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Ich kann Ihnen gar nicht oft genug unser Entsetzen, unsere Betroffenheit und unser tiefes Mitgefühl wiederholen, Monsieur.»
So wandte sich Monsieur Carrege, der Untersuchungsrichter, an Van Aldin. Monsieur Caux, der Kommissar, grunzte mitfühlend. Van Aldin wischte Entsetzen, Betroffenheit und Mitgefühl mit einer brüsken Geste beiseite. Sie befanden sich im Büro des Untersuchungsrichters in Nizza. Außer Monsieur Carrege, dem Kommissar und Van Aldin war noch eine Person anwesend, die nun das Wort ergriff.
«Monsieur Van Aldin», sagte der Mann, «wünscht, dass gehandelt wird — dass sofort gehandelt wird.»
«Ah!», rief der Kommissar. «Ich habe Sie noch gar nicht vorgestellt. Monsieur Van Aldin, das ist Monsieur Hercu-le Poirot; Sie haben zweifellos von ihm gehört. Zwar hat er sich vor einigen Jahren aus seinem Beruf zurückgezogen, aber noch immer kennt jeder seinen Namen als den eines der größten lebenden Detektive.»
«Freut mich, Sie kennen zu lernen, Monsieur Poirot», sagte Van Aldin; mechanisch griff er auf diese Formel zurück, die er sich vor etlichen Jahren abgewöhnt hatte. «Sie haben sich aus Ihrem Beruf zurückgezogen?»
«So ist es, Monsieur. Ich genieße jetzt die Welt.»
Der kleine Mann machte eine großsprecherische Geste.
«Monsieur Poirot fuhr zufällig mit dem Blauen Express», erklärte der Kommissar, «und er war so freundlich, uns mit seiner großen Erfahrung zu helfen.»
Der Millionär musterte Poirot aufmerksam. Dann sagte er zur Überraschung der anderen:
«Ich bin ein sehr reicher Mann, Monsieur Poirot. Gewöhnlich sagt man, reiche Leute leben in dem Glauben, alles und alle kaufen zu können. Das stimmt nicht. Ich bin auf meinem Gebiet ein großer Mann, und ein großer Mann darf einen anderen großen Mann um einen Gefallen bitten.»
Poirot nickte schnell, billigend.
«Sehr gut gesagt, Monsieur Van Aldin. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.»
«Danke», sagte Van Aldin. «Ich kann nur sagen, wenden Sie sich zu jeder beliebigen Zeit an mich, und Sie werden mich nicht undankbar finden. Und jetzt, meine Herren, an die Arbeit.»
«Ich schlage vor», sagte Monsieur Carrege, «die Zofe zu verhören, Ada Mason. Sie haben sie mitgebracht, hörte ich.»
«Ja», sagte Van Aldin. «Wir haben sie unterwegs in Paris aufgegabelt. Der Tod meiner armen Tochter hat sie sehr erschüttert, aber sie erzählt ihre Geschichte durchaus zusammenhängend.»
«Dann wollen wir sie hereinholen», sagte Monsieur Carrege.
Er läutete die Glocke auf seinem Schreibtisch, und bald darauf trat Ada Mason ein.
Sie war sehr zierlich und in Schwarz gekleidet, und ihre Nasenspitze war rot. Die grauen Reisehandschuhe hatte sie gegen schwarze aus Wildleder eingetauscht. Nicht ohne Scheu sah sie sich in dem Amtsraum um und schien erleichtert, als sie die Anwesenheit des Vaters ihrer Herrin bemerkte. Der Untersuchungsrichter, stolz auf seine Jovialität, gab sich alle Mühe, ihr Unbehagen zu mildern. Dabei half ihm Poirot, der den Dolmetscher spielte; seine freundliche Art munterte die Engländerin auf.
«Sie heißen Ada Mason, nicht wahr?»
«Ich wurde Ada Beatrice getauft, Sir», sagte Mason geziert.
«Sehr gut. Und wir verstehen vollkommen, Mason, dass all das sehr betrüblich für Sie war.»
«Das kann man wohl sagen, Sir. Ich bin bei vielen Ladys gewesen und hoffe, dass alle mit mir zufrieden waren. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass so etwas mit irgendwem passieren könnte, bei dem ich angestellt bin.»
«Nein, natürlich nicht», sagte Carrege.
«Natürlich habe ich von so was gelesen, in den Sonntagszeitungen. Und dann hatte ich immer den Eindruck, dass diese ausländischen Züge.» Sie unterbrach ihren Redefluss jäh, als ihr einfiel, dass die Herren, mit denen sie da redete, der gleichen Nation angehörten wie die Züge.
«Nun lassen Sie uns einmal diese Angelegenheit besprechen», sagte Carrege. «Stimmt es, dass bei der Abreise aus London noch keine Rede davon war, dass Sie in Paris bleiben sollten?»
«Nein, Sir. Wir wollten durchfahren bis Nizza.»
«Sind Sie früher schon einmal mit Ihrer Herrin im Ausland gewesen?»
«Nein, Sir. Wissen Sie, ich war ja erst seit zwei Monaten bei ihr.»
«Kam Sie Ihnen wie gewöhnlich vor, als Sie aufgebrochen sind?»
«Sie war irgendwie besorgt und ein bisschen aufgeregt, und sie war gereizt, und ich konnte ihr nichts recht machen.»
Monsieur Carrege nickte.
«Nun denn, Mason, wann war zum ersten Mal die Rede davon, dass Sie in Paris bleiben sollten?»
«In diesem Bahnhof, der Gare de Lyon heißt, Sir. Meine Herrin wollte aussteigen und ein bisschen auf dem Bahnsteig herumlaufen. Sie war gerade auf dem Gang, da hat sie plötzlich was gerufen, und dann ist sie mit einem Gentleman wieder in ihr Abteil gegangen. Die Tür zwischen ihrem und meinem Abteil hat sie zugemacht, deshalb habe ich nichts gesehen oder gehört, bis sie sie dann plötzlich wieder aufgemacht und mir gesagt hat, sie hätte ihre Pläne geändert. Sie hat mir Geld gegeben und gesagt, ich soll aussteigen und ins Ritz gehen. Sie sagte, die kennen sie da gut und geben mir bestimmt ein Zimmer. Da soll ich warten, bis ich etwas von ihr höre; sie würde mir ein Telegramm schicken mit Anweisungen, was ich tun soll. Ich hatte gerade noch Zeit, meine Sachen zu packen und aus dem Zug zu springen, ehe der wieder losgefahren ist. Das war eine Hetzerei.»
«Wo war der Herr, als Mrs Kettering Ihnen diese Anweisungen gab?»
«Der war in dem anderen Abteil, Sir, und hat aus dem Fenster gesehen.»
«Können Sie ihn uns beschreiben?»
«Also, wissen Sie, Sir, ich habe ihn kaum gesehen. Die meiste Zeit hat er mir den Rücken zugedreht. Er war groß und dunkelhaarig; mehr kann ich nicht sagen. Einfach wie jeder andere Gentleman mit dunkelblauem Mantel und grauem Hut.»
«War er einer der Fahrgäste des Blauen Express?» «Das glaube ich nicht, Sir. Ich hatte den Eindruck, er ist zum Bahnhof gekommen, um Mrs Kettering auf der Durchreise zu sehen. Er kann aber auch einer der Fahrgäste gewesen sein, daran habe ich vorher nicht gedacht.»
Mason schien ein wenig verwirrt von diesem Gedanken.
«Ah!» Monsieur Carrege ging elegant zu einem anderen Thema über. «Ihre Herrin hat später den Schaffner gebeten, sie am Morgen nicht früh zu wecken. Halten Sie das bei ihr für ungewöhnlich?»
«Überhaupt nicht, Sir. Die gnädige Frau hat nie gefrühs-tückt und nachts meistens schlecht geschlafen, deshalb ist sie morgens gern länger liegen geblieben.»
Wieder wechselte Carrege das Thema.
«Beim Handgepäck war eine rote Lederschatulle, nicht wahr?», fragte er. «Das Schmuckköfferchen Ihrer Herrin?»
«Ja, Sir.»
«Haben Sie diese Schatulle mit ins Ritz genommen?»
«Ich soll die Schmuckkassette der gnädigen Frau ins Ritz mitgenommen haben? Also, nein, wirklich nicht, Sir.» Mason klang ganz entsetzt.
«Sie haben sie im Abteil gelassen?»
«Ja, Sir.»
«Wissen Sie, ob Ihre Herrin viel Schmuck dabeihatte?»
«Ziemlich viel, Sir. Mir war deshalb manchmal ein bisschen mulmig, kann ich Ihnen sagen, wo man so schlimme Geschichten hört, dass man im Ausland beklaut wird. Ich weiß ja, die waren versichert, aber trotzdem ist mir das ziemlich riskant vorgekommen. Allein die Rubine, hat die gnädige Frau gesagt, wären einige hunderttausend Pfund wert.»
«Die Rubine! Was für Rubine?», bellte Van Aldin plötzlich.
Mason wandte sich an ihn. «Ich glaube, Sie waren das doch, Sir, von dem sie sie erst neulich gekriegt hat.»
«Um Gottes willen!», rief Van Aldin. «Sie wollen doch nicht etwa sagen, sie hätte die Rubine bei sich gehabt? Ich habe ihr gesagt, sie soll sie in der Bank lassen.»
Mason hüstelte diskret, was für sie offenbar zu ihren Pflichten als Zofe einer Lady gehörte. Diesmal drückte das Hüsteln eine ganze Menge aus. Viel deutlicher, als Worte dies gekonnt hätten, sagte es, dass Masons Herrin eine Dame gewesen sei, die ihren eigenen Kopf durchsetzte.
«Ruth muss verrückt gewesen sein», murmelte Van Aldin. «Was kann sie da bloß geritten haben?»
Nun hustete zur Abwechslung Monsieur Carrege, und wieder war es ein bedeutungsvolles Husten. Es lenkte Van Aldins Aufmerksamkeit auf ihn.
«Im Moment», sagte Carrege, an Mason gewandt, «war das wohl alles. Wenn Sie sich bitte ins Nebenzimmer begeben, Mademoiselle, wird man Ihnen die Fragen und Antworten vorlesen, und Sie werden es bitte unterschreiben.»
Mason ging hinaus, begleitet vom Schreiber, und Van Aldin wandte sich sofort an den Untersuchungsrichter:
«Also?»
Monsieur Carrege öffnete eine Schublade seines Schreibtischs, nahm einen Brief heraus und reichte ihn Van Aldin.
«Dies hier fand sich in der Handtasche von Madame.»
Chere Amie (begann der Brief) — ich will dir gehorchen. Ich werde umsichtig sein, diskret — alles, was ein Liebender am meisten hasst. Paris wäre vielleicht unklug gewesen, aber die Isles d’ Or liegen fernab von der Welt, und du darfst sicher sein, dass nichts durchsickern wird. Es passt zu dir und deinem göttlichen Einfühlungsvermögen, dass du dich so für das Werk über berühmte Edelsteine interessierst, an dem ich schreibe. Es wäre wahrlich ein außerordentliches Privileg diese historischen Rubine tatsächlich zu sehen und in der Hand zu halten. Dem Feuerherzen widme ich einen besonderen Abschnitt. Meine wunderbare Geliebte! Bald werde ich dich entschädigen für all diese traurigen Jahre der Trennung und der Leere. — Immer in Liebe und Anbetung dein Armand