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Monsieur Papopoulos frühstückte. Ihm gegenüber saß seine Tochter Zia.
Es klopfte an die Salontür, und ein Page trat mit einer Visitenkarte ein, die er Monsieur Papopoulos brachte. Dieser studierte sie eingehend, hob die Brauen und reichte sie seiner Tochter.
«Ah!», sagte Monsieur Papopoulos, dabei kratzte er sich versonnen das linke Ohr. «Hercule Poirot. Ich frage mich.»
Vater und Tochter sahen einander an.
«Gestern habe ich ihn beim Tennis gesehen», sagte Monsieur Papopoulos. «Zia, das gefällt mir gar nicht.»
«Er hat dir einmal einen Dienst erwiesen», erinnerte ihn seine Tochter.
«Das ist wahr», bestätigte Papopoulos, «außerdem hat er sich ins Privatleben zurückgezogen, wie es heißt.»
Diese Worte waren in der Muttersprache der beiden gewechselt worden. Jetzt wandte sich Monsieur Papopou-los an den Pagen und sagte auf Französisch:
«Faites monter ce monsieur.»
Ein paar Minuten später trat Hercule Poirot ein, vorzüglich gekleidet, dabei schwang er munter seinen Stock.
«Mein lieber Monsieur Papopoulos.»
«Mein lieber Monsieur Poirot.» «Und Mademoiselle Zia.» Poirot verbeugte sich tief.
«Sie werden verzeihen, wenn wir unser Frühstück beenden», sagte Papopoulos; er goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein. «Ihr Besuch ist — ahemm! — ein wenig früh.»
«Skandalös früh», sagte Poirot, «aber ich bin in Eile, müssen Sie wissen.»
«Ah!», murmelte Papopoulos. «Sie kommen also in Geschäften?»
«In sehr ernsten Geschäften», sagte Poirot. «Es handelt sich um den Tod von Madame Kettering.»
«Einen Augenblick, bitte.» Monsieur Papopoulos schaute unschuldig zur Decke empor. «War das die Dame, die im Blauen Express gestorben ist? Ich habe eine Notiz darüber in der Zeitung gesehen, aber da gab es keine Andeutung, dass es ein Verbrechen gewesen sei.»
«Im Interesse der Gerechtigkeit», sagte Poirot, «hielt man es für besser, diese Tatsache zu verschweigen.»
«Und wie kann ich Ihnen behilflich sein, Monsieur Poi-rot?», fragte der Händler nach einer Pause höflich.
«Voilä», sagte Poirot, «ich komme zur Sache.» Aus der Tasche zog er die gleiche Schachtel hervor, die er in Cannes gezeigt hatte, öffnete sie, nahm die Rubine heraus und schob sie Papopoulos über den Tisch zu.
Obwohl Poirot ihn aufmerksam beobachtete, sah er doch keinen Muskel im Gesicht des alten Mannes zucken. Monsieur Papopoulos nahm die Juwelen und untersuchte sie mit einer Art von distanziertem Interesse, dann sah er den Detektiv fragend an.
«Prachtvoll, nicht wahr?», fragte Poirot.
«Ganz ausgezeichnet», sagte Papopoulos.
«Wie viel sind sie Ihrer Ansicht nach wert?»
Im Gesicht des Griechen zuckte es jetzt ein wenig.
«Muss ich Ihnen das wirklich sagen, Monsieur Poirot?», fragte er.
«Sie sind scharfsinnig, Monsieur Papopoulos. Nein, es ist nicht nötig. Fünfhunderttausend Dollar sind sie zum Beispiel nicht wert.»
Papopoulos lachte, und Poirot fiel ein.
«Als Imitation», sagte Papopoulos, indem er Poirot die Steine zurückgab, «sind sie, wie ich schon sagte, ganz ausgezeichnet. Wäre es indiskret zu fragen, Monsieur Poirot, wie Sie zu ihnen gekommen sind?»
«Keineswegs», sagte Poirot, «ich habe nichts dagegen, es einem alten Freund wie Ihnen zu erzählen. Sie befanden sich im Besitz des Comte de la Roche.»
Monsieur Papopoulos’ Augenbrauen hoben sich beredt.
«Tatsächlich», murmelte er.
Poirot beugte sich vor und setzte seine naivste und liebenswürdigste Miene auf.
«Monsieur Papopoulos», sagte er, «ich will meine Karten auf den Tisch legen. Die Originale dieser Juwelen wurden Madame Kettering im Blauen Express gestohlen. Nun möchte ich Ihnen zuerst eines sagen: Ich bin nicht mit der Wiederbeschaffung der Juwelen befasst. Das ist Sache der Polizei. Ich arbeite nicht für die Polizei, sondern für Monsieur Van Aldin. Ich will den Mann in die Hände bekommen, der Madame Kettering getötet hat. Die Steine interessieren mich nur insoweit, als sie mich auf die Spur des Mörders führen können. Verstehen Sie?»
Die letzten beiden Wörter betonte er ganz besonders. Papopoulos sagte ruhig, mit unbewegtem Gesicht:
«Fahren Sie fort!»
«Ich halte es für wahrscheinlich, Monsieur, dass die Steine in Nizza ihren Besitzer wechseln — vielleicht schon gewechselt haben.»
«Ah!», sagte Papopoulos.
Nachdenklich trank er seinen Kaffee und sah noch edler und patriarchalischer aus als sonst.
«Ich sage mir», fuhr Poirot lebhaft fort, «was für ein Glücksfall! Mein alter Freund, Monsieur Papopoulos, ist in Nizza. Er wird mir helfen.»
«Und wie, meinen Sie, kann ich Ihnen helfen?», fragte Papopoulos kalt.
«Ich sagte mir, Monsieur Papopoulos ist zweifellos geschäftlich in Nizza.»
«Keineswegs», sagte Papopoulos, «ich bin aus gesundheitlichen Gründen hier — auf Weisung meines Arztes.»
Er hustete hohl.
«Ich bin untröstlich, das zu hören», sagte Poirot mit unaufrichtigem Mitgefühl. «Aber fahren wir fort. Wenn ein russischer Großherzog, eine österreichische Erzherzogin oder ein italienischer Fürst ihren Familienschmuck zu veräußern wünschen — zu wem gehen sie? Zu Monsieur Papopoulos, nicht wahr? Zu ihm, der aufgrund der Diskretion, mit der er solche Geschäfte abwickelt, Weltruf genießt.»
Der andere verneigte sich.
«Sie schmeicheln mir.»
«Diskretion ist etwas Großes», sann Poirot und wurde durch ein flüchtiges Lächeln belohnt, das über das Gesicht des Griechen zog. «Auch ich kann diskret sein.»
Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich.
Dann fuhr Poirot langsam fort, wobei er offensichtlich jedes Wort sorgsam wählte:
«Ich sage mir ferner: Wenn diese Steine in Nizza ihren Besitzer gewechselt haben, hätte Monsieur Papopoulos davon gehört. Er weiß alles, was in der Welt edler Steine geschieht.»
«Ah!», sagte Papopoulos; er nahm ein Croissant.
«Die Polizei, verstehen Sie», sagte Poirot, «hat mit der Sache nichts zu tun. Es ist eine Privatangelegenheit.»
«Man hört Gerüchte», gab Papopoulos vorsichtig zu.
«Zum Beispiel?», sagte Poirot.
«Hätte ich denn einen Grund, sie weiterzugeben?»
«Ja», sagte Poirot, «ich glaube, es gibt einen. Sie werden sich vielleicht erinnern, Monsieur Papopoulos, dass sich vor siebzehn Jahren ein gewisser Wertgegenstand in Ihren Händen befand, den eine sehr — hm — prominente Person als Sicherheit bei Ihnen hinterlegt hatte. Sie waren für das Stück verantwortlich, und es verschwand auf unerklärliche Weise. Sie saßen, wenn ich diese englische Wendung benutzen darf, damals in der Suppe.»
Er warf einen freundlichen Blick auf das Mädchen. Sie hatte Tasse und Teller beiseite geschoben und lauschte gespannt, mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die Hände gestützt. Er behielt sie im Auge und fuhr fort:
«Zu dieser Zeit bin ich in Paris. Sie lassen mich holen. Sie begeben sich in meine Hände. Wenn ich Ihnen diesen Gegenstand wieder beschaffe, sagen Sie, erringe ich mir Ihre unsterbliche Dankbarkeit. Eh bien! Ich habe es Ihnen zurückgebracht.»
Ein langer Seufzer kam von Monsieur Papopoulos.
«Es war der unangenehmste Moment meiner Laufbahn», murmelte er.
«Siebzehn Jahre sind eine lange Zeit», sagte Poirot nachdenklich, «aber ich glaube, ich kann mit Recht sagen, dass ein Mann Ihres Volks nicht vergisst.»
«Ein Grieche?», murmelte Papopoulos mit einem ironischen Lächeln.
«Ich habe nicht den Griechen gemeint», sagte Poirot.
Einige Augenblicke herrschte Schweigen, dann richtete sich der alte Mann stolz auf.
«Sie haben Recht, Monsieur Poirot», sagte er ruhig. «Ich bin Jude. Und, wie Sie sagen, unser Volk vergisst nicht.»
«Sie werden mir also helfen?»
«Was die Juwelen angeht, Monsieur, kann ich nichts tun.»
Der alte Mann wählte seine Worte ebenso sorgfältig wie zuvor Poirot.
«Ich weiß nichts. Ich habe nichts gehört. Aber vielleicht kann ich Ihnen einen Gefallen tun — vorausgesetzt, Sie interessieren sich für Pferderennen.»
«Unter gewissen Umständen könnte ich mich dafür interessieren», sagte Poirot; er musterte ihn ruhig.
«In Longchamps läuft zurzeit ein Pferd, das der Aufmerksamkeit wert wäre, glaube ich. Ich kann nichts mit Gewissheit sagen, verstehen Sie, diese Nachricht ist durch so viele Hände gegangen.»
Er hielt inne und fixierte Poirot mit den Augen, als wolle er sich versichern, dass der andere ihn wirklich verstand.
«Ich verstehe vollkommen», sagte Poirot und nickte.
«Der Name des Pferdes», sagte Monsieur Papopoulos, dabei lehnte er sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, «ist Marquis. Ich glaube, dass es ein englisches Pferd ist, bin mir dessen aber nicht ganz sicher. Was meinst du, Zia?»
«Ich glaube, ja», sagte das Mädchen.
Poirot erhob sich jäh.
«Ich danke Ihnen, Monsieur», sagte er. «Es ist etwas Wundervolles, einen, wie die Engländer sagen, Tipp aus den Ställen zu bekommen. Au revoir, Monsieur, und vielen Dank.»
Er wandte sich dem Mädchen zu.
«Au revoir, Mademoiselle Zia. Es ist mir, als ob ich Sie erst gestern in Paris gesehen hätte. Man könnte meinen, es seien höchstens zwei Jahre vergangen.»
«Und doch ist ein Unterschied zwischen sechzehn und dreiunddreißig», sagte Zia melancholisch.
«In Ihrem Fall nicht!», erklärte Poirot galant. «Ob Sie und Ihr Herr Vater vielleicht an einem der nächsten Abende mit mir speisen würden?»
«Es wird uns ein Vergnügen sein», antwortete Zia.
«Dann werden wir das arrangieren», erklärte Poirot, «und nun —je me sauve.»
Poirot ging die Straße hinab und summte vor sich hin. Munter zwirbelte er seinen Stock, ein- oder zweimal lächelte er bei sich. Er betrat das erste Bureau de Poste, an dem er vorbeikam, und gab ein Telegramm auf. Für den Wortlaut brauchte er eine Weile, denn es war in einem Code abgefasst, und er musste sein Gedächtnis bemühen. Das Telegramm ließ sich über eine verloren gegangene Krawattennadel aus. Es war an Inspektor Japp, Scotland Yard, gerichtet.
Entschlüsselt war es jedoch knapp und sachlich.
«Kabeln Sie mir alles, was über einen Mann mit dem Spitznamen Marquis bekannt ist.»