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Der nach dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry benannte Flughafen von Lyon war in den späten Abendstunden fast menschenleer. Francis Roundell lächelte. Seit Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Mit Lyon verbanden ihn viele angenehme Erinnerungen. Während seiner Dienstzeit in der für Kreditkartenbetrug zuständigen Abteilung bei Interpol war er von hier aus zu vielen interessanten Reisen rund um die Welt losgeflogen. Der Umzug Interpols von Paris nach Lyon hatte letztendlich seinen wichtigsten Karrieresprung herbeigeführt. Wäre er nicht nach Lyon gegangen, hätte er nie den Kontakt zum Auktionshaus Christie’s bekommen. Im Rahmen einer weltweiten Interpol-Ermittlung gegen eine vornehmlich von Saudi-Arabien aus operierende Kreditkartenbetrügerorganisation, die vor allem Kunsthändler schädigte, war der Kontakt zu Christie’s in London entstanden. Schon sechs Monate später hatte man ihm die Position des Sicherheitschefs bei dem renommierten Auktionshaus angeboten. Da er dort seine private Passion für Kunsthandel mit seinen hervorragenden weltweiten Kontakten zu nationalen Polizeibehörden optimal verbinden konnte, füllte ihn diese Tätigkeit für Christie’s ganz und gar aus und machte ihm viel Freude. Nur die finanziellen Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit ließen zu wünschen übrig, aber das würde sich ja bald ändern.
Knapp dreißig Minuten nach der Landung stieg er bereits vor dem direkt an der Rhône gelegenen Hotel Bellecour aus dem Taxi. Die Bäume der Allee entlang des Quai Gailleton vor dem hässlichen quadratischen Hotelbau mit seinen acht Stockwerken bogen sich unter starken Windböen. Nur noch einige wenige Blätter hingen an den Platanen. Er schaute auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Er war etwas spät dran.
»Bonsoir«, grüßte er den Portier und bat ihn, sein Gepäck direkt auf sein reserviertes Zimmer zu bringen, denn er war im Restaurant Les Trois Domes verabredet. Entgegen seiner Erwartung saß Bernhard Kleimann nicht im Restaurant in der achten Etage. Der modern-luxuriöse Speiseraum war auffallend leer. Durch die riesigen Fensterwände hindurch genoss Francis Roundell einen kurzen Blick über die Stadt. Die vier Türme des nahen Doms erstrahlten im Scheinwerferlicht. In den dunklen Fluten der Rhône spiegelten sich die Häuser der gegenüberliegenden Vergnügungsmeile der Stadt.
Seinen ehemaligen Kollege und langjährigen Freund Bernhard fand Francis in der Cocktailbar Le-Melhor direkt neben dem Restaurant. Er war der einzige Gast. Gedankenversunken saß der korpulente Mann mit dem Rücken zur Bar und stierte aus dem Fenster. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein. Er war froh, seinen ehemaligen Kollegen wieder einmal zu sehen. Über die Jahre hinweg hatte sich ihre Freundschaft aus alten Zeiten als sehr hilfreich erwiesen. Bernie saß bei Interpol in exponierter Position. Er hatte Zugang zu allen Computern und Informationssystemen und konnte ihm damit manchmal sensible Polizeiinformationen zukommen lassen. Als Gegenleistung hatte er Bernie dafür auch hin und wieder über seine Kontakte zum internationalen Kunstmarkt bei polizeilichen Ermittlungen helfen können. Dieses Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip funktionierte hervorragend. Als Freunde vertrauten sie sich und gingen entsprechend vorsichtig mit den oftmals brisanten Daten um.
»Bernie, du alter Terrorist! Was schaust du denn so trübsinnig drein?«, begrüßte er den Interpol-Beamten lachend. Bernhard Kleimann zuckte zusammen, rutschte ungelenk vom Barhocker und umarmte Francis Roundell geradezu stürmisch.
»Mensch, Alter, ist das schön, dich mal wieder zu sehen. Gut schaust du aus! Scheinst den großen Stich gemacht zu haben mit deinem Auktionshaus. Ist ja ein richtiger edler Zwirn, den du da anhast! Wohl kein Anzug von der Stange, was?«
Der Blick des korpulenten Deutschen heftete sich auf die Schuhe seines ehemaligen Kollegen. »Na, sauber! Sehe ich da Maßschuhe an den Füßen des edlen Herrn?«
Francis Roundell blickte verunsichert hinüber zu dem Barkeeper, der die Begrüßungszeremonie seiner beiden einzigen Gäste lächelnd beobachtete.
»Komm, hör auf, mich hier zu blamieren! Lass uns lieber rüber in die Ecke am Fenster gehen und unser Wiedersehen feiern. Mensch, Bernie, ich freue mich so, dich zu sehen! Sind viele Jahre vergangen, seit wir das letzte Mal hier an der Bar saßen …«
Beide Männer setzten sich an das große Fenster und bestellten eine Flasche Rotwein. Die guten Freunde redeten über ihre gemeinsamen schönen Zeiten bei Interpol in Paris, besonders aber über die enormen Veränderungen innerhalb der Organisation nach dem Umzug im Jahre 1989 nach Lyon.
»Weiß du, Francis«, resümierte Bernhard Kleimann nach gut einer halben Stunde, »nichts ist mehr so, wie es einst war! Ich kann dir nur sagen, dass es sehr klug war, dir einen Job in der Privatwirtschaft zu suchen. Aus dem alten Interpol ist eine grauenhaft bürokratisierte, lahme Ente geworden! Mit Verbrechensbekämpfung hat meine Tätigkeit kaum mehr was zu tun. Ich schiebe Akten hin und her, mehr nicht! Seit Europa so rasant wächst, gewinnt Europol eine immer größere Bedeutung. Die sind einfach effizienter und leiden nicht unter diesen wahnwitzigen politischen Rücksichtnahmen, die seit jeher Interpol zu einem Adler mit gestutzten Flügeln machen. Den großen polizeilichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, dem Rauschgifthandel und dem Terrorismus, hat Interpol nichts entgegenzusetzen. Solange diese unrühmliche Resolution aus alten Zeiten vorschreibt, dass der politische Charakter von Straftaten im nationalstaatlichen Ermessen liegt, bleibt Interpol eine reine Verwaltungsbehörde. Du weißt ja, die Interpol-Statuten verbieten jede Hilfestellung bei politisch motivierten Delikten, bei militärischen und religiösen Angelegenheiten. Und da gibt es nun einmal zwischen den Mitgliedsstaaten höchst unterschiedliche Interpretationen. Wir sagen, der Typ ist ein Terrorist, und die anderen sagen, er ist ein Freiheitskämpfer, ein Held, dem höchste Ehre gebührt. Das kann ja nichts werden! Ist zwar schön, dass wir jetzt so wunderbare internationale Kommunikationstechniken wie das I-24/7-System haben. Das spart viel Zeit beim weltweiten Austausch von Informationen, aber ohne Exekutivrechte nutzt all das nichts! Wir verwalten das Böse der Welt und informieren quasi all unsere knapp einhundertachtzig Mitgliedsstaaten, dass es das Böse gibt. Aber das war es dann auch schon. Na ja, du kennst die Problematik ja.«
Francis Roundell hatte seinem einstigen Kollegen sehr aufmerksam zugehört. Lange hatte er auf ein Schlüsselwort gewartet, um das Gespräch auf jenes Thema zu lenken, das ihn interessierte und weshalb er extra von London nach Lyon geflogen war. Bei dem Stichwort Terrorismus sah er seine Chance gekommen.
»Deswegen habe ich den Kram damals auch hingeschmissen, Bernie. Als ich neulich las, dass Interpol aus Anlass der Flutkatastrophe in Asien jetzt eine Datenbank für DNS-Profile zur besseren Identifizierung von Vermissten und Toten erstellt, kam mir sofort der Gedanke, dass aus dem, was einmal als weltweit tätige Organisation im Kampf gegen die Kriminalität angedacht worden war, eine karitative Hilfsorganisation geworden ist. Das ist nichts für mich, Bernie! Ich bin noch immer tief in meinem Herzen ein echter Bulle. Aber du weißt ja, entgegen der Darstellungen in vielen Kriminalromanen gibt es nun einmal keine Interpol-Agenten, die Verbrecher rund um die Welt verfolgen. Nicht einmal eine Knarre dürfen die Interpol-Beamten tragen, ohne in den jeweiligen Mitgliedsstaaten freundlichst um Genehmigung fragen zu müssen, und dann wird es meistens abgelehnt. Wozu brauchen sie auch eine Waffe, sie dürfen ja sowieso niemanden festnehmen. Sesselpupser sind es, mehr nicht. Wie gesagt, das ist nichts für mich.«
Francis Roundell sah, wie sein Freund Bernie nachdenklich aus dem Fenster über das hell erleuchtete Lyon starrte. Er wusste, dass auch Bernhard Kleimann ein leidenschaftlicher Kriminalbeamter war, jetzt aber nur noch aus finanziellen und familiären Erwägungen in Lyon blieb. Bernie hatte vier Kinder. Die hohen steuerfreien Auslandszuschläge, die man als Interpol-Beamter erhielt, ließen viele Mitarbeiter dieser Organisation bleiben, obwohl sie die reine Verwaltungstätigkeit hassten. So wie Bernhard, der schon als Kriminalbeamter im einstigen 14. Kommissariat der Kripo in Bonn für politische Delikte zuständig gewesen war, danach ins Terrorismus-Referat des Landeskriminalamtes Düsseldorf und dann als deutscher Verbindungsbeamter für Terrorismus zu Interpol gewechselt war.
»Da wir ja nun schon beim Thema sind, Bernie: Kannst du mir in dieser Sache, die ich am Telefon angedeutet habe, weiterhelfen? Habt ihr da Informationen?«
Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann schaute hinüber zu dem Barkeeper, bevor er antwortete. Der junge Afrikaner hinter der Theke war zu weit weg, um ihr Gespräch belauschen zu können.
»Ja, Francis«, sagte er sehr leise, »da gibt es einige sehr interessante Sachen. Ich brauche dir ja nicht weiter zu erklären, dass ich meinen Job riskiere, wenn du nicht vorsichtig mit dem Material, dass ich dir geben kann, umgehst?«
»Bernie«, war Francis Roundell bestrebt, die Ängste seines Freundes auszuräumen, »du weißt, dass ich Quellenschutz über alles stelle. Du bist mein Freund! Wir kennen uns lange genug und brauchen uns wohl nicht über dieses Thema zu unterhalten.«
»Also gut, Francis …« Bernhard Kleimann zog einen Stapel Dokumente aus seinem Aktenkoffer. »Die beiden Überfälle in Deutschland und Florenz sind so ziemlich das heißeste Thema, das es derzeit bei Interpol gibt! Und nicht nur bei uns! Das deutsche Bundeskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und so ziemlich alle italienischen Polizeibehörden und Geheimdienste sind extrem nervös wegen dieser Sache. Bei Interpol haben sie eine eigene Sonderkommission mit dem Namen Mraksch mit fünf Beamten eingerichtet.«
»Na ja, war ja auch ziemlich brillant, was diese Typen da abgezogen haben«, unterbrach ihn Francis Roundell und ergänzte: »Brillant – und extrem brutal! Das waren eiskalte Typen, die das geplant und durchgeführt haben …«
»Das Verrückte an dieser Sache ist«, flüsterte Bernhard Kleimann, »dass wir alle noch immer nicht genau wissen, ob das nun professionelle Kriminelle waren oder doch Terroristen! Die Tatsache, dass bei beiden Überfällen jeweils nur ein ganz bestimmter Edelstein geraubt wurde, schließt eigentlich die eine Vermutung aus. Die hätten sowohl in Bayern als auch in Florenz Berge von wertvollem Schmuck klauen können! Haben sie aber nicht. Andererseits tun sich meines Wissens so ziemlich alle Nachrichtendienste Europas mit diesem ominösen Bekennerschreiben schwer.«
»Ein Bekennerschreiben?«, unterbrach Francis Roundell seinen Freund erneut. »Erzähl!«
»Nun ja, wenn er denn authentisch ist, dann gibt es einen Bekennerbrief! Er ist auf Arabisch verfasst. Die Typen nennen sich ›Heilige Krieger der Tränen Allahs‹. Von einer solchen Gruppierung hat noch nie irgendein Terrorismusexperte in Europa je gehört. Sie haben den Brief an ein französisches Magazin geschickt. Da stehen allerdings so viele Einzelheiten drin, die nur die Täter wissen können, dass man davon ausgehen kann, dass er authentisch ist. Andererseits faseln die in einer für politisch motivierte islamische Straftäter sehr untypischen Terminologie etwas von der Rückführung der von den Kreuzrittern bei den Kreuzzügen gestohlenen Kulturgüter, die dem arabischen Volk gehören.«
»Das ist wirklich höchst seltsam. Von einer solchen Gruppierung habe ich auch noch nie gehört«, brachte Francis Roundell sein Erstaunen zum Ausdruck.
»Eben!« Bernhard Kleimann schaute kurz auf, schien dann aber das von ihm gesuchte Dokument in dem Stapel der mitgebrachten Papiere gefunden zu haben. »Hier, schau dir das mal an! Wenn die Informationen vom deutschen Bundesnachrichtendienst richtig sind beziehungsweise tatsächlich richtig gedeutet wurden, dann haben sich zwei der Täter nach Marrakesch abgesetzt. Und zwar sehr clever! Die sind mit Ambulanzflügen nach Marokko geflogen.«
Der Interpol-Mann reichte Francis Roundell ein Dokument.
»Hab bitte Verständnis dafür, Francis, dass ich bei der Kopie den Briefkopf des Originalschreibens vom BND weggelassen habe. Das Ding da ist als ›Streng geheim‹ klassifiziert. Wenn man es bei dir finden würde, wäre ich wegen Geheimnisverrats dran! Ich denke, dir reicht der Inhalt des Dokuments. Was die ganze Sache mit diesem vom BND zitierten Buch mit dem Titel Vitrine XIII zu tun hat, weiß ich allerdings nicht! Ist wahrscheinlich ein Code des BND. Weiß der Teufel für was.«
Neugierig überflog Francis Roundell das Dokument. Aus seiner Amtszeit bei Interpol wusste er die Details in den Betreff- und Verteilerzeilen sofort zu deuten. Dieses Schreiben war zum Staatsschutz nach Österreich, an das italienische Innenministerium, an diverse Abteilungen des deutschen Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, aber auch zu seiner großen Verwunderung an die deutsche Botschaft in Rabat gegangen. Plötzlich blieb sein Blick an zwei Namen hängen. Damit hatte er nicht gerechnet. Francis gab das Dokument zurück.
»Scheint so, als seien die beiden Araber, die mit den Ambulanzflügen aus Europa geflohen sind, bereits identifiziert? Glaubt ihr, dass es die Initiatoren der beiden Überfälle oder nur Handlanger waren beziehungsweise sind?«
Auf diese Frage hatte Bernhard Kleimann gewartet. Lächelnd griff er nach seinem Weinglas und prostete seinem alten Freund Francis zu.
»Das werden wohl die Handlanger gewesen sein. Zumindest sind sie weder bei uns noch bei irgendeiner europäischen Ermittlungsbehörde bislang in Erscheinung getreten. Mit den Fingerabdrücken konnten wir nichts anfangen. Es liegen keine Erkenntnisse vor. Die beiden Namen dort sind sicherlich Totalfälschungen. Du siehst also, dass wir alle noch im Dunklen tappen. Aber sobald ich neue Informationen habe, melde ich mich bei dir, Francis. Und jetzt, alter Kumpel, lass uns diese Flasche hier leeren und über die guten alten Zeiten bei Interpol quatschen.«
Knapp zwei Stunden später erhob sich Francis Roundell, Sicherheitschef des Auktionshauses Christie’s, und verabschiedete sich von seinem Freund und einstigen Kollegen mit dem Hinweis darauf, dass er bereits kurz nach sechs zurück nach London fliegen würde. Die kopierten Dokumente, die er von Bernhard Kleimann bekommen hatte, verstaute er in seinem Aktenkoffer. Nach einer sehr herzlichen Verabschiedung verließ Francis Roundell die Bar und fuhr mit dem Aufzug hinab in den vierten Stock. Sein Freund Bernie gab vor, noch die Toilette aufzusuchen.
Kaum dass sich die Aufzugstür hinter Francis Roundell geschlossen hatte, trat Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann wieder in die Bar. Er hatte hinter der Garderobe gewartet, bis sein Freund verschwunden war. Der Barkeeper war gerade dabei, Flasche, Gläser und Aschenbecher abzuräumen.
»Stopp! Lassen Sie alles so stehen, wie es ist!«, befahl er dem mit Entsetzen auf seinen Ausweis starrenden Afrikaner.
»Interpol! Das Glas, die Flasche und der Aschenbecher da sind sichergestellt! Sie sind verpflichtet, über diese Sache hier Stillschweigen zu bewahren!«
Mit routinierten Handgriffen streifte sich Bernhard Kleimann einen Plastikhandschuh über, steckte Glas, Flasche und zwei der Zigarettenfilter von Francis Roundell in eine Plastiktüte und verließ dann die Bar.
»Das darf ich als bürokratisierter Beamter von Interpol zwar nicht«, murmelte er im Aufzug vor sich hin, »aber wenn alle Bullen dieser Welt immer nur das machen würden, was ihnen die Gesetze vorschreiben, dann wäre unsere Welt längst schon im Chaos der Kriminalität und des Terrors untergegangen …«
Um Punkt 23 Uhr 34 französischer Ortszeit verließ er das Hotel Bellecour.
Francis Roundell saß zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Bett in seinem Zimmer. Nervös paffte er eine Zigarette, drückte sie aus und zündete sich eine neue an. Sein Blick fiel auf sein Handy. Es lag nur eine Meldung vor. Jemand hatte versucht, ihn anzurufen. Ohne auf die Nummer des Anrufers zu achten, verließ er sein Zimmer, fuhr hinab zur Rezeption im Erdgeschoss. Er wusste, dass nur wenige Meter vom Hotel entfernt am Quai Gailleton eine öffentliche Telefonzelle stand. Aus seiner Zeit bei der Kripo und bei Interpol wusste er, dass es klüger war, nicht das Telefon im Hotel und schon gar nicht sein eigenes Handy für diesen Anruf zu benutzen. Die Nacht war extrem kühl. Francis Roundell fror. Das Telefonhäuschen war in einem fürchterlichen Zustand. »Hoffentlich funktioniert dieses Ding überhaupt«, schimpfte er vor sich hin und begann, die sehr lange Nummer einzutippen. Nach der Vorwahl 00212 44 brach die Leitung zusammen. Wieder und wieder versuchte er es. Er bibberte vor Kälte und fluchte. Endlich hörte er einen sehr leisen Rufton am anderen Ende. Sein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass es dort jetzt kurz vor 23 Uhr war. Hoffentlich war er da! Eine männliche Stimme krächzte schließlich ein sehr missmutiges »Qui« in den Hörer.
»Ich bin es!«, rief Francis Roundell in den Hörer. Er hoffte, dass er zu hören war und dass der Mann am anderen Ende seine Nachricht verstehen würde, als er leise sagte: »Die Namen der beiden Mitreisenden der letzten Urlaubsreise sind bekannt geworden! Das Ticket nach Wien ist daher nicht mehr gültig. Bitte ein neues Ticket beantragen. Und unbedingt das Buch Vitrine XIII kaufen. Details zu dem Buch habe ich per Mail geschickt. Das Manuskript ist in Wien verfügbar.«
Blitzschnell legte er auf, schaute auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Vierzehn Sekunden hatte er gebraucht! Sehr gut! Kein Satellitenaufzeichnungscomputer dieser Welt würde schnell genug reagieren und diesen Anruf aufzeichnen können. Und selbst wenn die National Security Agency der Amerikaner rein zufällig dieses öffentliche Telefon hier in Lyon oder gar den Anschluss bei ihm im Visier hätte und per Satellitenpeilung mitschneiden würde, die Bedeutung dieser Nachricht würde niemand verstehen! Bis die Amerikaner vielleicht doch Verdacht schöpfen würden, wäre die ganze Aktion längst abgeschlossen.
Zufrieden rannte er durch den einsetzenden Regen zurück ins Hotel. Im Zimmer angekommen, zog er sein Handy hervor und schaute nach, wer versucht hatte, ihn anzurufen.
»Marie-Claire, das ist ja eine nette Überraschung«, sagte er zu sich selbst und wählte die Nummer seiner Mitarbeiterin. Seit zwei Tagen hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Ob Marie-Claire mittlerweile etwas über diesen Gregor von Freysing herausbekommen hatte? Wusste sie bereits, warum dieser Österreicher hinter dem Florentiner her war?
*
Cathrine de Vries saß schweigend in dem Sessel und schaute ihre Schwester mitleidig an. Seit Stunden hörte sie ihr nun schon zu, ohne selbst zu Wort gekommen zu sein. Marie-Claire war in einer solch desolaten Stimmung, dass sie ohnehin nicht gehört hätte, was sie als ihre Schwester zu all diesen Dingen zu sagen hatte. Marie-Claire redete unablässig, rauchte, trank, redete, weinte und schwieg dann immer wieder für lange Zeit. In einem solch fürchterlichen Zustand hatte Cathrine sie noch nie gesehen, und so richtig verstand sie auch noch immer nicht, was der Auslöser für diesen Zusammenbruch gewesen war.
Marie-Claires Handy klingelte. Erstaunt schaute sie erst ihre Schwester Cathrine an und blickte dann auf die Uhr. Es war fast halb eins in der Nacht! Auf dem Display erkannte sie die Nummer ihres Chefs Francis Roundell.
»Auch das noch …«, schluchzte sie. Sie fühlte sich absolut nicht in der Lage, jetzt mit Francis zu reden. Sie hatte selbst vor einigen Stunden, kurz nach der Festnahme, versucht, ihn zu erreichen, in der Hoffnung, er könne ihr in der sehr misslichen Situation helfen. Daher hatte sie nun keine Wahl, als sein Gespräch entgegenzunehmen. Sie holte schnell tief Luft, trank einen Schluck Wein und klappte dann das Handy auf.
»Hallo, Francis! Nett, dass Sie noch so spät in der Nacht anrufen. Ja, soweit ist alles in Ordnung. Es gab nur ein sehr unangenehmes Zusammentreffen mit Beamten von der österreichischen Staatssicherheit.«
Marie-Claire erzählte ihrem Chef von der Festnahme im Kreuzgang der Deutschordenskirche, von ihrer sensationellen Entdeckung im Zusammenhang mit dem Vlies-Orden, erwähnte Gregor von Freysing und erzählte von ihrem Versuch, zu erkunden, ob er zu diesem Orden gehörte. Sie berichtete von den beiden Sicherheitsbeamten, die sie mit vorgehaltener Pistole abgeführt und wie eine Schwerverbrecherin in Handschellen in ein Zimmer des Deutschordens gebracht hatten, wo sie von einer Kollegin der beiden peinlich genau durchsucht worden war.
»Ja, natürlich ich habe denen sofort gesagt, dass ich als freiberufliche Fotografin für das Auktionshaus Christie’s an einer Dokumentation über berühmte Ritterorden in Europa arbeite«, antwortete sie auf Francis’ Frage. »Nein, nein … keine Angst, ich habe nichts von den beiden Sancys gesagt und auch nicht über den Florentiner gesprochen«, schluchzte sie in ihr Handy.
Francis schien nicht sonderlich überrascht, geschweige denn betroffen zu sein. Ungerührt stellte er ihr Fragen, ließ sie reden, hakte nach und schien so gar nicht nachvollziehen zu können, welche Ängste sie hatte durchstehen müssen.
Verdammt noch mal, dachte sie, wie kann ein Mensch nur so gefühlskalt sein? Ich hasse ihn, durchzuckte es sie plötzlich. Ja, ich hasse diese völlig abgeklärte Art vom ihm. Es war nicht das erste Mal, dass sie über diesen Charakterzug von Francis Roundell stolperte. Menschliche Aspekte schienen ihn absolut nicht zu interessieren. Er funktionierte wie ein Uhrwerk: gefühllos, professionell. War das Ergebnis der Arbeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Erachtens erstklassig, gab er sich extrem großzügig und erging sich in Lobeshymnen. Aber das war nur gespielt, eine perfide Art, seinen Leuten eine optimale Leistung abzuverlangen. Für Francis zählte nur das Ergebnis. Die Mittel und Wege waren ihm egal. Mit Vorliebe spielte er den großen Moralisten, den stilvollen Gentleman: charmant, gebildet – jovial! Letztendlich aber war er bereit, für ein Ziel – für sein Ziel – über Leichen zu gehen. Eigentlich, und diese Erkenntnis erschütterte Marie-Claire, eigentlich weißt du das schon lange. Aber du hast es nicht wissen wollen, hast es verdrängt – wie so vieles in deinem Leben.
Dann kam die Frage, die kommen musste. Verlegen hüstelte sie ins Handy. Spontan entschied sie sich zu lügen. Sie log und hatte das Gefühl, lügen zu müssen, als er sie fragte, wieso sie so schnell aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden war.
»Ich habe denen einen Auktionskatalog von Christie’s gezeigt, den ich im Auto hatte. Da stand mein Name im Editorial drin. Und ich habe ihnen außerdem gesagt, dass ich nicht absichtlich in die Kirche eingedrungen, sondern versehentlich dort eingeschlossen worden sei, aber aus reiner Neugierde nicht auf mich aufmerksam gemacht hätte. Das haben sie mir geglaubt und mich dann entlassen.«
Marie-Claire sah, wie ihre Schwester Cathrine die Augen verdrehte und ihr wild gestikulierend einen Vogel zeigte. Sie musste lächeln. Wieder einmal staunte sie darüber, wie unglaublich ähnlich sie sich sahen, besonders, wenn sie lachten. Es war wahrhaftig nicht zu übersehen, dass sie eineiige Zwillingsschwestern waren. Mit heftigen Gesten bedeutete sie ihrer Schwester, sich ruhig zu verhalten. Francis sprach noch immer. Mit Schrecken fiel ihr bei seinen Worten ein, dass sie in drei Tagen im Schloss Charlottenburg in Berlin einen Vortrag über berühmte Edelsteine im Schmuck der preußischen Könige halten musste.
»Ja, Francis, ich habe den Diavortrag noch einmal überarbeitet! Ja, ich werde natürlich nicht auf die beiden gestohlenen Sancys eingehen«, beschwichtigte sie ihn und war froh, dass er wenig später das Telefonat beendete. Sofort begann ihre Schwester wie eine Furie zu schimpfen.
»Bist du total bescheuert? Das war dein Chef! Du kannst doch deinem Chef nicht verheimlichen, was da heute passiert ist! Und schon gar nicht, was vielleicht noch passieren wird!«
Marie-Claire atmete tief durch. Das Gespräch mit Francis Roundell hatte ihr viel Selbstbeherrschung abverlangt, doch das war das Allerletzte, wonach ihr derzeit war. Die Flut von Informationen über die Ritter vom Goldenen Vlies, diese höchst eigentümlichen Verbindungen zwischen den gestohlenen Sancy-Diamanten und dem Florentiner, all das hatte sie in den letzten Tagen mitgerissen, ohne dass sie bisher Zeit gefunden hatte, das alles logisch zu ordnen. Zu Hause stapelten sich mittlerweile Dutzende Bücher und Dossiers über die Diamanten, über den Vlies-Orden, über Karl den Kühnen, Maria de Medici, Marie-Antoinette und über die Habsburger. Zum Lesen war sie aber kaum gekommen. Sie wusste nicht mehr so recht, wo ihr der Kopf stand. Das war vor der Zeremonie der Vlies-Ritter in der Kirche schon so gewesen und das war jetzt, nach den Geschehnissen in der Deutschordenskirche, noch viel schlimmer. Sie war froh, dass sich Cathrine bereit erklärt hatte, sie mitten in der Nacht abzuholen, dass sie heute bei ihr schlafen konnte. Zu allem Überfluss war sie emotional völlig aufgewühlt. Seit Gregor von Freysing zu der Vernehmung durch die Beamten des Staatsschutzes hinzugekommen war, stand ihre Gefühlswelt Kopf. Ja, sie stand Kopf! Marie-Claire ahnte, dass dies erst der Anfang war. Die Worte von Cathrine rissen sie aus ihrer Nachdenklichkeit.
»Du bist schlichtweg zu ehrlich, Schwesterlein! Es ist zum Kotzen! Immer und immer wieder passiert dir das! Das ist zwar ein sehr ehrenwerter und heutzutage höchst seltener Charakterzug, aber irgendwann musst du doch mal lernen, dass Emotionen zwar was Wunderschönes sind, sich aber in den Händen der falschen Männer schnell zu einem Bumerang für dich entwickeln. Am Ende deiner Träumereien von der großen Liebe stand bislang ausnahmslos das Chaos, dein Zusammenbruch! Das hast du nun schon so oft erlebt, und dennoch verfällst du immer wieder in die gleichen Verhaltensweisen, sobald ein auch nur halbwegs passabler Mann am Horizont auftaucht. Langsam zweifle ich an deinem Verstand!«
»Wenn du ihn sehen würdest, Cathi«, unterbrach Marie-Claire ihre Schwester, »wüsstest du, warum ich so durchgeknallt bin, als er plötzlich im Vernehmungszimmer stand. O Gott, was wird er wohl gedacht haben? Ich dämliches Huhn werde vom Staatsschutz wie eine Terroristin abgeführt und durchsucht, stehe halb nackt da im Büro des Deutschordens – und genau in dem Moment kommt er rein und sagt nur einen einzigen Satz: ›Noch immer auf der Suche nach der verlorenen Konzertkarte?‹ Weißt du, Cathi, wie ich mich in diesem Augenblick gefühlt habe? Weißt du das? Du hast keine Ahnung – weil du nicht weißt, wie er mich dabei angeschaut hat! Hast du auch nur annähernd eine Idee, wie puterrot mein Kopf wurde? Mein Herz ist mir aus den Ohren rausgehüpft! Mein Verstand war weg!«
»Ja, ich ahne sehr wohl, dass dein Verstand weg war, Schwesterlein! Sonst hättest du wohl kaum so selten blöde Dinge getan und gesagt, kaum dass er dir mal in die Augen beziehungsweise auf den Hintern geschaut hat.«
Marie-Claire musste plötzlich laut prustend lachen. Sie lachte so gelöst und befreit von den Ängsten der letzten Stunden, dass ihr Tränen aus den Augen kullerten. Die Vorstellung, nach der Durchsuchung durch die Beamtin vom Staatsschutz barfuß, nur mit Rock und BH dagestanden zu haben, als er die Tür öffnete, fand sie plötzlich köstlich.
»Cathi, ich weiß, dass du mich sowieso für verrückt hältst, aber war das nicht toll? War das nicht mutig von mir – dem verklemmten Mäuschen der letzten Jahren?«
Marie-Claire fühlte sich unglaublich wohl, so wie sie jetzt sprach: selbstbewusst, fest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Jetzt, wo plötzlich alle Angst gewichen war, fand sie es umwerfend mutig, wie sie in jenem Augenblick Gregor von Freysing in die Augen geschaut und ganz einfach gesagt hatte: »Ich bin eigentlich nur in die Kirche gekommen, weil ich Sie wieder sehen wollte.«
Und das war die Wahrheit gewesen. Sie wollte ihn wieder sehen.
Marie-Claire traf Gregor Friedrich Albert von Freysing sehr schnell wieder. Am frühen Abend, Punkt halb sechs stand sein dunkelblauer Jaguar vor ihrer Wohnung in der Nähe des Donaukanals. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit dezent grauen Streifen. Die Krawatte passte so perfekt zu seinem Hemd, dass sie endgültig wusste, dass er Stil und Geschmack hatte – und das Geld, sich diesen Stil zu erlauben. Bereits zehn Minuten später, auf der Fahrt in die Innenstadt, gelangte sie zu der Überzeugung, dass er außergewöhnlich charmant und zugleich angenehm zurückhaltend war. Kurz darauf sah sie ihn zum ersten Mal lachen. Er lachte laut und selbstbewusst, und seine Augen glänzten dabei. Es war ein herzliches Lachen. Das wunderschöne Gefühl, das sie bereits bei ihrer ersten Begegnung mit ihm empfunden hatte, war wieder da.
Das Mozart-Kammerkonzert in der Sala Terrena begann um halb acht. Marie-Claire jedoch bekam davon nicht sehr viel mit. Das »Mozart Ensemble«, die vier in historische Gewänder aus dem 18. Jahrhundert gekleideten Musiker, spielte nicht wirklich perfekt, aber sehr engagiert und gefühlsbetont. Die Musik von Haydn, Schubert, Bach und Mozart versetzte sie sehr schnell in eine andere Welt. Als sie wieder auftauchte, wurde Marie-Claire bewusst, dass es erst einen Tag her war, dass sie hier im Gebäude der Deutschordenskirche eine mystische Zeremonie der Vlies-Ritter beobachtet – und dann halb nackt jenem Mann gegenübergestanden hatte, der jetzt neben ihr saß!
Dieser Mann war ein wahrer Gentleman! Er war höflich, hielt ihr die Tür auf, half ihr aus dem Mantel, rückte ihr den Stuhl zurecht, plauderte ungezwungen und unaufdringlich. Die Musikstücke des Kammerorchesters erkannte er schon mit den ersten Tönen. Von Erzbischof Colloredo, in dessen Diensten Mozart im Jahre 1781 gestanden und daher hier in diesem Hause gewohnt hatte, wusste er ebenso viel Interessantes zu erzählen wie von Florenz, von dem er im Restaurant Firenze, nur wenige Schritte von der Deutschordenskirche entfernt, schwärmte. Sie waren nach dem Konzert durch den Nieselregen zu dem Restaurant gegangen. Sie sprachen nicht, aber ihre Körper kommunizierten miteinander. Und Marie-Claire genoss es.
Das Restaurant Firenze, von dem sie lediglich wusste, dass es eine der besten Adressen für italienische Küche in Wien war, füllte sich an diesem Abend schnell mit vielen Konzertbesuchern. Noch immer fühlte sie sich wie in Trance. Das elegante Interieur des Restaurants verunsicherte sie ein wenig. Sie kannte solche Restaurants aus jenen Zeiten, da sie – zusammen mit ihrer Schwester Cathrine – als blond gelockte Rauschgoldengel und Vorzeigezwillinge ihres Vaters immer wieder zu seinen langweiligen Dinners mit Geschäftspartnern und honorigen Mitgliedern des Wiener Establishments hatte mitkommen müssen. Brav und nett lächelnd, ausstaffiert wie Barbie-Püppchen, hatte ihr profilneurotischer Vater sie seinen langweiligen Altherrenrunden präsentiert. Er war ein renommierter Universitätsprofessor und ein nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als ÖVP-Abgeordneter im Parlament landesweit bekannter Rechtsanwalt. Daher hatte es stets sehr viele dieser gesellschaftlich verpflichtenden Runden und Empfänge gegeben. Seither waren für Marie-Claire bestimmte Jahreszeiten der reinste Horror.
Cathrine hatte all das sehr gemocht. Schon als Kind fühlte sie sich zu dieser Glitzerwelt hingezogen. Die Opernballzeit in Wien war Cathrines liebste Zeit. Schon Monate vorher machte sie sich Gedanken darüber, was sie zu welchem Ball tragen würde. Sie beide waren zwar Zwillinge, die selbst von nahen Verwandten wegen ihrer unglaublichen Ähnlichkeit oft verwechselt wurden, aber sie waren sich nur äußerlich wirklich ähnlich. Cathrine war ganz anders. Das hatte sich schon in der Kindheit abgezeichnet. Und als Jugendliche waren ihre höchst unterschiedlichen Charaktere und Interessen schnell Anlass für viele Streitereien gewesen.
Für Momente versank sie in Erinnerungen. Bilder aus jener Zeit, da sie zusammen mit Cathrine als Zwillings-Debütantinnen zum Wiener Opernball musste, wurden wach. Ihr Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, sie wieder einmal als Zwillingspüppchen der Presse vorzuführen. Für Cathrine war der Opernball der Traum ihres Lebens schlechthin gewesen. Marie-Claire dagegen hatte es gehasst, und so war es auch in den letzten zwanzig Jahren gewesen.
Cathrine liebte die Glamourwelt, doch Marie-Claire hatte auf ihren Reisen in Syrien, Ägypten, Tunesien und Marokko eine andere Welt schätzen und lieben gelernt. Als sie ihren höchst langweiligen Job im Außenministerium gegen eine Ausbildung als Goldschmiedin eingetauscht hatte, war ihr längst klar gewesen, dass ihr Leben in Zukunft anders verlaufen würde als das ihrer Schwester. Auch die Kunstgeschichte hatte sie in andere Welten entführt. Nein, sie fühlte sich nicht wohl bei den bürgerlich-republikanischen Nachfolgern der ehemaligen Wiener Hof- und Adelsbälle. Dort gehörte sie nicht hin. Das war nicht mehr ihre Welt, doch sie wusste noch nicht, wohin sie wirklich gehörte.
Ihr Verstand focht mit ihren Gefühlen. War es Zufall, dass er dieses Restaurant vorgeschlagen hatte? Firenze – Florenz! In Florenz war vor nicht einmal einer Woche einer der Sancy-Diamanten geraubt worden! Firenze! Glanzvolle Metropole der Medici. Auch dieses Adelsgeschlecht hatte einst den Florentiner-Diamanten besessen! Und er interessierte sich für den Florentiner! Aber warum?
»Darf ich Sie Marie-Claire nennen?«, fragte Gregor von Freysing in diesem Moment. Da war es wieder, dieses gewinnende und offene Lächeln.
»Und wie darf ich sagen? Gregor? Friedrich? Albert?«, antwortete sie keck. Sie erschrak für Bruchteile von Sekunden, weil sie nicht sicher war, ob sie seine drei Namen nur aus den Akten kannte oder ob er sich mit all seinen Namen vorgestellt hatte. Schnell fügte sie hinzu: »Ich habe die vielen Namen unter dem Protokoll vom Staatsschutz gelesen. Ich habe Ihnen ja zu verdanken, dass ich aus dem vorläufigen Arrest entlassen wurde. Danke, dass Sie sich für mich verbürgt haben. Und das, obwohl Sie mich nicht kannten! Wie soll ich Sie nun nennen?«
»Gregor – oder Greg.«
»Friedrich und Albert finde ich ehrlich gesagt auch sehr steif.«
»Das hat mir mein Vater eingebrockt. Das ist alter Adelsdünkel. Die ganzen Vorfahren müssen herhalten, um die edle Abstammung zu dokumentieren. Es gibt auch heute noch Menschen, die auf so etwas achten …«
»Die Leute vom Goldenen Vlies?«
Kaum hatte sie die Frage gestellt, verfluchte sich Marie-Claire dafür. Es war nicht sonderlich geschickt, ihn so schnell auf dieses Thema anzusprechen. Doch er reagierte sehr gelassen.
»Ja, die auch. Ohne adligen Stammbaum geht da kaum was. Adelig und untadelig muss man sein. Traditionspflege ist eines der tragenden Fundamente dieses Ordens. Seit sechs Jahrhunderten!«
»Und was sind die anderen Fundamente?«
»Glauben, zum Beispiel! Die Werte des christlich-katholischen Glaubens.«
Marie-Claire spürte, dass es nicht gut war, über dieses Thema zu sprechen. Er wirkte plötzlich eigentümlich reserviert. Obwohl ihr die Frage auf der Zunge brannte, ob er Mitglied des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies sei, hielt sie sich zurück. Ihr Blick huschte zu seinen Händen. Er trug keinen Ring! Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass er nicht verheiratet war. Er mochte sicherlich schon fast fünfzig sein. Ein Mann mit dieser Bildung, mit diesem Aussehen und wahrscheinlich noch wohlhabend, wenn nicht gar reich, ein solcher Mann hatte ganz sicher längst eine Familie – Frau und Kinder. Seine Händen lagen ruhig auf dem Tisch. Es waren schöne, gepflegte Hände: kräftig, aber ohne jegliche Anzeichen von irgendeiner körperlichen Arbeit. Dieser Mann hatte in seinem Leben noch nie körperlich arbeiten müssen.
»Was machst du beruflich?«, versuchte sie, vom Thema abzulenken. Er schien ihre Gedanken erahnt zu haben.
»Ich bin in leitender Position eines internationalen Elektronikkonzerns. Seit ich von meiner Frau und meinen drei Kindern getrennt lebe, kümmere ich mich sehr intensiv um die historischen Belange des Ordens. Es macht mir viel Spaß, mich mit den ruhmreichen Zeiten des Hauses Burgund und des Hauses Habsburg zu beschäftigen. Es lenkt ab. Und gelegentlich erlebt man auch sehr nette Dinge. Zum Beispiel, wenn man ins Büro kommt und dort völlig unerwartet eine attraktive Einbrecherin in sehr reizvollen Dessous steht. Das passiert nicht jeden Tag. Wenn man dann auch noch hört, dass diese Frau sich letztendlich nur eingeschlichen hat, weil sie mich wieder sehen will …«
Marie-Claire de Vries erstarrte. Gregor hatte nur einige wenige Sätze gesagt, aber sie spürte es sofort. Sicher, er war sehr wortgewandt und wusste sich gewählt auszudrücken. Er war nicht so ein dumpfköpfiger Typ wie der in Ägypten, dieser neureiche deutsche Single-Anwalt in ihrem Urlaub, der sie zwei Mal alleine hatte zum Abendessen gehen sehen und danach geglaubt hatte, sie nach zwei Glas Wein an der Bar fragen zu können, ob sie einen Mann fürs Bett suche. Nein, Gregor war für solch billige Anmache viel zu feinfühlig und intelligent. Aber dennoch war sie sich sicher, dass er nichts anderes wollte als dieser ordinäre Deutsche. Diese Zwischentöne, diesen kaschierten Schmäh, all das kannte sie. Sie kannte es von den alten Männer, den Geschäftspartnern ihres Vaters, die sie mit lüsternen Blicken abgetastet und ihr in gewählten Worten letztendlich eindeutige Avancen gemacht hatten. Und sie kannte es von Patrick, von Dirk, von Fredrik – und wie sie sonst noch alle geheißen hatten. Jeder von ihnen hatte seine Masche gehabt, mal einfallsreich, mal plump. Manchmal konnten sie den Anschein, sie wollten mehr – eine wirkliche Partnerschaft –, über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Dann wieder zeigten sie erschreckend schnell ihre wahren Intentionen. Alle hatten sie letztendlich nur eins von ihr gewollt: ihren Körper! Sie aber hatte stets mehr gesucht: Zärtlichkeit, Vertrautheit und Wärme. Die Einheit von Körper und Seele!
Verwirrt räusperte sie sich. Gregor lächelte sie an. Er war sehr attraktiv, aber Marie-Claire spürte, wie sie sich von ihm distanzierte. »Entschuldige mich bitte für einen Moment«, lächelte sie ihm ein wenig gezwungen zu und stand auf. In der Damentoilette holte sie tief Luft. Irritiert starrte sie in den Spiegel. Sie sah heute hervorragend aus. Ein wenig übermüdet vielleicht. Aber in dem schwarzen Kleid hatte sie eine perfekte Figur. Es war ein nahezu perfekter Körper. Ja, sie hatte eine gute, durchtrainierte und zugleich sehr weibliche Figur. Schon als Kind hatte sie Ballettunterricht genommen. Sport hatte in ihrem Leben stets eine große Rolle gespielt. Sie liebte es, Ski zu fahren, hatte Surfen gelernt, war mit den Eltern intensiv gesegelt und ging seit Jahren regelmäßig ins Fitnessstudio. Ja, sie war sich ihres guten Aussehens bewusst!
Ihr langes, blondgelocktes Haar ließ sie noch verführerischer sein. Manchmal hatte sie sich jedoch gewünscht, einen weniger reizvollen Körper zu haben.
Marie-Claire de Vries trat näher an den Spiegel heran und blickte tief in ihre großen, blauen Augen. Ihre Augen hatten in den letzten Jahren ein wenig an Glanz verloren, aber es waren sehr schöne Augen. Und doch sah sie jetzt, hier in der Damentoilette des Ristorante Firenze in Wien, plötzlich einen Schimmer von Traurigkeit. Nicht nur in ihren Augen.
Marie-Claire starrte noch immer in den Spiegel. Sie versuchte, die traurigen Gedanken abzuschütteln. Was hatte sie nur plötzlich an Gregor so gestört? Du weißt es, sagte sie jetzt in Gedanken zu sich selbst. Du weißt es sehr genau! Es waren seine Worte gewesen! Seine bestimmende Männlichkeit! Der Unterton in seinen vermeintlich so netten Worten!
»Du bist völlig bescheuert!«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.
»Wenn du immer glaubst, dass es sowieso wieder schief geht, dann wird es nie was werden mit den Männern!«
Kaum, dass sie das geflüstert hatte, fiel ihr ein, dass dies die Worte ihres Therapeuten gewesen waren. Ja, er hatte Recht gehabt mit seiner Einschätzung. Sie konnte eine neu entstehende Beziehung nicht locker nehmen. Sofort wurden ihre alten Ängste geweckt, und am Ende stand sie wieder allein da. Demonstrativ warf sie den Kopf in den Nacken, schüttelte ihr Haar locker, zog das Kleid zurecht und ging zurück in das Restaurant. Schon von weitem lächelte ihr Gregor wieder mit dieser unglaublich gewinnenden Art zu. Sie lächelte zurück. Trotz ihrer trüben Gedanken wurde es ein sehr langer und sehr schöner Abend mit Gregor Friedrich Albert von Freysing. Dennoch: Er verlief anders, als sie sich das am Tage zuvor vorgestellt hatte.