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Die Ruhe in Miss Waynfletes Haus stand in schärfstem Gegensatz zu den Augenblicken der gespannten Erregung im Auto.
Miss Waynflete nahm Bridgets Einladungszusage mit etwas zweifelnder Miene entgegen, beeilte sich jedoch, ihr gastfreundliches Angebot zu wiederholen, um zu zeigen, dass ihre Zweifel eine ganz andere Ursache hatten als Bedenken, die junge Frau bei sich aufzunehmen.
Luke sagte:
«Ich glaube wirklich, es wird das Beste sein, da Sie so freundlich sind, Miss Waynflete. Ich wohne in der ‹Scheckigen Glocke›, und es ist mir lieber, Bridget hier unter Ihrer Obhut zu wissen als in der Stadt. Denken Sie nur an das, was schon einmal dort geschehen ist.»
Miss Waynflete sagte:
«Sie meinen – Lavinia Pinkerton?»
«Ja. Man hätte doch gemeint, nicht wahr, dass auf einer Straße voller Menschen jeder ganz sicher sei?»
«Sie meinen», sagte Miss Waynflete, «dass die Sicherheit eines Menschen hauptsächlich von der Tatsache abhängt, dass niemand ihn umzubringen wünscht?»
«Ganz richtig. Wir sind dahin gekommen, uns auf den sogenannten guten Willen der Zivilisation zu verlassen.»
Miss Waynflete nickte nachdenklich.
Bridget fragte:
«Seit wann wussten Sie, dass – Gordon der Mörder ist, Miss Waynflete?»
Miss Waynflete seufzte.
«Die Frage ist schwer zu beantworten, meine Liebe. Ich glaube, dass ich schon einige Zeit in meinem innersten Herzen ganz sicher war… Aber ich tat mein Bestes, diese Vermutung nicht wahrhaben zu müssen. Wissen Sie, ich wollte es nicht glauben, also machte ich mir selbst vor, dass es eine ungeheuerliche und bösartige Idee von mir sei.»
Luke erkundigte sich geradeheraus:
«Haben Sie nie für sich selbst gefürchtet?»
Miss Waynflete überlegte.
«Sie meinen, wenn Gordon Verdacht geschöpft hätte, dass ich Bescheid weiß, hätte er ein Mittel gefunden, um mich loszuwerden?»
«Ja.»
Miss Waynflete sagte sanft:
«Ich habe natürlich diese Möglichkeit ins Auge gefasst… habe mich bemüht, auf mich achtzugeben. Aber ich glaube nicht, dass Gordon mich als wirkliche Gefahr empfunden hätte.»
«Warum?»
Miss Waynflete wurde ein wenig rot.
«Ich glaube nicht, dass Gordon je denken würde, dass ich irgend etwas täte, was ihn in Gefahr brächte.»
Luke sagte:
«Sie gingen sogar so weit, ihn zu warnen, nicht?»
«Ja. Das heißt, ich sagte ihm, es sei doch merkwürdig, dass jeder, der ihm missfalle, so kurz darauf einen Unfall habe.»
Bridget fragte: «Und was sagte er?»
Ein bekümmerter Ausdruck überflog Miss Waynfletes Züge.
«Er reagierte gar nicht in der Art, wie ich es meinte. Er schien – es ist wirklich höchst merkwürdig – er schien geradezu erfreut… Er sagte: ‹Also Sie haben das auch bemerkt?› Er war offenbar stolz darauf!»
«Er ist natürlich verrückt», sagte Luke.
Miss Waynflete stimmte eifrig zu.
«Ja, sicher, es gibt keine andere mögliche Erklärung. Er ist für seine Handlungen nicht verantwortlich.» Sie legte die Hand auf Lukes Arm. «Man – man wird ihn doch nicht hängen, was, Mr Fitzwilliam?»
«Nein, nein. Man wird ihn wahrscheinlich nach Broadmoor in die Anstalt schicken.»
Miss Waynflete seufzte und lehnte sich an. Erleichtert sagte sie:
«Ich bin froh.»
Ihre Augen ruhten auf Bridget, die mit gerunzelter Stirn auf den Teppich starrte.
Luke erklärte:
«Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Ich habe die Behörden verständigt und kann so viel sagen, dass man bereit ist, die Sache ernst zu nehmen. Aber Sie müssen sich klarmachen, dass wir äußerst wenig Beweise haben, auf die wir uns stützen können.»
«Wir werden Beweise heranschaffen», sagte Bridget.
Miss Waynflete sah zu ihr auf. In ihrem Blick lag ein Ausdruck, der Luke an jemanden oder etwas erinnerte; das er vor nicht langer Zeit gesehen hatte. Er versuchte, die flüchtige Erinnerung festzuhalten, doch gelang es ihm nicht.
Miss Waynflete meinte zweifelnd:
«Sie sind sehr zuversichtlich, meine Liebe. Nun, vielleicht haben Sie recht.»
Luke sagte:
«Ich fahre jetzt hinauf nach Ashe Manor, Bridget, und hole deine Sachen.»
Bridget sagte augenblicklich:
«Ich komme mit.»
«Lieber nicht.»
«Doch.»
Luke sagte gereizt:
«Spiel nicht Mutter und Kind mit mir, Bridget! Ich lasse mich nicht von dir beschützen.»
Miss Waynflete murmelte:
«Ich glaube wirklich, Bridget, es wird alles in Ordnung gehen – im Auto – und am helllichten Tag!»
Bridget lachte ein wenig verlegen.
«Ich bin ja vielleicht blöd, aber die Sache geht einem auf die Nerven.»
Luke sagte:
«Miss Waynflete beschützte mich neulich am Abend auf dem Heimweg; gestehen Sie es nur, Miss Waynflete! Nicht wahr, Sie taten das?»
Sie gab es lächelnd zu.
«Sehen Sie, Mr Fitzwilliam, Sie waren so gänzlich arglos! Und wenn Gordon Whitfield wirklich begriffen hätte, dass Sie nur hergekommen sind, um diese Sache zu untersuchen, und aus keinem anderen Grund – nun, es war nicht ganz gefahrlos. Und das ist ein sehr einsamer Weg – alles hätte dort geschehen können!»
«Nun, jetzt bin ich ja gründlich vor der Gefahr gewarnt», sagte Luke grimmig. «Ich lasse mich nicht unversehens überfallen, das kann ich Ihnen versichern!»
Miss Waynflete mahnte besorgt:
«Bedenken Sie, er ist sehr schlau. Und viel klüger, als Sie sich vorstellen können; wirklich ein äußerst erfinderischer Geist!»
«Ich bin gewarnt!»
«Männer haben Mut – das weiß man ja», fuhr Miss Waynflete fort, «aber sie sind leichter zu täuschen als Frauen.»
«Das ist wahr», bestätigte Bridget.
Luke fragte:
«Im Ernst, Miss Waynflete, glauben Sie wirklich, dass ich in Gefahr bin? Dass Lord Whitfield, wie man in Romanen sagt, mir nach dem Leben trachtet?»
Miss Waynflete zögerte.
«Ich denke», sagte sie, «dass die Hauptgefahr für Bridget besteht. Ihre Zurückweisung seiner Person ist die größte Beleidigung! Ich glaube, dass er erst, nachdem er mit Bridget fertig ist, Ihnen seine Aufmerksamkeit zuwenden wird; zweifellos wird er zuerst gegen sie vorgehen.»
Luke stöhnte.
«Ich wollte, du würdest gleich abreisen – auf der Stelle – sofort, Bridget!»
Bridget presste die Lippen fest aufeinander.
«Ich fahre nicht.»
Miss Waynflete seufzte.
«Sie sind ein tapferes Geschöpf, Bridget. Ich bewundere Sie.»
«Sie würden an meiner Stelle dasselbe tun.»
«Ja, vielleicht.»
Bridget sagte mit tiefer, voller Stimme:
«Luke und ich sind miteinander in der Sache.»
Sie ging zur Tür hinaus mit ihm. Luke sagte:
«Ich rufe dich, wenn ich aus der Löwenhöhle zurück bin, von der ‹Scheckigen Glocke› aus an.»
«Ja, bitte, tue das!»
«Mein Liebes, verlieren wir nicht alle miteinander den Kopf! Auch die fähigsten Mörder müssen ein wenig Zeit haben, um ihre Pläne zu schmieden! Ich möchte sagen, ein bis zwei Tage sind wir noch sicher. Superintendent Battle kommt heute von London; von da an wird Whitfield unter Beobachtung stehen.»
«Also ist tatsächlich alles in Ordnung, und wir können das Melodrama beenden.»
Luke legte ihr die Hand auf die Schulter.
«Bridget, bitte, bitte, tu nichts Unbesonnenes!»
«Dasselbe gilt dir, Luke, Liebster!»
Er drückte ihre Schulter fest, sprang in den Wagen und fuhr davon.
Bridget kehrte ins Wohnzimmer zurück. Miss Waynflete schusselte ein wenig in ihrer sanften, altjüngferlichen Art herum.
«Meine Liebe, Ihr Zimmer ist noch nicht ganz fertig; Emily ist schon dabei. Wissen Sie, was ich jetzt tun werde? Ich werde Ihnen eine gute Tasse Tee machen! Nach all diesen Aufregungen wird Ihnen das guttun.»
«Das ist furchtbar lieb von Ihnen, Miss Waynflete, aber ich brauche wirklich keinen.»
Was Bridget gern gehabt hätte, war ein starker Drink, aber sie ahnte ganz richtig, dass diese Erfrischung hier nicht zu haben sein würde. Sie mochte Tee überhaupt nicht, sie fand, er störe ihre Verdauung. Miss Waynflete jedoch hatte entschieden, dass Tee das war, was ihr junger Gast brauchte. Sie eilte geschäftig aus dem Zimmer und erschien strahlend nach ungefähr fünf Minuten wieder, ein Tablett in den Händen, auf dem zwei Meißner Tassen voll dampfenden Getränkes standen.
«Echter China-Tee», sagte Miss Waynflete stolz.
Bridget, die chinesischen Tee noch weniger ausstehen konnte als indischen, lächelte schwach.
In dem Augenblick erschien Emily, ein kleines, plumpes Mädchen, und sagte:
«Bitte, Miss, haben Sie die Kissenbezüge mit den Volants gemeint?»
Miss Waynflete verließ eilig das Zimmer, und Bridget nahm die Gelegenheit wahr, um ihren Tee aus dem Fenster zu schütten, wobei sie fast Wonky Pooh, der auf dem Blumenbeet darunter saß, verbrüht hätte.
Wonky Pooh nahm ihre Entschuldigung gnädig entgegen, sprang aufs Fensterbrett und von da auf Bridgets Schulter, wo er sich schmeichelnd und schnurrend an ihr rieb.
«Na, mein Schöner!» sagte Bridget und strich ihm mit der Hand über den Rücken.
Wonky Pooh krümmte seinen Schweif und schnurrte immer lauter.
«Liebes Tier», sagte Bridget und kraulte ihm die Ohren. In dem Augenblick kehrte Miss Waynflete zurück.
«Ach nein», rief sie aus, «wie Wonky Pooh auf Sie anspricht! Sonst ist er ziemlich unzugänglich! Aber achten Sie auf sein Ohr, meine Liebe, es war kürzlich entzündet und ist noch sehr empfindlich.»
Die Warnung kam zu spät, Bridgets Hand hatte ihm schon weh getan; er fauchte sie an und zog sich beleidigt zurück.
«O weh, hat er Sie gekratzt?» fragte Miss Waynflete.
«Nicht der Rede wert», antwortete Bridget und sog an einem Kratzer, der quer über den Handrücken lief.
«Soll ich etwas Jod draufgeben?»
«Ach nein, es ist schon gut. Machen wir doch keine Geschichten.»
Miss Waynflete schien ein wenig enttäuscht. Bridget fürchtete, unfreundlich gewesen zu sein, und sagte schnell. «Wie lange wird Luke wohl brauchen?»
«Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe. Ich bin sicher, Mr Fitzwilliam kann gut auf sich achtgeben.»
«Oh, ich habe Angst!»
In diesem Augenblick läutete das Telefon; Bridget eilte hin. Lukes Stimme erklang.
«Hallo! Bist du’s, Bridget? Ich bin in der ‹Scheckigen Glocke›. Kannst du auf deine Sachen bis nach dem Lunch warten? Battle ist nämlich angekommen – du weißt, wen ich meine – »
«Der Superintendent von Scotland Yard?»
«Ja. Und er will gleich mit mir reden.»
«Mir ist es recht. Bring mir meine Sachen nach dem Lunch und erzähl mir, was er zu allem sagt.»
«Schön. Auf Wiedersehen, Darling.»
«Auf Wiedersehen.»
Bridget legte den Hörer auf und berichtete Miss Waynflete von dem Gespräch. Dann gähnte sie, ein Gefühl der Müdigkeit hatte ihre Erregung abgelöst.
Miss Waynflete bemerkte es.
«Sie sind müde, meine Liebe. Sie sollten sich ein wenig niederlegen – nein, das wäre vielleicht nicht gut gerade vor dem Essen. Ich wollte eben ein paar alte Kleidungsstücke einer Frau bringen, die nicht weit von hier wohnt – ein hübscher Weg über die Felder. Vielleicht kommen Sie mit? Wir haben gerade noch Zeit vor dem Lunch.»
Bridget war sofort einverstanden.
Sie gingen zur hinteren Türe hinaus. Miss Waynflete trug einen Strohhut und hatte, zu Bridgets Belustigung, Handschuhe angezogen.
Als ob wir über die Bond Street gingen! dachte sie.
Miss Waynflete plauderte während des Gehens über verschiedene kleine Dorfangelegenheiten. Sie schritten über zwei Felder und schlugen dann einen Pfad ein, der durch ein etwas verwildertes Dickicht führte. Es war ein heißer Tag, und Bridget fand den Schatten der Bäume angenehm.
Miss Waynflete schlug vor, sich zu setzen und auszuruhen. «Es ist heute wirklich drückend heiß, finden Sie nicht auch? Ich glaube, es liegt ein Gewitter in der Luft!»
Bridget stimmte etwas schläfrig zu. Sie lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen an den Abhang, einige Verse gingen ihr durch den Kopf:
Was gehst du in Handschuh’n durch Feld und Hag
o fette Graue, die niemand mag?
Aber das war nicht ganz richtig! Miss Waynflete war nicht fett. Sie änderte die Worte, damit sie stimmten.
Was gehst du in Handschuh’n durch Feld und Hag
o magre Graue, die niemand mag?
«Sie sind sehr schläfrig, meine Liebe, nicht wahr?»
Die Worte wurden in sanftem, alltäglichem Ton gesprochen, aber etwas in ihnen ließ Bridget plötzlich die Augen aufreißen. Miss Waynflete hatte sich zu ihr vorgebeugt, ihre Augen blickten begierig, ihre Zunge fuhr über ihre Lippen. Sie wiederholte ihre Frage:
«Sie sind sehr schläfrig, nicht wahr?»
Dieses Mal war die Bedeutung ihres Tones nicht misszuverstehen. Wie ein Blitz flammte es in Bridgets Hirn auf – ein Blitz des Verstehens, gefolgt von Verachtung ihrer eigenen Begriffsstutzigkeit!
Sie hatte die Wahrheit geahnt – aber es war nicht mehr als ein leiser Argwohn gewesen. Sie hatte sich vergewissern wollen; jedoch nicht einen Augenblick hatte sie gedacht, dass etwas gegen sie unternommen werden würde. Auch meinte sie, ihren Verdacht vollkommen verborgen zu haben, und hätte sich nicht träumen lassen, in unmittelbarer Gefahr zu sein. Törichte Närrin, die sie war, dreifache Närrin!
Und plötzlich dachte sie:
Der Tee – es war etwas im Tee! Sie weiß nicht, dass ich ihn nicht getrunken habe. Das ist mein Glück! Ich muss Komödie spielen! Was mag es gewesen sein? Gift? Oder nur ein Schlafmittel? Offenbar erwartet sie, dass ich schläfrig werde – das ist klar.
Sie ließ ihre Augenlider wieder herabsinken und sagte mit – wie sie hoffte natürlich wirkender – schläfriger Stimme: «Ja – schrecklich… Komisch! So schläfrig war ich überhaupt noch nie.»
Miss Waynflete nickte leise.
Bridget beobachtete die Ältere genau durch die beinahe geschlossenen Augenlider.
Sie dachte: Ich bin ihr jedenfalls gewachsen! Meine Muskeln sind ziemlich zäh – sie ist eine magere, schwache alte Katze. Aber ich muss sie zum Reden bringen – das ist es – reden muss sie!
Miss Waynflete lächelte, es war kein gutes Lächeln; es war schlau und etwas unmenschlich.
Bridget dachte:
Wie eine Ziege! Gott, wie sie einer Ziege gleicht! Ziegen waren immer ein Symbol des Bösen! Jetzt sehe ich, warum! Ich hatte recht – hatte recht mit dieser phantastischen Idee! Die Höll’ hat keine Furie wie ein verschmähtes Weib!… Damit fing es an…
Sie murmelte, und diesmal hatte ihre Stimme entschieden einen besorgten Klang.
«Ich weiß nicht, was ich habe… Mir ist so merkwürdig – so ganz eigen!»
Miss Waynflete warf einen raschen Blick ringsum. Die Stelle lag ganz einsam. Es war zu weit vom Dorf entfernt, als dass man einen Ruf hätte hören können; auch waren keine Häuser in der Nähe. Sie begann das Paket, das sie trug, aufzumachen – das Paket, in dem alte Kleider sein sollten. Dem schien auch so zu sein; als sie das Papier auseinander bog, kam ein weiches, wollenes Kleidungsstück zum Vorschein. Doch noch immer kramten die behandschuhten Hände.
«Was gehst du in Handschuh’n durch Feld und Hag?» Ja – warum? Warum Handschuhe?
Natürlich! Natürlich! Das Ganze war so wundervoll geplant! Die Hülle fiel zur Seite. Langsam zog Miss Waynflete das Messer hervor, wobei sie sehr darauf achtete, die Fingerspuren nicht zu verwischen, die schon darauf waren – da, wo die kurzen, dicken Finger von Lord Whitfield es früher am Tag im Wohnzimmer von Ashe Manor gehalten hatten.
Das maurische Messer mit der scharfen Klinge.
Bridget fühlte eine leichte Übelkeit. Sie musste Zeit gewinnen – ja, und sie musste die Frau zum Reden bringen – diese magere, graue Frau, die niemand liebte. Es durfte eigentlich nicht schwer sein, denn sie musste ja das Bedürfnis haben zu reden, ein starkes Bedürfnis – und der einzige Mensch, mit dem sie reden konnte, war jemand wie Bridget – jemand, der dann für immer verstummen würde.
Bridget sagte mit schwacher, verschlafener Stimme. «Was – ist das – für ein Messer?»
Da lachte Miss Waynflete.
Es war ein entsetzliches Lachen – wohlklingend, damenhaft und ganz unmenschlich. Sie sagte:
«Es ist für Sie, Bridget, für Sie! Ich hasse Sie schon lange!»
Bridget sagte:
«Weil ich Gordon Whitfield heiraten sollte?»
Miss Waynflete nickte.
«Sie sind klug, Sie sind recht klug! Dies, sehen Sie, wird der krönende Beweis gegen ihn sein. Sie werden hier mit durchschnittener Kehle gefunden werden – sein Messer daneben und seine Fingerabdrücke auf dem Messer! Das war heute vormittag schlau von mir, dass ich verlangte, es zu sehen! Und dann, während Sie oben waren, schob ich es in ein Taschentuch gewickelt in meinen Beutel. So leicht war es! Aber die ganze Sache war leicht; ich hätte es kaum geglaubt.»
Bridget sagte, noch immer mit der schweren, gedämpften Stimme eines Menschen, der halb betäubt ist:
«Das ist – weil – Sie – so – teuflisch gescheit sind…»
Miss Waynflete lachte wieder melodisch und sagte mit einer entsetzlichen Art Stolz:
«Ja, ich hatte immer Verstand, schon als ganz junges Mädchen! Aber man ließ mich ja nichts machen… Ich musste zu Hause bleiben – nichts tun. Und dann Gordon – nur eines gewöhnlichen Schusters Sohn, aber er hatte Ehrgeiz, das wusste ich, ich wusste, er würde seinen Weg machen. Und er hat mich sitzenlassen – mich! Und alles wegen dieser dummen Geschichte mit dem Vogel!»
Ihre Hände machten eine seltsame Bewegung, als drehe sie etwas um.
Wieder kam eine Welle von Übelkeit über Bridget.
«Gordon Ragg wagte es, mich sitzenzulassen – mich, die Tochter von Colonel Waynflete! Ich schwor, dass ich ihm das vergelten würde! Ich dachte Nacht für Nacht darüber nach… Und dann wurden wir immer ärmer und ärmer; das Haus musste verkauft werden. Er kaufte es! Er kam als Gönner daher und bot mir eine Stellung in meinem eigenen früheren Heim! Wie ich ihn hasste damals! Aber nie zeigte ich meine Gefühle, das habe ich schon als kleines Mädchen gelernt – Disziplin. Da zeigt sich eine wirklich gute Herkunft.» Sie schwieg eine Weile. Bridget beobachtete sie und wagte kaum zu atmen, um den Strom der Worte nicht zu hemmen. Miss Waynflete fuhr leise fort:
«Und die ganze Zeit dachte ich und dachte… Zuerst wollte ich ihn töten. Da begann ich über Verbrechen zu lesen – ganz für mich – in der Bibliothek. Diese Lektüre sollte sich später mehr als einmal als sehr nützlich erweisen. Bei der Tür von Amys Zimmer zum Beispiel, den Schlüssel von außen mit einer Zange im Schloss umzudrehen, nachdem ich die Flaschen neben ihrem Bett vertauscht hatte. Wie sie schnarchte – ekelhaft war das!»
Sie machte eine Pause.
Die Gabe, die Bridget vervollkommnet und die Lord Whitfield bezaubert hatte, die Gabe des vollendeten Zuhörens, kam ihr nun gut zustatten. Honoria Waynflete mochte eine irrsinnige Mörderin sein, aber sie war auch etwas viel Gewöhnlicheres, sie war ein menschliches Wesen, das von sich selbst reden wollte. Und für diese Klasse von menschlichen Wesen war Bridget wohlgerüstet.
Sie sagte, und ihre Stimme war auf die gerade richtige Weise ermunternd:
«Sie wollten ihn zuerst töten…»
«Ja, aber das befriedigte mich nicht – viel zu gewöhnlich –, es musste etwas Besseres sein als einfach töten. Und dann ist mir plötzlich die Idee gekommen. Er sollte für eine Menge Verbrechen büßen, an denen er ganz unschuldig war, er sollte ein Mörder sein! Er sollte für meine Verbrechen hängen. Oder man würde ihn für wahnsinnig erklären und sein Leben lang einsperren… Das wäre vielleicht noch besser.»
Jetzt kicherte sie. Ein entsetzliches Kichern war es… Ihre lichten Augen starrten mit seltsam veränderten Pupillen.
«Wie gesagt, ich hatte eine Menge Bücher über Verbrechen gelesen. Ich wählte meine Opfer sorgfältig aus – anfangs sollte nicht zuviel Verdacht geweckt werden. Wissen Sie», sie senkte ihre Stimme, «mir machte das Umbringen Freude… Diese unangenehme Person, Lydia Horton – sie hat mich von oben herab behandelt –, einmal sprach sie von mir als einer ‹alten Jungfer›. Ich freute mich, als Gordon mit ihr stritt. Zwei Fliegen mit einem Schlag, dachte ich! Es machte mir soviel Spaß, an ihrem Bett zu sitzen und das Arsenik in ihren Tee zu praktizieren, und dann hinauszugehen und der Pflegerin zu sagen, wie sehr Mrs Horton sich über den bitteren Geschmack von Lord Whitfields Trauben beklagt hatte! Das dumme Frauenzimmer hat das nicht weitergetragen, was jammerschade war.
Und die anderen! Sobald ich hörte, dass Gordon einen Groll gegen jemanden hegte, war es leicht, einen Unfall herbeizuführen! Und er war so ein Narr – so ein unglaublicher Narr! Ich machte ihn glauben, dass etwas Besonderes an ihm sei! Dass jeder, der sich gegen ihn stellte, dafür büßen müsste. Er glaubte es wirklich! Armer Gordon, er würde alles glauben, so leichtgläubig!»
Bridget erinnerte sich, wie sie selbst zu Luke gesagt hatte: «Gordon! Der würde alles glauben!»
Leicht! Wie leicht! Armer, hochtrabender, leichtgläubiger kleiner Gordon.
Aber sie musste noch mehr erfahren! Leicht? Das war ebenfalls leicht! Als Sekretärin hatte sie es jahrelang getan, hatte ihre Dienstherren unmerklich ermuntert, über sich zu sprechen. Und diese Frau hier wünschte so sehr zu reden, mit ihrer Klugheit zu prahlen.
Bridget murmelte:
«Aber wie haben Sie das alles nur gemacht? Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen konnte.»
«Oh, es war ganz leicht! Es bedurfte nur eines Planes! Als Amy Ashe Manor verlassen musste, nahm ich sie sofort in meinen Dienst. Ich denke, die Idee mit der Hutfarbe war wirklich gescheit – und da die Tür von innen versperrt war, lief ich keine Gefahr. Aber ich war ja immer sicher, weil ich nie ein Motiv hatte, und man kann niemanden des Mordes verdächtigen, wenn es keinen Grund gibt. Carter war auch ganz leicht – er schwankte im Nebel herum, und ich ging ihm auf dem Steg nach und gab ihm einen raschen Stoß. Ich bin überhaupt sehr stark, wissen Sie.»
Sie hielt inne, und das leise, entsetzliche Kichern setzte wieder ein.
«Das Ganze war so ein Spaß! Nie werde ich Tommys Gesicht vergessen, als ich ihn an jenem Tag vom Fensterbrett herabstieß. Er hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt…» Sie beugte sich vertraulich zu Bridget.
«Die Leute sind wirklich sehr dumm, wissen Sie, das hatte ich früher nie so begriffen.»
Bridget sagte sehr leise:
«Aber Sie sind – außergewöhnlich gescheit.»
«Ja – ja – vielleicht haben Sie recht.»
Bridget sagte:
«Dr. Humbleby – das muss schwieriger gewesen sein?»
«Ja, es war wirklich verblüffend, wie das gelang. Es hätte natürlich auch misslingen können. Aber Gordon hatte jedermann von seinem Besuch im Wellerman-Kreitz-Institut erzählt, und ich dachte, wenn ich nur erreichen könnte, dass die Leute sich an den Besuch erinnern und ihn mit dem Vorfall in Verbindung bringen. Und Wonky Poohs Ohr war wirklich sehr entzündet und eiterte stark. Ich brachte es zuwege, die Spitze meiner Schere dem Doktor in die Hand zu rennen, und dann war ich ganz verzweifelt und bestand darauf, ihm einen Verband anzulegen. Er wusste nicht, dass der Verband mit Eiter von Wonky Poohs Ohr infiziert war. Natürlich hätte auch nichts geschehen können – es war eben ein kühner Versuch, der gelang – besonders da Wonky Pooh Lavinias Kater gewesen war.»
Ihr Gesicht verfinsterte sich.
«Lavinia Pinkerton! Sie erriet… Sie war es, die Tommy an jenem Tag gefunden hatte. Und als Gordon und der alte Dr. Humbleby den Streit hatten, sah sie, wie ich Humbleby anschaute; ich war nicht auf der Hut, ich dachte gerade darüber nach, wie ich es tun würde… Und sie wusste! Ich wandte mich um und sah, dass sie mich beobachtete, und – ich verriet mich. Ich sah, dass sie wusste. Sie konnte natürlich nichts beweisen, das war mir klar. Aber ich fürchtete trotzdem, dass ihr jemand glauben könnte, dass ihr jemand von Scotland Yard glauben könnte. Ich war sicher, dass sie an jenem Tag dorthin wollte. Ich fuhr mit demselben Zug und folgte ihr.
Das Ganze war wieder so leicht. Sie war auf einer Kreuzungsinsel von Whitehall, ich knapp hinter ihr, doch sah sie mich nicht. Ein großes Auto kam daher, und ich stieß mit aller Kraft zu. Ich bin sehr stark! Sie fiel gerade vor das Auto. Ich sagte einer Frau neben mir, dass ich die Nummer des Wagens gesehen hätte, und gab ihr die Nummer von Gordons Rolls. Ich hoffte, sie würde sie der Polizei sagen.
Es war ein Glück, dass das Auto nicht stehen blieb. Es war wohl ein Chauffeur, der ohne Wissen seines Herrn eine Vergnügungsfahrt unternahm. Ja, da, da hatte ich Glück. Ich habe immer Glück. Die Szene neulich mit Rivers, bei der Luke Fitzwilliam Zeuge war! Es machte mir solchen Spaß, ihn auf die Fährte zu hetzen! Merkwürdig, wie schwer es war, seinen Verdacht auf Gordon zu lenken. Erst nach dem Tod von Rivers würde er sicher daraufkommen; er musste doch!
Und nun – das hier wird jetzt das ganze Unternehmen krönen.»
Sie stand auf und ging auf Bridget zu. Sie sagte leise: «Gordon hat mich sitzenlassen! Er wollte Sie heiraten. Mein Leben lang bin ich enttäuscht worden. Ich habe nichts gehabt – gar nichts…»
«O magre Graue, die niemand mag…»
Sie beugte sich über Bridget, lächelnd, mit wahnsinnig leuchtenden Augen… Das Messer funkelte.
Mit all ihrer jugendlichen Kraft sprang Bridget auf und warf sich wie eine Tigerkatze mit voller Gewalt auf die andere, stieß sie zurück und packte sie am rechten Handgelenk. Von dem Überfall überrascht, wich Honoria Waynflete zurück. Doch nur einen Augenblick blieb sie untätig, dann begann sie zu kämpfen. Hinsichtlich der Kraft waren sie nicht zu vergleichen. Bridget war jung und gesund und hatte vom Sport gestählte Muskeln. Honoria Waynflete war ein schlank gebautes, schwaches Geschöpf.
Aber mit einem Faktor hatte Bridget nicht gerechnet: Honoria Waynflete war geistig nicht normal. Ihre Kraft war die Kraft einer Wahnsinnigen. Sie kämpfte wie ein Teufel, und ihre irrsinnige Kraft war größer als die gesunde Muskelkraft von Bridget. Sie wankten hin und her, und immer mühte Bridget sich, ihr das Messer zu entreißen, und immer noch umklammerte es Honoria Waynflete.
Und dann gewann nach und nach die Kraft der Irrsinnigen die Oberhand. Nun schrie Bridget:
«Luke… Hilfe… Hilfe…»
Aber sie hatte keine Hoffnung, dass Hilfe kommen würde. Sie und Honoria Waynflete waren allein, allein in einer toten Welt. Mit höchster Anstrengung riss sie das Handgelenk der anderen zurück, und endlich hörte sie das Messer niederfallen.
Im nächsten Augenblick hatten sich Honoria Waynfletes Hände mit wahnsinnigem Zugriff um ihren Hals geklammert und pressten ihr das Leben ab. Sie stieß einen letzten halberstickten Schrei aus…