Ich hab ihn zumindest selten so fröhlich gesehen. Vielleicht, weil er so weit von Mama und Papa weg war. Oder wegen eines Buches, das er gefunden hatte.«
»Ein Buch?«, fragten Dóra und Matthias gleichzeitig. »Was für ein Buch?«, sagte Matthias noch einmal.
Elisa wunderte sich über diese Reaktion. »Dieses alte Buch. Malleus Maleficarum. War es nicht in seiner Wohnung?«
»Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, welches Buch du meinst«, sagte Matthias. »Hat er es dir gezeigt?«
Elisa schüttelte den Kopf. »Nein, er hatte es noch nicht.« Plötzlich verstummte sie. »Vielleicht wurde er ermordet, kurz bevor er es bekommen sollte.«
»Weißt du, ob er es irgendwo abholen wollte?«, fragte Matthias. »Hat er darüber was gesagt?«
»Nein«, antwortete Elisa. »Ich hab aber auch nicht danach gefragt — hätte ich das tun sollen?«
»Es ändert nichts«, entgegnete Matthias. »Aber hat er dir über dieses Buch etwas erzählt?«
Elisas Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Ja. Eine ziemlich tolle Geschichte. Wartet mal, wie war das noch gleich?« Sie dachte kurz nach, bevor sie weitersprach. »Du erinnerst dich doch bestimmt an die alten Briefe von Großvater?« Sie wendete sich an Matthias, der zustimmend nickte — die Briefe aus Innsbruck in dem Lederfutteral. »Harald war wie Großvater. Die Briefe haben ihn fasziniert, er hat sie immer wieder gelesen. Harald war davon überzeugt, dass der Verfasser der Briefe Kramer etwas Schreckliches angetan hatte, um seine Frau zu rächen.« Sie blickte zu Dóra. »Sie wissen doch, wer Kramer war, oder?«
Dóra nickte.
»Harald hat sich in den Kopf gesetzt, herauszufinden, was damals passiert ist. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass es unmöglich ist, nach fünfhundert Jahren etwas darüber auszugraben. Aber er war anderer Meinung. Die Kirche war ja in die Sache verwickelt und dort hat man viele Dokumente aufbewahrt. Harald gab jedenfalls nicht auf, hat sogar Geschichte studiert, um Zugang zu verschiedenen Schriftensammlungen zu bekommen, und durch die Sammlung seines Großvaters stand ihm natürlich reichlich Anschauungsmaterial zur Verfügung.«
»Er hat sich also gut mit seinem Großvater verstanden?«, fragte Dóra, obwohl sie wusste, dass die Antwort positiv ausfallen würde.
»Aber ja«, sagte Elisa. »Harald war oft bei ihm, sogar noch, als er schon im Krankenhaus war und im Sterben lag. Er war der absolute Lieblingsenkel unseres Großvaters. Sie konnten sich stundenlang mit dem Thema Hexenverbrennungen beschäftigen.«
»Und sein Studium, hat ihn das weitergebracht?«, fragte Dóra. »Hat er etwas entdeckt?«
»Ja«, antwortete Elisa. »Über die Uni in Berlin bekam er Zugang zur Bibliothek des Vatikans. Er ist nach seinem zweiten Studienjahr nach Rom gefahren und fast den ganzen Sommer da geblieben. Er hat ein Dokument gefunden, in dem Kramer von einem geplanten zweiten Angriff auf die Hexen von Innsbruck berichtet. Kramer behauptet darin, die Hexen hätten ihm ein Exemplar eines Buches gestohlen, an dem er gerade schrieb. Dieses Exemplar sei ihm äußerst wichtig, darin stünden Anweisungen, wie man Zauberformeln widerrufen und Hexen überführen könne. Daher wolle er das Buch um jeden Preis zurückhaben. Es ist nicht bekannt, ob Kramer noch einmal nach Innsbruck zurückkehrte. Harald war total aufgeregt und glaubte, den wertvollen Gegenstand gefunden zu haben, der Kramer weggenommen und zur Hölle geschickt werden sollte: ein Exemplar des Hexenhammers, die älteste Ausgabe dieses weltberühmten Buches, angeblich verziert und von Hand geschrieben.«
»Aber hat nicht der Dieb das Manuskript zur Hölle geschickt? So wurde es doch beschrieben, oder?«, fragte Dóra. »Dann muss es verbrannt worden sein.«
Elisa lächelte. »Im letzten Brief an den Bischof von Brixen war von einem Boten die Rede, der den Weg zur Hölle auf sich nehmen würde. Für diese Reise wurde die Hilfe der Kirche erbeten. Das Buch wurde also nicht verbrannt, jedenfalls nicht sofort.«
Dóra hob die Augenbrauen. »Ein Bote auf dem Weg zur Hölle? Klar. Klingt ja wie die natürlichste Sache der Welt.«
Matthias grinste. »Stimmt.« Er nahm einen Schluck Wein.
»Damals war das nicht so abwegig«, erklärte Elisa ernst. »Die Hölle wurde als realer Ort im Inneren der Erde angesehen. Und es gab einen Zugang, der sich in Island befinden sollte. Auf irgendeinem Vulkan, ich kann mich nicht an den Namen erinnern.«
»Hekla«, beeilte sich Dóra zu sagen, bevor Matthias versuchen würde, das Wort auszusprechen. Das war also der Grund — deshalb war Harald nach Island gekommen. Er hatte die Hölle gesucht. Und genau das waren die Worte gewesen, die er Hugi zugeflüstert hatte.
»Ja, genau«, sagte Elisa. »Dort sollte das Manuskript hingebracht werden. Jedenfalls glaubte Harald das. Er hat nach Quellen über die Reise dieses Boten gesucht und einen Hinweis darüber in den Kirchenannalen von Kiel aus dem Jahr 1486 gefunden. Da ist von einem Mann die Rede, der mit einem Brief des Bischofs von Brixen mit der Bitte um Unterkunft und Unterstützung auf dem Weg nach Island nach Kiel kam. Er sei zu Pferd gekommen und habe etwas bei sich gehabt, das er wie seinen Augapfel hütete, etwas Schwarzes, Dunkles. Ihm wurde das Sakrament verweigert, da er das Päckchen nicht aus der Hand geben wollte und damit die Kirche nicht betreten durfte. Der Mann verbrachte zwei Nächte in Kiel und setzte dann seinen Weg in den hohen Norden fort.«
»Und? Hat Harald etwas über den Ausgang dieser Reise herausbekommen?«, fragte Matthias.
»Nein«, antwortete Elisa. »Jedenfalls nicht direkt. Harald kam nach Island, nachdem er die Spur durch halb Europa verfolgt hatte. Das war am Anfang wohl ziemlich schwierig, aber irgendwann stieß er auf einen alten dänischen Brief, in dem von einem jungen Mann die Rede ist, der auf irgendeinem Bischofssitz, ich weiß nicht mehr, wo, an Masern starb. Und dieser Mann war auf dem Weg nach Island. Er kam nachts auf dem Bischofssitz an, schwer krank und in schlechter Verfassung, und starb wenige Tage später. Vor seinem Tod bat er jedoch den Bischof darum, das Päckchen nach Island bringen und in den Krater der Hekla werfen zu lassen — mit dem Segen des Bischofs von Brixen. Ein paar Jahre später forderte der dänische Bischof die katholische Kirche in Island in einem Brief auf, die Sache zu Ende zu bringen. Er werde das Päckchen einem Mann mitgeben, der auf dem Weg nach Island sei, um im Namen des Papstes für den Bau der Peterskirche in Rom Ablassbriefe zu verkaufen.«
»Und wurde das Manuskript denn nun in den Krater der Hekla geworfen?«, fragte Matthias.
»Harald hielt das für unwahrscheinlich, da es niemand wagte, den Berg zu besteigen, zumal es ein paar Jahre später einen Vulkanausbruch gab. Dadurch wurden dann endgültig alle abgeschreckt, die es vielleicht vorgehabt hatten.«
»Aber wo ist das Buch denn aufgetaucht?«, fragte Matthias.
»Auf einem Bischofssitz, irgendwas mit S, glaube ich.«
»In Skálholt?«, fragte Dóra.
»Ja, kann sein«, antwortete Elisa.
»In Skálholt wurde nie eine Handschrift des Hexenhammers gefunden«, erklärte Dóra und trank einen Schluck Kaffee.
»Harald glaubte, die Handschrift sei bis zum Eintreffen der ersten Druckpresse dort geblieben und dann zu einem anderen Bischofssitz gebracht worden. Irgendein Ort mit P.«
»Hólar«, sagte Dóra, obwohl das nicht mit P anfing.
»Ich weiß es nicht mehr«, sagte Elisa. »Kann schon sein.«
»Wahrscheinlich hat irgendjemand das Päckchen geöffnet. Aber was ist dann mit dem Buch geschehen? Es ist nie veröffentlicht worden, oder?«, fragte Matthias Dóra.
»Nein«, antwortete sie. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Ja«, sagte Elisa. »Harald hat entdeckt, dass das Buch nie aus Skálholt weggebracht worden war. Er hat es in dieser Gegend gefunden. Er sagte, man habe es versteckt, damit es nicht außer Landes gebracht werden konnte.«
»Und wo war es?«, fragte Dóra.
Elisa trank einen Schluck Wein. »Ich weiß es nicht. Harald wollte es mir nicht sagen. Er wollte mir den Rest der Geschichte erst erzählen, wenn er das Buch in der Hand hat.«
Dóra und Matthias konnten ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Haben Sie nicht weiter danach gefragt? Hat er nichts durchblicken lassen?«, fragte Dóra ungeduldig.
»Nein, es war schon sehr spät und er hat sich so über die Sache gefreut, dass ich ihm die Spannung nicht kaputtmachen wollte.« Elisa lächelte zerknirscht. »Am nächsten Tag haben wir uns dann über andere Dinge unterhalten. Glauben Sie, dass es etwas mit dem Mord zu tun hat?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Dóra enttäuscht. Auf einmal fiel ihr Mal ein. Vielleicht kannte Elisa Haralds E-Mail-Freund. Dieser Mal verfügte vielleicht über wichtige Informationen. »Elisa, kennen Sie einen gewissen Mal?«
Elisa lächelte. »Mal, ja, ja. Ich weiß, wer Mal ist. Er heißt Malcolm und sie haben sich in Rom kennen gelernt. Mal ist auch Historiker. Er hat mich kürzlich angerufen und mir erzählt, er hätte eine seltsame E-Mail von Harald aus Island bekommen. Ich habe ihm gesagt, dass Harald ermordet wurde.«
»Glaubst du, er weiß etwas über die Geschichte?«, fragte Matthias. »Kannst du uns mit ihm in Kontakt bringen?«
»Nein, er weiß nichts«, antwortete Elisa. »Er hat mich nämlich wegen des Buches gelöchert. Harald hatte ihm gegenüber etwas durchblicken lassen, ihm aber keine Details erzählt. Malcolm hatte das Ganze immer für Quatsch gehalten und wollte deshalb unbedingt wissen, wie die ganze Geschichte zusammenhing.«
Dóras Handy klingelte. Es war die Polizei.
Dóra wechselte ein paar Worte mit einem Beamten, legte das Handy beiseite und schaute Matthias an. »Der Medizinstudent Halldór ist wegen des Mordes an Harald festgenommen worden. Er möchte mich als Verteidigerin.«
Dóra saß auf der Polizeiwache und zerbrach sich den Kopf darüber, ob man ihr die Berufszulassung wegen groben Missbrauchs ihrer Stellung und unvereinbarer Interessenkonflikte entziehen konnte. Einerseits arbeitete sie für die Angehörigen des Ermordeten und andererseits wollte sie den Verdächtigen verteidigen. Sie hatte in aller Eile ein Taxi bestellt. Matthias war bei Elisa geblieben. Er wollte Frau Guntlieb die Neuigkeit überbringen und ihr den plötzlichen Entschluss erklären. Wahrscheinlich würde er ihr sagen, dass Dóra auf diese Weise die Möglichkeit bekäme, mit dem Mörder persönlich zu sprechen und Antworten auf die ungeklärten Fragen zu erhalten. Na dann, viel Glück, dachte Dóra. Sie beneidete Matthias überhaupt nicht. Während eines Migräneanfalls war niemand besonders verständnisvoll.
»Guten Tag. Er ist so weit.« Ein Polizeibeamter war zu Dóra getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte.
»Ja, vielen Dank«, sagte Dóra und stand auf. »Kann ich Halldór allein treffen?«
»Ja, er hat schon eine Aussage gemacht. Da wollte er noch keinen Anwalt haben. Es war ziemlich unangenehm — wir sind es nicht gewöhnt, jemanden, der eines so schwerwiegenden Verbrechens bezichtigt wird, ohne Anwalt zu verhören. Aber er bestand darauf und wir konnten nichts dagegen tun. Erst nach seiner Aussage fragte er nach einem Anwalt, und zwar nach dir.«
»Ist Markús Helgason da? Könnte ich ihn kurz sprechen, bevor ich Halldór treffe?«, fragte sie höflich.
Der Polizist brachte sie zu seinem Kollegen.
Dóra begrüßte Markús, der mit der Manchester-United-Tasse vor sich in seinem Büro saß. »Ich möchte dich nicht lange stören, nur kurz mit dir sprechen, bevor ich Halldór treffe.«
»Kein Problem«, sagte Markús. Seine Stimme klang nicht übermäßig begeistert.
»Du erinnerst dich doch bestimmt daran, dass ich für die Guntliebs arbeite?« Der Polizeibeamte nickte abwesend. »Ich bin in einer prekären Lage — ich sitze zwischen zwei Stühlen.«
»Ja, unbestreitbar. Genau aus diesem Grund haben wir Halldór nachdrücklich davon abgeraten, sich von dir verteidigen zu lassen. Aber er ließ nicht mit sich reden. Du bist für ihn eine Art Robin Hood. Er hat den Mord nicht gestanden. Er glaubt wohl, du könntest ihm aus der Klemme helfen.« Markús grinste fies. Dóra ließ sich von seiner Bemerkung nicht beirren. »Ihr glaubt also, dass er schuldig ist?«
»Aber ja«, sagte Markús. »Wir haben Beweise für seine Mittäterschaft. Handfeste Beweise. Die beiden Freunde haben es gemeinsam getan. Zufälligerweise kamen sie am selben Tag aus zwei verschiedenen Richtungen. Ich hatte schon immer ein Faible für Zufälle.« Er lächelte.
»Und wann ist das ans Licht gekommen?«, fragte Dóra.
»Gestern, gegen Abend. Wir haben Anrufe von zwei Personen bekommen, die mit dem Ermordeten in Verbindung standen. Beide haben Informationen geliefert, die Halldórs Schuld bezeugen und Aufschluss über den Tatort geben.«
»Welche Informationen waren das, wenn ich fragen darf?«
»Es spielt sowieso keine Rolle, ob du es jetzt oder später erfährst. Bei Harald wurde ein Karton mit allen möglichen abartigen Dingen gefunden, in der gemeinsamen Waschküche. Darunter war auch ein Stück Leder mit einem Ver …«
»Einem Vertrag über die Augen«, schnitt ihm Dóra seelenruhig das Wort ab. »Der ist mir bekannt.«
Die Wangen des Polizisten röteten sich. »Und du bist nicht zufällig auf die Idee gekommen, dich mit uns in Verbindung zu setzen? Gibt es vielleicht sonst noch was Wichtiges, das du uns bis jetzt verheimlicht hast?«
Dóra ließ die zweite Frage außer Acht und beschränkte sich auf die erste. »Unter uns gesagt, Matthias und ich sind erst heute darauf gekommen, und es war auch nur eine Vermutung. Wir hatten im Gegensatz zu euch keine Beweise in der Hand.«
»Trotzdem hättet ihr uns informieren sollen«, sagte Markús, immer noch erregt.
»Das hätten wir selbstverständlich getan«, entgegnete Dóra, ebenfalls erregt. »Heute ist Sonntag — wir hätten dich nicht wegen eines vagen Verdachts an deinem freien Tag belästigt. Wir hätten dich morgen kontaktiert.« Sie schenkte ihm ihr lieblichstes Lächeln.
»Das sagst du jetzt. Ich hoffe, es stimmt auch.« Er schaute sie so an, als würde er ihr kein Wort glauben.
»Welche anderen abartigen Dinge wurden denn noch gefunden?«, fragte Dóra.
»Zwei Finger, eine Hand, ein Fuß und ein zerquetschtes Ohr.« Er schien erwartet zu haben, dass sie davon ebenfalls gewusst hatte. Ihr Gesichtsausdruck zeugte vom Gegenteil. »Wahrscheinlich von unterschiedlichen Personen.« Er wartete auf ihre Reaktion.
»Was?« Dóra war entsetzt. Sie wusste nur von dem Finger, den Gunnar erwähnt hatte. Der Finger, der im Árnagarður gefunden worden war, aber nicht mit Harald in Verbindung gebracht werden konnte. Was hatte das zu bedeuten? »Willst du mir damit sagen, es handelt sich um einen Serienmörder? Der die Körperteile seiner Opfer sammelt?«
»Darüber können wir derzeit noch nichts sagen. Dein Mandant behauptet, nichts davon zu wissen. Aber er lügt. Ich weiß, wann jemand lügt.«
»Aber welche Beweise habt ihr denn? Nur den von Halldór unterschriebenen Vertrag?«
»Ja«, antwortete Markús. »Außerdem lag ein Metallsternchen von den Schuhen, die Harald an dem Mordabend trug, unter der Türschwelle des Studentenzimmers im Árnagarður. Das lässt darauf schließen, dass die Leiche durch die Tür geschleift wurde. Halldór hatte natürlich Zugang zu diesem Raum. Der Mord muss dort passiert sein. Am selben Ort wurde auch ein Teelöffel gefunden. Blutverschmiert. Wir haben ihn auf Fingerabdrücke untersuchen lassen und Halldórs Fingerabdrücke sind drauf. Das Blut an dem Löffel stammt von Harald; die ersten Untersuchungen weisen zumindest darauf hin.«
»Ein blutverschmierter Teelöffel«, sagte Dóra verwundert. »Was hat der eurer Meinung nach mit der Sache zu tun?«
Markús antwortete nicht direkt. »Der Hausmeister, der auch die Putzfrauen beaufsichtigt, hat ihn einem Professor gegeben, und der hat uns dann umgehend benachrichtigt.« Markús schaute Dóra ungehalten an. »Dieser Mann hat im Gegensatz zu dir nicht bis Montag gewartet.«
»Aber ein blutverschmierter Teelöffel. Ich verstehe nicht ganz, was er mit der Sache zu tun hat und warum er erst jetzt gefunden wurde. Nach dem Fund der Leiche wurde doch das ganze Gebäude durchsucht, oder?«
»Mit dem Teelöffel wurden der Leiche höchstwahrscheinlich die Augen ausgestochen. Was die Hausdurchsuchung betrifft …«
Als Markús zögerte, wusste Dóra, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. »Selbstverständlich wurde das Gebäude durchsucht. Zum jetzigen Stand der Ermittlungen ist unklar, wie der Löffel dabei übersehen werden konnte. Das wird sich noch herausstellen.«
»Ihr habt also einen Vertrag und einen blutverschmierten Teelöffel.« Dóra beobachtete, wie Markús auf seinem Stuhl herumrutschte. Das konnte noch nicht alles sein. »Ich finde, ehrlich gesagt, das beweist nicht unbedingt Halldórs Schuld. Er hat ein Alibi, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Der Kellner aus dem Kaffibrennslan?«, sagte Markús spöttisch. »Mit dem müssen wir noch genauer sprechen. Fall bloß nicht in Ohnmacht, falls seine Aussage ins Wanken kommt.« Er schaute sie hochmütig an. »Wir haben noch weitere Beweise gegen deinen Mandanten. Zwei, um genau zu sein.«
Dóra hob die Augenbrauen. »Zwei?«
»Ja, oder besser gesagt — ein Paar. Wurde bei der Durchsuchung von Halldórs Wohnung heute Morgen gefunden. Ich bezweifle nicht, dass das sogar Haralds Mutter überzeugen wird.« Markús’ Gesichtsausdruck war so selbstgefällig, dass Dóra am liebsten gegähnt und sich verabschiedet hätte, ohne ihn weiter danach zu fragen. Aber ihre Neugier siegte.
»Was war’s, Markús?«
»Haralds Augen.«
Dóra schaute Halldór schweigend an. Er saß ihr mit hängendem Kopf gegenüber und hatte noch kein einziges Wort gesagt, seit sie ins Verhörzimmer geführt worden war. Als sie sich gesetzt hatte, hatte er zwar aufgeschaut, aber dann sofort weiter ein Loch in den Boden gestarrt. »Halldór«, sagte Dóra ziemlich verärgert. »Ich habe noch andere Dinge zu tun. Wenn du nicht mit mir sprechen willst, ist das hier Zeitverschwendung.«
Er schaute auf. »Ich will ’ne Zigarette.«
»Das geht nicht«, sagte Dóra. »Hier ist Rauchverbot. Wenn du hergekommen bist, um zu rauchen, dann kommst du zehn Jahre zu spät.«
Er nickte matt.
»Du weißt, dass du in einer miesen Lage bist. Einer sehr miesen sogar.«
»Ich hab ihn nicht umgebracht«, sagte Halldór und schaute ihr ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. Als sie nichts erwiderte, begann er, an einem Loch in seinem Hosenbein herumzuzupfen — es war bestimmt schon von Anfang an in der Hose gewesen und hatte ihren Preis verdoppelt.
»Eins muss klar sein, bevor wir uns weiter unterhalten.« Dóra wartete, bis sie Halldórs ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Erst dann sprach sie weiter. »Ich arbeite für Haralds Familie. Deine Interessen und die Interessen der Guntliebs stimmen nicht unbedingt überein. Besonders jetzt. Ich rate dir daher, sobald wie möglich einen anderen Anwalt zu nehmen. Ich kann dich nur jetzt und hier treffen, mehr nicht. Aber ich kann dir jemanden empfehlen.«
Halldór kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Geh nicht. Ich will mit dir sprechen. Die Bullen glauben mir nicht.«
»Vielleicht glauben sie dir ja nicht, weil du lügst?«, fragte Dóra trocken.
»Ich lüge nicht. Nicht, wenn es um die Hauptsache geht«, antwortete Halldór trotzig.
»Du bestimmst also, was Hauptsache und was Nebensache ist?«
Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Du weißt genau, was ich meine. Die Hauptsache ist, dass ich ihn nicht umgebracht habe.«
»Und die Nebensache? Was ist das?«, fragte Dóra.
»Nichts Besonderes«, sagte er und ließ den Kopf hängen.
»Wenn ich dir in irgendeiner Form behilflich sein soll, dann verlange ich eins«, erklärte Dóra und beugte sich über den mächtigen Tisch, der zwischen ihnen stand. »Lüg mich nicht an. Ich weiß, wann jemand lügt.« Sie hoffte, genauso überzeugend zu klingen wie der Polizeibeamte.
Halldór nickte, immer noch sauer. »Gut — aber es bleibt unter uns, okay?«
»Auf gewisse Weise«, sagte Dóra. »Wie gesagt, ich werde dich vor Gericht nicht verteidigen. Daher kannst du mir alles Mögliche erzählen — bis auf die Verbrechen, die du in Zukunft noch begehen möchtest. Die kannst du für dich behalten.« Sie lächelte ihm zu.
»Ich habe nicht vor, irgendwelche Verbrechen zu begehen«, sagte er ernst. »Versprichst du, dass alles andere unter uns bleibt?«
»Je nachdem, was die Polizei erfährt, könnte das deine Lage sogar verbessern. Du steckst dermaßen in der Klemme, schlimmer kann’s nicht mehr kommen. Aber wenn es dir damit bessergeht, dann vereinbaren wir eben, nur über die Dinge zu sprechen, die deine Position verbessern könnten. Zufrieden?«
»Okay«, sagt er misstrauisch. Dann fügte er barsch hinzu: »Also frag schon.«
»Haralds Augen. Sie wurden bei dir gefunden. Was steckt dahinter?«
Halldórs Hände begannen zu zittern. Er kratzte sich nervös am linken Handrücken. Dóra wartete ruhig, bis er sich entschieden hatte, ob er ihr die Wahrheit sagen wollte. Wenn nicht, würde sie gehen.
»Ich … ich …«
»Wir wissen beide, wer du bist«, sagte Dóra ungeduldig. »Antworte mir oder ich bin weg.«
»Ich konnte sie nicht mitschicken«, stieß er hastig hervor. »Ich hab mich nicht getraut. Sie hatten die Leiche gefunden und ich hatte Angst, dass die Augen bei der Post auftauchen würden. Ich wollte es später machen, wenn sich die Aufregung wieder gelegt hätte. Ich schrieb mit dem Blut die Beschwörungsformel und warf den Brief direkt am Sonntag ein. In einen Briefkasten in der Stadt.« Am Ende dieses Geständnisses atmete er tief ein und kniff dann die Lippen zusammen.
»Es ging also um den Vertrag?«, fragte Dóra. »Wolltest du wirklich diesen bescheuerten Vertrag über den Rachezauber einhalten?«
Halldór schaute sie wütend an. »Ja. Ich hab geschworen, es zu tun. Für Harald. Es war ihm so wichtig«, erklärte er mit gerötetem Gesicht. »Seine Mutter war abscheulich.«
»Ist dir klar, dass das völlig verrückt ist?«, fragte Dóra fassungslos. »Wie bist du nur auf die Idee gekommen?«
»Nur so«, war die lapidare Antwort. »Aber ich hab ihn nicht umgebracht.«
»Moment mal, so weit sind wir noch nicht«, sagte Dóra entnervt. »Du hast also seine Augen entfernt, hab ich das richtig verstanden?«
Halldór nickte beschämt.
»Und sie mit nach Hause genommen?«
Er nickte wieder.
»Wo, wenn ich fragen darf, hast du sie aufbewahrt?«
»In der Tiefkühltruhe. In einem Brot. Ich hab sie in ein Brot gestopft und das Brot in die Tiefkühltruhe gelegt.«
Dóra lehnte sich zurück. »Natürlich. In ein Brot. Wohin auch sonst.« Sie riss sich zusammen und versuchte, das Bild aus ihrem Kopf zu verdrängen. »Wie konntest du das überhaupt tun? Die Sache an sich, meine ich.«
Halldór zuckte mit den Schultern. »Das war kein Problem. Ich hab einen Teelöffel benutzt. Es war schwieriger, das Symbol in die Leiche zu ritzen. Das war heftig. Mir wurde ziemlich übel. Ich musste öfter ans Fenster und frische Luft schnappen.«
»Kein Problem, sagst du«, murmelte Dóra ratlos. »Sorry, ich erlaube mir, das zu bezweifeln.«
Er sah sie scharf an. »Ich hab schon viel abstoßendere Dinge gesehen. Und viel ekelhaftere Dinge getan. Was glaubst du, wie es sich anfühlt, seinem Freund die Zunge zu spalten?«
Dóra konnte es sich nicht vorstellen, bezweifelte jedoch, dass es genauso abstoßend war, wie seinem Freund die Augen mit einem Teelöffel auszustechen. In Zukunft würde sie ihren Kaffee mit einem Esslöffel umrühren. »Wie auch immer, es war bestimmt nicht angenehm.«
»Natürlich nicht«, sagte Halldór laut. »Wir waren total dicht, hab ich dir doch gesagt.«
»Wir?«, fragte Dóra erstaunt. »Hast du es nicht allein gemacht?«
Halldór wartete einen Moment mit der Antwort. Er zupfte ein bisschen an dem Loch in seiner Hose herum und kratzte sich wieder am Handrücken. Dóra musste ihre Frage wiederholen.
»Nein, ich war nicht allein. Wir waren alle da; ich, Marta Maria, Bríet, Andri und Brjánn. Wir kamen aus der Stadt, wollten weiter feiern. Marta hatte Lust, noch was zu nehmen, und Bríet erzählte, dass Harald ein paar Ecstasy-Pillen im Studentenzimmer deponiert hatte.«
»Und Hugi, war der nicht dabei?«
»Nein. Hugi hab ich an dem Abend gar nicht getroffen. Er hatte mit Harald die Party verlassen und wurde nicht mehr gesehen. Genauso wenig wie Harald. Jedenfalls nicht lebendig.«
»Ihr seid also zum Árnagarður gegangen?«, fragte Dóra verwundert. »Wie seid ihr denn reingekommen? Das System hat nichts aufgezeichnet.«
»Das System war nicht eingeschaltet — ich hab den Eindruck, dass es das eigentlich nie ist. Wer interessiert sich schon dafür, wer zuletzt das Haus verlassen hat?«
»þorbjörn Ólafsson, bei dem Harald seine Masterarbeit schreiben wollte, beteuert, dass er das System eingeschaltet hat«, sagte Dóra. »Er ist sich ganz sicher.«
»Es war aber nicht eingeschaltet, als wir reingingen. Haralds Mörder muss es ausgeschaltet haben.«
»Aber die Tür war trotzdem abgeschlossen und man braucht eine Zugangskarte, um ins Haus zu gelangen«, sagte Dóra. »Es wird alles mit einem Computer aufgezeichnet und demzufolge hat niemand das Haus betreten.« Bei den Unterlagen der Polizei gab es einen Ausdruck aus dem Sicherheitssystem. Dóra hatte ihn mit eigenen Augen gesehen.
»Wir sind durch ein offenes Fenster auf der Rückseite des Hauses geklettert. Es steht immer offen — da hat irgendein Penner sein Büro, der immer vergisst, das Fenster zuzumachen. Sagt jedenfalls Bríet. Sie wusste davon. Wir sind auch durch das Fenster wieder raus«
»Und dann?«, fragte Dóra. »Lag Harald da und schlief seinen Rausch aus? Oder war er tot? Was denn nun?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich ihn nicht umgebracht habe. Er schlief nicht. Er lag im Studentenzimmer. Auf dem Fußboden. Tot. Mausetot. Blau im Gesicht mit raushängender Zunge. Jeder konnte sehen, dass er erstickt war.« Ein leichtes Kratzen in Halldórs Stimme gab zu erkennen, dass er nicht ganz so cool war, wie er erscheinen wollte.
»Könnte er beim Sex erstickt sein? Habt ihr irgendwas entwendet, das darauf hindeuten könnte?«, fragte Dóra.
»Nein. Nichts. Er hatte nichts um den Hals — da waren nur diese hässlichen Quetschungen.«
Dóra ließ die Neuigkeiten sacken. Falls er sie von vorn bis hinten belog, war er ein verdammt guter Lügner. »Wie spät war es eigentlich?«
»So gegen fünf. Vielleicht halb sechs. Oder sechs. Ich weiß es nicht. Ich war gegen vier in der Kneipe. Wie lange wir da geblieben sind, weiß ich nicht mehr genau. Wir haben nicht auf die Uhrzeit geachtet.«
Dóra atmete tief ein. »Und dann? Hast du die Augen entfernt und die anderen standen daneben oder was? Und wie kam Harald in die Druckerkammer?«
»Natürlich hab ich es nicht gleich gemacht. Wir standen erst mal wie gelähmt um ihn rum. Wussten nicht, was wir tun sollten. Marta Maria hatte einen hysterischen Anfall und das geht bei ihr nicht so schnell vorüber. Wir waren schockiert und total durcheinander, betrunken und bekifft. Bríet fing auf einmal an, über den Vertrag zu sprechen, hing an meinem Hals und sagte, ich müsse ihn besiegeln, sonst würde Harald mich heimsuchen. Wir hatten den Vertrag auf einem unserer Treffen in Anwesenheit der anderen unterschrieben, nur um ein bisschen anzugeben, aber Harald nahm die Sache todernst. Hugi war der Einzige, der nichts von dem Vertrag wusste. Harald meinte, Hugi würde die Magie nicht ernst genug nehmen.«
»Ging es in dem Vertrag nur um den Rachezauber?«, fragte Dóra.
»Ja — jedenfalls in dem schriftlichen«, antwortete Halldór.
»Wir haben noch einen zweiten geschlossen, der war ähnlich. Ein Liebeszauber zur Unterstützung der Beschwörungsformel. Er sollte die Liebe von Haralds Mutter im Nachhinein erwecken und es ihr noch unerträglicher machen, von Harald heimgesucht zu werden. Dieser Vertrag war nur mündlich. Ich sollte neben Haralds Grab eine Grube schaufeln und ein paar magische Runen und den Namen seiner Mutter hineinschreiben. Dann sollte ich Schlangenblut in die Grube gießen. Harald hatte sogar eine Schlange dafür gekauft. Er gab sie mir eine Woche vor seinem Tod und ich hab das Viech immer noch. Es macht mich wahnsinnig. Man muss es mit lebenden Hamstern füttern und ich könnte jedes Mal kotzen.«
Harald hatte also die Hamster gekauft, um die Schlange zu füttern. Klar. »Aber dann hat Harald ja damit gerechnet, zu sterben?«, fragte Dóra verwundert.
Halldór zuckte die Achseln und ging nicht weiter darauf ein. »Ich hab nur das getan, was ich tun musste. Marta Maria und Bríet mussten sich übergeben. Dann meinte Andri, wir sollten Harald aus dem Raum bringen, sonst würde der Verdacht auf uns fallen. Wir waren ja diejenigen, die den Raum am meisten genutzt haben. Wir haben Harald in die Kammer gezerrt. Da haben wir ihn dann aufgerichtet, weil auf dem Fußboden nicht genug Platz war, um ihn hinzulegen. Es war ein ziemliches Hin und Her. Dann sind wir abgehauen und zu Andri gegangen. Er wohnt in der Nähe der Weststadt. Marta Maria hat die ganze Zeit gekotzt, bis zum Morgen. Wir anderen saßen nur wie festgefroren im Wohnzimmer, bis wir eingeschlafen sind.«
»Woher hattet ihr das Rabenblut?«
Halldórs Gesicht nahm einen verschämten Ausdruck an. »Harald und ich haben ihn abgeschossen. Draußen beim Leuchtturm. Es gab keine andere Möglichkeit. Wir waren im Tierpark und in allen Zoogeschäften und haben gefragt, ob uns jemand einen Raben schenkt oder verkauft. Aber es hat nicht geklappt. Wir brauchten das Blut doch für den Vertrag.«
»Woher hattet ihr die Waffe?«
»Ich hab meinem Vater ein Gewehr geklaut. Er ist Jäger. Hat nichts davon gemerkt.«
Dóra wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann erinnerte sie sich an den Karton mit den Körperteilen. »Halldór«, sagte sie ruhig. »Was ist mit den Körperteilen, die bei Harald zu Hause gefunden wurden? Hattet ihr etwas damit zu tun oder gehörten die Harald?« Irgendwie war es unpassend, in diesem Zusammenhang von gehören zu sprechen, aber so war es nun mal.
Halldór hustete und rieb sich die Nase mit dem Handrücken. »Äh, ach das«, sagte er dümmlich. »Die sind nicht von Leichen, falls du das glaubst.«
»Glauben? Ich glaube gar nichts«, entgegnete Dóra wütend. »Man muss ja wohl mit allem Möglichen rechnen. Du kannst mir auch erzählen, ihr hättet Särge ausgegraben — mich wundert gar nichts mehr.«
Halldór fiel ihr ins Wort. »Das ist nur so’n Krempel von der Arbeit. Hätte ich wegschmeißen sollen.«
Dóra lachte spöttisch auf. »Das bezweifle ich allerdings. Krempel, der weggeschmissen werden sollte!« Sie machte eine Geste, wie wenn sie etwas in die Hand nehmen und missbilligend anschauen würde. »Benimm dich nicht wie ein Idiot und sag mir, was es damit auf sich hatte.«
Halldór saß mit dunkelrotem Gesicht da und starrte Dóra an. »Wenn die Bullen das untersuchen, werden sie feststellen, dass es verletzte Körperteile waren, die amputiert werden mussten. Zu meinem Job gehört es, solche Dinge zu verbrennen. Stattdessen hab ich sie mit nach Hause genommen.«
»Ich glaube, du solltest lieber sagen, dein ehemaliger Job, mein Freund. Ich bezweifle, dass du dort noch eine einzige Schicht übernehmen wirst.« Dóra versuchte, die zahlreichen Gedanken und Fragen in ihrem Kopf zu ordnen. »Wie kann man einen Fuß und einen Finger und was auch immer es sonst noch war aufbewahren? Verschimmelt Menschenfleisch nicht? Oder hast du es auch in der Tiefkühltruhe aufbewahrt?«
»Nein, ich hab’s gebacken«, antwortete Halldór, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt.
Dóra lachte nervös auf. »Du hast Körperteile gebacken. Oh Gott, ich kann nur sagen, dein armer Verteidiger.«
»Ich hab sie nicht richtig gebacken«, entgegnete Halldór aufgebracht. »Ich hab sie bei niedriger Hitze im Ofen getrocknet. Dann verderben sie nicht. Oder zumindest nicht so schnell. Außerdem heißt es verwesen und nicht verschimmeln.« Er lehnte sich wütend in seinem Stuhl zurück. »Wir brauchten die Sachen für die Zauberformeln — dadurch wurde das Ganze viel wirksamer.«
»Und der Finger, der im Árnagarður gefunden wurde? Gehörte der auch zu deinem Backsortiment?«
»Er war der Erste. Ich wollte Bríet damit ärgern und hab ihn in ihre Kapuze gesteckt. Ich dachte, sie würde sich erschrecken, wenn er ihr ins Gesicht fällt, aber der Finger ist einfach aus der Kapuze gerollt, ohne dass sie es bemerkt hat. Danach hab ich keinen Blödsinn mehr mit Körperteilen gemacht, weil es uns wirklich in Teufels Küche hätte bringen können.«
Dóra saß da und ließ die Dinge auf sich wirken. Sie hatte genug von diesen Abscheulichkeiten und wechselte das Thema. »Warum hast du uns belogen, als wir dich nach den Reisen nach Strandir und ins Hótel Rangá gefragt haben? Wir wissen, dass du mit Harald da warst.«
Halldór schaute zu Boden. »Ich wollte nicht, dass ihr mich mit dem Hexereimuseum in Verbindung bringt. Harald ist da auf die Idee mit der Zauberformel in unserem Vertrag gekommen. Ansonsten ist nichts Besonderes passiert. Ich hab draußen auf einer Bank gewartet, während Harald mit der Museumsaufsicht gesprochen hat. Sie haben sich wohl ganz gut verstanden, haben sich herzlich die Hand geschüttelt, als wir wieder gingen. Ich hatte einen tierischen Kater und es ging mir total beschissen, deshalb wollte ich nicht reingehen. Ein zahmer Rabe hat mir Gesellschaft geleistet.«
»Habt ihr euch auf dem Rückflug nicht über das Museum unterhalten?«, fragte Dóra.
»Nee, der Pilot war ja dabei.«
»Und im Hotel Rangá? Was wollte Harald da?«, fragte Dóra. »Ich weiß, dass du dabei warst.«
Halldór errötete. »Ich weiß nicht, was er da wollte. Jedenfalls war er nicht zum Angeln da. Mehr weiß ich nicht. Wir haben im Hotel übernachtet und Harald ist in der Gegend rumgefahren. Ich bin im Zimmer geblieben und hab gelernt.«
»Warum hast du ihn nicht begleitet?«, fragte Dóra.
»Das wollte er nicht«, antwortete Halldór. »Er hat mich mitgenommen, weil ich ihm erzählt hatte, dass ich in einem Fach total hinterherhänge; er wollte mich mit meinen Büchern das ganze Wochenende einschließen, an einem Ort, an dem sowieso nichts los wäre. Und das hat er auch gemacht, also nicht wortwörtlich, aber er wollte mich nicht mitnehmen. Ich weiß nicht genau, wohin er gefahren ist, aber es ist ja ganz in der Nähe von Skálholt.«
»Ihr müsst doch auch irgendwas zusammen gemacht haben, habt ihr euch nicht unterhalten?«, fragte Dóra.
»Doch, wir haben uns natürlich abends getroffen, zusammen gegessen und sind anschließend in die Bar gegangen«, sagte Halldór und grinste sie an. »Da haben wir uns dann über alles Mögliche unterhalten, verstehst du?«
»Und warum hast du behauptet, nichts über diese Reise zu wissen?«, fragte Dóra verwundert. »Und warum um Himmels Willen hast du dich als Harry Potter eingecheckt?«
»Nur so«, sagte Halldór nervös. »Harald hat mich mit diesem Namen eingecheckt, er fand es lustig, Leuten Spitznamen zu geben, und diesmal war ich eben an der Reihe.«
»Ich glaube, die Polizei hat sich leider doch nicht geirrt. Hugi hat Harald umgebracht und ihr habt den Rest erledigt, ohne euch Gedanken darüber zu machen. Vielleicht war Hugi schon wieder zu Hause, kann gut sein. Ihr seid doch nicht ganz dicht und Hugi ist offenbar auch nicht ganz richtig im Kopf und hat Harald einfach so umgebracht. Das versteht wohl niemand, außer ihm selbst.«
»Nein!« Halldór klang nicht mehr wütend, sondern verzweifelt. »Hugi hat Harald nicht umgebracht — auf keinen Fall!«
»In seinem Schrank wurde ein T-Shirt mit Haralds Blut gefunden. Hugi konnte nicht erklären, wie es dahin gekommen ist. Die Polizei nimmt an, dass Hugi damit Haralds Blut aufgewischt hat.« Dóra schaute Halldór an. »Es ist dasselbe T-Shirt, das irgendjemand bei Haralds Zungenoperation anhatte. Es trägt die Aufschrift 100 % Silicon. Kennst du das?«
Halldór nickte eifrig. »Hugi hatte es an. Er hat sich mit Blut bespritzt und das T-Shirt ausgezogen. Ich hab damit nach der OP den Boden abgewischt.« Er schaute Dóra beschämt an. »Ich hab es Hugi nicht erzählt. Ich hab das T-Shirt einfach in seinen Schrank geschmissen. Hugi hat Harald nicht umgebracht.«
»Wer denn sonst, mein Freund?«, fragte Dóra. »Irgendjemand muss es schließlich gewesen sein und ich gehe davon aus, dass Hugi dafür verurteilt wird, so wie du und deine Freunde für Leichenschändung, wenn nicht gar Schlimmeres, verurteilt werden.«
»Bríet«, sagte Halldór plötzlich. »Ich glaube, Bríet hat ihn umgebracht.«
Dóra überlegte. Bríet. Die kleine Blonde mit dem großen Busen. »Warum glaubst du das?«, fragte sie ruhig.
»Einfach so«, antwortete Halldór zögernd.
»Nein, sag’s mir. Du musst doch irgendeine Idee haben. Warum ausgerechnet sie?«, fragte Dóra nachdrücklich.
»Darum. Sie verschwand, als wir in der Kneipe in der Stadt waren. Sie hat behauptet, sie hätte uns verloren, aber wir haben uns nicht von der Stelle bewegt — die meisten von uns jedenfalls nicht.«
»Das reicht nicht«, sagte Dóra. Sie hatte keine Lust, ihn zu fragen, warum er das nicht der Polizei erzählt hatte. Laut der Zeugenaussagen der Studenten waren sie alle die ganze Zeit zusammen gewesen.
»Der Teelöffel«, sagte Halldór leise. »Sie sollte den Teelöffel verschwinden lassen, hat es aber nicht getan. Sie kann doch nicht so blöd sein und ihn einfach in die Schublade gelegt haben, wo die Bullen ihn dann finden — das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Marta Maria hat sich um das Messer gekümmert und das ist weg. Aber dieser Teelöffel taucht auf einmal auf. Das kommt mir komisch vor.«
»Warum sollte sie ihn im Nachhinein wieder in die Schublade geschmuggelt haben? Klingt nicht sehr logisch.«
»Sie wollte mich in Schwierigkeiten bringen. Sie hat den Löffel nie mit bloßen Händen angefasst, so wie ich. Sie trug Handschuhe. Sie ist sauer auf mich, weil ich nicht mehr mit ihr zusammen sein will. Ich weiß auch nicht.« Halldór rutschte auf seinem Stuhl herum. »An diesem Abend hat sie sich irgendwie merkwürdig verhalten. Als wir die Leiche entdeckt haben, war sie die Einzige, die nicht geschrien und geheult hat. Sie war ganz ruhig. Hat Harald nur angeschaut und kein Wort gesagt, während wir anderen total ausgerastet sind. Kein Wort, erst als sie mich an den Vertrag erinnert hat. Sie wollte mir die Sache in die Schuhe schieben. Frag doch die anderen, wenn du mir nicht glaubst.« Er beugte sich vor und griff über den Tisch nach Dóras Arm. »Sie wusste von dem Fenster — vielleicht war sie früher am Abend schon mal durch dieses Fenster rausgeklettert, was weiß denn ich?! Sie war sauer auf Harald, weil er in der Woche davor nicht mit ihr sprechen wollte, genauso wenig wie mit den anderen, aber egal. Vielleicht hat sie sich mit ihm getroffen und er sich ihr gegenüber blöd verhalten. Irgendwas halt! Glaub mir, ich hab viel darüber nachgedacht und ich weiß, was ich sage. Überprüf das — rede mit ihr, tu’s wenigstens für mich.«
Dóra machte ihren Arm frei. »Leute reagieren unterschiedlich auf Schocksituationen — vielleicht gehört sie zu denjenigen, die gefasst reagieren. Ich möchte nicht mit ihr sprechen. Erzähl das der Polizei.«
»Wenn du mir nicht glaubst, dass sie verrückt ist, dann sprich mit der Uni. Sie und Harald haben zusammen an einer Hausarbeit gesessen und es endete im Chaos. Du musst nur nachfragen.« Er starrte sie flehend an.
»Welche Hausarbeit?«, fragte Dóra langsam. Vielleicht gab es doch eine Verbindung zu Haralds Forschungen.
»Es ging darum, zeitgenössische Quellen über den Bischof Brynjólfur Sveinsson in verschiedenen Sammlungen zu recherchieren und aufzulisten. Bríet hatte sich in den Kopf gesetzt, dass irgendwelche Dokumente geklaut worden sein mussten. Es gab einen fürchterlichen Aufstand. Am Ende stellte sich die Sache als Unsinn heraus. Sie ist total verrückt, ich hab es nur erst jetzt gemerkt. Sprich mit der Uni — das kannst du doch wenigstens tun.«
»Bei welchem Dozenten war das?«, fragte Dóra, bedauerte es aber sofort wieder. Sie hatte begonnen, seine vollkommen unhaltbare Theorie zu stützen.
»Ich weiß es nicht — bestimmt bei diesem þorbjörn. In der Uni wissen sie es. Geh hin und frag. Bitte, mach es, ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst.«
Sie stand auf. »Bis bald, Bäckergeselle. Wenn du willst, besorge ich dir einen Rechtsanwalt.«
Er schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin. »Ich dachte, du würdest das verstehen — du wolltest Hugi helfen und ich hab geglaubt, du würdest mir auch helfen.«
Sofort tat er Dóra leid. Mütterliche Gefühle machten sich breit. Oder waren es großmütterliche? »Wer hat denn gesagt, dass ich dir nicht helfen will?«, sagte sie. »Wir werden sehen, was ich herausfinde. Aber ich werde dich unter keinen Umständen verteidigen, mein Freund. Obwohl ich mir die Beweisführung anhören werde. Die möchte ich um keinen Preis verpassen.«
Halldór schaute auf und lächelte dumpf. Dóra klopfte an die Tür und ließ sich hinausbringen. Lange würde es nicht mehr dauern. Das spürte sie.