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«Dad!»
Mrs Kettering schrak heftig auf. Ihre Nerven waren an diesem Morgen nicht ganz unter Kontrolle. Perfekt gekleidet mit einem kostbaren Nerzmantel und einem roten chinesischen Lackhütchen, war sie tief in Gedanken versunken durch das Gedränge auf dem Bahnsteig von Victoria Station gegangen, und das plötzliche Auftauchen ihres Vaters und seine herzhafte Begrüßung hatten eine unerwartete Wirkung auf sie.
«Also, Ruth, warum zuckst du denn so zusammen?»
«Ich hatte nur nicht erwartet, dich hier zu sehen, Dad. Du hast dich ja gestern von mir verabschiedet und gesagt, du hättest heute Morgen eine Konferenz.»
«Habe ich auch», sagte Van Aldin, «aber du bist mir wichtiger als alle blöden Konferenzen zusammen. Ich wollte dich nur unbedingt noch einmal treffen, weil ich dich ja eine ganze Weile nicht mehr sehen werde.»
«Das ist sehr lieb von dir, Dad. Ich wünschte, du könntest mitkommen.»
«Was würdest du dazu sagen, wenn ich mitkäme?»
Die Bemerkung war nur scherzhaft gemeint. Er war überrascht, eine jähe Röte auf Ruths Wangen zu sehen. Einen Moment lang glaubte er fast, ein Erschrecken in ihren Augen zu bemerken. Sie lachte unsicher und nervös.
«Einen Moment habe ich wirklich gedacht, du meinst das ernst», sagte sie.
«Hättest du dich darüber gefreut?»
«Selbstverständlich.» Sie sprach mit übertriebenem Nachdruck.
«Na», sagte Van Aldin, «dann ist es ja gut.»
«Es ist aber doch gar nicht so lang, Dad», fuhr Ruth fort, «nächsten Monat kommst du ja nach.»
«Ah!», sagte Van Aldin unbewegt, «manchmal denke ich mir, ich sollte einfach zu einem der großen Männer in der Harley Street gehen und mir von ihm erzählen lassen, dass ich sofort einen Klimawechsel und Sonne brauche.»
«Sei nicht so faul», rief Ruth, «nächsten Monat ist es da drüben viel schöner als diesen Monat. Du hast doch alle möglichen Dinge am Hals, die du jetzt nicht einfach liegen lassen kannst.»
«Tja, so ist es wohl», sagte Van Aldin mit einem Seufzer. «Aber du solltest jetzt in deinen Zug steigen, Ruth. Wo ist dein Sitzplatz?»
Ruth Kettering sah sich um. In der Tür eines der Pull-man-Wagen stand eine große, dünne Frau in Schwarz — Ruth Ketterings Zofe. Sie trat beiseite, als ihre Herrin zu ihr kam.
«Ich habe die kleine Reisetasche unter Ihren Sitz gestellt, Madam, falls Sie sie brauchen. Soll ich die Decken nehmen, oder möchten Sie eine haben?»
«Nein, nein, ich brauche jetzt keine. Suchen Sie jetzt lieber Ihren eigenen Platz, Mason.»
«Ja, Madam.»
Die Zofe verschwand.
Van Aldin begleitete Ruth in den Pullman-Wagen. Sie fand ihren Platz, und Van Aldin legte einige Zeitungen und Magazine auf das Tischchen vor ihr. Der Platz gegenüber war bereits besetzt, und der Amerikaner streifte die dort sitzende Dame mit einem Blick. Er behielt einen flüchtigen Eindruck von attraktiven grauen Augen und einem hübschen Reisekostüm. Er gönnte sich noch ein kleines Gespräch mit Ruth — das Geplauder von Leuten, die andere zum Zug bringen.
Sehr bald, als die Pfeifen schrillten, sah er auf seine Uhr.
«Ich sollte wohl besser aussteigen. Auf Wiedersehen, meine Liebe. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles.»
«Ach, Vater!»
Er wandte sich rasch um. Etwas lag in Ruths Stimme, das so wenig zu ihrer gewohnten Art passte, dass er erschrak. Es klang beinahe wie ein Ruf der Verzweiflung. Sie hatte eine impulsive Bewegung zu ihm hin gemacht, aber gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt.
«Bis nächsten Monat», sagte er behutsam.
Zwei Minuten später fuhr der Zug ab.
Ruth saß ganz still da, biss auf die Unterlippe und versuchte mit aller Kraft, die ungewohnten Tränen zu unterdrücken. Plötzlich empfand sie eine schreckliche Trostlosigkeit. Ein wildes Verlangen packte sie, aus dem Zug zu springen und heimzukehren, ehe es zu spät war. Sie, sonst so ruhig und selbstsicher, kam sich zum ersten Mal im Leben wie ein vom Wind verwehtes Blatt vor. Wenn ihr Vater das wüsste — was würde er wohl sagen?
Wahnsinn! Ja, genau das, Wahnsinn! Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von Gefühlen fortgespült, so weit fortgetragen, dass sie etwas tun wollte, wovon sie selbst wusste, dass es unglaublich töricht und gefährlich war.
Als Van Aldins Tochter war sie sich ihrer Torheit vollkommen bewusst und nüchtern genug, das eigene Tun zu verurteilen. Aber auch in einem anderen Sinne war sie seine Tochter. Sie hatte die gleiche eiserne Entschiedenheit, das zu erreichen, was sie haben wollte, und, einmal entschlossen, ließ sie sich nicht vom Ziel abbringen. Von der Wiege an war sie dickköpfig gewesen; und ihre Lebensumstände hatten diese Willenskraft weiterentwickelt. Sie trieb sie nun unweigerlich voran. Die Würfel waren gefallen. Jetzt musste sie sich durchbeißen.
Sie schaute auf, und ihr Blick begegnete dem der Frau gegenüber. Plötzlich kam es ihr vor, als ob die andere irgendwie ihre Gedanken hätte lesen können. In diesen grauen Augen sah sie Verständnis und — ja — Mitgefühl.
Es war nur ein ganz kurzer Eindruck. Die Gesichter der beiden Frauen erstarrten zum anerzogenen Gleichmut. Mrs Kettering nahm ein Magazin zur Hand, Katherine Grey blickte aus dem Fenster und betrachtete die scheinbar endlose Abfolge von deprimierenden Straßen und Vororthäusern.
Ruth fand es zunehmend schwierig, ihre Gedanken auf die bedruckte Seite vor ihr zu konzentrieren. Gegen ihren Willen plagten sie tausend Bedenken. Was für eine Närrin sie doch gewesen war! Was für eine Närrin sie immer noch war! Wie alle kühlen, selbstgenügsamen Leute verlor sie die Kontrolle entweder gar nicht oder völlig. Es war zu spät. War es zu spät? Wenn sie doch jetzt jemanden zum Reden hätte, jemanden, der ihr raten könnte. So einen Wunsch hatte sie noch nie gehabt; die Vorstellung, sich auf ein anderes als das eigene Urteil zu verlassen, hätte sie mit Hohn von sich gewiesen, aber jetzt — was war mit ihr los? Panik. Ja, das beschrieb es am besten — Panik. Sie, Ruth Kettering, war ganz und gar von Panik befallen.
Verstohlen blickte sie die Dame gegenüber an. Wenn sie doch so jemanden kennen würde, eine nette, kühle, ruhige, verständnisvolle Person. Die Art Mensch, mit der man reden konnte. Aber natürlich kann man sich nicht einer Fremden anvertrauen. Und Ruth lächelte ein wenig über sich bei diesem Gedanken. Sie nahm die Zeitschrift wieder auf. Wirklich, sie musste sich endlich beherrschen. Schließlich hatte sie all das ausgeheckt. Sie hatte sich aus eigenem Antrieb dazu entschieden. Hatte sie denn in ihrem bisherigen Leben so etwas wie Glück gekannt? Ruhelos sagte sie sich: <Warum soll ich denn nicht glücklich sein? Niemand wird es je erfahrene
Die Fahrt nach Dover verging wie im Fluge. Ruth war seefest, mochte aber die Kälte nicht und war froh, die Zuflucht der telegraphisch reservierten privaten Kabine zu erreichen. Sie hätte es nie zugegeben, aber Ruth war in gewisser Weise abergläubisch. Sie gehörte zu denen, die sich von Zufälligkeiten beeindrucken lassen. Nachdem Calais erreicht war und sie sich mit ihrer Zofe im Doppelabteil des Blauen Express eingerichtet hatte, begab sie sich in den Speisewagen. Es löste bei ihr einen leichten Schock der Überraschung aus, als man ihr einen Platz an einem Tischchen anwies, der gleichen Frau gegenüber, die ihr vis-a-vis im Pullman-Wagen gesessen hatte. Beide Damen setzten ein flüchtiges Lächeln auf.
«Das ist ja ein Zufall», sagte Mrs Kettering.
«Ja, wirklich», sagte Katherine, «seltsam, wie es manchmal so geht.»
Mit der wundersamen Schnelligkeit, die die Angestellten der Compagnie Internationale des Wagons-Lits immer an den Tag legten, eilte ein Kellner herbei und servierte zwei Tassen mit Suppe. Als das Omelett der Suppe folgte, plauderten die beiden bereits ganz freundlich miteinander.
«Es wird herrlich sein, in die Sonne zu kommen», seufzte Ruth.
«Ich bin sicher, dass es ein wunderbares Gefühl ist.»
«Kennen Sie die Riviera gut?»
«Nein, ich fahre zum ersten Mal hin.»
«Nicht möglich!»
«Ich nehme an, Sie reisen jedes Jahr dorthin?»
«Beinahe. Januar und Februar in London sind scheußlich.»
«Ich habe immer auf dem Land gelebt. Auch dort sind das keine erhebenden Monate. Größtenteils Schlamm.»
«Und was hat Sie auf einmal bewogen zu reisen?»
«Geld», sagte Katherine. «Zehn Jahre lang war ich bezahlte Gesellschafterin mit gerade genug eigenem Geld, um mir feste Landschuhe kaufen zu können; jetzt hat man mir etwas hinterlassen, was mir wie ein Vermögen vorkommt, wenn ich auch annehme, Ihnen würde es nicht als so viel erscheinen.»
«Jetzt wüsste ich aber doch gern, warum Sie das gesagt haben — dass es mir nicht so vorkäme.»
Katherine lachte. «Ich weiß nicht. Ich glaube, man macht sich einen Eindruck, ohne darüber nachzudenken. Im Geiste habe ich Sie zu den besonders Reichen auf Erden gezählt. Einfach so ein Eindruck. Wahrscheinlich irre ich mich.»
«Nein», sagte Ruth. «Sie irren sich nicht.» Plötzlich war sie ganz ernst geworden. «Ich wünschte, Sie würden mir erzählen, welche anderen Eindrücke Sie von mir gewonnen haben.»
«Ich.»
Ruth redete weiter, ohne auf die Verlegenheit der anderen zu achten. «Ach, bitte, seien Sie nicht so konventionell. Ich würde es gern wissen. Als wir aus Victoria herausgefahren sind, habe ich zu Ihnen hinübergeschaut, und da hatte ich das Gefühl, dass Sie — na ja, dass Sie wussten, was in mir vorging.»
«Ich versichere Ihnen, ich kann keine Gedanken lesen», sagte Katherine lächelnd.
«Nein, aber sagen Sie mir doch bitte einfach, was Sie gedacht haben.» Ruths Eifer war so nachdrücklich und ehrlich, dass Katherine nachgab.
«Ich will es Ihnen sagen, wenn Sie wollen, aber halten Sie mich bitte nicht für unverschämt. Ich habe gedacht, dass Sie aus irgendwelchen Gründen in großer seelischer Bedrängnis seien, und Sie haben mir Leid getan.»
«Sie haben Recht. Sie haben ganz Recht. Ich bin in einer schrecklichen Lage. Ich — ich würde Ihnen gern davon erzählen, wenn ich darf.»
Du liebe Güte, dachte Katherine, wie außerordentlich ähnlich sich alle zu sein scheinen! In St. Mary Mead haben die Leute mir immer alles Mögliche erzählt. Hier ist es wieder das Gleiche, und eigentlich will ich mir die Probleme der anderen gar nicht anhören!
Höflich antwortete sie:
«Erzählen Sie ruhig.»
Sie waren eben mit dem Essen fertig. Ruth stürzte ihren Kaffee hinunter, stand auf, ohne zu bemerken, dass Katherine ihren Kaffee noch nicht angerührt hatte, und sagte:
«Kommen Sie doch mit in mein Abteil.»
Es handelte sich um zwei Einzelabteile mit einer Verbindungstür. Im zweiten saß eine dünne Zofe, die Kathe-rine in Victoria Station bemerkt hatte, kerzengerade auf dem Sitz und umklammerte eine große, dunkelrote Lederkassette mit den Initialen R.V.K. Mrs Kettering schloss die Verbindungstür und sank in die Polster. Ka-therine setzte sich neben sie.
«Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll. Es gibt da einen Mann, an dem mir liegt — an dem mir sehr viel liegt. Wir haben uns sehr gemocht, als wir jung waren, und man hat uns ganz brutal und ungerecht getrennt. Jetzt haben wir uns wieder gefunden.»
«Ja?»
«Ich — ich werde ihn jetzt treffen. Sie finden wahrscheinlich, dass das ganz schlecht ist, aber Sie kennen ja die Umstände nicht. Mein Gatte ist unmöglich. Er hat mich schändlich behandelt.»
«Ja», sagte Katherine wieder.
«Aber der Grund, weshalb ich mich so schlecht fühle. Ich habe meinen Vater hintergangen — das ist der, der mich nach Victoria begleitet hat. Er will, dass ich mich von meinem Mann scheiden lasse, und hat natürlich keine Ahnung davon, dass — dass ich zu diesem anderen fahre. Er würde es für eine schlimme Torheit halten.»
«Ist es das denn nicht auch?»
«Ich — ich glaube schon.»
Ruth Kettering sah auf ihre Hände hinunter; sie zuckten nervös.
«Aber ich kann jetzt nicht mehr zurück.»
«Warum nicht?»
«Ich — alles ist abgemacht, und ihm würde es das Herz brechen.»
«Glauben Sie das bloß nicht», sagte Katherine robust, «Herzen sind ziemlich zäh.»
«Er wird meinen, ich hätte keine Courage, keine Entschlossenheit.»
«Was Sie da vorhaben, kommt mir wirklich ziemlich dumm vor», sagte Katherine. «Ich glaube, Sie wissen das selbst.»
Ruth Kettering vergrub ihr Gesicht in den Händen. «Ich weiß es nicht — ich weiß es nicht. Schon die ganze Reise habe ich ein schlimmes Gefühl — eine Ahnung, dass mir bald etwas zustößt — dass ich nicht entkommen kann.»
Sie umklammerte Katherines Hand.
«Sie müssen mich für verrückt halten, dass ich so mit Ihnen rede. Aber ich sage Ihnen, ich weiß, dass etwas Furchtbares geschehen wird.»
«So etwas sollten Sie nicht denken», sagte Katherine, «versuchen Sie, sich zusammenzureißen. Sie können Ihrem Vater von Paris aus telegrafieren, wenn Sie das möchten, und er kommt sicher sofort zu Ihnen.»
Ruths Gesicht hellte sich auf.
«Ja, das könnte ich tun. Der liebe, alte Dad. Es ist merkwürdig — bis heute habe ich nie so richtig gewusst, wie schrecklich gern ich ihn habe.» Sie richtete sich auf und trocknete die Augen mit einem Taschentuch. «Ich bin sehr dumm gewesen. Vielen Dank dafür, dass ich mit Ihnen reden durfte. Ich weiß gar nicht, wie ich in einen solchen Zustand von Hysterie geraten bin.»
Sie stand auf. «Es geht mir schon viel besser. Ich glaube, ich habe einfach nur jemanden zum Reden gebraucht. Jetzt verstehe ich selbst nicht mehr, warum ich mich derartig zum Narren gemacht habe.»
Katherine stand ebenfalls auf.
«Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht», sagte sie in möglichst konventionellem Ton. Sie wusste nur zu gut, dass auf Vertraulichkeiten Verlegenheit folgt. Taktvoll setzte sie hinzu:
«Ich muss zurück in mein Abteil.»
Sie trat im gleichen Moment auf den Gang, als Mrs Ketterings Zofe ihr Abteil verließ. Über die Schulter blickte sie in Katherines Richtung, und auf ihr Gesicht trat ein Ausdruck höchster Überraschung. Auch Katherine wandte sich um, aber wer auch immer das Interesse der Zofe erregt haben mochte, war inzwischen in seinem oder ihrem Abteil verschwunden, und der Korridor war leer. Katherine ging weiter, um zu ihrem Platz zu gelangen, der sich im nächsten Wagen befand. Als sie das letzte Abteil passierte, öffnete sich dessen Tür; einen Augenblick lang schaute das Gesicht einer Frau heraus, gleich darauf wurde die Tür mit einem Ruck geschlossen. Es war ein Gesicht, das man nicht so leicht vergaß, wie Ka-therine feststellen sollte, als sie es später wieder sah. Ein schönes Gesicht, oval und dunkel, stark und beinahe bizarr geschminkt. Katherine hatte das Gefühl, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
Ohne weitere Zwischenfälle erreichte sie ihr Abteil und saß dort eine Weile in Gedanken an die vertraulichen Eröffnungen, die ihr eben gemacht worden waren. Müßig fragte sie sich, wer diese Frau mit dem Nerzmantel sein mochte; außerdem überlegte sie, wie ihre Geschichte wohl enden würde.
Wenn ich jemanden davon abgehalten hätte, sich zum Narren zu machen, hätte ich wohl ein gutes Werk getan, sagte sie sich. Aber wer weiß! Diese Sorte Frau ist ihr Leben lang stur und egoistisch, und vielleicht wäre es gut für sie, zur Abwechslung mal etwas anderes zu tun. Na ja — ich nehme an, ich sehe sie nie wieder. Sie wird jedenfalls mich nie wieder sehen wollen. Das wollen die Leute nie, und das ist das Ärgste daran, wenn man sie über sich selbst reden lässt.
Sie hoffte, beim Abendessen nicht auf den gleichen Platz gesetzt zu werden. Nicht ohne Humor bedachte sie, dass das für beide peinlich sein könnte. Als sie den Kopf an ein Kissen lehnte, fühlte sie sich müde und leicht deprimiert. Sie hatten Paris erreicht, und die langsame Fahrt rund um die ceinture, wo sie zahllose Male anhalten und warten mussten, war ermüdend. Als sie im Gare de Lyon eingelaufen waren, freute sie sich, aussteigen und auf dem Bahnsteig hin und her gehen zu können. Die scharfe, kalte Luft war nach dem dampfgeheizten Zug erfrischend. Mit einem Lächeln sah sie, dass ihre Freundin mit dem Nerzmantel der möglichen Peinlichkeit eines gemeinsamen Abendessens aus dem Wege ging. Ein Dinnerkorb wurde zum Abteilfenster hochgehoben und dort von der Zofe entgegengenommen.
Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte und schrilles Glockenläuten das Abendessen ankündigte, begab Katherine sich ganz erleichtert in den Speisewagen. Ihr gegenüber saß diesmal ein kleiner Mann, von eindeutig unbritischem Aussehen, mit starr gewichstem Schnurrbart und einem eiförmigen Schädel, den er ein wenig schief hielt. Katherine hatte ein Buch zum Abendessen mitgebracht. Sie bemerkte, wie die Augen des kleinen Mannes sich mit einem amüsierten Zwinkern darauf richteten.
«Wie ich sehe, Madame, haben Sie da einen roman poli-cier. Mögen Sie so etwas?»
«Sie amüsieren mich», gab Katherine zu.
Der kleine Mann nickte, als ob er diese Meinung vollkommen verstünde.
«Sie verkaufen sich gut, sagt man. Woran liegt das wohl, eh, Mademoiselle? Ich frage Sie als einer, der das Wesen des Menschen studiert — woran mag es wohl liegen?»
Katherine war belustigt.
«Vielleicht geben sie einem die Illusion, ein aufregendes Leben zu führen», schlug sie vor.
Er nickte feierlich.
«Ja, da ist etwas dran.»
«Natürlich weiß man, dass solche Sachen in Wirklichkeit nicht geschehen», fuhr Katherine fort, aber er unterbrach sie schroff.
«Manchmal doch, Mademoiselle! Manchmal! Mir — der ich mit Ihnen rede — mir sind sie geschehen.»
Sie warf ihm einen raschen, interessierten Blick zu.
«Eines Tages, wer weiß, geraten Sie vielleicht auch einmal mitten hinein», fuhr er fort. «Alles ist Zufall.»
«Das halte ich für unwahrscheinlich», sagte Katherine. «So etwas geschieht mir nie.»
Er beugte sich vor.
«Hätten Sie das denn gern?»
Die Frage erschreckte sie, und sie atmete scharf ein.
«Es ist vielleicht Einbildung», sagte der kleine Mann, dabei polierte er geschickt eine der Gabeln, «aber ich glaube, Sie sehnen sich nach interessanten Ereignissen. Eh bien, Mademoiselle, mein ganzes Leben lang habe ich eines beobachtet. — <Was man will, das kriegt man!> Wer weiß?» Er schnitt eine komische Grimasse. «Vielleicht kriegen Sie mehr, als Ihnen lieb ist.»
«Ist das eine Prophezeiung?», fragte Katherine, wobei sie sich lächelnd erhob.
Der kleine Mann schüttelte den Kopf.
«Ich prophezeie nie», erklärte er pompös. «Zwar gestehe ich, dass ich immer Recht behalte — aber ich prahle nicht damit. Gute Nacht, Mademoiselle, und schlafen Sie gut»
Von ihrem kleinen Nachbarn amüsiert und angeregt ging Katherine durch den Zug zurück. Sie kam an der offenen Tür des Abteils ihrer neuen Bekannten vorbei und sah, wie der Schaffner das Bett zurechtmachte. Die Dame im Nerzmantel stand am Fenster und schaute hinaus. Durch die Verbindungstür sah Katherine, dass das zweite Abteil leer war. Decken und Taschen türmten sich auf dem Sitz. Die Zofe war nicht da.
Katherine fand ihr Bett schon bereit, und da sie müde war, legte sie sich hin und schaltete gegen halb zehn das Licht aus.
Plötzlich schrak sie aus dem Schlaf; sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass diese stehen geblieben war. Ein Gefühl starken Unbehagens erfasste sie und wuchs von Minute zu Minute. Schließlich stand sie auf, zog ihren Morgenrock an und trat auf den Gang. Der ganze Zug schien zu schlummern. Katherine ließ das Fenster herunter und saß einige Minuten dort, sog die kühle Nachtluft ein und versuchte vergeblich, ihre unbehaglichen Ängste zu unterdrücken. Dann beschloss sie, zum Ende des Wagens zu gehen und den Schaffner nach der Zeit zu fragen, damit sie ihre Uhr stellen konnte. Dessen kleinen Sitz fand sie jedoch leer. Sie zögerte einen Moment und ging dann weiter in den nächsten Wagen. Sie blickte den langen, matt beleuchteten Gang entlang und sah zu ihrem Erstaunen, dass vor dem Abteil der Dame mit dem Nerzmantel ein Mann stand, eine Hand an der Tür. Das heißt, sie meinte, es sei das betreffende Abteil. Aber wahrscheinlich irrte sie sich. Er stand einige Momente dort mit dem Rücken zu ihr, seine Haltung wirkte unsicher und zaudernd. Dann drehte er sich langsam um, und mit einem seltsamen Gefühl des Schicksalhaften erkannte Ka-therine in ihm den Mann, den sie bereits zweimal bemerkt hatte — einmal auf dem Korridor des Savoy, das zweite Mal bei Cook’s. Dann öffnete er die Abteiltür und ging hinein, wobei er die Tür hinter sich schloss.
Ein Gedanke durchzuckte Katherine. Konnte dies der Mann sein, von dem die andere Frau gesprochen hatte — der Mann, zu dem sie fuhr?
Dann sagte Katherine sich, dass dies romantische Spinnerei sei. Höchstwahrscheinlich irrte sie sich in dem Abteil.
Sie kehrte in ihren Wagen zurück. Fünf Minuten später verlangsamte der Zug sein Tempo. Man hörte das lange, klagende Zischen der Westinghouse-Bremse, und bald darauf hielt der Zug in Lyon.