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Dóra schlug mit dem Bleistift einen Takt auf die Schreibtischkante. Matthias beobachtete sie schweigend. »Ich hab gehört, die Jungs von den Rolling Stones suchen noch eine Oma fürs Schlagzeug«, sagte er.
Dóra hörte auf, gegen den Tisch zu schlagen, und legte den Bleistift beiseite. »Sehr witzig. Es hilft mir beim Nachdenken.«
»Nachdenken? Warum musst du denn jetzt nachdenken?« Am Tag zuvor hatte Dóra Matthias von Halldórs verzweifeltem Versuch, den Verdacht auf Bríet zu lenken, berichtet. Matthias hatte nicht viel von dieser Theorie gehalten. Dóra fand sie auch unrealistisch, aber nachdem sie die ganze Nacht wach gelegen und sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, war sie nicht mehr ganz so sicher. Matthias redete weiter: »Es konzentriert sich jetzt alles nur noch auf ein paar offene Fragen. Glaub mir, wenn sich die Polizei diesen Halldór vorknöpft, wird das Geld auftauchen und sogar das Manuskript, falls es überhaupt existiert.« Er schaute aus dem Fenster. »Lass uns lieber rausgehen und uns ein spätes Frühstück genehmigen.« Matthias war gerade erst in Dóras Büro eingetroffen; er hatte verschlafen.
»Das geht nicht. Heute ist ein Gastronomiefeiertag«, log Dóra. »Sie öffnen erst mittags.« Matthias stöhnte. »Du wirst es schon überleben — vorne liegen Kekse«, sagte sie, griff nach dem Telefonhörer und rief Bella an. »Bella, könntest du uns bitte die Packung Kekse bringen, die neben der Kaffeemaschine liegt?« Das Nein lag schon in der Luft, deshalb fügte Dóra rasch hinzu: »Sie sind für Matthias, nicht für mich. Danke.« Dann wendete sie sich wieder an Matthias. »Glaubst du nicht, wir sollten das, was Halldór über Bríet gesagt hat, überprüfen? Vielleicht ist ja doch was dran.«
Matthias lehnte den Kopf zurück und starrte einen Moment in die Luft. Dann antwortete er: »Dir ist doch wohl klar, dass Halldór in der Zwickmühle sitzt?« Dóra nickte. »Wir haben weder etwas gesehen noch etwas gehört, das darauf hindeuten würde, dass Bríet in die Sache verwickelt ist, bis auf die Tatsache, dass sie ein bisschen durchgeknallt ist und an merkwürdigen Zeremonien mit gebackenen Körperteilen teilnimmt.«
»Vielleicht haben wir einfach etwas übersehen«, sagte Dóra wenig überzeugend.
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Matthias. »Tut mir leid, Dóra, sieht so aus, als ob Hugi Harald wirklich umgebracht und sein Kumpel den Rest erledigt hat. Fragt sich nur, ob sie die Sache gemeinsam geplant und sich das Geld unter den Nagel gerissen haben. Wahrscheinlich haben sie Harald irgendeine Lügengeschichte über das Manuskript aufgetischt und so getan, als wüssten sie, wo es zu finden ist. Du musst zugeben, dass Halldór verunsichert war, als wir ihn nach seiner Hilfe bei den Übersetzungen gefragt haben und er sich irgendeinen Blödsinn zurechtgelegt hat. Vielleicht haben die beiden so getan, als wollten sie das Manuskript kaufen, und dann das Geld eingesackt. Als es zur Übergabe des Manuskripts kommen sollte, sahen sie keinen anderen Ausweg, als Harald zum Schweigen zu bringen. Halldórs Geschichte mit dem T-Shirt ist wahrscheinlich erfunden.«
»Aber …« Im selben Moment stürmte Bella ohne anzuklopfen mit den Keksen ins Zimmer. Sie hatte sie ordentlich auf einem Teller drapiert und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Nur eine Tasse. Dóra wusste instinktiv, dass Bella, wären die Kekse für Dóra bestimmt gewesen, die ungeöffnete Packung durch den Türspalt geschleudert und dabei auf ihren Kopf gezielt hätte.
»Herzlichen Dank«, sagte Matthias, als er Kekse und Kaffee entgegennahm. »Manche Leute verstehen einfach nicht, wie wichtig ein gutes Frühstück ist.« Er nickte in Dóras Richtung und blinzelte Bella zu. Bella warf Dóra einen Blick zu, runzelte die Stirn, lächelte Matthias verführerisch an und ging hinaus.
»Du hast ihr zugeblinzelt«, sagte Dóra verdutzt.
Matthias blinzelte Dóra zweimal zu. »Ich hab dir zweimal zugeblinzelt. Zufrieden?« Schwungvoll steckte er sich einen Keks in den Mund.
Dóra verdrehte die Augen. »Pass bloß auf; Bella ist Single und ich erzähle ihr gern, in welchem Hotel du wohnst.« Dóras Handy klingelte.
»Guten Tag, ist da Dóra Guðmundsdóttir?«, fragte eine Frauenstimme, die Dóra bekannt vorkam.
»Ja, guten Tag.«
»Hier ist Guðrún, Haralds Vermieterin«, sagte die Frau.
»Ach ja, grüß dich.« Dóra kritzelte den Namen der Frau auf einen Zettel, machte dahinter zwei Fragezeichen und zeigte ihn Matthias.
»Ich weiß nicht, ob ich bei dir richtig bin, aber ich habe ja deine Visitenkarte und … Tja, und ich hab ja hier am Wochenende diesen Karton von Harald gefunden, mit allen möglichen Sachen.« Die Frau verstummte.
»Ich … ich weiß, was drin war«, sagte Dóra, um die Frau davor zu bewahren, ihr die gebackenen Körperteile beschreiben zu müssen.
»Ach ja?« Die Erleichterung in Guðrúns Stimme war unüberhörbar. »Ich hab mich natürlich furchtbar erschreckt und jetzt erst gemerkt, dass ich noch ein Dokument in der Hand hielt, als ich aus der Waschküche lief.«
»Und das hast du immer noch?« Dóra bemühte sich, der Frau auf die Sprünge zu helfen.
»Ja, genau. Ich hatte es in der Hand, als ich rauslief, um die Polizei anzurufen, und ich hab es gerade erst neben dem Telefon in der Küche wiedergefunden.«
»Ist es ein Dokument, das Harald gehörte?«
»Tja, das weiß ich nicht. Es ist ein alter Brief. Uralt. Mir ist wieder eingefallen, dass ihr nach so einem gesucht habt und ich dachte, es wäre vielleicht besser, ihn euch anstatt der Polizei zu geben.« Dóra hörte, wie die Frau tief Luft holte, bevor sie weitersprach. »Sie haben ja jetzt genug zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das was mit der Sache zu tun hat.«
Dóra kritzelte auf den Zettel: Alter Brief?? Matthias hob die Augenbrauen und nahm noch einen Keks. Dóra sagte in den Hörer: »Wir würden zumindest gern einen Blick darauf werfen. Können wir gleich bei dir vorbeikommen?«
»Äh, ja. Ich bin zu Hause. Aber es gibt ein Problem.« Die Frau verstummte.
»Was denn?«, fragte Dóra behutsam.
»Ich fürchte, ich habe den Brief in der Eile ziemlich zerknittert. Ich stand unter Schock. Aber er ist nicht ganz kaputt.« Sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Eigentlich hab ich der Polizei deshalb nichts von dem Brief erzählt. Ich wollte nicht, dass sie eine große Sache daraus machen, dass ich ihn kaputtgemacht habe. Ich hoffe, du verstehst, wie das passieren konnte.«
»Kein Problem. Wir kommen.« Dóra legte auf und erhob sich. »Du musst die Kekse mitnehmen; wir sind schon unterwegs. Wir haben wahrscheinlich den Brief aus Dänemark gefunden.«
Matthias nahm zwei Kekse und trank einen letzten Schluck Kaffee. »Der Brief, den der Professor gesucht hat?«
»Ja, hoffentlich.« Dóra hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und ging zur Tür. »Wenn das wirklich dieser Brief ist, können wir ihn Gunnar zurückgeben und vielleicht etwas über die Geschichte mit Bríet aus ihm herausbekommen.« Sie lächelte Matthias siegesgewiss zu. »Und selbst wenn es ein anderer Brief ist, können wir so tun, als wäre es der richtige.«
»Willst du den armen Mann etwa an der Nase herumführen?«, fragte Matthias. »Das ist aber wirklich nicht nett von dir — du weißt doch, was der arme Kerl schon alles durchgemacht hat.«
Dóra drehte sich auf dem Weg durch den Flur noch einmal um und lächelte ihm zu. »Wir können nur herausfinden, ob es der richtige Brief ist, wenn wir ihn Gunnar zeigen. Er wird wahrscheinlich so froh sein, dass er alles für uns tun wird. Zwei oder drei Fragen über diese Bríet werden ihm schon nicht schaden.«
Dóras Lächeln verschwand, als sie mit dem Brief vor sich an Guðrúns Küchentisch saß. Gunnar wäre bestimmt nicht sehr erfreut, den Brief in diesem Zustand zurückzubekommen. Er würde sich nichts sehnlicher wünschen, als dass der Brief verschwunden geblieben wäre. »Sind Sie sicher, dass er nicht schon zerrissen war, als Sie ihn aus dem Karton geholt haben?«, fragte Dóra, wobei sie versuchte, das dicke Papier vorsichtig zu glätten, ohne das halb abgetrennte Stück ganz abzureißen.
Die Frau schaute beschämt auf das Papier. »Ganz sicher. Er war heil. Ich muss ihn in der Aufregung zerrissen haben. Ich war nicht ganz bei mir.« Sie lächelte entschuldigend. »Man kann ihn bestimmt wieder zusammenkleben, oder? Und dann wieder glatt bügeln?«
»Ja, ja. Ganz bestimmt«, entgegnete Dóra, obwohl sie fürchtete, dass es nicht ganz so leicht wäre, das Dokument wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. »Vielen Dank, dass Sie sich mit uns in Verbindung gesetzt haben. Das war richtig — es ist wahrscheinlich das Dokument, nach dem wir suchen, und es hat im Grunde nichts mit den polizeilichen Ermittlungen zu tun. Wir werden es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben.«
»Gut, je früher ich alles loswerde, das mich an Harald und diesen ganzen Ärger erinnert, desto besser. Die Zeit nach dem Mord war nicht gerade angenehm für mich und meinen Mann. Und ich bestehe darauf, dass Sie seiner Familie ausrichten, dass die Wohnung so schnell wie möglich geräumt werden soll. Je eher das passiert, desto eher werde ich über die Sache hinwegkommen.« Sie legte ihre schlanken Hände flach auf den Küchentisch und starrte ihre beringten Finger an. »Nicht, dass ich mit Harald nicht gut ausgekommen wäre. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch.«
»Nein, nein«, sagte Dóra freundlich. »Ich kann mir gut vorstellen, dass das alles sehr unangenehm war.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich würde Sie gern noch fragen, ob Sie Haralds Freunde kennen gelernt haben? Haben Sie sie gesehen oder gehört?«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte die Frau und klang auf einmal gar nicht mehr freundlich. »Sie gehört? Sie hätten ebenso gut bei mir in der Wohnung sein können, so ein Lärm war da manchmal.«
»Welche Art Lärm?«, fragte Dóra vorsichtig. »Streit? Geschrei?«
Die Frau schnaubte. »Vor allem laute Musik. Falls man das Musik nennen kann. Und manchmal rumpelte es die ganze Zeit, so als würden sie stampfen oder hüpfen. Und dann dieses Jaulen und Rufen und Heulen — ich hatte den Eindruck, die Wohnung an einen Zirkus vermietet zu haben.«
»Warum haben Sie Harald nicht gekündigt?«, fragte Matthias, der sich bis jetzt nicht eingemischt hatte. »Im Mietvertrag steht doch, dass bei Missachtung der Hausordnung gekündigt werden kann.«
Die Frau wurde rot. Dóra war nicht klar, wieso. »Ich hab mich gut mit ihm verstanden, das wird wohl der Grund sein. Er bezahlte pünktlich seine Miete und war in allen anderen Dingen ein vorbildlicher Mieter.«
»Es waren also vor allem seine Freunde für diesen Lärm verantwortlich?«, fragte Dóra.
»Ja, so kann man es vielleicht sagen«, erklärte die Frau.
»Haben Sie etwas von einem Streit oder einer Auseinandersetzung zwischen Harald und seinen Freunden mitbekommen?«, fragte Dóra.
»Nein, kann ich nicht sagen. Die Polizei hat mich das auch gefragt. Ich kann mich nur an einen wütenden Wortwechsel zwischen Harald und einem Mädchen in der Waschküche erinnern. Ich hab natürlich nicht weiter darauf geachtet, war mit den Weihnachtsbäckereien beschäftigt. Ich war nicht mit ihnen im selben Raum; hab es nur so im Vorbeigehen gehört.« Ihre Wangen überzogen sich schon wieder mit einer leichten Röte. Sie hatte ihnen vorher ungebeten die Waschküche gezeigt und ihnen erklärt, wie und wo sie den Karton gefunden hatte. Der Raum ging vom Flur ab und es war undenkbar, dass sie zufällig dort vorbeigegangen war, es sei denn, sie wäre von draußen gekommen. Die Frau hatte offenbar gelauscht. Dóra versuchte, ihr die Möglichkeit zu geben, zu erzählen, was sie gehört hatte — ohne zugeben zu müssen, dass sie ihr Ohr an die Tür gelegt hatte.
»Oh«, stöhnte sie voller Anteilnahme. »Ich hab auch schon mal in einer Wohnung mit einer Tür zur gemeinsamen Waschküche gewohnt, wo man alles mitanhören musste. Man konnte fast jedes Wort verstehen. Ich fand das wirklich unangenehm.«
»Ja«, sagte die Frau zögernd. »Harald war ja meistens allein in der Waschküche — zum Glück. Ich weiß nicht, ob dieses Mädchen ihm bei der Wäsche half oder ob sie ihn nur nach unten begleitet hat, aber sie waren jedenfalls ziemlich erregt. Es ging um eine verschwundene Urkunde, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht war es ja diese hier.« Die Frau wies mit dem Kinn auf den alten Brief. »Harald bat das Mädchen, die Sache auf sich beruhen zu lassen; zuerst ganz ruhig, aber als sie eine Erklärung von ihm verlangte, warum er nicht hinter ihr stünde, regte er sich furchtbar auf. Sie wiederholte die ganze Zeit, es könnte sie in ihrem Studium voranbringen — was auch immer das bedeuten sollte. Mehr hab ich nicht gehört, ich bin ja wie gesagt auch nur vorbeigegangen.«
»Haben Sie die Stimme des Mädchens erkannt? Könnte es das kleine blonde Mädchen aus Haralds Clique gewesen sein?«, fragte Dóra erwartungsvoll.
»Nein, ich hab sie nicht erkannt«, sagte die Frau, jetzt wieder unfreundlicher. »Es kamen vor allem zwei hierher, eine große Rothaarige und eine, auf die Ihre Beschreibung passt. Sie sahen beide aus wie Nutten auf dem Weg zum Schlachtfeld — mit Kriegsbemalung und unförmiger Tarnkleidung. Beide wirklich unattraktiv und unfreundlich. Ich glaube, sie haben mich noch nicht mal gegrüßt, obwohl wir uns oft begegnet sind. Ich hätte ihre Stimmen nie erkannt.«
Obwohl Dóra der Frau zustimmte, dass Bríet und Marta Maria unfreundlich waren, fand sie die Mädchen keinesfalls unattraktiv. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Frau in Harald verliebt gewesen war und ihr seine Freundinnen nicht gepasst hatten. Es geschahen ja die merkwürdigsten Dinge. Dóra versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Na ja, es spielt ja sowieso keine Rolle. Das hat bestimmt nichts mit dem Fall zu tun.« Sie stand auf und nahm den Brief. »Vielen Dank noch mal, und Ihr Anliegen wegen der Wohnung werde ich weitergeben.«
Matthias stand ebenfalls auf und gab der Frau die Hand. Sie schaute ihn lächelnd an und er lächelte automatisch zurück. »Suchen Sie nicht zufällig eine Wohnung?«, fragte sie und legte dabei liebenswürdig ihre linke Hand auf Matthias’ Hand.
»Ja, äh nein, ich werde in der nächsten Zeit nicht nach Island ziehen«, sagte er verwirrt und versuchte, einen Grund zu finden, seine Hand wegzuziehen.
»Du könntest bestimmt auch jederzeit bei Bella wohnen«, sagte Dóra und grinste. Matthias warf ihr einen vernichtenden Blick zu, der sich ein wenig milderte, als die Frau seine Hand wieder freigab.
»Gib du ihm den Brief«, bat Dóra und versuchte, Matthias den großen Umschlag in die Hand zu drücken. Die Frau hatte den Brief in den Umschlag gesteckt, um weitere Beschädigungen zu vermeiden. Falls da überhaupt noch etwas zu retten war.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Matthias und verschränkte die Arme. »Das war deine Idee. Ich werde nur dabeisitzen und euch beobachten — vielleicht reiche ich dem Mann ein Taschentuch, falls er beim Anblick des Fetzens in Tränen ausbricht.«
»Das letzte Mal habe ich mich so gefühlt, als ich gerade den Führerschein hatte und gegen den Wagen unseres Nachbarn gefahren bin«, erklärte Dóra. »Und ich hab den Brief ja noch nicht mal zerrissen.«
»Aber du überbringst die schlechte Nachricht«, konterte Matthias und schaute auf die Uhr. »Wann kommt er denn endlich? Ich muss mir noch was zu essen besorgen, bevor du Amelia triffst. Geht dieser Gastronomiefeiertag wirklich nur bis mittags?«
»Es wird nicht lange dauern, mach dir keine Sorgen. Du bekommst sehr bald was zu essen.« Vom anderen Ende des Flurs hörte Dóra Schritte und schaute auf. Gunnar kam schnellen Schrittes auf sie zu. Er hielt einen Stapel Papiere in der Hand und schien überrascht zu sein, sie zu sehen.
»Ich grüße Sie«, sagte er und angelte geschickt seinen Büroschlüssel aus der Jackentasche. »Sind Sie wegen mir hier?«
Matthias und Dóra erhoben sich. »Ja, guten Tag«, sagte Dóra. Sie wedelte mit dem Umschlag. »Wir möchten Sie fragen, ob dieser Brief, der am Wochenende gefunden wurde, derjenige ist, den Sie suchen.«
Gunnar strahlte auf. »Was sagen Sie da?«, sagte er, während er seine Bürotür öffnete. »Hereinspaziert. Was für erfreuliche Neuigkeiten!« Er ging zu seinem Schreibtisch und legte den Papierstapel ab. Dann setzte er sich und bot ihnen an, Platz zu nehmen. »Wo wurde er denn gefunden?«
Dóra setzte sich und legte den Umschlag auf den Tisch. »Bei Harald zu Hause, in einem Karton mit anderen Sachen. Ich muss sie vorwarnen, der Brief ist in keinem guten Zustand.« Sie lächelte entschuldigend. »Die Finderin hatte einen Schock.«
»Einen Schock?«, fragte Gunnar verständnislos. Er nahm den Umschlag und öffnete ihn vorsichtig. Langsam und ruhig zog er den Brief heraus. Als sein Zustand nicht mehr zu übersehen war, verlor Gunnar die Fassung. »Was zum Teufel ist denn damit passiert?« Er legte den Brief vor sich auf den Tisch und starrte ihn an.
»Ähm, die Frau hat auch ein paar Dinge gefunden, die sie ein bisschen aus dem Gleichgewicht gebracht haben«, sagte Dóra. »Nicht unbegründet, kann ich Ihnen versichern. Wir sollen Ihnen ausrichten, dass es ihr sehr leidtut und sie hofft, es lässt sich wieder richten.« Sie lächelte entschuldigend.
Gunnar sagte nichts. Er starrte regungslos den Brief an. Auf einmal fing er an zu lachen. Ein ziemlich unangenehmes Lachen. »Mein Gott«, ächzte er, als der Lachanfall nachließ. »Maria wird mich in der Luft zerreißen.« Sein Oberkörper schwankte leicht. Er strich über den Brief, hob ihn hoch und musterte ihn. »Es ist wirklich der Richtige, darüber sollte man sich ja vielleicht freuen.« Er kicherte.
»Maria«, sagte Dóra. »Wer ist Maria?«
»Die Direktorin des Árni Magnússon Instituts«, entgegnete Gunnar mit erstickter Stimme. »Sie hat sich wegen des verschwundenen Briefes sehr aufgeregt.«
»Vielleicht können Sie ihr von der Frau, die den Brief gefunden hat, ausrichten, es täte ihr furchtbar leid.«
Gunnar blickte von dem Brief zu Dóra. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, würde das nicht viel ändern. »Ja, mache ich.«
»Ich wollte die Gelegenheit nutzen, Gunnar, und Sie nach einer Studentin aus ihrer Fakultät fragen: Bríet, eine Freundin von Harald.«
Gunnar sah sie scharf an. »Was ist mit ihr?«
»Wir haben gehört, dass die beiden einen Streit hatten. Im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Hausarbeit über Brynjólfur Sveinsson. Sie sind wegen eines verschwundenen Dokuments aneinandergeraten. Wissen Sie etwas darüber?« Dóra bemerkte, dass hinter Gunnar an der Wand ein Gemälde des besagten Brynjólfur hing. »Ist er das nicht?« Sie zeigte auf das Bild.
Gunnar schwieg nachdenklich. Er drehte sich nicht nach dem Bild um. »Das ist nicht Brynjólfur Sveinsson; das ist mein Urgroßvater, nach dem ich benannt bin. Pastor Gunnar Harðarson. Er trägt sein Priesterornat, kein Bischofsgewand aus dem 17. Jahrhundert.«
Dóra errötete leicht und beschloss, doch nicht nach einem weiteren gerahmten Fotos an der Wand zu fragen — einem Foto von Gunnar und dem Bauern aus Hella, den Matthias und sie in der Höhle getroffen hatten. Ihre Beschämung heiterte Gunnar ein wenig auf. Er beugte sich über die Tischkante und sagte spitz: »Sie gehören zu den unangenehmsten Gästen, die ich je hatte.«
Dóra erstarrte. »Tut mir leid. Ich möchte Sie trotzdem bitten, ein bisschen Geduld mit uns zu haben — wir versuchen nur, ein paar offene Fragen zu klären, und die Sache mit Bríet ist eine davon. Wenn Sie nicht mit uns darüber sprechen möchten, können Sie uns ja den Namen des Dozenten oder Professors geben, der die Hausarbeit betreut hat.«
»Nein, nein. Ich meinte nur, Sie steuern jedes Mal zielstrebig auf heikle interne Angelegenheiten zu. Diese Geschichte gehört auch dazu.«
»Aha?«, sagte Dóra interessiert. »Ich dachte, die Geschichte sei lediglich für diese Bríet heikel. Wir haben gehört, dass sie sich ziemlich sonderbar verhalten hat, und deshalb fragen wir auch danach.«
»Bríet, ja. Stimmt genau, äußerst merkwürdig. Eigentlich haben wir es Harald zu verdanken, dass sie wieder zur Raison kam, bevor sie die Fakultät in eine sehr missliche Lage bringen konnte.« Gunnar löste seinen Krawattenknoten ein wenig.
»Aber worum ging es denn genau?«, fragte Dóra und musterte Gunnars Krawattennadel. Sie erinnerte sie an etwas.
Gunnar schielte ebenfalls auf seine Krawatte, verunsichert durch Dóras Blick. Sicherheitshalber strich er mit der Hand über die Krawatte, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich Krümel darauf befinden sollten. Dabei ritzte er sich an der scharfen Kante der Krawattennadel und zuckte zurück. »Wenn ich mich recht erinnere, beschlossen Harald und Bríet, eine Liste aller bekannten Quellen über Brynjólfur Sveinsson anzulegen. Die Aufgabe gehörte zu einem ihrer Seminare. Ich glaube, es war Haralds Idee, nicht Bríets. Sie hat sich ihm nur angeschlossen; sie hat sich bei den Hausarbeiten immer an andere drangehängt.«
»Hing das Thema irgendwie mit Haralds Masterarbeit zusammen?«, fragte Dóra. Wahrscheinlich wollte Harald untersuchen, ob Brynjólfur die Urschrift des Malleus Maleficarum besessen hatte.
»Nein, keineswegs«, antwortete Gunnar. »Anstatt die Seminararbeiten für die Vorbereitung seiner Masterarbeit zu nutzen, hat er sich mit allem Möglichen beschäftigt, sich in Themen vertieft, die zum Teil rein gar nichts mit der Hexenverfolgung zu tun hatten. Das galt allerdings nicht für Brynjólfur — er lebte im 17. Jahrhundert, wie Sie wissen.«
»Haben Sie diese Hausarbeit betreut?«, fragte Dóra.
»Nein, ich glaube, es war þorbjörn Ólafsson. Ich kann es nachschlagen, wenn Sie möchten.« Gunnar deutete auf den Computer auf seinem Tisch.
Dóra lehnte dankend ab. »Nein, das ist wahrscheinlich nicht nötig. Wenn Sie uns nur erzählen würden, was passiert ist. Das reicht uns im Moment. Wir sind etwas in Eile.«
Gunnar schaute auf seine Uhr. »Geht mir genauso — ich muss Maria den Brief bringen.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hielt sich seine Vorfreude in Grenzen. »Die beiden gingen also in die wichtigsten städtischen Museen wie das Isländische Nationalarchiv, die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek und weitere Institute, um alle Dokumente und Briefe aufzulisten, in denen der Bischof erwähnt wird. Soweit ich weiß, kamen sie gut voran, bis Bríet entdeckt zu haben glaubte, dass ein Brief aus dem Isländischen Nationalarchiv verschwunden war.«
»Wäre das nicht durchaus denkbar?«, fragte Dóra und warf einen Blick auf den Papierfetzen auf dem Tisch. »Ich meine, es wäre ja nicht das erste Mal.«
»Das kann durchaus sein, aber in diesem Fall handelte es sich lediglich um Schlamperei bei der Registrierung. Es ist zwar unklar, was mit dem Brief passiert ist, aber Bríet hat jemanden des Diebstahls bezichtigt, der in diesem Zusammenhang über jeglichen Verdacht erhaben ist.«
»Wen denn?«, fragte Dóra.
»Er sitzt vor Ihnen«, antwortete Gunnar und schwieg. Er schaute die beiden abwechselnd an. Sein Blick sollte sie wohl davon überzeugen, dass seine Unschuld nicht in Zweifel zu ziehen war.
»Ich verstehe«, sagte Dóra, schaute Gunnar fest an und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, wenn ich das frage, aber wie kam sie auf die Idee?«
»Wie schon gesagt, es gab Fehler bei der Registrierung. Demnach hätte ich den Brief als Letzter ausgeliehen, aber ich habe ihn nie angefasst. Entweder hat jemand meinen Namen verwendet oder die Einträge sind durcheinandergeraten. Brynjólfur Sveinsson interessiert mich nicht im Geringsten und ich wäre nie auf die Idee gekommen, Dokumente über ihn zu untersuchen. Noch verheerender war, dass das Mädchen versucht hat, die Situation auszunutzen: Sie hat mir doch glatt erklärt, sie würde schweigen, wenn ich ihr meine helfende Hand reichen würde; so hat sie es ausgedrückt. Ich habe mit Harald darüber gesprochen und er versprach, sie von dieser Dummheit abzubringen. Dann habe ich die Kollegen im Nationalarchiv kontaktiert und die Sache untersuchen lassen. Ich lasse mich doch nicht von irgendeinem Gör erpressen. Leider ließ sich der Fehler nicht ausfindig machen. Es war schon zu lange her, zehn Jahre oder so. Am Ende haben sie zugegeben, dass es sich um einen Fehler ihrerseits handelte, der Brief sei wahrscheinlich zusammen mit einem anderen Dokument abgelegt worden und würde früher oder später wieder auftauchen. Bríet war so schlau, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
»Was für ein Brief war das denn eigentlich?«, fragte Dóra. »Worum ging es darin, meine ich?«
»Der Brief stammt aus dem Jahr 1702 und war von einem Priester in Skálholt an den Handschriftensammler Árni Magnússon geschrieben worden. Es handelt sich um die Antwort auf Árnis Anfrage bezüglich eines Teils der ausländischen Handschriften aus dem Besitz von Brynjólfur Sveinsson, der 1675 verstorben war.«
»Und weiter?«, fragte Dóra. »Nichts über versteckte Handschriften, die man aus Skálholt wegschaffen wollte?«
Gunnar schaute sie konzentriert an. »Warum fragen Sie, obwohl Sie die Antwort schon wissen?«
»Was meinen Sie?«, entgegnete Dóra verwundert. »Ich weiß nichts weiter über diesen Brief, nur das, was Sie gerade erzählt haben.« Ihre Augen wanderten wieder zu Gunnars Krawattennadel. Was zum Teufel störte sie an dieser Nadel? Und worauf wollte der Mann hinaus?
»Was für ein wundersamer Zufall«, sagte Gunnar unwirsch. Er war offenbar der Meinung, Dóra wüsste mehr, als tatsächlich der Fall war. »Wir können dieses Versteckspiel ewig weiterspielen, wenn Sie möchten. In dem Brief gibt es eine Stelle, die man nie richtig deuten konnte, ein unverständlicher Abschnitt über einen wertvollen Gegenstand für einen dänischen Beamten, der beim alten Kreuz aufbewahrt sei. Die meisten glauben, dass damit das heilige Kreuz in der Kirche von Kaldaðarnes gemeint ist. Es wurde in der Reformation aufgrund des Reliquienverbots entfernt.«
»Sie wissen sehr viel über diesen Brief«, bemerkte Matthias, der bisher geschwiegen hatte. »Wenn man bedenkt, dass Sie ihn nie gesehen haben.«
»Selbstverständlich habe ich mich schlau gemacht, als diese Anschuldigungen gegen mich erhoben wurden«, entgegnete Gunnar gereizt. »Der Brief ist unter Historikern sehr bekannt und viele haben interessante Aufsätze über ihn geschrieben.«
Dóra starrte immer noch diskret auf Gunnars ungewöhnliche Krawattennadel, ziemlich ungleichmäßig geformt, offenbar aus Silber. »Woher haben Sie diese Nadel?«, fragte sie unvermittelt und zeigte auf die blaue, diagonal gestreifte Krawatte.
Gunnar und Matthias sahen sie verwundert an. Gunnar nahm die Krawatte und betrachtete die Nadel. Dann ließ er sie wieder los und wendete sich an Dóra. »Ich muss gestehen, ich weiß wirklich nicht, in welche Richtung sich unsere Unterredung bewegt. Aber wenn Sie es unbedingt wissen möchten, ich habe sie zu meinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt bekommen.« Er stand auf. »Ich glaube, unser Gespräch ist hiermit beendet. Ich habe wirklich kein Interesse daran, mit Ihnen über meine Kleidung zu diskutieren. Ich habe ein unangenehmes Treffen mit der Direktorin des Árni-Magnússon-Instituts vor mir und keine Zeit mehr für diese Albernheiten. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Untersuchungen und rate Ihnen, sich an die Gegenwart zu halten. Die Vergangenheit hat nichts mit dem Mord an Harald zu tun.«
Er folgte ihnen zur Tür.
Matthias schaute Dóra kopfschüttelnd an. Sie standen im Eingangsbereich des Árnagarður. »Damit hattest du ja wirklich durchschlagenden Erfolg.«
»Hast du die Nadel nicht gesehen?«, fragte Dóra angespannt. »Es war ein Schwert. Die Krawattennadel bestand aus einem Plättchen mit einem silbernen Schwert und steckte quer auf der Krawatte. Hast du das nicht gesehen?«
»Doch, na und?«, erwiderte Matthias.
»Erinnerst du dich nicht an die Fotos von Haralds Hals? Der Abdruck, der so aussah wie ein Dolch oder ein Kreuz?« Was hatte der Arzt noch mal gesagt? Es hat am ehesten die Form eines kleinen Dolches — er scheint auf etwas Scharfkantigem befestigt gewesen zu sein. Die Haut wurde durch den Druck eingerissen.
»Ja, ja«, antwortete Matthias. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber da wäre ich mir nicht so sicher. Die Fotos waren nicht besonders scharf, Dóra.« Er stöhnte. »Der Mann ist Historiker. Das Wikingerschwert auf der Nadel hat mit seinem Forschungsgebiet zu tun, mit der Landnahme. Ich würde da nicht so viel hineininterpretieren. Ich finde, der Abdruck auf dem Foto ähnelte eher einem Kreuz.« Er lächelte. »Vielleicht wurde Harald von einem verrückten Priester umgebracht.«
Dóra war hin- und hergerissen. Sie holte ihr Handy heraus. »Ich muss mit dieser Bríet sprechen. Da stimmt irgendwas nicht.«
Matthias schüttelte den Kopf, aber Dóra ließ sich nicht von der Idee abbringen. Bríet antwortete nach dem vierten Klingeln, sehr schlecht gelaunt. Nachdem Dóra sie über Halldórs Verhaftung informiert hatte, wurde das Mädchen ein bisschen zugänglicher und willigte ein, sie in einer Viertelstunde im Deli neben dem Studentenbuchladen zu treffen. Bevor Matthias Einwände erheben konnte, erzählte ihm Dóra, dass er dort etwas zu essen bekommen könnte, woraufhin er klein beigab. Als Bríet auftauchte, verschlang Matthias gerade eine Pizza.
»Was hat Halldór der Polizei erzählt?«, fragte sie mit zittriger Stimme, während sie sich an den Tisch setzte.
»Nichts«, antwortete Dóra. »Noch nicht. Allerdings hat er mir einiges über die Mordnacht und eure Beteiligung an den Ereignissen erzählt. Würde mich nicht wundern, wenn er bald noch mehr Leuten davon erzählt. Er glaubt, du hättest Harald umgebracht.«
Bríets Gesicht wurde kreideweiß. »Ich? Ich hab ihn nicht umgebracht.«
»Er behauptet, du hättest die Gruppe in jener Nacht verlassen und dich merkwürdig benommen, als ihr die Leiche gefunden habt — untypisch für dich.«
Bríet sperrte den Mund auf und saß eine Weile gaffend da. Dann fing sie an zu reden. »Ich war nur zwanzig Minuten weg — höchstens. Und ich war total schockiert, als wir die Leiche gefunden haben. Ich konnte überhaupt nicht mehr klar denken. Geschweige denn sprechen.«
»Wohin bist du denn gegangen?«, fragte Matthias.
Bríet lächelte ihm zweideutig zu. »Ich? Ich war mit einem alten Bekannten auf dem Klo. Er kann das bezeugen.«
»Zwanzig Minuten lang?«, fragte Matthias.
»Ja. Und? Wollt ihr wissen, was wir gemacht haben?«
»Nein«, griff Dóra ein. »Wir können es uns vorstellen.«
»Was wollt ihr eigentlich von mir? Ich hab Harald nicht umgebracht. Ich hab nur neben Halldór gestanden, als er mit der Leiche zugange war. Andri sitzt in der Klemme, wenn Halldór den Bullen davon erzählt. Er hat ihm geholfen. Ich hab Harald nicht angerührt.« Bríet versuchte, sich Mut zuzusprechen, was ihr aber nicht allzu gut gelang.
»Ich möchte dich nach der Hausarbeit über Bischof Brynjólfur fragen, an der du zusammen mit Harald gearbeitet hast. Und nach dem verschwundenen Brief«, sagte Dóra. »Halldór hat erzählt, Harald und du hättet euch deshalb gestritten. Stimmt das?«
Bríet schaute Dóra verständnislos an. »Dieser Mist? Was hat das mit dem Fall zu tun?«
»Ich weiß es nicht, deshalb frage ich ja«, antwortete Dóra.
»Harald hat sich echt unmöglich verhalten«, sagte Bríet unvermittelt. »Ich hatte Gunnar an der Angel. Er hat am ganzen Körper gezittert, als ich ihm gesagt hab, dass ich weiß, dass er den Brief aus dem Nationalarchiv gestohlen hat. Er hat es ganz bestimmt getan, egal, was die anderen sagen.«
»Inwiefern hat sich Harald unmöglich verhalten?«, fragte Matthias.
»Zuerst fand er die Sache witzig und hat mich angestachelt, Gunnar auf die Schliche zu kommen. Nachdem der Alte mich rausgeschmissen hatte, haben wir uns sogar heimlich in sein Büro geschlichen, um nach dem Brief zu suchen. Das war alles sehr merkwürdig. Als wir im Büro waren, änderte Harald auf einmal seine Meinung. Er fand irgendeinen alten Aufsatz über die Papar und bekam einen totalen Höhenflug.«
»Wie meinst du das?«, fragte Dóra.
Bríet zuckte die Achseln. »Es war ein Aufsatz von Gunnar, er lag in einem der Schränke. Harald fand ihn und wollte von mir wissen, was unter den Fotos stünde. Er war total interessiert an zwei Fotos. Eins war von einem Kreuz und das andere von irgendeiner blöden Grube. Und dann wollte er alles über die Zeichnung wissen. Ich war völlig gestresst, weil ich Angst hatte, dass Gunnar uns überraschen könnte. Ich wollte nichts für Harald übersetzen. Am Ende stopfte er den Aufsatz in seine Tasche und wir machten uns aus dem Staub.«
»Was hat er genau gesagt? Kannst du dich daran erinnern?«, fragte Dóra.
»Nicht richtig. Wir gingen ins Studentenzimmer und er wollte von mir wissen, was das für eine Grube auf dem Bild war. Es war eine Feuerstelle in einer Höhle. Das Kreuz war auch auf dem Bild. Es war in die Wand gehauen. Eine Art Altar.«
»Und die Zeichnung?«, fragte Matthias. »Was war da drauf?«
»Das war eine Skizze von der Höhle mit Markierungen. Soweit ich mich erinnern kann, war eine Markierung bei dem Kreuz, eine bei einem Loch in der Decke, ich glaube, es war ein Rauchabzug — und dann war da noch ein drittes Zeichen neben der Grube, der angeblichen Feuerstelle.« Bríet schaute Matthias an. »Harald zeigte total aufgeregt auf das dritte Zeichen und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, dass die Mönche auf dem Altar gekocht hätten. Ich hatte keine Ahnung. Dann fragte er, ob es nicht viel sinnvoller sei, die Feuerstelle unter dem Rauchabzug zu bauen. Auf der Zeichnung war das ganz anders. Die Feuerstelle befand sich neben dem Altar und der Rauchabzug beim Eingang. Das Ganze war völlig uninteressant und es sah Harald überhaupt nicht ähnlich, sich wegen so was aufzuregen.«
»Was geschah dann?«, fragte Matthias.
»Er hat mit Gunnar gesprochen. Und mir verboten, mich weiter mit dem Brief zu beschäftigen.« Sie schaute die beiden aufgebracht an. »Obwohl er es ja gewesen war, der mich am Anfang angestachelt hatte, Gunnar unter Druck zu setzten — dieser blöde Gastbucht, so nannte er ihn.«
»Gastbucht?«, stieß Dóra hervor. Hatte das nicht auf Haralds Notizzettel gestanden? Gastbucht? Es handelte sich gar nicht um das Gästebuch des Kreuzes, wie sie gedacht hatte — es war kein Kreuz, sondern ein kleines t. Gastbucht war die wortwörtliche deutsche Übersetzung des Namens Gestvík.
Dóra und Matthias eilten direkt zurück zum Árnagarður. Im Laufen rief Dóra bei der Polizei an und berichtete Markús von ihrem Verdacht gegen Gunnar. Markús war nicht sehr angetan. Nach einigen Überzeugungsversuchen willigte er ein, die Kontobewegungen des Professors überprüfen zu lassen.
Gunnars Büro war leer. Anstatt draußen zu warten, setzten sich Dóra und Matthias einfach hinein. Gunnar musste noch bei der Besprechung mit der Direktorin sein.
Matthias schaute auf die Uhr. »Er muss gleich zurück sein.«
Im selben Moment ging die Tür auf und Gunnar trat ein.
Als er die beiden erblickte, erstarrte er. »Wer hat Sie hier reingelassen?«
»Niemand. Es war offen«, antwortete Dóra seelenruhig.
Gunnar stolzierte zu seinem Schreibtisch. »Ich dachte, wir hätten uns eben erst verabschiedet.« Er setzte sich auf seinen Stuhl und schaute sie entrüstet an. »Ich bin nicht in bester Stimmung. Maria war nicht gerade begeistert, den Brief in diesem schlimmen Zustand zurückzubekommen.«
»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten«, erklärte Matthias. »Wir konnten die Sache eben nicht richtig zu Ende bringen.«
»Was?«, blaffte Gunnar. »Ich finde nicht, dass wir noch etwas zu besprechen haben.«
»Wir würden Sie aber gern noch nach ein paar ungeklärten Kleinigkeiten fragen«, sagte Dóra.
Gunnar lehnte den Kopf zurück und starrte in die Luft. Er stöhnte vernehmlich, bevor er sie wieder anschaute. »Na gut. Was möchten Sie wissen?«
Dóra blickte erst zu Matthias, dann zu Gunnar. »Das alte Kreuz, von dem in dem Brief an Árni Magnússon die Rede ist — könnte es sich dabei um das Kreuz in der Papar-Höhle in der Nähe von Hella handeln? Sie müssten sich in dieser Epoche doch perfekt auskennen, nicht wahr? Das Kreuz befand sich schon vor der eigentlichen Landnahmezeit in Island.«
Gunnar wurde dunkelrot. »Was soll ich darüber wissen?«, stieß er hervor.
Dóra zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Sie wissen alles darüber. Auf dem Foto da, das sind doch Sie und der Bauer, dem das Land mit den Höhlen gehört?« Sie zeigte auf das gerahmte Foto an der Wand. »Die Höhlen der Papar.«
»Ja, richtig. Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz«, sagte Gunnar. »Sie stellen mir merkwürdige Fragen und interessieren sich auf einmal für Geschichte. Wenn Sie sich an der Uni einschreiben möchten — vorne im Empfang liegen die Antragsformulare.«
Dóra ließ sich nicht von seinen Worten beirren. »Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wie das zusammenhängt. Sie waren bei dem Erasmus-Treffen, das an dem Mordabend bis Mitternacht gedauert hat.« Als Gunnar nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Haben Sie Harald an diesem Abend getroffen?«
»Was soll denn der Unsinn? Ich habe wiederholt bei der Polizei Aussagen zu Haralds verfrühtem Ableben gemacht. Ich war in der unglücklichen Lage, die Leiche zu finden, dafür kann ich nichts. Deshalb gehen Sie jetzt besser.« Zitternd zeigte er auf die Tür.
»Ich bin sicher, dass die Polizei die Protokolle noch einmal durchgehen wird, jetzt, wo klar ist, wie die Schändung der Leiche zustande gekommen ist«, sagte Dóra und lächelte Gunnar spöttisch an.
»Was meinen Sie?«, fragte Gunnar bebend.
»Die Polizei hat denjenigen ausfindig gemacht, der die Augen herausgeschnitten und die Rune in die Leiche geritzt hat. Ihr Schock beim Anblick der Leiche ist keine Versicherung mehr dafür, dass die Polizei Sie weiterhin mit Seidenhandschuhen anpacken wird. Nach der Aussage dieses Mannes sieht die Sache nämlich ganz anders aus.«
Gunnar rang nach Atem. »Sie hatten es doch eilig. Ich auch. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Lassen wir es gut sein.«
»Sie haben ihn mit der Krawatte erwürgt«, sagte Dóra weiter. »Ihre Krawattennadel wird es beweisen.« Sie erhob sich. »Das Motiv wird schon noch ans Licht kommen, es spielt im Moment keine Rolle. Sie haben ihn umgebracht. Nicht Hugi, nicht Halldór und schon gar nicht Bríet. Sondern Sie.« Sie schaute ihm ins Gesicht und war zwischen Abscheu und Mitgefühl hin- und hergerissen. Gunnar bebte. Matthias stand langsam auf und schob Dóra ruhig mit der Hand rückwärts in Richtung Tür. Er befürchtete anscheinend, Gunnar könne mit erhobener Krawatte über den Schreibtisch springen und Dóra erwürgen.
»Sind Sie vollkommen verrückt geworden?«, fragte Gunnar und glotzte Dóra an. Er stand umständlich auf. »Wie kommen Sie darauf? Ich rate Ihnen, sich Hilfe zu suchen, und zwar so bald wie möglich.«
»Das ist kein Unsinn — Sie haben ihn ermordet. Wir haben verschiedene Beweise dafür. Glauben Sie mir. Wenn die Polizei die in die Hände bekommt und Sie verhört, werden Sie sich nur schwerlich herausreden können.«
»Das ist ausgeschlossen, ich habe ihn nicht ermordet.« Gunnar schaute Matthias nach Unterstützung suchend an.
»Die Polizei möchte sich vielleicht anhören, wie Sie es abstreiten — wir jedoch nicht.« Matthias verzog keine Miene. »Die Fakultät wird sicherlich bei der weiteren Untersuchung behilflich sein. Bei einer Hausdurchsuchung tauchen bestimmt noch andere Hinweise auf, falls die Krawattennadel nicht ausreichen sollte.«
Dóras Handy klingelte. Sie ließ Gunnar während des kurzen Telefonats nicht aus den Augen. Nervös verfolgte er das Gespräch, ohne den Zusammenhang zu verstehen. Dóra steckte das Handy wieder in ihre Tasche. »Das war die Polizei, Gunnar.«
»Und?«, frage er. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder.
»Sie bitten mich, auf die Wache zu kommen. Sie haben bemerkenswerte Bewegungen auf Ihrem Konto festgestellt und möchten, dass Matthias und ich unseren Verdacht näher erläutern. Sieht ganz so aus, als hätte die Polizei es auf Sie abgesehen.« Sie verstummte und schaute ihn an.
Gunnar blickte ratlos von einem zum anderen. Dann nahm er seine Krawatte in die Hand und starrte auf die Nadel. Mehrmals öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen. Schließlich ließ er niedergeschlagen den Kopf hängen. »Suchen Sie das Geld?«, fragte er stotternd. »Ich hab nicht viel davon ausgegeben.« Er schaute die beiden an, aber sie reagierten nicht. »Ich hab auch das Buch, möchte es aber ungern aus der Hand geben. Es gehört mir. Ich hab’s gefunden.« Er legte verzweifelt seine Hand auf die Stirn. »Ich besitze sonst nichts Einzigartiges, Unschätzbares. Harald besaß alles, zumindest genug Geld. Warum konnte er nicht etwas anderes begehren?«
»Gunnar, ich glaube, wir sollten die Polizei anrufen«, sagte Dóra mit leiser, schmeichelnder Stimme. »Sie müssen uns nicht mehr erzählen — sparen Sie ihre Kräfte.« Sie sah, wie Matthias sein Handy herausholte. »Hundertzwölf«, sagte sie zu ihm. Gunnar beachtete sie nicht weiter. Matthias ging ein paar Schritte zur Seite, um zu telefonieren.
»Während des Verhörs habe ich die ganze Zeit damit gerechnet, dass die Polizei mich des Mordes bezichtigt. Ich war davon überzeugt, dass sie mir etwas vorspielen, so tun, als wüssten sie nicht, dass ich ihn umgebracht habe. Dann stellte sich heraus, dass sie mich noch nicht mal in Verdacht hatten.« Er schaute auf und lächelte matt. »Ich hätte ihnen dieses Entsetzen, das mich ergriff, als mir die Leiche in die Arme fiel, unmöglich vorgaukeln können. Als ich die Leiche zum letzten Mal gesehen hatte, lag sie noch auf dem Fußboden im Studentenzimmer. Einen Moment lang dachte ich, Harald sei von den Toten wiederauferstanden, um sich an mir zu rächen. Sie müssen mir glauben, dass ich nichts mit den Augen gemacht habe. Ich hab ihn nur erwürgt.«
»Das genügt ja auch«, sagte Dóra. »Aber warum? Weil er Ihnen das Manuskript des Hexenhammers abkaufen wollte? Hatten Sie es?«
Gunnar nickte. »Ich hatte es in der Höhle gefunden. Während eines Forschungsaufenthaltes hatte ich mich mit den Papar beschäftigt. Der Bauer erlaubte mir, Ausgrabungen zu machen. Ich wollte Überreste finden, Beweise, dass die Papar diese Höhlen gebaut hatten. Sie waren vorher noch nie erforscht worden — das ist jetzt zwanzig Jahre her. Bis dahin war nur ein anderer Teil der Ægisíða-Höhlen untersucht worden. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts wurde in den Höhlen ja noch Vieh untergebracht. Aber anstatt menschliche Überreste aus der Zeit vor der Landnahme zu finden, entdeckte ich ein kleines Kästchen. Es war beim Altar vergraben. Darin befanden sich dieses Manuskript und noch ein paar andere Dinge. Eine handgeschriebene dänische Bibel, ein Psalmenbuch und zwei außerordentlich schöne, naturwissenschaftliche norwegische Bücher.« Er schaute Dóra tief in die Augen. »Ich konnte nicht widerstehen. Ich hab das Kästchen mit ins Auto genommen, bevor der Bauer mich überraschen und jemandem davon erzählen konnte. Nach und nach wurde mir klar, was für Schätze ich in der Hand hielt. Sie stammten aus dem Besitz von Skálholt. Zwei der Bücher waren mit Brynjólfurs Monogramm gekennzeichnet — LL. Erst als Harald auftauchte, bekam ich eine Erklärung für diese merkwürdige Ausgabe des Hexenhammers.«
»Und hat Harald davon erfahren?«, fragte Dóra. »Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn Sie nicht wollen.«
Gunnar beachtete sie gar nicht. »Narrenglück«, sagte er. »Ich würde es allerdings eher als Unglück bezeichnen. Harald kam nur nach Island, um nach diesem Manuskript zu suchen. Er vertiefte sich in alle möglichen Quellen, bis er einen Hinweis fand, den er für richtig hielt. Er war davon überzeugt, dass Jón Arason das Manuskript drucken wollte und versteckt hatte, als er an Macht verlor. Damals war mir überhaupt nicht klar, worauf Harald hinauswollte. Aber ich habe ihm keine Steine in den Weg gelegt. Er fuhr nach Skálholt, um die Gegend um den Hinrichtungsort zu untersuchen. Dort stieß er rein zufällig auf die richtige Spur — er erfuhr von Brynjólfurs Handschriftensammlung. Danach hat er alles über den Bischof gelesen, in der Hoffnung, etwas über den Verbleib der verschwundenen Handschriften zu erfahren. Erst als er zu mir kam, nachdem Bríet die Sache mit dem Brief aus dem Nationalarchiv herausbekommen hatte …«
Er schaute zu Boden, dann wieder zu Dóra. »Natürlich habe ich den Brief behalten, nachdem mir bewusst geworden war, was ich da gefunden hatte. Ich befürchtete, er könne andere zu der Höhle führen — jemand hätte bezüglich des heiligen Kreuzes denselben Schluss ziehen können wie Sie. Das war ein schlimmer Fehler. Bríet machte keine Probleme mehr, aber dann kam Harald. Er hatte den Inhalt des Briefes herausbekommen. Er kam direkt zum Thema, sagte, er wüsste, dass ich Kramers Hexenhammer gefunden hätte, und dass er ihn haben wolle. Er hatte einen Aufsatz über die Papar-Höhlen aus meinem Büro entwendet — ein alter Aufsatz, den ich am Ende meines Forschungsurlaubs schreiben musste. Er war in einer Zeitschrift erschienen, die nicht mehr herausgegeben wird und auch nicht sehr verbreitet war. Ich war so dumm gewesen, ein Foto von der Grube, in der ich das Kästchen gefunden hatte, abbilden zu lassen. Ich hatte damals behauptet, es handele sich um eine alte Kochstelle. Niemand hatte diese Schlussfolgerung in Zweifel gezogen — ich glaube, es hat sowieso niemand den Aufsatz gelesen. Harald hat einfach nur zwei und zwei zusammengezählt. Und ich dachte, die Putzfrauen hätten den Aufsatz gestohlen.«
Gunnar schwieg einen Moment. »Er wollte den Hexenhammer. Die anderen Bücher waren ihm egal, aber er musste dieses Buch haben. Dann wollte er es mir abkaufen. Er nannte eine unglaubliche Summe, viel mehr Geld, als ich jemals auf dem Schwarzmarkt dafür bekommen hätte. Anstatt es abzulehnen und ihn rauszuschmeißen, ließ ich mich darauf ein. Das Geld war verlockend. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie bedeutsam das Manuskript wirklich war. Harald hat mir erst die ganze Geschichte erzählt, nachdem er mir das Geld gegeben hatte. Daraufhin habe ich meine Meinung geändert. Aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen.« Gunnar ächzte. »Sie verstehen das vielleicht nicht, aber wenn man sich sein ganzes Leben lang mit Geschichte beschäftigt hat, begeistert man sich instinktiv für historische Zeugnisse. Ich hatte eine einzigartige Kostbarkeit in den Händen. Völlig einzigartig.«
»Sie haben Harald also umgebracht, um das Manuskript behalten zu können. Haben Sie nicht versucht, ihm das Geld zurückzugeben und ihn dazu zu bringen, die Sache rückgängig zu machen?«, fragte Dóra. »Er hätte vielleicht lieber ohne das Buch weitergelebt, anstatt zu sterben.«
Gunnar lachte kraftlos. »Natürlich hab ich das versucht. Er hat mich ausgelacht und gesagt, ich könne froh sein, es mit ihm zu tun zu haben und nicht mit den Behörden. Er würde nicht zögern, mich zu verpfeifen, wenn ich ihn betrügen würde.« Gunnar stöhnte. »Ich hab ihn gesehen. Er radelte über die Suðurgata, als ich mit dem Auto nach Hause fuhr. Ich drehte um und erreichte ihn vorm Eingang. Er schmiss das Fahrrad auf die Seite und wir gingen zusammen ins Haus. Seine Hand war voller Blut; er hatte Nasenbluten gehabt. Ekelhaft.« Er schloss die Augen. »Harald benutzte seinen Schlüssel und sein Passwort. Er war betrunken und stand unter Drogen. Ich versuchte noch einmal, mit ihm zu reden, bat ihn um Verständnis. Er hat mich nur ausgelacht. Ich folge ihm ins Studentenzimmer. Er kramte in einem Schrank herum, holte eine kleine, weiße Pille heraus und schluckte sie runter. Danach verhielt er sich noch komischer. Er ließ sich in einen Sessel fallen, drehte mir den Rücken zu und wollte sich von mir die Schultern massieren lassen. Ich dachte, er sei verrückt geworden. Jetzt weiß ich, dass Ecstasy das Bedürfnis nach körperlicher Berührung verstärkt. Ich trat zu ihm und wollte zuerst tun, was er verlangte, um ihn zu besänftigen. Aber dann packte mich dieser Hass. Bevor ich es selbst begreifen konnte, hatte ich meine Krawatte ausgezogen und ihm um den Hals gelegt. Ich zog sie zu. Er schlug um sich. Dann passierte nichts mehr. Er war tot. Glitt langsam und still vom Stuhl auf den Fußboden. Dann bin ich gegangen.« Gunnar schaute Dóra an und wartete auf ihre Reaktion. Er schien Matthias vollkommen vergessen zu haben.
Der Lärm der Sirenen drang durchs Fenster und wurde immer lauter. »Sie kommen, um Sie zu holen«, sagte Dóra.
Gunnar schaute zum Fenster. »Ich wollte doch Rektor werden«, sagte er ernüchtert.
»Das können Sie wohl vergessen.«