172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

9. Kapitel

Das Buch war um acht Uhr per Eilboten mit der Post gekommen. Eine Stunde später saß Marie-Claire de Vries bereits im Flugzeug nach Berlin. Am Flughafen waren ihr wieder einmal die Veränderungen der letzten Jahre in Wien bewusst geworden. Die Osterweiterung der EU hatte die Stadt mit ihren traditionellen historischen Verbindungen nach Ungarn, Tschechien, Rumänien und den Balkanstaaten binnen kürzester Zeit zu einem wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Zentrum Europas werden lassen. Das hatte sich auch auf die Flugverbindungen niedergeschlagen. Allein die Air Berlin flog dreimal täglich von Wien nach Berlin, was, wie sie erst kürzlich gelesen hatte, die ohnehin boomende Tourismuswirtschaft Wiens extrem beflügelte. Die Hoteliers der Stadt waren bei Auslastungen bis zu achtundneunzig Prozent glücklich. Gleiches galt für die Museen. Und für die Fiaker. Nur die Einwohner Wiens litten mittlerweile unter den Millionen Besuchern, die sich im Sommer wie im Winter vornehmlich durch die zum Weltkulturerbe deklarierte Innenstadt bewegten. Die Mieten explodierten, die Verkehrsstaus waren längst unerträglich, ebenso wie die Feinstaubbelastung. Ja, Wien hatte sich gewandelt – wie auch Berlin, wo sie diesen leidigen Vortrag halten musste.

Sie mochte Berlin, das neue, quirlige, ungeteilte Berlin, und reiste gern dorthin. Doch dieses Mal machte sie sich geradezu missmutig auf in die deutsche Hauptstadt. Schlecht gelaunt schlang sie das Frühstück im Flugzeug herunter. Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Auch die letzten beiden Nächte hatte sie kaum geschlafen. All ihre früheren Aufträge für Christie’s waren ihm Vergleich zu diesem geradezu lächerlich gewesen. Wann immer ihr Wissen als Expertin für historischen Schmuck gefragt gewesen war, hatte es sich zumeist um eher nüchterne Schreibtischrecherchen oder Nachforschungen in Bibliotheken und in den Privatarchiven namhafter Adelshäuser gehandelt. Um für das Auktionshaus Expertisen zu Schmuck- und Kunststücken erstellen zu können, sammelte sie alle nur verfügbaren Informationen, holte Sachverständigengutachten ein, ließ Preziosen taxieren – und legte ihre Einschätzung dann den für Auktionen verantwortlichen Experten bei Christie’s vor. All das machte ihr sehr viel Spaß, es war aber alles andere als spannend. Aus diesen Zeiten kannte sie auch die Familie des Freiherrn von Hohenstein, jene Adelsfamilie, die in Bayern auf ihrem prachtvollen Schloss residierte, und die nun durch den brutalen Überfall ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt war. In deren Privatbesitz befanden sich unvorstellbar wertvolle Preziosen, Schmuckstücke, Bilder und Edelsteine. Viele dieser einmaligen Kunstwerke hatten in der Geschichte Europas eine große Rolle gespielt und wurden daher immer wieder von Museen für Ausstellungen angefordert. So wie jetzt in Berlin.

Marie-Claire lehnte sich in ihrem Flugzeugsessel zurück. Die Reise nach Berlin passte überhaupt nicht in ihre Pläne. Ihr Auftrag, sich mit dem Florentiner-Diamanten zu beschäftigen, lief nicht wie geplant. Immer, wenn sie begann, sich auf ihren eigentlichen Auftrag zu konzentrieren, wenn sie sich zu rationalen, professionellen Vorgehensweisen zwingen, Strukturen in ihre Recherche bringen wollte, geschahen unvorsehbare Dinge, die all ihre Pläne durcheinander wirbelten. Ständig kamen neue Aspekte, verwunderliche Zusammenhänge und Querverbindungen zustande. So wie jetzt mit diesem Buch, das vor ihr auf der Ablage lag. Glücklicherweise hatte sie es noch vor ihrem Abflug bekommen und konnte vom Taxi aus ihren Freund Peter anrufen, der in einem Wiener Verlag arbeitete. So wenig sie bislang von diesem Buch gewusst und gehört hatte, so überrascht war sie nämlich gewesen, als sie in der Titelei des Buches einen höchst ungewöhnlichen Vermerk entdeckt hatte.

Marie-Claire griff nach dem Buch und blätterte erneut darin. Schon die Aufmachung und der Buchtitel selbst fielen auf. Auf schwarzem Untergrund prangte in lilafarbenen und weißen Lettern der Titel: VITRINE XIII – Geschichte und Schicksal der österreichischen Kronjuwelen – herausgegeben von XXX. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ein Buch, bei dem der offensichtlich anonyme Herausgeber mit den Buchstaben »XXX« firmierte. Als sie dann beim Lesen des Umschlagtextes auf viele interessante Details zum Florentiner gestoßen war, rief sie kurz entschlossen ihren Freund an. Er wusste sofort, um welches Buch es sich handelte. Das hatte sie sehr gewundert, immerhin waren seit seinem Erscheinen vierzig Jahre vergangen. Obendrein war das Buch nicht sonderlich bekannt – zumindest ihr hatte der Titel nichts gesagt.

Peter war sehr hilfsbereit gewesen. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass ihr Interesse an diesem Buch in Zusammenhang mit dem Florentiner-Diamanten stehe, hatte er um kurze Bedenkzeit gebeten, sie dann aber bereits zwanzig Minuten später, als sie schon im Wartesaal am Flughafen saß, angerufen. Was sie dann von ihm erfahren hatte, war mehr als spannend. Wie sie mittlerweile wusste, schilderte dieses Buch das mysteriöse und Aufsehen erregende Verschwinden eines Teils der österreichischen Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer im Jahre 1918, kurz vor der Flucht der österreichischen Kaiserfamilie in die Schweiz. Sensationell für sie war die Tatsache, dass zu den seither fast ausnahmslos spurlos verschwundenen Preziosen auch der Florentiner gehörte. Der Hundertsiebenunddreißig-Karat Diamant hatte im dritten Raum der Wiener Schatzkammer in der Vitrine XIII gelegen. Daher auch der Titel des Buches, das auf den Memoiren des Schweizer Juwelenhändlers Alphonse de Sondheimer basierte. Er war es gewesen, der wahrscheinlich im direkten Auftrag des im Exil weilenden österreichischen Kaisers von Genf aus Juwelen, Schmuck und Kunstgegenstände von unvorstellbarem Wert verscherbelte. Ganz offensichtlich hatte auch Sondheimer als Letzter einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes, den Florentiner, gesehen. Hastig blätterte Marie-Claire in dem Buch herum. Sie schüttelte fasziniert den Kopf.

»Unglaublich, unfassbar – Wahnsinn!«, murmelte sie so laut vor sich hin, das der vor ihr sitzende Passagier sich zu ihr umdrehte und sie verwundert anschaute. Was sie da an Zahlen und Details bereits erfahren hatte, ließ ihr Gänsehaut über den Rücken laufen. Hier hatte sie die akribischen Aufzeichnungen über einen der spektakulärsten Kunst- und Edelsteinhandel der letzten Jahrhunderte in der Hand. Es tauchten Summen auf, bei denen ihr schwindelig wurde. Absoluter Wahnwitz war die Schilderung, wie eines der berühmtesten Herrscherhäuser der Welt im Exil aus Geldnot Gold, Edelsteine, Schmuck und andere Wertgegenstände über dubiose Mittelsmänner verschleudert und verpfändet hatte. Prachtvolle Edelsteine waren aus Fassungen gebrochen, teils auf barbarische Weise zerstückelt und auf dem schwarzen Markt weltweit verkauft worden. Aus unschätzbar kostbaren Schmuckstücken, deren Namen seit Jahrhunderten die Inventarlisten königlicher und kaiserlicher Schatzkammern in Europa geziert hatten, waren Rubine, Saphire und Diamanten herausgeschlagen, zerteilt und an suspekte Zwischenhändler verkauft worden. Und das alles offenbar von diesem Schmuckhändler Sondheimer – im persönlichen Auftrag des letzten Kaisers von Österreich!

Marie-Claire fragte sich, ob das alles stimmte, was in diesem kleinen Büchlein geschrieben stand. Warum der Herausgeber anonym geblieben war? Und warum war dieses sensationelle Buch nie bekannt geworden? Was hatte ihr Freund gesagt? Sie überflog ihre handschriftlichen Notizen, die sie sich während des Telefonats gemacht hatte: »… es beruht auf den handschriftlichen Aufzeichnungen von Sondheimer … ging an den Bestsellerautor Robert Neumann … hat für eine Veröffentlichung gesorgt … von der Familie Habsburg dementiert … gerichtliche Auseinandersetzungen … Sondheimer ins Gefängnis gekommen … emigriert … eine handschriftliche Abschrift des Originalmanuskripts existiert noch …«

Marie-Claire atmete tief durch. Ob in diesem Originalmanuskript vielleicht stand, wohin der berühmte hundertsiebenunddreißig-karätige Florentiner damals in der Schweiz, im Jahre 1920, verschwunden war und vor allem wer ihn gekauft hatte? War dieses geheimnisvolle Manuskript vielleicht der goldene Schlüssel zu ihren Recherchen? Stand darin vielleicht sogar, worin die Verbindung zwischen dem Florentiner und den beiden Sancy-Diamanten tatsächlich bestand? Welches Geheimnis verbarg sich hinter den einst im Besitz von Karl dem Kühnen befindlichen »drei Brüdern«? Existierte dieser legendäre Florentiner tatsächlich noch? Oder war er damals in der Schweiz zerstückelt worden? Jagte sie einer Legende hinterher?

Plötzlich wurde es Marie-Claire heiß und kalt, denn eine wichtige Frage drängte sich ihr auf: Wusste Gregor von dem Buch – und von diesem Manuskript?

Kaum in Berlin gelandet, schaltete Marie-Claire de Vries ihr Handy wieder an. Während sie auf ihren Koffer wartete, starrte sie nervös auf das Display. Eine Mailbox-Nachricht und eine SMS wurden angezeigt. Die SMS war von Gregor.

»Fahre am Wochenende ins Haus an den Wörthersee. Kommst du mit? Gästezimmer zugesichert …«

»Auch das noch«, entfuhr es ihr. Das war das Letzte, womit sie gerechnet hatte. Seit dem Abendessen mit Gregor hegte sie zwiespältige Gefühle für ihn. Sie brauchte Zeit, Abstand und Ruhe, um sich über ihre Empfindungen für Gregor klar zu werden. Stattdessen kam nun diese Einladung! Mit zitternden Händen drückte sie die Taste zum Abfragen ihrer Mailbox. Schon die Nummernansage ließ sie erahnen, dass das Verwirrspiel noch kein Ende gefunden hatte. Es war die Nummer ihres Freundes Peter. Der Lärm in der Ankunftshalle war fast unerträglich und machte sie unendlich nervös. Mit der linken Hand hielt sie sich das Ohr zu, während sie der Nachricht ihres Freundes lauschte. Peter schien sehr aufgeregt zu sein.

»Hallo, Marie-Claire. Ich würde vorschlagen, dass wir uns nach deiner Rückkehr aus Berlin sofort treffen. Du musst mir reinen Wein einschenken, weshalb du dich für diesen Diamanten interessierst. Komische Dinge passieren hier! Kaum warst du weg, da habe ich erfahren, dass sich vor einigen Wochen ein Mann für das Originalmanuskript dieses Buches Vitrine XIII interessiert hat. Es war ein Österreicher mit Namen Freiling oder so ähnlich! Und ob du es nun glaubst oder nicht, vor einer halben Stunde ging hier ein Fax aus Marokko ein. Da will ein Araber nach Wien kommen und mit dem Verlag über die Einsichtnahme oder gar den Kauf dieses Originalmanuskripts sprechen. Schreibt irgendwas von einer Organisation für die Rückführung arabischer Kulturgüter. Komische Sache! Sehr komisch! Das, meine liebe Marie-Claire, ist mir ein bisschen zu viel der Zufälle! Also, melde dich und sag mir, wann wir uns treffen können. Bussi.«

*

Der Wintergarten im Erdgeschoss des Grand Hotel Esplanade in Berlin war am späten Abend bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Stimmung unter den Gästen des Auktionshauses Christie’s war ungewöhnlich gut und ausgesprochen locker. Die Idee ihrer Berliner Kollegin Viktoria, die Veranstaltung nicht wie üblich in einem der kleinen Konferenzräume, sondern auf der MS Esplanade, dem Schiff des Hotels, durchzuführen, war ein riesiger Erfolg gewesen. Mehr als einhundert Gäste waren der Einladung von Christie’s in Berlin gefolgt.

Das Interesse an diesem Vortrag über berühmte Edelsteine im Schmuck der preußischen Könige war groß. Selbst aus Hamburg waren gut ein Dutzend Gäste angereist. Ihre Kollegin Martina, Deputy Chairman der Hamburger Niederlassung, war mächtig stolz gewesen, dass sie die renommierten Hamburger Kunden nach Berlin hatte einladen können. Ja, Viktorias Idee war grandios gewesen. Statt in der zumeist sterilen Atmosphäre eines Konferenzsaals zu tagen, hatte man das Ganze auf dieses sehr stilvolle Schiff verlegt. Vielen Gästen war anzumerken, dass sie die maritime Seite Berlins noch nicht kannten. Die anfänglichen Befürchtungen, das Konzentrationsvermögen der Zuhörer würde unter den draußen vorbeigleitenden Sehenswürdigkeiten leiden, hatten sich schnell gelegt. Begeistert folgte man dem mit Dias unterlegten Vortrag. Nicht nur Marie-Claire war sich im Klaren darüber, dass dies ohne Frage auf die Geschehnisse in Bayern und Florenz zurückzuführen war. Schließlich hatte der in Bayern auf Schloss Hohenstein geraubte Kleine Sancy zu den berühmten Edelsteinen im Besitz preußischer Könige gehört. Ja, sie war sich sicher, dass diese dramatischen Geschehnisse maßgeblich zum Erfolg dieses Abend beigetragen hatten. Einige der Zuhörer schienen geradezu darauf zu warten, dass sie auf den Kleinen Sancy zu sprechen kam. Dafür aber hatte sie sich Zeit gelassen. Nach der Abfahrt an der vis-à-vis des Hotels gelegenen Landungsbrücke hatte sich das Tagungs- und Restaurantschiff zu einer Fahrt durch die Berliner und Brandenburger Kanäle, über Flüsse und kleine Seen aufgemacht. Man war auf dem Landwehrkanal Richtung Tiergarten und Berliner Zoo geschippert. Unter der Charlottenburger Brücke hindurch auf der Spree waren sie an Schloss Bellevue, vorbei am Bundeskanzleramt, dem Reichstagsgebäude, der Museumsinsel hin zum Berliner Dom gefahren. Berlin bei Nacht an Bord eines Schiffes, dazu der exzellente Service und ein hervorragender Vortrag, ja, es war ein perfekter Abend gewesen. Und das Wetter hatte ebenfalls mitgespielt. Es war zwar empfindlich kühl, aber in den Pausen konnten die Gäste an Deck Luft schnappen und die Skyline von Berlin bei Nacht genießen.

Marie-Claire hatte ihre Zuhörer kurzweilig, nicht zu detailliert und angereichert mit allerlei kleinen Geschichten begeistert. Sie konnte in den Gesichtern der gebannt lauschenden Gäste genau ablesen, wo deren Interesse angesiedelt war. Als sie erzählte, dass von der einst mit einhundertzehn Diamanten, acht Brillanten, acht tropfenförmigen Perlen und dreiundachtzig runden Perlen besetzten goldenen Kronprinzenkrone nicht einmal mehr die Karkasse übrig sei, weil der »Soldatenkönig« sie im Jahre 1737 aus dem Krontresor im Berliner Schloss genommen und sie mittels Schere schlichtweg in Stücke geschnitten hatte, um die Juwelen an sich zu nehmen, ging ein Raunen durch die Zuhörerschaft. Erst auf dem Rückweg, nach gut zwei Stunden, hatte sie schließlich mit einem Dia das angesprochen, worauf alle warteten: der Kleine Sancy – mit vierunddreißig Karat einer der schönsten Edelsteine im Besitz preußischer Könige.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, und nun zu einem der fraglos weltbekannten Schmuckstücke aus dem Besitz preußischer Kaiser«, hatte sie die Aufmerksamkeit ihrer Gäste kurz vor dem Anlegen am Hotel Esplanade nochmals geweckt. »Die Königin verwendete den Stein in einer Zusammenfassung von vier großen und fünf kleinen Brillanten als Bouquet, an dem der Kleine Sancy als Pendeloque befestigt war. In derselben Verbindung wurde der Stein auch von Königin Luise öfter getragen. Bei den Vermählungen der Töchter Friedrich Wilhelms III., zuerst bei der Prinzessin Alexandrine im Jahre 1822, wurde der Kleine Sancy wiederholt im Brautschmuck benutzt, und zwar als Pendeloque an einem Collier von zweiundzwanzig und mehr Rosetten. In Verbindung mit einer Brillantenkette hat ihn auch die Kaiserin getragen. Wie Sie sicherlich der Presse entnommen haben, befand sich dieser prachtvolle Brillant bis vor kurzem in privatem Besitz. Er wurde bei einem spektakulären Raubüberfall gestohlen und ist seither verschollen.«

Wie elektrisiert hatten nahezu alle Gäste an Bord auf diesen Satz reagiert. Ein seltsames Schweigen machte sich breit, als Marie-Claire die Historie des Kleinen Sancy kurz skizzierte. Seltsamerweise stellte niemand nach Beendigung des Vortrages Fragen, was den Sancy betraf. Erst jetzt, nachdem das Ausflugsboot vor dem Hotel angelegt und alle Gäste zum abschließenden Empfang in den Wintergarten gegangen waren, kamen erste, sehr dezente Fragen. Die meisten der honorigen Gäste hielten sich jedoch extrem zurück, brachten lediglich ihr Entsetzen über die Geschehnisse in Bayern und Florenz zum Ausdruck.

Marie-Claire war nach dem Vortrag völlig erschöpft. Am liebsten hätte sie sich in ihr Hotelzimmer zurückgezogen, auch um endlich das Buch über Alphonse de Sondheimer zu lesen. Mit der Nachricht von Peter stand für sie nun außer Frage, dass in diesem Buch die Klärung des Geheimnisses um das Verschwinden des Florentiners versteckt war. Das Buch wimmelte von Zahlen und Fakten, und sie musste es jetzt dringender denn je lesen – jetzt, wo klar war, das sich auch Gregor für dieses Buch und das Originalmanuskript interessierte. Wie hatte Peter gesagt? Ein Mann namens »Freiling oder so ähnlich«? Ein Österreicher? Nein, das konnte kein Zufall sein! Sie war sich absolut sicher, dass es Gregor von Freysing war, der zu dem Verlag Kontakt aufgenommen hatte! Gregor! Warum, zum Teufel, interessierte sich Gregor für das Originalmanuskript des Buches? Wer war er wirklich? Sie wusste immer noch nicht ganz sicher, ob er ein Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies war. Warum hatte er sie zu einem Wochenende am Wörthersee eingeladen? Und wer war dieser Araber, der sich plötzlich beim Verlag gemeldet und sein Interesse an dem Originalmanuskript des Buchs bekundet hatte? Ein Araber! Araber hatten die Familie von Hohenstein auf ihrem Schloss überfallen. Und Araber hatten offensichtlich auch den Überfall auf den Palazzo Pitti verübt. Marie-Claire plauderte soeben im Wintergarten des Hotels unbedarft mit einer Gräfin aus Potsdam, einer sicherlich fast achtzigjährigen Dame mit weißem Haar und einem herrlichen Rubincollier, als sie den Mann plötzlich wieder sah. Schon auf dem Schiff war er ihr aufgefallen. Sein ganzes Auftreten hatte sie zu dem Schluss kommen lassen, dass dies jener Mann sein musste, der auf der Gästeliste als VIP besonders hervorgehoben worden war. Ihre Berliner Kollegin Viktoria hatte sie nachdrücklich darum gebeten, sich um diesen Ehrengast zu kümmern. Denn Sanjay Kasliwal, Mitinhaber des weltbekannten »Edelstein-Palastes« von Jaipur im indischen Bundesstaat Rajasthan, hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem außergewöhnlich wichtigen Geschäftspartner von Christie’s entwickelt. Die Kasliwal-Dynastie führte seit dem Jahre 1852 ein exklusives Edelsteinimperium, in das Söhne, Brüder und Cousins eingebunden waren. Einerseits waren sie alle geradezu fanatische Kunstsammler und gehörten zu den renommiertesten Einkäufern bei Christie’s; anderseits hatten sie die Veränderungen auf dem weltweiten Schmuckhandel binnen weniger Jahre in den Blickpunkt des internationalen Edelsteinmarktes gerückt. Denn in den Werkstätten des Edelstein-Palastes in Jaipur wurden nicht nur Edelsteine ge- und verkauft, sondern auch geschliffen. Zudem hatten sie sich einen Namen gemacht mit der Kreation von Schmuckstücken, die sich an traditionellen Vorlagen aus der indischen Mogulzeit orientierten. Dabei wurden Diamanten und andere Edelsteine mit Halbedelsteinen kombiniert. Nicht die Reinheit und damit der Wert von Diamanten alleine, sondern die Kombination mit leuchtenden Türkisen, fliederfarbenen Amethysten, wasserblauen, brandybraunen oder blassgelben Topasen oder auch zart gefärbten Rosenquarzen gaben diesen im Hause Kasliwal geschaffenen Schmuckstücken ihre Einzigartigkeit. Der Familienklan konnte von sich behaupten, Juweliere der Maharadschas, der Könige, Aristokraten und seit einigen Jahren auch der Hollywoodstars zu sein.

Bei Christie’s war man auf diese Veränderung auf dem internationalen Schmuckmarkt aufmerksam geworden, als 1977 bei einer Auktion in London indische Juwelen außergewöhnliche Beachtung seitens der Kunden erlangten. Im September 2003 wechselte eine mit Smaragden und Diamanten verzierte Brosche aus der Mogulzeit für spektakuläre 1,5 Millionen Euro den Besitzer. Und so hatte es nicht lange gedauert, bis sich auch Cartier mit der Opulenz von Maharadscha-Juwelen beschäftigte und sich mit der Linie »Delice de Goa« dem neuen Kundengeschmack anpasste. Seither erlebten die indischen Brüder einen ungeheuren Zuspruch aus aller Welt. Schmuckliebhaber, die nicht nur den Wert, sondern auch das Sinnliche in einem Schmuckstück zu schätzen wussten, kauften bei ihnen.

Neugierig verfolgte Marie-Claire mit ihren Blicken den etwa fünfundvierzigjährigen Inder. Sanjay Kasliwal unterhielt sich mit einem Landsmann. Sein Gesicht war durch eine Palme hindurch nur teilweise zu erkennen, und doch erregte irgendetwas an seiner Mimik und Körpersprache Marie-Claires Aufmerksamkeit. Dieser Mann bewegte sich anders als alle anderen männlichen Gäste. Es lag eine gewisse Geschmeidigkeit, eine eigentümliche Ruhe in seiner Art, sich zu drehen. Sprach er, verharrten seine Arme ruhig hinter seinem Körper. Lachte er, schien das offene Lachen seinen ganzen Körper zu durchströmen. Hörte er seinem Gesprächspartner zu, hing sein Blick an den Lippen des anderen.

»Madame de Vries, Sie hören mir ja gar nicht zu!«, hörte sie plötzlich die Gräfin sagen. Die alte Dame lächelte sehr warmherzig, drehte sich um und schaute nun ebenfalls hinüber zu Sanjay Kasliwal. »Oh, ich verstehe«, lächelte sie und sagte verschmitzt: »Dem orientalischen Reiz eines solch blendend aussehenden Mannes kann ich als alternde Lady natürlich nichts entgegensetzen!«

Marie-Claire errötete. Sie spürte, dass die alte Dame es ihr nicht übel nehmen würde, wenn sie sich dem Inder widmen würde.

»Sehen Sie es mir bitte nach, Gräfin«, entschuldigte sie sich, »der Herr mit dem, wie Sie so treffend feststellten, orientalischen Reiz ist ein renommierter Schmuckhändler aus Jaipur, ein Geschäftspartner des Hauses Christie’s. Ich werde nicht umhin kommen, mich ein wenig mit ihm zu unterhalten.«

Marie-Claire nahm sich ein Glas Champagner, wandelte durch den Flur, begrüßte mit einem freundlichen Lächeln einen ihr als Kunden bekannten Baron aus Schleswig-Holstein, machte einer jungen Dame in Begleitung eines greisenhaften Mannes ihre kurze Aufwartung und schlenderte dann zu den beiden indischen Männern hin. Erst wenige Schritte von den beiden entfernt sah sie, dass Sanjay Kasliwal sich auf einen Stock stützte. Dennoch strahlte er Eleganz aus. Sein tiefschwarzes Haar war kurz geschnitten. Der braune Teint seiner Haut unterstrich seine orientalische Aura. Marie-Claire ging mit direktem Blickkontakt auf ihn zu. Sie war bestrebt, selbstbewusst zu wirken, doch die Ausstrahlung dieses Mannes verwirrte sie. Bestrebt, akzentfrei Englisch zu sprechen, begrüßte sie die beiden Männer: »Guten Abend, die Herren! Es ist mir eine Ehre, zwei der renommiertesten Edelsteinexperten Indiens als unsere Gäste begrüßen zu dürfen! Ich gehe doch recht in der Annahme, dass ich das Vergnügen mit den Herren Kasliwal habe, oder?«, lächelte sie zunächst den ihr von Fotos bekannten Inder an. Der etwas jüngere Mann neben ihm verbeugte sich respektvoll, während Sanjay Kasliwal ihr ein wenig schüchtern und doch mit unglaublicher Herzlichkeit direkt in die Augen schaute.

»Mrs. de Vries, ich war grenzenlos begeistert von Ihrem kurzweiligen und doch so unglaublich aufschlussreichen Vortrag«, antwortete Sanjay Kasliwal in nahezu perfektem Deutsch. Marie-Claire war überrascht. Ein wenig verunsichert reichte sie ihm ihre Hand. So kräftig dieser breitschultrige Manne wirkte, so einfühlsam nahm er ihre Hand und hielt sie fest umklammert, lehnte seinen Stock an sein Bein, verlagerte sein Gewicht, umfasste nun mit der zweiten Hand ebenfalls ihre rechte Hand und schaute ihr so unglaublich tief in die Seele, dass sie erschauerte. Er hatte tiefdunkle Augen. Ihr Glanz irritierte sie. Sein Lächeln war so unvorstellbar gewinnend, dass sie in Bruchteilen von Sekunden wusste, dass dieser Mann etwas in sich trug, was sie nie zuvor an und in einem Mann gesehen und gefühlt hatte.

»Ihr perfektes Deutsch verdient meine grenzenlose Hochachtung, Mr. Kasliwal! Ich fürchte, mein Englisch ist nicht annähernd so gut.«

»Die entscheidende Frage, verehrte Mrs. de Vries, ist nicht, wie sich Menschen verständigen! Viel bedeutsamer ist, wie sie sich verstehen. Dort, wo die Seele Gemeinsamkeiten findet, bedarf es keiner Worte!«

Marie-Claire war zum ersten Mal seit langer Zeit sprachlos. Es war nicht nur diese ruhige, wie Wellen auf einem Sandstrand sanft auslaufende Stimme, die sie verwirrte. Da war etwas anderes. Etwas, was sie nicht kannte, nicht beschreiben und schon gar nicht einzuordnen wusste. Dieses Timbre, die Sanftheit – und diese Tiefsinnigkeit seiner Worte einten sich auf solch wunderbare Weise, dass sie ihre Sprachlosigkeit nur dadurch kaschieren konnte, dass sie den anderen Inder ansah.

»Gewisse Ähnlichkeiten lassen mich vermuten, dass Sie einer der Brüder von Mr. Sanjay Kasliwal sind, richtig? Sudhir oder Pappu?«

»Richtig, verehrte Mrs. de Vries!«, antwortete der Mann.

»Aber unglücklicherweise spreche ich nicht so gut Deutsch wie mein Bruder Sanjay. Dennoch bin ich sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Ich bin Pappu Kasliwal. Aber bitte verstehen Sie es nicht als Unhöflichkeit, wenn ich mich jetzt auch gleich wieder verabschiede. Ich muss Sie leider mit meinem Bruder alleine lassen. Mein Taxi zum Flughafen geht in zehn Minuten. Aber ich bin mir sicher, dass Sie den Abend mit meinem Bruder Sanjay genießen werden. Er wird Ihnen fraglos sehr unterhaltsame Geschichten erzählen können …«