172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

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12. Kapitel

Am Wörthersee regnete es in Strömen. Nebelschwaden zogen, getrieben von einem starken Südwind, über die Wälder an den Hängen bei Mariawörth. Die barocke Kapelle auf dem Hügel vor dem kleinen Ort war kaum zu erkennen. Dunkle Regenwolken hingen über den Berggipfeln um den See herum.

Marie-Claire war beeindruckt. Gregors Haus lag an einem bewaldeten Hang einige hundert Meter oberhalb von Mariawörth. Der Blick hinab auf den mittleren Teil der drei miteinander verbundenen, mit Inseln und Halbinseln durchsetzten Seen war grandios. In der einbrechenden Dunkelheit konnte sie die romantisch im Wald versteckte Villa nur schemenhaft erkennen. Es war ein idyllisches Anwesen, dominiert von einer dreigeschossigen Fachwerkvilla mit schiefergedeckten Türmchen und Erkern und einem Park, so groß wie ein Fußballfeld. Uralte Bäume säumten die Zufahrt. Kein Namensschild oder irgendein anderer Hinweis verriet, wem diese herrschaftliche Villa gehörte. Sie war sehr lange nicht mehr am Wörthersee gewesen. Mit ihm verband sie viele Erinnerungen. Als Kind hatte ein Sommeraufenthalt am See zu den alljährlichen Pflichtveranstaltung ihrer Eltern gehört. Mal waren es Seminare, zu denen ihr Vater geladen worden war, mal Einladungen zu rauschenden Festen der hier etablierten High Society oder Besuche bei Verwandten in Klagenfurt, die sie bisher geführt hatten. Für Marie-Claire waren es meist sehr langweilige Tage gewesen. Wer in Osterreich was auf sich hielt, hatte hier am Wörthersee eine Villa. Die Reichen lockten die Massen an wie Speck die Mäuse. Die Zauberformel der Gegenwart hieß Event-Tourismus. Fernsehsendungen wie Das Schloss am Wörthersee kreierten einen lärmenden Bustourismus. Heerscharen von Gaffern und Hunderttausende Kaffeefahrtenbesucher eilten seither an die Ufer des Sees. In Pörtschach prägten längst grauenhafte Betonsilohotels, Souvenir- und Würstchenbuden die einst so romantische Uferpromenade. Die Grundstückspreise waren in astronomische Höhen geschnellt. Von einem ihrer Freunde wusste sie, dass eine der kaum mehr erhältlichen Lizenzen für ein Motorboot auf dem See jetzt rund siebzigtausend Euro im Jahr kostete. Es gab genug Leute, die willens und in der Lage waren, diese horrende Summe zu bezahlen.

Mit den seit einigen Jahren stattfindenden Beach-Volleyball-Weltmeisterschaften am Strandbad in Klagenfurt pilgerten nun allerdings auch jugendliche Partyjünger und Sportfreaks nach Kirnten. Die da einst dieses landschaftliche Juwel knapp vier Stunden südlich von Wien als Deluxe-Wochenend- und Sommerrefugium auserkoren hatten, stöhnten unter dem Szenen-Hype des Jungvolkes, das in der Diskothek »Fabrik« mit der Fête Blanche das Party-Highlight des Sommers feierte, während das selbst ernannte Establishment am See mit dem Weißen Fest auf der Moosburg eine dekadente Variante dagegensetzte. Der Dresscode war für alle gleich: Es musste ein weißes Outfit sein.

Die Massen standen an den Würstchenbuden Schlange, während Österreichs Crème de la Crème im Restaurant Leon auf Schloss Leonstain bei Pörtschach schlemmte. Oder in der Orangerie des Tophotels am See überhaupt: dem Fünf-Sterne-Relais & Chateau-Etablissement Seefels, wohin, wer Rang und Namen hatte, mit dem Boot zum Dinner fuhr. Gregor schien beides zu haben. Als sie mit seinem gut zehn Meter langen, mit Mahagonitäfelung und weißen Ledersesseln ausgestatteten Motorboot vom West- zum Ostufer schipperten und am Seefels anlegten, erwartete sie ein smarter Hotelangestellter bereits mit einem »Grüß Gott, gnädige Frau – schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herr von Freysing«. Weil das Seerestaurant Porto Bello nur im Sommer geöffnet war, führte der weiß livrierte Angestellte sie an den im Restaurant bereits reservierten Tisch mit Blick auf den See. Sie hatten kaum Platz genommen, als der Küchenchef, ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann mit Brille und relativ langen, mittelblonden Haaren, herbeieilte. Er begrüßte Gregor sehr vertraulich, machte Marie-Claire eine widerwärtig schleimig wirkende Aufwartung und schlug ein Menü vor, bei dem sie begriff, dass sie schon seit zwei Tagen nicht mehr richtig gegessen und daher einen unvorstellbaren Hunger hatte.

»Der Jahreszeit entsprechend, verehrte gnädige Frau …«, parlierte der Küchenchef wie auswendig gelernt, »würde ich Ihnen als Entrée den Yellow-fin-Tunfisch mit Wasabi-Panna-Cotta oder den Kefir-Limonen-Cappuccino mit Seeteufel und schwarzem Sesam empfehlen. Als Spezialität des Wörthersees kann ich Ihnen danach nur zu der Lasagne vom Bachsaibling mit Blattspinat, Forellenkaviar und Karottenschaum raten. Der lauwarme Hummer mit Eierschwammerln und Junglauch wird diese Vorspeisen exzellent abrunden und sich fraglos mit einem Rohmilchbrie mit Nussbrot, Apfelspalten und Rucola hervorragend kombinieren lassen.«

Marie-Claire war plötzlich bedrückt. Das hier war nicht ihre Welt! Gregor dagegen fühlte sich sichtlich wohl. Es saßen nur wenige Gäste in dem von orangefarbenen Stühlen und Vorhängen dominierten Restaurant. Was dieses empfohlene Menü kosten würde, konnte sie nur erahnen. Über Preise sprachen aber weder der Küchenchef noch Gregor, der einen trockenen 82er Riesling aus dem Rheingau zum Essen bestellte und nicht auf die Idee zu kommen schien, dass sie vielleicht lieber einen Rosé getrunken hätte. Unauffällig schaute Marie-Claire sich um. Die drei alten Damen zwei Tische weiter waren teuer-elegant gekleidet. Die eine trug Schmuck, den sie mit einem Blick als Cartier-Kollektion erkannte. Zwei weitere Frauen saßen in der Nische am Fenster und schienen soeben von einer Modenschau in Mailand zurückgekehrt zu sein.

Gregor trug eine elegante Kombination aus blauem Blazer und hellgrauer Hose. Verlegen räusperte sie sich. Sie selbst hatte nur Jeans und einen eher sportlichen, schwarzen Rollkragenpullover an und kam sich sehr deplatziert vor. Sie fühlte sich hier wie auf dem Präsentierteller, denn sie spürte die Blicke der anderen Gäste und war sich sicher, dass man sie für eine Geliebte, eine attraktive, aber keinesfalls standesgemäße Wochenendgespielin von Gregor hielt.

Gregor schien das zu bemerken, doch er wirkte seltsam steif. Schon während der Fahrt hatte er sich sehr schweigsam gegeben. Er war wortkarg, aber wie immer sehr höflich.

»Wenn du möchtest, können wir uns auch ein Dinner zusammenstellen und drüben in der Bar servieren lassen. Da ist es gemütlicher.«

Das stellte sich als sehr gute Idee heraus, und es sah so aus, als habe Gregor mit diesem Vorschlag den Abend gerettet. In der großen, aber kaum besuchten Bar nahmen sie in einem sehr anheimelnden Erker Platz. Die beiden Couchen waren sehr bequem, das Interieur geschmackvoll, und die Atmosphäre war plötzlich wie ausgewechselt. Sie fühlte sich befreit und lächelte. Gregor schien auf diesen Moment gewartet zu haben.

»Du bist keine Fotografin und arbeitest auch nicht an einem Bildband über deutsche Ritterorden, richtig?«

Marie-Claire errötete. Es blieb ihr keine Zeit, über ihre Antwort nachzudenken. Gregor schaute sie sehr freundlich, aber auch fordernd an. Sie wusste, dass es wenig Sinn haben würde, zu lügen. Daher entschied sie, den direkten und ehrlichen Weg zu gehen.

»Nein, bin ich nicht«, gab sie zu. »Ich arbeite für das Auktionshaus Christie’s. Ich bin Expertin für historischen Schmuck und war auf Recherche. Da habe ich dich dann gesehen. Ich fand dich sehr attraktiv. Du hast mich interessiert! Deswegen habe ich dir diese Geschichte erzählt. Ich hatte nicht genug Selbstvertrauen, das gleich zuzugeben. Welche Frau sagt so etwas schon.«

Sie hatte sehr spontan geantwortet. Dennoch war es nur die halbe Wahrheit. Doch Gregor war mit dieser Antwort zufrieden.

»Schön, dass du ehrlich bist. Ja, doch, das ist sehr schön. Das ist eine gute Basis!«

Er sprach sehr leise, ruhig – besänftigend. Die bisher eher steife Konversation zwischen ihnen lockerte sich auf. Das Knistern des Kaminfeuers, die dezente Musik, das warme Licht, das exzellente Essen, der Wein und Gregors Lachen ließen sie alles um sie herum vergessen. Die Ereignisse der vergangenen Tage und Nächte fielen von ihr ab, die Flut der Gedanken und marternden Verdachtsmomente waren wie weggewischt. Eine seit vielen Jahren nicht mehr erlebte Leichtigkeit überkam sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie bereit war, ihm zu vertrauen. Marie-Claire, sagte sie zu sich selbst, warum musst du dein Leben immer so kompliziert gestalten? Warum musst du hinter den schönen Dingen des Lebens stets noch etwas anderes vermuten? Warum nimmst du nicht, was ist, was sich anbietet – warum lebst du nicht unbeschwerter? Er ist ein sehr interessanter Mann! Warum machst du es nicht wie deine Freundin Chrissie, deren Wahlspruch »Take it easy – but take it« ihr zwar manchen Ärger, aber auch unendlich viele schöne Erlebnisse eingetragen hatte?

»Du bist geschieden und hast Kinder?« Die Frage war provokativ, denn sie hatte mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass es den moralischen Vorstellungen und wahrscheinlich auch den Statuten des Ordens vom Goldenen Vlies entsprechend undenkbar war, dass ein Vlies-Ritter nochmals heiraten konnte und durfte. Marie-Claire wunderte sich, wie ehrlich er war.

»Ja, ich bin geschieden. Ich habe drei Kinder. Sie leben bei der Mutter. Und ich würde dir gerne – sehr gerne – mehr Vertrauen entgegenbringen können! Doch seit wir uns kennen, stellst du sonderbare Fragen. Und du hast mich mehrmals belogen! Kleine Lügen mögen es gewesen sein, vielleicht, aber ich finde es sehr bedauernswert. Eigentlich bin ich traurig darüber. Ich würde dir lieber mehr von mir erzählen – und zuhören, wie du von dir erzählst! Mein Leben ist kompliziert. Es ist bestimmt von sehr viel Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Verpflichtungen, beruflichen Vorgaben, familiären Zwängen und einem anerzogenen Misstrauen fremden Menschen gegenüber.«

»Aber du belügst mich auch, und ich kann auch dir nicht trauen. Du weißt also, dass ich für Christie’s arbeite. Du sagst mir aber nicht, dass du vor geraumer Zeit bei Christie’s vorgesprochen und dich für den Florentiner-Diamanten interessiert hast. Wie soll ich da Vertrauen haben?«, unterbrach Marie-Claire ihn. Sie sah in seinen Augen, dass er mit dieser Direktheit nicht gerechnet hatte. Doch Gregor überlegte nicht lange.

»Ich bin von Freunden des Hauses Habsburg beauftragt worden, den Verbleib diverser Kunstgegenstände und Preziosen aus dem Familienbesitz zu klären und, wenn möglich, diese mit den Geldern von honorigen Mäzenen zurückzukaufen. Die österreichische Republik hat damals einen Großteil des Vermögens des Hauses Habsburg konfisziert. Nicht nur den Familienbesitz, sondern auch das ganze private Vermögen des Exkaisers, das sich in Österreich befand. Und zwar mit der Begründung, dass zuerst der Familienschmuck aus der Schatzkammer, der bekanntlich im Auftrage des Kaisers in die Schweiz geschafft wurde, zurückgebracht werden müsse. Das konnte Kaiser Karl damals nicht. Viele Schmuckstücke waren in der Schweiz verkauft oder beliehen worden. Entsprechend mittellos waren der Exkaiser und sein Gefolge plötzlich. Auch später konnte die strittige Frage, was denn nun in der Schatzkammer Privatschmuck und was Staatsschmuck gewesen sei, nie endgültig geklärt werden. Fest steht nur: Würden all die damals aus der Wiener Schatzkammer in die Schweiz verbrachten Schmuckstücke – und dazu gehörte bekanntlich auch der Florentiner-Diamant – wieder zurück nach Wien kommen und an die österreichische Regierung übergeben werden, müssten die Enteignungen von damals überdacht werden. Und das versuchen gewisse Leute nun nach fast achtzig Jahren. Ich bin beauftragt, diese Schmuckstücke zu suchen, also auch den Florentiner. Das ist alles. Es ist kein großes Geheimnis. Es bedarf nur einer gewissen Diskretion, die zu wahren ich mich verpflichtet habe!«

Marie-Claire merkte, wie ihr Herz pochte. Es pochte, weil sie jetzt endlich den Grund für Gregors Interesse an dem Florentiner kannte. Der Florentiner! Deshalb also war Gregor in London gewesen war. Er wollte den Diamanten zurückkaufen. Wenn das stimmte, hatte er damals in London in der Zentrale die Wahrheit gesagt. Ungewöhnlich war ein solches Anliegen auf dem Kunstmarkt nicht. Francis Roundell würde wahrscheinlich jubeln, wenn sie ihm das mitteilen würde. Er würde sich sicherlich in seiner Einschätzung bestätigt sehen. Wie hatte er damals gesagt? »Es ist immer gut, wenn man weiß, dass es auf einer Auktion mehrere Interessenten gibt.«

Plötzlich gefiel ihr die Vorstellung, den heutigen Abend mit Gregor hier am Wörthersee zu verbringen. Eigentlich stand jetzt kein Geheimnis mehr zwischen ihm und ihr. Jeder wusste, was der andere wollte. Jedenfalls was den Florentiner betraf. Ihr Herz schlug schneller, auch weil sie wusste, dass er ihr Vertrauen gewinnen wollte. Seine Stimme klang sehr erotisch, als er sie aus ihren Gedanken riss.

»Dieses permanente Misstrauen zwischen uns würde ich heute Abend sehr gern über Bord werfen. Und zwar ohne weiter darüber zu reden.«

»Ich auch«, flüsterte Marie-Claire de Vries aufgeregt. Sie freute sich auf diesen Abend. Und mehr noch auf die Nacht.

Noch immer lag Nebel über dem Wörthersee. Irgendwo in der dichten Wolkendecke, die sich an den Hügeln um den See herum wie Watte auf die Wälder legte, lugte die Morgensonne hervor, wich dann aber wieder neuen Regenwolken. Marie-Claire lag auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen. Seit Stunden lag sie schon so in seinem Bett im zweiten Stock der Villa über Mariawörth und starrte an die Zimmerdecke. Sehnsüchtig wartete sie auf das erste Tageslicht, wartete auf eine Bewegung von ihm, um so schnell wie möglich aus diesem Bett verschwinden zu können. Aber sein Atem war noch immer gleichmäßig. Er schließ tief und fest. Ihn schienen die Geschehnisse der Nacht überhaupt nicht tangiert zu haben. Vorsichtig richtete sie sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Betts. Sie wollte zu ihm hinüberschauen, spürte aber einen inneren Widerstand, ihn schlafend neben sich zu sehen. Seine Nähe hatte nichts Beruhigendes, sie empfand es nunmehr als unangenehm, dass er nur eine Hand breit neben ihr lag.

Erst jetzt sah sie, welch einen fantastischen Blick man von der Villa über den See hinüber zu den Wäldern und auf die kleine Insel mit dem gelblichen Schloss zur Rechten hatte. In der Nacht waren es nur die vereinzelten Lichter auf der anderen Seeseite gewesen, die sie hatten erahnen lassen, welch grandiosen Blick man von hier oben haben würde. Doch ihr stand der Sinn nicht nach euphorischen Gedanken. Zu sehr war sie mit den zurückliegenden Stunden beschäftigt. Was da geschehen war, konnte sie sich nicht so recht erklären. Anfänglich hatte sie geglaubt, der permanente Stress und der wenige Schlaf der letzten Wochen seien der Grund, dass sich ihr Körper verweigert hatte, mit ihm zu schlafen. Doch mit dem ersten Tageslicht wusste sie, warum es zu dieser eher peinlichen Situation gekommen war. Es war sehr romantisch und kurzweilig gewesen mit ihm in der Bar des Hotels. Sie hatten geplaudert, gelacht, geflirtet, waren fast ehrlich zueinander gewesen und hatten auf den Barkeeper sicherlich wie Verliebte gewirkt. Dennoch. Sie hatten eben nur so gewirkt. Immer wieder waren die Momente der Unbeschwertheit von nachdenklichen Gedanken zerstört worden, die ihr ihren Selbstbetrug vor Augen führten. Trotzdem war sie mit ihm nach der sehr romantischen Fahrt mit dem Motorboot um den See herum in sein Schlafzimmer gegangen, statt sich in den Gästetrakt zurückzuziehen. Er hatte sie nicht gedrängt, ganz im Gegenteil, eigentlich hatte er ihr keine Avancen gemacht. Nein, sie hatte es gewollt. Vielleicht, weil sie beschwipst war. Oder weil die Ruhe des Hauses inmitten des Waldes, das flackernde Kaminfeuer in seinem Salon und die beruhigende Musik von Brahms sie in einen tranceähnlichen Zustand versetzt hatten. Vielleicht! Oder weil sie sich seit langer Zeit nach Zärtlichkeit, nach Nähe und Vertrauen sehnte. Er zog sie körperlich an. Sein Selbstbewusstsein und sein Charme gefielen ihr, sie war beeindruckt von seiner Bildung. Im Lauf des Abends war eine Vertrautheit entstanden, von der sie geglaubt hatte, es sei tiefe Sympathie – eine sehr schöne Basis für eine gemeinsame Nacht. Wie sehr hatte sie sich getäuscht. Ihr Körper hatte sie schnell in die Schranken verwiesen, wahrscheinlich, weil sie ihm letztendlich doch misstraute. Er war nicht wirklich offen, es gab Widersprüche. Während sie ihm erzählt hatte, worin ihre Aufgaben bei Christie’s bestand, ihm ehrlich sagte, dass sie die Historie des Florentiners recherchierte, hatte er sich über seine Familie, seine Rolle im Orden der Ritter vom Goldenen Vlies mit eher kryptischen Andeutungen um eine klare Aussage herumgedrückt. Der Terminus »Diskretion« wurde in diesem Zusammenhang von ihm überstrapaziert. Dabei hatte doch er selbst für uneingeschränktes Vertrauen plädiert! Ihr Verstand entschied nach kurzem Zwiespalt, mit Gregor ins Bett zu gehen. Sie wollte einen männlichen Körper spüren und lechzte nach Berührung und Lust.

Schon nach wenigen Minuten hatte sie gewusst, dass sie zwar nach all dem verlangte, sich danach sehnte, aber nicht mit ihm! Während er ihr behutsam den Pullover über den Kopf gestreift hatte, war ihr Blick über seine entblößte Brust gehuscht – und hatte nach einem Anhänger, nach einer Kette gesucht. Nicht dem männlichen Körper, nicht seinem Körper galt ihr Interesse. Nein, sie wollte wissen, ob er unter seinem T-Shirt ein Kettchen mit dem Anhänger der Ritter vom Goldenen Vlies trug. Ihre Freundin Christiane hatte ihr vor zwei Tagen per E-Mail einige Informationen über die Vlies-Ritter geschickt. Darin stand unter anderem, dass jeder Vlies-Ritter verpflichtet war, neben den prachtvollen, nur für besondere Festlichkeiten gedachten Gold-Collanen auch immer einen kleinen Orden zu tragen. Am Revers oder unter dem Hemd. Nach diesem Zeichen hatte sie heimlich Ausschau gehalten, als er erst sich und dann sie auszog. Und selbst als er schon mit seinen Lippen über ihren Halsansatz hin zum Nacken und zu ihrem Busen geglitten war, war sie in Gedanken bei diesem Anhänger! Er trug keinen! Wieso nicht? Wieso tat er so, als gehöre er zum Orden der Ritter vom Goldenen Vlies? Wieso gab er sich zärtlich, liebevoll – und log sie dennoch an? Als sie schließlich seinen Mund auf ihrem Busen und Bauch gefühlt hatte, spürte sie, dass es nicht ging. Nein, ihr Körper verweigerte dem Verstand den Gehorsam. Ihre Ratio signalisierte tief in ihr »Tu es, du willst es, du liebst es«, aber ihr Körper sprach eine andere Sprache. Er war erstarrt, in Abwehrhaltung. Ihr Körper wollte sich nicht von ihm liebkosen lassen.

»Guten Morgen.«

Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter. Die Gänsehaut, die ihr über den nackten Rücken kroch, bestätigte, dass es heute Nacht richtig gewesen war, sich zu verweigern. Sie war froh, dass sie ihren nackten Busen mit dem Satintuch bedeckt hatte.

»Guten Morgen«, versuchte sie sanftmütig zu klingen. »Tut mir Leid, was heute Nacht passiert ist. Ich kann einfach nicht abschalten! Seit Wochen laufen mein Kopf und auch mein Körper auf Hochtouren. Rien ne vas plus! Ich bin urlaubsreif. Oder ich brauche einen Psychiater!«

»Ist doch kein Problem«, entgegnete er ruhig. »Ich kenne das. Sehr gut sogar …«

Sie hörte den Unterton, die Enttäuschung in seinen Worten. Oder war es Misstrauen? Seine Hand lag noch immer auf ihrem Rücken. Sie hoffte, dass er sie nicht streicheln würde. Trotzdem strengte sie sich an, nett zu sein. In Wirklichkeit hatte sie nur einen einzigen Gedanken: raus aus diesem Bett!

»Ich habe ein riesiges Verlangen nach einer Tasse Kaffee und nach einem schönen, gemütlichen Frühstück«, belog sie ihn und auch sich und räkelte sich vermeintlich wohlig als Zeichen dafür, aufstehen zu wollen. Er deutete ihre Körpersprache richtig.

»Ich habe gestern Abend gesehen, dass kein Kaffee im Haus ist, aber das ist kein Problem. Ich fahre schnell nach Velden, da ist ein Café, das schon morgens geöffnet hat. Dauert aber sicherlich eine halbe Stunde, bis ich zurück bin. Wo das Bad ist, weißt du ja.«

Eine Viertelstunde später wusste Marie-Claire, warum sie sich heute Nacht, nur Bruchteile von Sekunden vor seinem Versuch, mit ihr zu schlafen, anders entschieden hatte. Ja, ihre Intuition hatte sie wieder einmal vor einer falschen Entscheidung bewahrt!

Nach einer schnellen Dusche war sie vom Gästetrakt wieder zurück in den Salon gegangen, hatte sich erst im Kaminzimmer und dann in der angegliederten Bibliothek umgeschaut. Das Haus selbst war riesig und wirkte kalt und unpersönlich. Es hatte keinerlei Charme. Die Bibliothek war so groß wie ihre gesamte Wohnung in Wien. Prächtige Schweinslederbände standen in einer Vitrine. Ein Hondius-Atlas aus dem 17. Jahrhundert lag daneben. Die vielen, teils mehrere hundert Jahre alten katholischen Lexika in der Vitrine zogen sie an. Dann fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Sie wollte nicht wirklich in seinen Unterlagen stöbern. Sie konnte jedoch nicht widerstehen, als sie in einer Ablage neben der Couch ein Manuskript mit einem wunderschönen Wappen sah, dessen heraldische Details sie weder kannte noch zu deuten wusste. Hastig blätterte sie in dem Manuskript, das offensichtlich die Vorlage einer Rede war, die er gehalten hatte oder noch zu halten gedachte. Es war eine Laudatio für eine Organisation, deren Namen sie noch nie gehört hatte, die aber allem Anschein nach in London ansässig war und zu der er sich laut Titel Sei’s Panier in Treue ergeben fühlte. Verwundert las sie die ersten Seiten quer. Die Diktion ließ sie aufmerken. Da war die Rede von Geschwüren am Leib der Kirche und von London als einer so wenig katholischen, hedonistischen Stadt. Irritiert blätterte sie weiter, überflog insbesondere die mit Farbstift markierten Passagen: »… denken wir nur an diesen Kult des Hässlichen, Bösen, Abstoßenden, der heute in so vielen Subkulturen gepflegt wird – bis hin zu so genannten Kunstwerken, wo man versucht, uns Sudeleien aus Körpersäften und Fäkalien als Malerei zu verkaufen … setzen wir dem Gott entgegen! Gott, den Schöpfer des Guten, des Wahren und des Schönen!« Verwirrt schaute sie nochmals auf das Deckblatt. Ja, das hatte offensichtlich Gregor geschrieben – unglaublich! Ihre Augen blieben an Schlagwörtern hängen, die sie bislang noch nie gelesen hatte: »Realpräsenz Jesu Christi in den gewandelten Gestalten des Altarsakraments … der allein selig machende Charakter der katholischen Kirche.« Was sollte das heißen? Sie schüttelte den Kopf. Weiter stand da: »… es wäre scheinheilig, sich katholisch zu nennen und nicht gleichzeitig gegen die höllischen Pervertierungen zu kämpfen und uns vor dem fanatischen Liberalismus zu hüten …«

Marie-Claire konnte nicht glauben, dass diese Termini aus dem Mund jenes Mannes stammten, der heute Nacht neben ihr im Bett gelegen hatte. War das Gregor? War das sein zweites, sein wirkliches Ich? War er das, was sich in diesem Text »milites christiani« – christliche Soldaten nannte? Was wollte er, was wollten diese Leute, für die er diese Rede hielt? Sie las die markierte Zeile nochmals: »Die Demokratie hat wieder gesiegt! Nein, lautet unsere Antwort!«

Marie-Claire zuckte zusammen. Sie hatte ein Geräusch gehört. Kam Gregor bereits zurück? Nein, sie hatte sich getäuscht. Mit zitternden Händen blätterte sie vor, zurück, vor, schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Diese Rede war der verbale Rundumschlag eines ultrakonservativen, in gewisser Hinsicht sogar antidemokratischen Menschen! Kein Zweifel: Hier schrieb ein christlicher Fanatiker. Und ein Neo-Monarchist!

»Nicht zu fassen, so ein abstruses Zeug«, murmelte sie vor sich hin. Schließlich fand sie eine Passage, aus der sie glaubte entnehmen zu können, um was es bei diesem Vortrag eigentlich ging: »Der Staat, in dem sich diese Idee verkörpert, ist die alte habsburgische Doppelmonarchie … Und wie das Reich Gottes sein himmlisches Jerusalem hat, hat das Heilige Römische Reich sein irdisches Jerusalem. Das ist Wien … die dortige Karlskirche ist der neue Tempel Salomons und Wien das kaiserliche Jerusalem … die Idee einer europäischen Eidgenossenschaft – Österreich als deren Zentrum … denn Österreich ist zum irdischen Exil des in Transzendenz entrückten, verklärten Reichs geworden.«

»Er ist verrückt!«, presste Marie-Claire entsetzt hervor. Das war das extremistisch-monarchistische Gedankengut eines Ewiggestrigen, absurde Fantasien von einer »Österreich-Idee«, von einem Orbis Europaeus Christianus. Marie-Claire konnte ihre Blicke nicht von dem Manuskript wenden. Sie war völlig außer sich. Gregor – und mit ihm diese Leute – waren irre Fanatiker! Was waren das für Menschen, die solch wahnwitzige Ideen hatten? Ihr wurde schlecht. Plötzlich erinnerte sie sich seines seltsamen Gesichtsausdruckes, als sie am vorherigen Abend gemeint hatte, dass sie ihre Position als Frau in einer Beziehung nicht als Kinder hütende Mutter, sondern als berufstätige, gleichberechtigte Partnerin definiere. Er hatte recht verdutzt dreingeschaut, aber nichts gesagt. Jetzt wusste sie, warum. Jetzt ahnte sie, wer Gregor Friedrich Albert von Freysing wirklich war, was sich hinter seiner Fassade aus Reichtum, Charme und Koketterie wirklich verbarg. Er war ein Machtmensch! Er war wie ihr Vater: machtbesessen, skrupellos und gefühlskalt. Ihr Vater konnte ebenfalls wie ein galanter, feinfühliger, weltoffener und liberaler Mensch wirken. Doch das tat er nur, wenn er es wollte und wenn es ihm etwas nutzte. Gänsehaut lief ihr über den Rücken und breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Noch vor wenigen Stunden hatte dieser Mann sie ausgezogen, hatte ihren Körper berührt, sie liebkost. Beinahe hätte sie mit ihm geschlafen! Er hatte sie vorgeführt wie ein kleines Mädchen! Er hatte mit ihr gespielt – und ihr in kürzester Zeit entlockt, worin ihre wahre Aufgabe bei Christie’s bestand. »Verfluchter Scheißkerl!«, artikulierte sie ihre tiefe Enttäuschung und Wut.

Heftig atmend legte sie das Manuskript zur Seite. Sie wollte nur noch weg, weg vom Wörthersee, weg von Gregor. Nein, sie brauchte nicht weiterzulesen. Oder doch? Schnell las sie die letzten drei Seiten der Rede nach auffälligen Passagen durch. Sie fand, was sie hoffte zu finden! »Burgund« stand dort in großen Lettern, gedacht als Stichwort für das Resümee der Rede.

»Nein …!«, entfuhr es ihr so laut, dass sie ängstlich aufschaute, ob sie wirklich noch alleine in der Bibliothek sei. Dann las sie flüsternd vor sich hin, was Gregor geschrieben hatte: »… Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen: Burgund! Aus Burgund kommt der Orden vom Goldenen Vlies. Seit einigen Jahren ist die Funktion des obersten Bandinhabers unserer ehrenwerten Bruderschaft untrennbar mit der des Führers und Souveräns des Ordens vom Goldenen Vlies verbunden! Die Idee, die dem Orden zugrunde liegt, war die Schaffung einer internationalen Ritterschaft, die dem Ideal des Chevalier sans peur et sans reproche – des Ritters ohne Furcht und Tadel entspricht … Feuerstrahl und Feuerstein versinnbildlichen den Wahlspruch des Ordens: Ante ferii quam flamma micet – man muss ihn schlagen, ehe die Flamme lodert! Welch edles Bild des Rittertums! Lassen wir unser Feuer lodern! In diesem Sinne sage ich mit den Worten Karls des Kühnen: Je lai empris – ich habe es gewagt!«

Entsetzt starrte Marie-Claire aus dem Fenster. Sie hatte das Gefühl, in eine irreale Welt entführt worden zu sein. Das konnte nicht wahr sein! Er war verrückt, machtgierig, ein Fantast – ein Mann mit gefährlichen Ideen! Wie konnte ein halbwegs gebildeter Mensch solche konfusen und antidemokratischen Gedanken haben? Die Vorstellung, dass es in dieser dubiosen Vereinigung viele Männer gab, die in einflussreichen Positionen in Österreich und ganz Europa saßen, ließ sie erschaudern. War das eine Geheimloge? Drehten diese Männer an den Schrauben der Macht – heimlich, aber beharrlich? Waren die Intentionen der Ritter vom Goldenen Vlies identisch mit den Zielen dieser Bruderschaft? Oder suchten hier Männer nur die Nähe zu einem mächtigen Orden? In diesem Pamphlet stand ganz eindeutig, dass die Funktion des obersten Bandinhabers dieser katholischen Bruderschaft untrennbar mit der des Führers, des Souveräns des Ordens vom Golden Vlies verbunden war! War Gregor der oberste Bandinhaber? Was bedeutete diese Verbundenheit in der Praxis? Plötzlich erinnerte sie sich, was sie bei ihrem Besuch in der Schatzkammer in Wien im Saum der Ordensornate der Ritter vom Goldenen Vlies eingenäht gelesen hatte: »Je lai empriss.«

Ja, das war es! Was Karl der Kühne einst gewagt hatte, das wollte Gregor, das wollten diese Männer, für die er diese Rede geschrieben hatte, auch. Diese Männer identifizierten sich mit den Rittern vom Goldenen Vlies. Was aber, schoss es ihr durch den Kopf, wollten sie wagen? Warum interessierte sich Gregor, warum interessierten sich die Leute dieser Bruderschaft oder gar die Vlies-Ritter für den Florentiner-Diamanten?

»Hallo, Marie-Claire!«

Gregor war eingetreten. Sie hatte seinen Wagen nicht vorfahren hören. Er musste ihn außerhalb des Grundstücks geparkt haben und die Holztreppe lautlos heraufgeschlichen sein. Wie lange war er schon im Haus? Hatte er sie absichtlich bis zum Ende lesen lassen? Was würde er jetzt tun? War er gefährlich? Hatte sie ein streng gehütetes Geheimnis, eine Geheimloge enttarnt? War das hier eine politische Verschwörung? Auf einmal hatte sie Angst.

Gregor wirkte sehr gelassen, aber jede Wärme und Güte, die sie gestern Abend noch zu erkennen geglaubt hatte, war aus seinen Augen gewichen. Er ballte die Fäuste. So wie er jetzt da stand, war erschreckend deutlich zu sehen, dass er die Ideen, die er in seiner Rede vertrat, tatsächlich in sich trug. Seine Worte waren wie Dolchstöße.

»Schnüffelst du immer in anderer Leute Unterlagen herum? Schade, wirklich schade! Für kurze Zeit hatte ich tatsächlich geglaubt, du hättest ein persönliches Interesse an mir. Ja, das dachte ich Idiot wirklich! Aber dann merkte ich, dass du eine verkorkste Feministin bist, die hinter meinem Geld her ist. Und du hast nur deinen Job im Kopf, suchst diesen Florentiner – aus welchen Gründen auch immer! Bedauerlich ist eigentlich nur, dass ich dich heute Nacht nicht vernaschen konnte! Du kennst ja jetzt meinen Wahlspruch: Je lai empris! Na ja, einen Versuch war es allemal wert. Aber jetzt ist es wohl besser, wenn du mein Haus verlässt. Und zwar sofort! Ich rufe dir ein Taxi zum Bahnhof.«

Als sie zum Gästetrakt gehen wollte, hielt er sie zurück.

»Noch eins: Du solltest dir sehr genau überlegen, wem du etwas über mich und meine Freunde erzählst.«