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Eine Stunde später hatten alle geladenen Gäste das Grand Hotel Esplanade verlassen. Marie-Claire dagegen war noch immer mit Sanjay Kasliwal ins Gespräch vertieft. Die beiden saßen in einer Nische in Harry’s New York Bar, nur wenige Schritte vom Hotel entfernt.
Für Marie-Claire war das Zusammentreffen mit diesem Inder ein in jeglicher Hinsicht außergewöhnliches Erlebnis. Sie kannte Sanjay Kasliwal erst seit zwei Stunden, aber sie wusste über ihn bereits unendlich viel. Sie konnte sich nicht erklären, woher diese seltsame Vertrautheit rührte. Der Gleichklang, der sich zwischen ihnen in so kurzer Zeit entwickelt hatte, war die Basis wunderbar offener Gespräche. Sie plauderten und lachten, versanken in philosophische Betrachtungen und trieben durch die Nacht. Sie spürte, dass er sie als Mensch schätzte. Sein Interesse galt allein ihr, jenseits jeglicher gesellschaftlicher oder geschäftlicher Intentionen. Sanjay Kasliwal erzählte von sich, seinem Leben in Indien, seinen Wünschen, Träumen und Illusionen. Sein Bruder und er waren begeisterte Polospieler, er hatte sich jedoch vor Jahren beim Polo am Bein schwer verletzt und brauchte daher jetzt einen Gehstock. Sie erfuhr, dass sein Bruder im Januar zum Winter-Poloturnier nach St. Moritz reisen würde, und er selbst hatte sich in Europa mit mythologisch-religiösen Themen im Zusammenhang mit Edelsteinen beschäftigen wollen. Deshalb war er zu dieser Abendveranstaltung von Christie’s gekommen.
Marie-Claire fühlte, dass sie diesem Mann vertraute, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben einem Fremden, und schon gar nicht einem Mann, vertraut hatte. Irgendetwas verband sie tief in ihren Seelen, und das Schöne daran war, dass weder er noch sie wissen wollten, was es war.
Das war vielleicht der wahre Grund ihrer unbedarften, von Lachen, Witz und doch so erfrischender Tiefsinnigkeit geprägten Gespräche. Dieser Mann mochte sie, und sie mochte ihn. Sanjay war fraglos ein attraktiver Mann. Groß, schlank und ehemals sehr sportlich hatte er sich lässig-selbstbewusst zwischen all den adligen Gästen des Abends bewegt. Seine sehr angenehme Zurückhaltung verlieh ihm eine ganz besondere Aura. Seine Augen sprühten vor Leben, sein dezenter Charme war umwerfend, sein Lächeln gewinnend. Und doch verspürte Marie-Claire keinerlei sexuelles Verlangen. Nur zögerlich, fast schon widerwillig sprach er über seine Ausbildung an einem Elite-Internat in der Schweiz. Er hatte Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und Jura studiert, natürlich an den renommiertesten Universitäten. Auch dazu äußerte er sich kaum. Und über Geld sprach er schon gar nicht. Den Erzählungen ihrer Kollegin Viktoria, die aus beruflichen Gründen die Vita eines jeden ihrer Kunden kannte, hatte sie entnommen, dass sein Reichtum geradezu legendär war. Er hatte längst jene Dimension erreicht, die nicht mehr mit Zahlen zu vermitteln war. Daher glaubte sie Sanjay sofort, als er erzählte, niemand in seiner Familie wisse genau, welchen Wert all die in ihrem Edelstein-Palast in Jaipur in Kisten und Vitrinen aufbewahrten Edelsteine und Schmuckstücke hätten.
»Marie-Claire«, hörte sie ihn plötzlich sagen, während im Hintergrund ein Pianospieler Beethovens Mondscheinsonate zu spielen begann, »Sie sollten wissen, dass viele Menschen in Indien zu den materiellen Seiten unseres irdischen Daseins eine eher metaphysische Einstellung haben! Der wahre Wert eines Edelsteins liegt für uns daher tief verborgen. Für mich entscheidet nicht der materielle Wert über dessen Schönheit, sondern die Farbe des Steins und sein Verschmelzen mit der Fassung, mit den irdischen Gegebenheiten bringen seine Einzigartigkeit hervor! Daher freue ich mich auch, dass sich die Zeiten in Europa und in Amerika allmählich wandeln. Diamanten werden hier zwar nach wie vor wegen ihres Wertes und der Wertbeständigkeit gekauft, faktisch ist es jedoch so, dass immer mehr Menschen Schmuck unter Modeaspekten erwerben. Und Mode ist nun einmal eine Frage von Stil und Design, also eine Frage der Schönheit.«
Marie-Claire atmete tief durch. Sanjay katapultierte sie schon den ganzen Abend mit solchen Aussagen in neue geistige Dimensionen. Und das gefiel ihr. Es entsprach ihrem persönlichen Denken und Fühlen, ihren Neigungen, was er so perfekt auszudrücken verstand. Bei ihrer Arbeit hatten solche Aspekte freilich kaum Bestand.
»Aber Sie handeln mit diesen Steinen, Sanjay! Für Sie als Schmuckhändler werden Edelsteine nach realen Kriterien eingeschätzt und in ihrem Wert bestimmt! Sie orientieren sich doch daran, ob es nun ein lupenreiner Diamant ist, also einer ohne nur mittels Zehnfach-Lupe erkennbare Einschlüsse, oder ob es ein VS2, also einer mit schwer erkennbaren Einschlüssen ist. Und da Gewicht und Größe eines Diamanten nun mal in einer berechenbaren Abhängigkeit zueinander stehen, so dass von dem Durchmesser auf das Karat-Gewicht geschlossen werden kann, bleibt letztendlich nur noch die Frage nach dem Cut, also dem Schliff, der den Wert des Steins für den Händler ergibt. In den Händen des Diamantenschleifers wird dann aus dem Diamanten entweder ein quadratischer Princess, ein ovaler Marquise, ein runder Brillant oder ein perlenförmiger Pear. Das sind doch die Kriterien, die den Wert eines Diamanten für Sie ausmachen! Für Sie sind sie eine Ware, leblose Materie – oder?«
»Das ist nicht ganz richtig, Marie-Claire. Immer mehr Menschen kommen zu uns und bitten um die Anfertigung eines Schmuckstücks, bei dem es nicht um die Frage Diamant, Rubin, Saphir oder Smaragd geht. Diese Menschen orientieren sich an Farben. Sie sehen in dem unverwechselbaren Licht, das in jedem Halb- oder Edelstein verborgen liegt, eine größere Bedeutung als in dem Wert eines Diamanten, dessen Preis sich letztendlich an Details orientiert, die sich erst unter der Lupe zeigen, also für das menschliche Auge mehr oder minder unsichtbar sind. Mir gefällt es, wenn Kunden sagen, sie möchten eine Halskette mit Steinen in einer bestimmten Farbe oder ein Arrangement bestimmter Farben, akzentuiert mit einem Edelstein, dessen Schönheit sich nicht allein an seiner Reinheit orientiert. Sich der Schönheit und Einmaligkeit dieses Schmuckstücks bewusst zu sein ist bedeutsamer als das Benennen eines Preises. Solche Menschen sind mir lieber als jene, die kommen und einen Einkaräter in ›slightly tinted white‹ wollen.«
Die Natürlichkeit dieses Mannes begeisterte Marie-Claire. Er hatte nichts Kapriziöses. So, wie er sich gab, so sprach er auch über Edelsteine. Sanjay hielt regelmäßig Schmuckstücke von unvorstellbarem Wert in der Hand und besaß sie auch. Dennoch schien er völlig immun gegen weltliche Werte, war ganz Ästhet und gestand Edelsteinen offensichtlich eine Art inneren Wert und Bedeutung zu.
Plötzlich wirkte Sanjay sehr ernst. Fast unangenehm lange schaute er ihr in die Augen.
»Marie-Claire, Sie sind eine Frau, die weiß, was ich denke, was ich fühle. Sie wissen es – und Sie verstehen es! Denn auch Sie haben mit Ihrem Beruf etwas zum Inhalt Ihres Lebens gemacht, das neben den schnöden materiellen Aspekten viel Seele in sich trägt. Das, und nicht nur das, verbindet uns. Deswegen möchte ich Ihnen von einer indischen Überlieferung erzählen, die Ihnen helfen möge, mich noch besser zu verstehen. Denn das, Marie-Claire, würde meiner Seele sehr schmeicheln …«
Fasziniert von der Ruhe, mit der Sanjay Kasliwal sprach und sie dabei so unglaublich tiefgründig anschaute, glaubte Marie-Claire für Momente, sie müsse erröten. Aber sie fühlte, dass das nicht geschah. Sie hatte nur eine Erklärung dafür: Vertrauen! Ja, zu diesem Menschen hatte sie Vertrauen, etwas, das sie noch nie in ihrem Leben gehabt hatte. Schon gar nicht zu einem Mann …
Sanjay lächelte. Sie hatte das Gefühl, er habe ihre Gedanken gelesen. Sie lehnte sich im Sessel zurück und signalisierte damit, dass Sie ihm zuhören wollte.
»In meiner Heimat, Marie-Claire, sagt man, dass Diamanten die Tränen Gottes sind. Denn nur so ist für uns dieses einzigartige, unverwechselbare und in seinem Farbspektrum kosmisch-schöne innere Feuer, das ein jeder Diamant in sich trägt, zu erklären. Und weil dem so ist, wurden Diamanten immer wieder als Augen von Götterstatuen verwendet.«
Marie-Claire stockte der Atem. Sie ahnte, ja wusste, was jetzt kommen würde.
»Beim Untergang der Maharadscha-Reiche versteckten meine Vorfahren ihre heiligen Schätze, den Familienschmuck, Edelsteine und uns heilige Insignien, im Inneren einer hohlen Statue. Sie war mehrere Meter hoch, aus dem Fels herausgeschlagen und somit auf immer mit dem Fels verbunden. Die Statue war so schwer, dass selbst fünfzig Männer sie nicht hätten wegtragen können. Drei Augen hatte diese Statue – drei große, ungewöhnlich reine Diamanten. Diese drei Tränen Gottes waren mit einem nur wenigen Familienangehörigen bekannten Mechanismus kombiniert. Nur wenn die Sonne an einem ganz bestimmten Tag im Jahr in einem bestimmten Winkel über dieser Statue stand, wenn das Licht der Sonne durch die drei Diamanten hindurch ins Innere der Statue fiel, ließ sich dieses Heiligtum öffnen. Denn jeder Diamant hat, wie Sie selbst ja wissen, ein unverwechselbares inneres Feuer, das sich aus dem Licht des Tages nährt. Und so war vorbestimmt, dass nur die Träger dieses Geheimnisses, ehrwürdige Männer unserer Familie, in der Lage sein würden, dieses Heiligtum zu öffnen, wenn Gottes Zeichen ihnen kundtun würde, es zu tun. Und damit keine Schurken, keine Unwürdigen sich mit Gewalt Zugang zum Inneren dieser Statue verschaffen konnten, war diese Statue mit einem zweiten Mechanismus versehen, der alles Irdische zerstört, würde der Steinkoloss gewaltsam geöffnet werden.«
Marie-Claire wurde von Gefühlen und Gedanken übermannt. Sie hatte von dieser Götterstatue schon gehört – vor wenigen Wochen erst. Francis Roundell hatte bei ihrem Treffen im Café Landtmann in Wien davon gesprochen und diese Geschichte als Legende bezeichnet. Und er hatte sie im Zusammenhang mit dem Florentiner erzählt! Nun saß ein Mann vor ihr, dessen Aura sie völlig verwirrte, und erzählte ihr genau diese Legende, die ganz offensichtlich keine Legende war. Zaghaft fragte sie: »Warum erzählen Sie mir all das, Sanjay?«
»Weil ich spüre, nein, ich weiß, Marie-Claire, dass Ihr und mein Karma in einer wundersamen Weise dazu auserkoren sind, den Willen des Schöpfers mit Leben zu erfüllen, seinen Wunsch zu erfüllen!«
»Seien Sie mir bitte nicht böse, Sanjay«, flüsterte Marie-Claire de Vries, »Ihr Vertrauen, Ihre Herzlichkeit und Ihre Worte verwirren mich. Ich verstehe all das nicht!«
Sanjay Kasliwal lächelte sie voller Herzenswärme an.
»Ich kann, ich darf Ihnen leider nicht alles erklären, Marie-Claire. Es hat mit einem Traum, mit einer Prophezeiung zu tun, die mein Großvater, der Allmächtige sei seiner Seele gnädig, hatte. Träume sind Geschenke Gottes. Man darf nicht darüber reden, denn dann verflüchtigen sie sich. Aber man muss ihnen folgen. Sie, Marie-Claire, müssen dieser Prophezeiung nicht folgen, aber Sie könnten es, Sie können mir helfen, den Traum, die Prophezeiung zu erfüllen – wenn Sie es wollen.«
»Was muss ich tun?« Marie-Claires Stimme zitterte ebenso wie ihre Hände.
»Grabräuber, seelenlose Schurken haben dieses Heiligtum unserer Familie und unseres Volkes entweiht, sie haben die drei Diamanten, die göttlichen drei Brüder, die Augen, die Tränen Gottes aus der Statue herausgeschlagen. Das geschah vor vielen hundert Jahren. Seither ist der Zugang zu dem Schatz und zu den heiligen Insignien unseres Volkes für immer verhindert. Ich weiß, wo diese Statue versteckt ist! Und ich weiß, dass ich dazu auserkoren bin, diese Tränen Gottes, die Diamanten zu finden. Ich suche die göttlichen drei Brüder. Deswegen bin ich in Europa. Sie gehören meinen Vorfahren, meinem Volk. Es ist ein nationales Heiligtum. Nicht der Schatz, nicht der materielle Wert der Diamanten, der Juwelen, des Goldes und Silbers interessiert mich. Ich will, dass mein Volk das zurückbekommt, was ihm seit Jahrtausenden gehört. Es schien mir in den letzten Jahren ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die Spuren dieser drei prachtvollen Diamanten haben mich rund um die Welt geführt. Ich glaube zu wissen, dass sie von Indien in den Nahen Osten gelangt sind. Dort, so vermute ich, gingen sie in den Besitz der Kreuzritter, höchstwahrscheinlich der Templer. Es geht die Sage um, dass die drei Diamanten zum legendären Schatz der Templer gehörten, wobei ich mittlerweile der festen Überzeugung bin, dass es diesen Schatz der Templer so, wie man sich ihn gemeinhin vorstellt, gar nicht gab. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Templer wussten, dass die drei Diamanten zu jener Götterstatue gehörten, in deren Innerem unvorstellbare Schätze lagen und noch immer liegen. Das, Marie-Claire, ist meine Vermutung. Und ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, die Steine zu finden – um meinem Volk dieses heilige Eigentum zurückgeben zu können!«
Sanjay Kasliwal schwieg für einen Moment. Er schien höchst konzentriert. Sein Blick war fest auf Marie-Claire de Vries gerichtet. Mit ernsthafter Miene sprach er weiter: »Edelsteine von solch ungewöhnlicher Größe und Schönheit hinterlassen Spuren, weil sie Begehrlichkeiten wecken. Die Gier der Menschen nach solchen Edelsteinen hinterlässt Spuren. Zumal diesen Diamanten nachgesagt wird, dass sie seit der Entfernung aus der Statue mit einem Fluch belegt sind, der Unheil über ihre neuen Besitzer bringt. Wir beide wissen, dass dem so ist, denn dieser Fluch hat Spuren hinterlassen. Ich bin ihnen gefolgt – hier im Abendland. Was das Ganze schwierig macht, ist die Tatsache, das es von zumindest einem dieser Edelsteine eine Kopie gibt. Die Ähnlichkeit dieser Kopie mit dem Original ist so frappierend, dass ich nicht immer sicher bin, ob ich nun der Spur einer Kopie folge oder jener des Originals.«
Marie-Claire zitterte nicht nur innerlich. Was Sanjay ihr in geradezu erschreckender Offenheit mitteilte, war in seinen Dimensionen so unglaublich, dass es nicht alleine mit seinem Vertrauen zu ihr zu erklären war. Warum erzählte er ihr das? Warum offenbarte er Details über ein Geheimnis, das mit schier unvorstellbaren materiellen Werten verknüpft war? Er kannte sie doch überhaupt nicht! War es Taktik? Wollte er ihr Informationen entlocken? Oder war er einfältig? Nein, das war dieser Mann ganz sicher nicht! Aber man erzählte doch einem fremden Menschen nicht solche Dinge! Oder doch?
Nervös nippte sie an dem Rotwein und zündete sich eine Zigarette an. Sie entschied sich, vorsichtig und doch ehrlich zu sein.
»Einer jener drei Diamanten, von denen Sie sprechen, Sanjay, wird jetzt der Florentiner genannt, richtig?«
Gebannt starrte sie ihn an. Er antwortete, ohne lange zu überlegen und sehr ruhig. Sie sah, dass er die Wahrheit sagte.
»Ja, das stimmt!«
»Und Sie sagen, es gibt eine Kopie?«
»Ja! Und das wissen Sie, Marie-Claire! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie als Wienerin und als renommierte Expertin für historischen Schmuck nicht wissen, dass in der Wiener Schatzkammer eine solche Kopie dieses Diamanten, den Sie Florentiner nennen, existierte.«
»Nein, davon weiß ich wirklich nichts!« Marie-Claire riss die Augen weit auf. Ihre Überraschung war nicht gespielt.
»Ja, es existierte eine! Und vielleicht gibt es sie noch immer«, sprach Sanjay Kasliwal weiter. »Die Wiener Schatzkammer hatte meines Wissens Mitte des 18. Jahrhunderts unter Leitung eines Mannes mit Namen Joseph Angelo de Frances den Charakter einer Kunstkammer bekommen. Später wurde dann sogar ein eigenes Juwelenzimmer eingerichtet. In dieser Zeit lag eine Kopie in diesem Juwelenzimmer – und zwar zusammen mit dem auch damals schon Florentiner genannten Original, ein Hundertsiebenunddreißig-Karäter mit gelblichem Schimmer. Sowohl das Original als auch die Kopie sind aber verschwunden.«
Dieser Mann aus Indien, das war Marie-Claire klar, war ein absoluter Kenner von Edelsteinen, ein Experte – und auch ein Experte, was den Florentiner betraf. Nein, sie hatte nichts von einer Kopie in der Wiener Schatzkammer gehört. Sie wusste lediglich, dass der Florentiner im Jahre 1919 zusammen mit anderen Edelsteinen, Schmuck und Preziosen von der kaiserlichen Familie aus der Vitrine XIII der Schatzkammer entnommen und als Habsburger Privatschmuck in die Schweiz geschafft worden war. Siedend heiß fiel ihr plötzlich eine Passage aus jenem Buch ein. Der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer hatte sich maßlos enttäuscht über die mindere Qualität des Florentiners ausgelassen. Mein Gott, durchzuckte es Marie-Claire. Hatte der österreichische Kaiser bei seiner Flucht in die Schweiz etwa gar nicht den Florentiner, sondern eine Kopie mitgenommen? Hatte über Jahrhunderte hinweg nur eine Kopie dieses legendären Diamanten in der Wiener Schatzkammer gelegen? Konnte das sein? War es möglich, mit den damals verfügbaren technischen Mitteln eine täuschend echte Kopie eines solch großen Diamanten herzustellen? Wenn das aber nur eine Kopie gewesen war, wo war dann das Original?
Sanjay Kasliwal beobachtete Marie-Claire de Vries. Er sah, wie verwirrt sie war und dass ihre Gedanken sich überschlugen. Leise räusperte er sich.
»Es tut mir Leid, Marie-Claire, dass ich Sie solchen Irritationen aussetze. Ist die Sache mit der Kopie denn für Sie so bedeutsam?«
»Mehr als das, Sanjay! Es ist eine Sensation! Denn wenn zutrifft, was Sie sagen, müssen wir die ohnehin sehr verwirrende Geschichte dieses Florentiners neu schreiben! Es gibt nämlich noch eine Kopie!«
Zum ersten Mal, seit sie Sanjay Kasliwal kannte, sah Marie-Claire ihn nun staunen. Er war erstaunt – oder schockiert. Dessen war sie sich nicht ganz sicher. Es stand jedoch fest, dass er von dieser Information maßlos beeindruckt war.
»Sind Sie sich sicher?«, fragte er. Es gelang ihm nicht, seine Erregung zu verbergen.
»Ja, absolut sicher! Ich weiß es seit gestern. Diese Kopie liegt im Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia Leonardo da Vinci in Mailand, in der Abteilung Arte Orafa. Ich habe gestern ein Fax erhalten – und ein digitales Foto dieser Kopie. Es ist eine zumindest optisch beeindruckend schöne und täuschend ähnliche Kopie. Die Frage ist nun, ob sie jene Kopie ist, die einst in der Schatzkammer in Wien lag – oder ob es eine zweite Kopie ist. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es eigentlich jemals ein Original in der Schatzkammer in Wien gegeben hat. Wenn nicht, wäre das die Sensation des Jahrhunderts!«
Marie-Claire erschrak über sich selbst: Warum hatte sie das gesagt? All das wusste sie selbst erst seit gestern und hatte diese Information bislang weder verifizieren noch in ihrer Auswirkung auf ihren Auftrag richtig einschätzen können. Jetzt hatte sie ein Geheimnis preis gegeben. Dabei hatte Francis Roundell sie in aller Eindringlichkeit gebeten, über ihren Auftrag absolutes Stillschweigen zu wahren. Warum nur hatte sie Sanjay soeben all das verraten?
Sanjay schien ebenso fasziniert wie verwirrt zu sein. Seine Reaktion zeigte jedoch nichts davon.
»Sehen Sie, das ist ein Grund, warum die Suche nach den Tränen Gottes so irritierend und doch so spannend ist. Legenden, Mythen, Sagen und Fakten einen sich zu einem Konglomerat von Informationen. Keiner weiß so richtig, wo zumindest dieser Florentiner, also das Original ist! Seit 1920 ist er angeblich spurlos verschwunden …«
»Und die beiden anderen Tränen Gottes?«
Marie-Claire war sich im Klaren darüber, wie provokant diese Frage war. Sanjay wich ihr nicht aus. Fast mystisch lächelte er sie an. »Marie-Claire, warum sollten wir uns mit taktischen, von Misstrauen bestimmten Spielchen das Leben schwer machen? Sie wissen ebenso wie ich, dass wir von den seit Jahrhunderten als der Große und der Kleine Sancy bezeichneten Steinen sprechen. Und die wurden leider vor kurzem geraubt! Der Fluch bewahrheitet sich also. Der Fluch des Florentiners wird die Räuber einholen. Dessen bin ich mir absolut sicher. Ich ahne, aber ich weiß noch nicht ganz sicher, wo die Diamanten jetzt sind. Und ich glaube und hoffe, Marie-Claire, dass Sie mir dabei helfen werden, die Tränen Gottes, die göttlichen drei Brüder, wieder nach Indien zurückzubringen. Dieser Fluch wird nur zu durchbrechen sein, wenn wir die Originale haben und sie dahin zurückbringen, wo sie hingehören: nach Indien! Ich glaube übrigens nicht, dass der Mechanismus der Statue auch mit Kopien funktioniert. Es gibt ja in Amerika einen Mann namens Carter Clarke, einen ehemaligen US-General. Er fertigt künstliche Diamanten an, die mit herkömmlichen Methoden nicht von echten Diamanten zu unterscheiden sind. Sie haben sicher schon von ihm gehört?«
Marie-Claire nickte. Der umtriebige Exgeneral sorgte seit einiger Zeit mit seinem Unternehmen in Sarasota, Florida, für erhebliche Turbulenzen auf dem milliardenschweren internationalen Diamanten- und damit auch auf dem Schmuckmarkt. Der Amerikaner hatte sein Wissen, künstliche Diamanten herzustellen, von einem russischen Wissenschaftler erworben. So revolutionär sich das Ganze anhörte, so simpel war im Prinzip der Herstellungsprozess. Letztendlich wurden in Reaktoren die Bedingungen im Bauch der Erde vor vielen Millionen Jahren, als die meisten Diamanten unter extremsten Temperatur- und Druckverhältnissen aus Kohlenstoff entstanden, nachgeahmt. In den USA wurden dabei echte Diamantsplitter zusammen mit Graphit in einem Reaktor unter dreitausend Grad Celsius und einem Druck von fünfzigtausend Atmosphären zu Diamanten geformt. Kaum mehr als drei Tage dauerte die Herstellung eines Rohdiamanten. Vor allem die begehrten gelben Diamanten, so wie der Florentiner, wurden dort hergestellt. Kostete ein echter Diamant auf dem internationalen Markt zirka zwanzigtausend Euro pro Karat, verkaufte die Firma Gemesis sie für rund viertausend Euro. Da diese synthetischen Edelsteine von einem echten fast nicht zu unterscheiden waren, beunruhigte diese Entwicklung die Edelsteinexperten von DeBeers, dem größten Diamantenkonzern der Welt. Der Monopolist hatte sofort reagiert und ein neuartiges Prüfgerät entwickelt. Im Prüflabor IGI in Antwerpen wurden seither alle Diamanten im »Diamond View System« mit ultraviolettem Licht bestrahlt. In starker Vergrößerung zeigt sich die unregelmäßige Wachstumsstruktur eines echten Diamanten, während der synthetische Diamant durch seine Ebenmäßigkeit entlarvt werden kann – aber nur für Experten. Ein Laie ist selbst mit Lupe nicht in der Lage, Original von synthetischer Ware zu unterscheiden. So gelassen DeBeers sich vermeintlich gab und damit warb, dass ein Konsument stets das Echte haben wolle, so viele Turbulenzen zeichneten sich längst auf den Edelstein- und Schmuckmärkten ab.
Für Marie-Claire setzten enorme Gewissens- und Interessenkonflikte ein. Sollte sie Francis Roundell von diesem Gespräch berichten? Wieso zögerte sie eigentlich, ihren Sicherheitschef zu informieren? Traute sie ihm nicht? Aber wieso traute sie Sanjay? Sollte sie diesem Inder sagen, dass sie selbst ebenfalls auf der Suche nach dem Florentiner war? Sollte sie ihm trauen, misstrauen – oder gar mit ihm kooperieren? Sollte sie ihre persönlichen Empfindungen für diesen faszinierenden Mann aus Indien unterdrücken und rational vorgehen? Sie wusste nicht, wie sie handeln sollte, als sie antwortete: »Ja, ich weiß natürlich, welche Perspektiven durch diese Produktionsverfahren von künstlichen Diamanten für die Zukunft entstehen werden! Allerdings sind diese Leute in den USA derzeit nur in der Lage, Diamanten bis zu etwa viereinhalb Karat herzustellen. Eine täuschend echte Kopie des Florentiners mit seinen hundertsiebenunddreißig Karat wird es also aus den USA nicht geben. Und die beiden Sancys können dort aus dem gleichen Grund nicht reproduziert werden – noch nicht!«
Der indische Edelsteinexperte aus Rajasthan nickte wissend mit dem Kopf. »Ich teile Ihre Einschätzung, Marie-Claire! Für mich ist ohnehin klar, dass das Geheimnis der Götterstatue erst dann entschlüsselt und der Fluch des Florentiners durchbrochen werden kann, wenn das Original des Steines wieder nach Indien zurückkehrt. Diamanten haben eine Seele. So sehe zumindest ich das. Die Seelen dieser göttlichen drei Brüder müssen geeint werden, denn gemeinsam wachen sie über Macht, Erleuchtung und ewiges Leben …«
Knapp eine Viertelstunde später verließ Marie-Claire de Vries Harry’s New York Bar. Die Uhr in der Hotelrezeption zeigte bereits fünf Uhr am Morgen an. Sie war völlig erschöpft und zugleich aufgedreht. Dieser Mann in der Bar – wer war das gewesen? Litt sie schon unter Halluzinationen, unter Verfolgungswahn?
»Du hast einen Knall, Marie-Claire de Vries«, murmelte sie im Hotelaufzug vor sich hin und versuchte, ihre wahnwitzigen Gedanken zu verdrängen. Doch irgendetwas stimmte da nicht! Etwas an diesem Mann mit dem schütteren Haar und der Krücke in der Bar war seltsam gewesen. Mit Sanjay Kasliwal war sie so verblieben, dass er sich in Kürze bei ihr in Wien melden würde. Er hatte ihr von seinen Reiseplänen erzählt.
»Ich folge der Seele des Florentiners«, hatte er gesagt und von Besuchen in Grandson, Florenz und Paris gesprochen. Sie war sich einerseits im Klaren darüber, dass diese in der Historie des Florentiner-Diamanten einst so bedeutsamen Orte und Städte für ihre Aufgabe nicht wirklich von Relevanz waren, andererseits spürte sie ein sehr ausgeprägtes Verlangen, Sanjay wiederzusehen. Der Gedanke, mit ihm zu diesen Orten zu fliegen, mit ihm zu diskutieren und ihm zuzuhören, reizte sie maßlos. Ja, sie wollte mehr über ihn wissen, denn sie genoss seine Gegenwart. Das für sie wirklich Faszinierende daran war, dass sie spürte, dass es keines jener üblichen Verlangen nach der Nähe eines Mannes war. Aber was war es? Und wer war dieser Mann in der Bar gewesen? Er hatte den ganzen Abend in der Bar verbracht und war zur selben Zeit wie sie dort aufgetaucht. Eigentlich hatte sie ihn ständig registriert, ihm aber keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem hatte er sich ihnen gegenüber sehr desinteressiert gezeigt. Nur für Bruchteile von Sekunden hatte sie Blickkontakt mit ihm gehabt, als sie die Bar verlassen wollten. Beim Aufstehen hatte sie ihm und er hatte ihr ganz kurz in die Augen geschaut, und genau dieser Moment hatte bei ihr ein eigentümliches Gefühl ausgelöst. Ein Satz von Francis Roundell war ihr in den Sinn gekommen: »Der Verräter verrät sich durch das Gedankengut des Verräters – und seine Augen sind seine Lippen.« Wie wahr! Wer log, verriet sich schnell durch eine ungewöhnliche Reaktion seines Körpers. Manche wurden rot bei der Lüge, andere hüstelten, wiederum andere Menschen kratzten sich am Kopf oder glaubten, sich durch das Verschränken der Arme vor verräterischen Reaktionen zu bewahren. Und manchen Menschen konnte man die Lüge in den Augen ablesen. So wie diesem Mann. Doch was war an ihm so auffällig? Der vielleicht Fünfundvierzigjährige hatte nur da gesessen, einige Bier getrunken und geschwiegen. Er hatte einen Gipsfuß. Seine Krankenhauskrücke lag die ganze Zeit quer über seinen Oberschenkeln. Seine Aktentasche stand neben dem Sessel.
Der Aufzug hielt in der fünften Etage des Hotels. Die Türen öffneten sich. Plötzlich lief Marie-Claire ein Schauer über den Rücken. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Ihre Müdigkeit war wie weggefegt. Die Erkenntnis war wie ein Schock, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzte. Ja, natürlich! Die Krücke! Die Krücke dieses Mannes hatte über nahezu vier Stunden quer auf seinem Schoß gelegen. Nicht ein einziges Mal war er aufgestanden, hatte sich nicht um einen Millimeter bewegt. Und das, obwohl er sicherlich sechs bis acht Glas Bier getrunken hatte. Der Mann war dort wie eine Statue sitzen geblieben. Mit einer Tasche neben sich. Und mit einem Krückstock, der keinen Gummipfropfen am unteren Ende hatte. Ein Krückstock, der die ganze Zeit mit dem unteren Ende in ihre Richtung gezeigt hatte. Ja, das war es! Zehn Minuten später lag Marie-Claire de Vries im Bett. Sie war hellwach. Um acht Uhr würde Francis Roundell in seinem Büro sein. Dann würde sie ihn anrufen und fragen. Ja, sicherlich würde er es wissen. Er mit seiner beruflichen Vergangenheit als Kriminalbeamter wusste bestimmt, ob es technisch möglich war, in eine solche Krücke ein Richtmikrofon einzubauen. Ein Richtmikrofon, mit dem man das Gespräch am Nebentisch abhören konnte. Francis wusste so was. Aber sollte sie Francis wirklich fragen? Wieso, dachte sie plötzlich, musst du eigentlich darüber nachdenken, ob du ihn fragst? Wieso hast du Zweifel? Erklären konnte sie sich das nicht wirklich. Sie wusste nur, dass eine innere Eingebung ihr nahe legte, vorsichtig zu sein. Auch gegenüber jenem Mann, der ihr den Auftrag gegeben hatte, den Verbleib des Florentiner-Diamanten zu recherchieren. Wie auch immer: Um acht Uhr würde sie ihn anrufen.