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Der Comte de la Roche hatte soeben sein dejeuner beendet, das aus einer omelette fines herbes, einem entrecote Bearnaise und einem Savarin au Rhum bestanden hatte. Er tupfte mit der Serviette geziert seinen feinen schwarzen Schnurrbart ab und erhob sich von der Tafel. Als er den Salon der Villa durchquerte, registrierte er mit Wohlgefallen die wenigen objets d’art, die achtlos im Raum verteilt waren: die Louis-XV.-Schnupftabaksdose, den Satinschuh, den Marie Antoinette getragen hatte, und die übrigen historischen Kleinigkeiten, die zur mise en scene des Comte gehörten. Seinen schönen Besucherinnen pflegte er zu erzählen, es handle sich um Familienerbstücke. Er trat auf die Terrasse und sah zerstreut auf das blaue Meer hinaus. Er war nicht in der Stimmung, die Schönheit der Landschaft zu würdigen. Man hatte seinen ausgereiften Plan roh zunichte gemacht, und er musste alles wieder von neuem austüfteln. In einem Korbsessel ausgestreckt, eine Zigarette zwischen den weißen Fingern, versank der Comte in tiefes Grübeln.
Hippolyte, sein Diener, brachte den Kaffee und einige Flaschen zur Wahl. Der Comte entschied sich für einen sehr feinen alten Brandy.
Als der Diener sich eben entfernen wollte, hielt der Comte ihn durch eine knappe Geste zurück. Hippolyte stand ehrerbietig stramm. Er hatte kein besonders einnehmendes Gesicht, aber seine korrekte Haltung trug viel dazu bei, diese Tatsache geschickt zu verbergen. Er war nun das Bild ehrerbietiger Aufmerksamkeit.
«Es ist möglich», sagte der Comte, «dass in den nächsten Tagen verschiedene Fremde ins Haus kommen. Sie werden versuchen, mit Ihnen und Marie Bekanntschaft zu schließen. Wahrscheinlich werden sie Ihnen einiges an Fragen über mich stellen.»
«Ja, Monsieur le Comte.»
«Vielleicht ist das bereits geschehen?»
«Nein, Monsieur le Comte.»
«Es sind keine Fremden hier gewesen? Sind Sie sicher?»
«Es war niemand hier, Monsieur le Comte.»
«Das ist gut», sagte der Comte trocken, «aber sie werden kommen — dessen bin ich sicher. Sie werden Fragen stellen.»
Hippolyte sah seinen Herrn mit verständiger Erwartung an.
Der Comte sprach langsam, ohne Hippolyte anzusehen.
«Wie Sie wissen, bin ich hier am vorigen Dienstag morgens angekommen. Sollte die Polizei oder sonst jemand Sie fragen, dann vergessen Sie das nicht. Ich bin Dienstag, den Vierzehnten angekommen — nicht Mittwoch, dem Fünfzehnten. Verstehen Sie?»
«Vollkommen, Monsieur le Comte.»
«In einer Affäre, von der eine Dame betroffen ist, muss man immer diskret sein. Ich bin überzeugt, Hippolyte, dass Sie diskret sein können.»
«Ich kann diskret sein, Monsieur le Comte.»
«Und Marie?»
«Marie ebenfalls. Ich verbürge mich für sie.»
«Dann ist es gut», murmelte der Comte.
Als Hippolyte gegangen war, schlürfte der Comte nachdenklich seinen schwarzen Kaffee. Zuweilen runzelte er die Stirn, einmal schüttelte er ein wenig den Kopf, zweimal nickte er. Inmitten dieser Erwägungen erschien Hippolyte abermals.
«Eine Dame, Monsieur.»
«Eine Dame?»
Der Comte war überrascht. Nicht, dass Damenbesuch etwas Ungewöhnliches in der Villa Marina gewesen wäre, aber in diesem Moment hatte der Comte keine Ahnung, wer die Dame wohl sein mochte.
«Es ist, glaube ich, keine Dame, die Monsieur bereits kennt», murmelte der Diener hilfsbereit.
Der Comte zeigte sich nun stärker interessiert.
«Bringen Sie sie hierher, Hippolyte», befahl er.
Einen Augenblick später trat eine herrliche Erscheinung in Orange und Schwarz auf die Terrasse, und mit ihr schwebte ein starker Duft exotischer Blüten herein.
«Monsieur le Comte de la Roche?»
«Zu Ihren Diensten, Mademoiselle», sagte der Comte mit einer Verbeugung.
«Mein Name ist Mirelle. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört?»
«Ah, selbstverständlich, Mademoiselle, wer wäre denn nicht hingerissen von Mademoiselle Mirelles Tanzkunst? Exquisit!»
Die Tänzerin quittierte das Kompliment mit einem kurzen, mechanischen Lächeln.
«Ich überfalle Sie ganz formlos», begann sie.
«Aber nehmen Sie doch Platz, Mademoiselle», rief der Comte; er holte einen Sessel herbei.
Unter seiner Maske von Galanterie beobachtete er sie scharf. Es gab nur wenig, was der Comte nicht über Frauen wusste. Allerdings beliefen sich seine Erfahrungen weniger auf Damen der Klasse von Mirelle, die selbst zu einer Art Raubtiergattung zählten. Er und die Tänzerin waren gewissermaßen aus dem gleichen Holz geschnitzt. Seine Künste, das wusste der Comte sehr wohl, wären an Mirelle vergeudet. Sie war eine Pariserin, und eine raffinierte dazu. Eines jedoch erkannte der Comte unfehlbar, er saß einer sehr zornigen Frau gegenüber, und der Com-te wusste sehr wohl, dass eine zornige Frau immer mehr sagt, als klug wäre, und dass zuweilen ein beherrschter Gentleman Nutzen aus einer solchen Frau ziehen kann.
«Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Mademoiselle, meine bescheidene Unterkunft in dieser Weise zu ehren.»
«Wir haben in Paris gemeinsame Bekannte», sagte Mi-relle, «die mir von Ihnen erzählt haben, aber ich bin heute aus einem anderen Grund zu Ihnen gekommen. Seit ich in Nizza bin, habe ich einiges über Sie gehört — in einem anderen Zusammenhang, wissen Sie.»
«Ah?», sagte der Comte sanft.
«Ich will sehr direkt mit Ihnen sein», fuhr die Tänzerin fort, «aber glauben Sie mir, Ihr Wohl liegt mir am Herzen. Man erzählt sich in Nizza, Monsieur le Comte, dass Sie der Mörder dieser englischen Lady seien, Madame Kettering.»
«Ich! — Madame Ketterings Mörder? Bah, wie absurd!»
Er sprach eher gelangweilt als empört, da er wusste, dass das sie zum Weitersprechen provozieren würde.
«Aber ja», beharrte sie, «es ist so, wie ich es Ihnen sage.»
«Die Leute tratschen eben gern», murmelte der Comte ungerührt. «Es wäre unter meiner Würde, solche wilden Anschuldigungen ernst zu nehmen.»
«Sie haben es nicht richtig verstanden.» Mirelle beugte sich vor, ihre schwarzen Augen funkelten. «Es geht nicht um müßiges Geschwätz auf der Straße. Es geht um die Polizei.»
«Die Polizei — ah?»
Der Comte setzte sich auf, nun wieder in voller Aufmerksamkeit.
Mirelle nickte mehrmals nachdrücklich. «Ja, ja. Verstehen Sie — ich habe überall Freunde. Der Präfekt selbst.» Sie beendete den Satz durch ein beredtes Schulterzucken.
«Wer wäre einer schönen Frau gegenüber nicht indiskret?», murmelte der Comte höflich.
«Die Polizei glaubt, dass Sie Madame Kettering umgebracht haben. Aber die Polizei irrt sich.»
«Natürlich irrt sie sich», stimmte der Comte gelassen zu.
«Das sagen Sie, aber die Wahrheit kennen Sie nicht. Ich dagegen kenne sie.»
Der Comte sah sie neugierig an.
«Sie wissen, wer Madame Kettering ermordet hat? Ist es das, was Sie sagen wollen, Mademoiselle?»
Mirelle nickte lebhaft.
«Ja.»
«Wer war es?», fragte der Comte scharf.
«Ihr eigener Gatte.» Sie beugte sich vor und sprach mit leiser, vor Wut und Aufregung zitternder Stimme. «Ihr Mann hat sie getötet.»
Der Comte lehnte sich im Sessel zurück. Sein Gesicht war eine Maske.
«Darf ich fragen, Mademoiselle, woher Sie das wissen?»
«Woher ich das weiß?» Mirelle sprang mit einem Lachen auf. «Er hat vorher schon damit geprahlt. Er war ruiniert, bankrott, am Ende. Nur der Tod seiner Frau konnte ihn retten. Das hat er mir selbst gesagt. Er hat den gleichen Zug genommen — aber das durfte sie nicht wissen. Warum? frage ich. Damit er sich in der Nacht über sie hermachen konnte!» Sie schloss die Augen. «Ich sehe die Szene vor mir.»
Der Comte hüstelte.
«Möglich — möglich», murmelte er. «Aber in diesem Fall, Mademoiselle, würde er doch nicht die Juwelen stehlen.»
«Die Juwelen!», hauchte Mirelle. «Die Juwelen. Ah, diese Rubine.»
Ihre Augen verschleierten sich, ein fernes Licht leuchtete in ihnen. Der Comte schaute sie neugierig an und staunte zum hundertsten Mal, welch magische Macht Edelsteine über das weibliche Geschlecht hatten. Dann rief er sie in die Realität zurück.
«Was wollen Sie von mir, Mademoiselle?»
Mirelle wurde wieder aufmerksam und sachlich.
«Das ist doch ganz einfach. Sie gehen zur Polizei. Sie sagen denen, dass Monsieur Kettering das Verbrechen begangen hat.»
«Und wenn man mir nicht glaubt? Wenn man Beweise von mir verlangt?» Er musterte sie aufmerksam.
Mirelle lachte leise und zog die schwarz-orange Hülle enger.
«Dann schicken Sie die Polizei zu mir, Monsieur le Comte», sagte sie sanft, «ich werde ihr die Beweise geben, die sie verlangt.»
Damit verschwand sie, ein stürmischer Wirbelwind, sie hatte ihre Aufgabe erledigt.
Der Comte sah ihr nach, die Brauen zierlich gehoben.
«Sie ist in Rage», murmelte er. «Was mag sie nur derart aufgebracht haben? Aber sie zeigt ihre Karten zu offen. Glaubt sie wirklich, dass Monsieur Kettering seine Frau getötet hat? Sie will, dass ich es glaube. Sie möchte sogar, dass die Polizei es glaubt.»
Er lächelte. Er hatte nicht die geringste Absicht, zur Polizei zu gehen. Er sah verschiedene andere Möglichkeiten — seinem Lächeln nach ein hübsches Panorama von Möglichkeiten.
Gleich darauf zog allerdings ein Schatten über sein Gesicht. Mirelle zufolge verdächtigte die Polizei ihn. Das mochte stimmen oder nicht. Eine zornige Frau vom Typ der Tänzerin würde sich nicht gerade um die Wahrhaftigkeit ihrer Erklärungen sorgen. Andererseits mochte sie durchaus Informationen aus erster Hand erhalten haben. In diesem Fall — sein Mund wurde zu einer grimmigen Linie —, in diesem Fall musste er gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Er ging ins Haus und befragte Hippolyte abermals eingehend, ob wirklich keine Fremden da gewesen seien. Der Diener versicherte ihm ganz fest, dies sei nicht der Fall gewesen. Der Comte ging in sein Schlafzimmer hinauf zum alten Schreibtisch, der dort an der Wand stand. Er klappte ihn auf, und seine flinken Finger suchten nach einer Feder hinten in einem bestimmten Fach. Eine geheime Schublade sprang heraus, darin lag ein kleines Päckchen in braunem Packpapier. Der Comte nahm es heraus und wog es ein paar Momente in der Hand. Dann hob er die Hand an den Kopf und riss sich mit einer kleinen Grimasse ein einzelnes Haar aus. Er legte es auf den Rand der Schublade und verschloss sie sorgfältig wieder. Mit dem Päckchen in der Hand ging er nach unten und aus dem Haus zur Garage, wo ein roter Zweisitzer stand. Zehn Minuten später war er unterwegs nach Monte Carlo.
Er verbrachte ein paar Stunden im Casino und schlen-derte dann in die Stadt. Bald stieg er wieder ins Auto und fuhr davon in Richtung Menton. Schon am Nachmittag war ihm in einiger Entfernung hinter ihm ein unscheinbarer grauer Wagen aufgefallen. Jetzt bemerkte er ihn wieder. Er lächelte vor sich hin. Die Straße stieg steil an. Der Fuß des Comte senkte sich auf das Gaspedal. Der kleine rote Wagen, eigens nach den Wünschen des Comte gebaut, hatte einen viel stärkeren Motor, als man vom Augenschein her angenommen hätte. Das Auto schoss vorwärts.
Er schaute zurück und lächelte, der graue Wagen folgte ihm. Von Staub bedeckt flog das kleine rote Auto über die Straße dahin. Inzwischen war das Tempo gefährlich geworden, aber der Comte war ein erstklassiger Fahrer. Nun ging es bergab, Biegungen und Serpentinen folgten aufeinander. Irgendwann wurde der Wagen langsamer und kam schließlich vor einem kleinen Bureau de Poste zum Stehen. Der Comte sprang hinaus, hob den Deckel des Kofferraums, nahm das kleine braune Paket heraus und eilte ins Postamt. Zwei Minuten später fuhr er weiter in Richtung Menton. Als der graue Wagen dort ankam, trank der Comte auf der Terrasse eines der dortigen Hotels einen englischenfive o’clock tea.
Später fuhr er zurück nach Monte Carlo, speiste dort und war gegen elf Uhr wieder zu Hause. Hippolyte kam heraus, um ihn mit einem verstörten Gesicht zu begrüßen.
«Ah! Monsieur le Comte ist wieder da. Monsieur le Comte hat mich heute Nachmittag nicht zufällig angerufen?»
Der Comte schüttelte den Kopf.
«Und trotzdem habe ich um drei Uhr von Monsieur le Comte die Weisung erhalten, mich bei ihm in Nizza im Negresco einzufinden.»
«Ah ja?», sagte der Comte. «Und Sie sind hingefahren?»
«Natürlich, Monsieur, aber im Negresco wusste niemand etwas von Monsieur le Comte. Er war nicht da gewesen.»
«Ah», sagte der Comte, «und zu dieser Zeit hat Marie wohl gerade ihre Nachmittagseinkäufe gemacht?»
«So ist es, Monsieur le Comte.»
«Nun ja», sagte der Comte, «es hat keine Bedeutung. Ein Irrtum.»
Er ging die Treppe hinauf, dabei lächelte er vor sich hin.
In seinem Schlafzimmer angelangt, verriegelte er die Tür und sah sich aufmerksam um. Alles schien wie gewöhnlich. Er öffnete verschiedene Schubladen und Schränke. Dann nickte er. Man hatte alles fast genauso wieder hingestellt, wie er es hinterlassen hatte, aber nicht ganz. Offenbar hatte man eine sehr gründliche Durchsuchung vorgenommen.
Er ging zum Schreibtisch und drückte die verborgene Feder. Die Geheimlade sprang auf, aber das Haar war nicht mehr da, wo er es hingelegt hatte. Er nickte mehrmals.
«Sie sind vorzüglich, unsere französischen Polizisten», murmelte er vor sich hin, «vorzüglich. Ihnen entgeht nichts.»