172339.fb2 Das Sterben in Wychwood - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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Jimmy Lorrimer war einer von Lukes ältesten Freunden. Es war selbstverständlich, dass er bei ihm wohnte, wenn er nach London kam. Es war Jimmy, mit dem er am Abend seiner Ankunft ausgiebig feierte, es war Jimmys Kaffee, den er mit schmerzendem Kopf am nächsten Morgen trank, und es war Jimmys Stimme, die unbeantwortet blieb, während sein Gast eine kurze Notiz im Morgenblatt zweimal las.

«Verzeih, Jimmy», sagte er dann, mit einem Ruck in die Gegenwart zurückkehrend.

«In was warst du so vertieft – in die politische Lage?» Luke grinste.

«Keine Spur. Nein, es ist merkwürdig – eine alte Dame, mit der ich gestern im Zugabteil saß, ist überfahren worden.»

«Wieso weißt du, dass sie es ist?»

«Es kann natürlich eine andere sein. Aber der Name ist der gleiche – Pinkerton –, und sie wurde von einem Auto getötet, als sie Whitehall überquerte. Das Auto fuhr weiter.»

«Garstige Sache», sagte Jimmy.

«Ja, arme, alte Seele! Es tut mir leid; sie erinnerte mich so an meine Tante Mildred.»

Es war über eine Woche später, als Luke beim Überfliegen der ersten Seite der Times einen überraschten Ausruf tat. «Ah, da hol mich doch der Teufel!»

Jimmy Lorrimer blickte auf.

«Was ist los?»

Luke antwortete nicht; er starrte auf einen Namen. Jimmy wiederholte seine Frage.

Luke hob den Kopf und sah seinen Freund an. Sein Gesichtsausdruck war so merkwürdig, dass Jimmy erschrak. «Was ist denn los, Luke? Du schaust ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.»

Ein paar Minuten antwortete der andere nicht. Er ließ die Zeitung fallen, schritt zum Fenster und wieder zurück. Jimmy beobachtete ihn mit wachsendem Staunen.

Luke ließ sich in einen Sessel sinken und beugte sich vor. «Jimmy, alter Junge, erinnerst du dich, dass ich – an meinem ersten Tag hier – eine alte Dame erwähnte, mit der ich im Zug nach London gefahren bin?»

«Die dich an deine Tante Mildred erinnerte? Und dann von einem Auto überfahren wurde?»

«Genau die. Hör mal zu, Jimmy. Die alte Dame erzählte eine lange Geschichte, dass sie zu Scotland Yard gehen wolle, um über eine Menge Morde zu berichten. In ihrem Ort sei ein Mörder los – darauf lief es hinaus; und er hat rasche Arbeit geleistet.»

«Du hast mir nicht erzählt, dass sie übergeschnappt war», bemerkte Jimmy trocken.

«Das habe ich auch nicht gedacht.»

«Na, hör mal, alter Junge, Mord en gros – »

Luke unterbrach ihn ungeduldig:

«Ich hielt sie nicht für verrückt. Ich dachte, sie ließe ihrer Phantasie nur etwas zu freien Lauf, wie das bei alten Damen manchmal vorkommt.»

«Nun ja, das könnte ja auch gewesen sein. Aber wahrscheinlich war doch eine Schraube locker bei ihr, denke ich.»

«Es handelt sich nicht darum, was du denkst, Jimmy; hör mir jetzt lieber zu!»

«Ja, schon gut – weiter!»

«Sie wurde sehr ausführlich, erwähnte ein oder zwei Opfer mit Namen und erklärte dann, was sie am meisten beunruhige, sei die Tatsache, dass sie wisse, wer das nächste Opfer sein werde.»

«Ja?» sagte Jimmy aufmunternd.

«Ich habe mir den Namen gemerkt – Dr. Humbleby. Die alte Dame sagte, Dr. Humbleby würde der nächste sein, und sie war sehr unglücklich darüber, weil er ‹ein so guter Mensch› sei.»

«Nun, und?» sagte Jimmy.

«Schau dir das an.»

Luke reichte ihm die Zeitung und wies auf eine Notiz unter Todesfällen.

«Humbleby. – Am 13. Mai starb plötzlich auf seinem Wohnsitz Sandgate, Wychwood under Ashe, John Edward Humbleby, geliebter Gatte von Jessie Rose Humbleby. Begräbnis Freitag. Bitte keine Blumen.»

«Siehst du, Jimmy, Name und Ort stimmen, und Doktor ist er auch. Was hältst du davon?»

«Ich vermute, es ist eben ein verflucht seltsames Zusammentreffen.»

«Glaubst du, Jimmy? Wirklich? Ist das alles?»

Luke begann wieder auf und ab zu gehen.

«Was könnte es sonst sein?» fragte Jimmy.

Luke wandte sich plötzlich um.

«Und wie, wenn jedes Wort, das das gute, alte Schaf sagte, wahr wäre? Wie, wenn die phantastische Geschichte einfach die reine, nackte Wahrheit wäre?»

«Ach, geh doch, alter Junge! Das wäre wirklich zu stark! Solche Dinge passieren einfach nicht.»

«Und wie war es im Fall Abercrombie? Soll er nicht eine ganze Menge Leute umgebracht haben?»

«Mindestens fünfzehn», räumte Jimmy ein. «Alle mit Arsen!»

«Richtig, also passieren solche Dinge doch!»

«Ja, aber nicht oft.»

«Woher weißt du das? Sie passieren vielleicht viel öfter, als du glaubst.»

«Da spricht der Polizeimann! Kannst du jetzt, wo du dich ins Privatleben zurückgezogen hast, nicht vergessen, dass du bei der Polizei warst?»

«Einmal Polizeimann, immer Polizeimann, vermute ich», sagte Luke. «Aber im Ernst Jimmy, angenommen, dass, ehe Abercrombie so tollkühn wurde, seine Morde der Polizei förmlich auf die Nase zu binden, eine gesprächige alte Dame einfach erraten hätte, was er trieb, und mit dieser Mitteilung zu einer Dienststelle gegangen wäre? Glaubst du, dass man auf sie gehört hätte?»

Jimmy grinste.

«Keine Spur!»

«Richtig. Man hätte gesagt, sie sei übergeschnappt, gerade wie du es gesagt hast. Oder sie hätten gesagt: ‹Zuviel Einbildungskraft, nicht genug zu tun›, wie ich es sagte. Und wir beide, Jimmy, hätten unrecht gehabt.»

Lorrimer überlegte kurz, dann fragte er:

«Wie sieht die Sache eigentlich aus – deiner Ansicht nach?» Luke erwiderte langsam:

«Der Fall liegt so: Mir wurde eine Geschichte erzählt – eine unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Geschichte. Ein Beweisstück, der Tod von Dr. Humbleby, bekräftigt den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. Und dann ist da noch etwas sehr Wichtiges: Miss Pinkerton war auf dem Weg zu Scotland Yard mit dieser unwahrscheinlichen Geschichte. Doch sie kam nicht hin. Sie wurde von einem Auto überfahren und getötet, das nicht anhielt.»

Jimmy wandte ein:

«Das weißt du nicht, ob sie nicht hinkam. Sie könnte auch nachher getötet worden sein, nicht vorher.»

«Könnte, ja – aber ich glaube es nicht.»

«Das ist reine Vermutung. Es läuft darauf hinaus, dass du an dieses – Melodrama glaubst.»

Luke schüttelte den Kopf.

«Nein, das will ich nicht behaupten. Was ich meine, ist nur, dass der Fall untersucht werden sollte.»

«Mit anderen Worten, du willst zu Scotland Yard gehen?»

«Nein, so weit ist es noch nicht – noch lange nicht. Wie du sehr richtig sagtest, kann der Tod von Humbleby ja auch nur zufällig so gut ins Bild passen.»

«Was hast du also vor, wenn man fragen darf?»

«In diesen Ort zu fahren und die Sache zu untersuchen.» Jimmy starrte ihn an, dann fragte er:

«Ist es dir ernst damit, Luke?»

«Vollkommen.»

«Und wenn das Ganze nun eine Seifenblase ist?»

«Das wäre das Allerbeste.»

«Ja, natürlich…» Jimmy runzelte die Stirn. «Aber das glaubst du nicht, wie?»

«Mein Lieber, ich halte einfach die Augen offen.»

Jimmy schwieg ein paar Minuten. Dann sagte er:

«Hast du irgendeinen Plan? Ich meine, du musst doch irgendeinen Grund vorschützen, weshalb du plötzlich dort auftauchst.»

«Ja, vermutlich muss ich das.»

«Da gibt es kein ‹vermutlich›. Hast du eine Ahnung, wie das in einer englischen Kleinstadt ist? Eine neue Erscheinung ist da geradezu ein Ereignis!»

«Ich werde inkognito auftreten müssen», antwortete Luke grinsend. «Was meinst du? Als Künstler? Aber Malen ist nicht gerade meine starke Seite.»

«Du könntest ja ein moderner Künstler sein», schlug Jimmy vor. «Da würde das keiner merken.»

«Oder Schriftsteller? Ziehen Schriftsteller in Landgasthäuser, um zu schreiben? Möglich wär’s. Ein Angler vielleicht – doch da müsste man erst wissen, ob ein geeignetes Gewässer in der Nähe ist. Ein Kranker, dem Landluft verordnet wurde? So schaue ich nicht aus, außerdem geht doch heute jeder in ein Sanatorium. Ich könnte mich ja nach einem Haus in der Gegend umschauen wollen, aber das ist auch nicht sehr gut. Hol’s der Teufel, Jimmy, es muss doch irgendeinen einleuchtenden Grund geben, dass ein gesunder Fremder plötzlich in einem kleinen Ort auftaucht.»

Jimmy sagte: «Wart einen Augenblick – gib mir noch mal die Zeitung.»

Er warf einen flüchtigen Blick darauf und rief triumphierend: «Hab ich mir’s nicht gleich gedacht! Luke, alter Junge, frohe Kunde: Ich kann das wunderbar arrangieren – es ist ein Kinderspiel!»

«Was?»

Jimmy fuhr mit stolzer Bescheidenheit fort:

«Es kam mir gleich so bekannt vor! Wychwood under Ashe! Natürlich! Es ist schon der Ort!»

«Hast du vielleicht zufällig einen Freund dort, der den Leichenbeschauer kennt?»

«Etwas viel Besseres, mein Junge. Wie du weißt, hat die Natur mich reichlich mit Tanten und Vettern versehen – da mein Vater eins von zwölf Geschwistern war. Nun hör mal zu: Ich habe eine Cousine in Wychwood under Ashe!»

«Jimmy, du bist ein Wundertier!»

«Ja, nicht schlecht, was?» meinte Jimmy bescheiden.

«Erzähl mir von ihr!»

«Sie heißt Bridget Conway und war während der letzten zwei Jahre Sekretärin bei Lord Whitfield.»

«Ist das der Mann, dem diese grauslichen kleinen Wochenblätter gehören?»

«Ganz richtig. Er ist auch ein grauslicher kleiner Mann – immer so hochtrabend! Er wurde in Wychwood under Ashe geboren, und da er zu den Snobs gehört, die einem ihre Herkunft immer unter die Nase reiben, und stolz darauf ist, sich aus eigener Kraft emporgearbeitet zu haben, ist er in sein Heimatdorf zurückgekehrt, hat das einzige große Haus in der Gegend gekauft (es hat übrigens einmal Bridgets Familie gehört) und ist eifrig bemüht, ein Mustergut aus dem Besitz zu machen.»

«Und deine Cousine ist seine Sekretärin?»

«Sie war es», antwortete Jimmy dunkel. «Jetzt ist sie aufgestiegen: Sie ist mit ihm verlobt.»

«Oh», sagte Luke enttäuscht.

«Er ist natürlich eine glänzende Partie», erzählte Jimmy. «Schwimmt in Geld. Bridget hat eine unglückliche Liebesaffäre hinter sich, die ihr alle Romantik ausgetrieben hat. Ich denke, diese Ehe wird ganz gut laufen. Sie wird freundlich, aber streng mit ihm sein, und er wird ihr aus der Hand fressen.»

«Und wie komme ich da hinein?»

Jimmy erwiderte prompt:

«Du kommst auf Besuch hin – du kannst auch ein Cousin sein. Bridget hat so viele, dass es auf einen mehr oder weniger nicht ankommt. Ich werde das schon mit ihr arrangieren. Wir haben uns immer gut verstanden. Was nun den Grund für deine Anwesenheit betrifft – Hexerei, mein Junge.»

«Hexerei!»

«Volkssagen, lokaler Aberglauben – all diese Sachen, Wychwood under Ashe ist diesbezüglich ziemlich bekannt. Es war einer der letzten Orte, wo ein Hexensabbat abgehalten wurde – im vorigen Jahrhundert wurden dort noch Hexen verbrannt –, alle möglichen Traditionen gibt es da. Du schreibst ein Buch, verstehst du, über die Wechselbeziehungen zwischen den Bräuchen in Hinterindien und alten englischen Volkssagen, Ähnlichkeiten und so weiter, du kennst die Art. Geh mit einem Notizbuch herum und frag den ältesten Einwohner nach all diesen Sachen aus. Sie sind dort an dergleichen gewöhnt, und wenn du im Herrenhaus wohnst, so bürgt das für dich.»

«Und wie ist’s mit Lord Whitfield?»

«Das geht schon in Ordnung. Er ist ganz ungebildet und sehr leichtgläubig – glaubt zum Beispiel tatsächlich, was in seinen eigenen Zeitungen steht! Bridget wird das jedenfalls übernehmen; Bridget ist zuverlässig; für die bürge ich.»

Luke atmete auf.

«Jimmy, alter Knabe, es sieht wirklich so aus, als ob das ginge. Du bist großartig. Wenn du das tatsächlich mit deiner Cousine abmachen kannst – »

«Natürlich, verlass dich nur auf mich.»

«Ich bin dir unendlich dankbar.»

Jimmy sagte:

«Ich bitte dich nur, wenn du einen Massenmörder zur Strecke bringst, lass mich am Ende dabeisein! – Was ist?»

«Mir ist eben etwas eingefallen, was meine alte Dame noch sagte. Ich hatte bemerkt, dass man doch kaum so viele Morde begehen könne, ohne erwischt zu werden, und sie erwiderte, dass ich unrecht habe, dass es sehr leicht sei, zu morden…» Er hielt inne und sagte dann langsam: «Ich möchte wissen, ob das wahr ist, Jimmy. Möchte wissen, ob es wirklich…»

«Was?»

«… leicht ist zu morden.»