172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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13. Kapitel

Abdel Rahman war verärgert. Sein Gepäck war verschwunden. Die Formalitäten am Lost & Found-Schalter in der Ankunftshalle des Flughafens Wien-Schwechat hatten sich über fast eine Stunde hingezogen. Nur mit seinem Handgepäck, einem kleinen Aktenkoffer, und einem Einkaufsgutschein der Austrian Airline über zweihundert Euro in der Hand stand er nun vor dem Flughafen und fror. Wenn er die Stewardess richtig verstanden hatte, würde der nächste Flieger aus Marokko erst in zwei Tagen eintreffen. Dann würde der vermutlich in Casablanca verloren gegangene Koffer in sein Hotel in Wien nachgeliefert werden. Das Problem war nur, dass er nicht genau wusste, ob er dann noch in Wien sein würde.

»Merde, Merde!«, fluchte er laut. So etwas war ihm noch nie passiert. Der Blick der Bodenstewardess hatte ihm wieder einmal bestätigt, wie hilflos ein Mensch in Europa war, wenn er keine Kreditkarte besaß. Man sah, dass sie ihm nicht so recht glauben wollte, dass er seine Kreditkarten versehentlich in den Koffer gesteckt hatte. Wer packt seine Kreditkarten schon in den Koffer! Auch er würde in einem solchen Fall stutzig werden. Glücklicherweise hatte er in seinem Handgepäck sowohl eine Kopie seines Passes als auch der Kreditkarte auf den Namen Abdel Rahman. Das hatte seine Haut gerettet.

Die ganze Sache war ihm mehr als peinlich, zumal er sehr wohl eine Kreditkarte besaß, sie aber nicht benutzen konnte. Mit Schrecken war ihm am Schalter in allerletzter Minute aufgefallen, dass er versehentlich die falsche Kreditkarte, jene mit seinem syrischen Aliasnamen, eingesteckt hatte. Die Situation beunruhigte ihn. Er hatte kaum Geld in der Tasche. Einen warmen Pullover und ein T-Shirt konnte er sich damit kaufen, mehr nicht. Wie sollte er aber das Hotel bezahlen?

Noch immer wütend, stellte er den Kragen seines Jacketts hoch. Der kalte Abendwind ließ ihn frieren. Als er losgeflogen war, hatte das Thermometer in Marrakesch am Flughafen noch zwanzig Grad angezeigt. Hier waren es kaum mehr als fünf Grad. Missmutig zog er sein Handy aus der Tasche und wartete, bis er Empfang hatte. Die Vorwahl 0044 war ständig besetzt. Schließlich gelang es ihm nach zehn Minuten, jene Nummer in London zu wählen, die er auswendig kannte. Er war sehr erleichtert, als sein Kontakt sich sofort meldete.

»It’s me! Ich stecke in einer blöden Situation. Ich bin in Wien am Flughafen, mein Koffer ist weg. Ich brauche dringend Geld«, erklärte er dem Mann am anderen Ende seine missliche Situation und bat ihn, dringend das auf den Namen Abdel Rahman im Hotel Imperial in Wien gebuchte Zimmer per Kreditkarte im Voraus zu zahlen. Der Mann in England tobte. Seine Stimme überschlug sich fast, als er seinen Gesprächspartner am Wiener Flughafen einen Dilettanten schimpfte. Abdul Rahman gab ihm insgeheim Recht, doch das Problem musste gelöst werden, und zwar schnell. Seine Finger waren klamm. Er fror erbärmlich. Wieder wählte er eine Nummer, diesmal mit der Vorwahl 0021244. Eine arabische Stimme meldete sich. Wieder erklärte er seine peinliche Situation. Erschrocken stellte er fest, wie schwer es war, eine solche Lage und seine Bitte um Übersendung seiner Kreditkarte auf den richtigen Namen durchs Telefon hindurch zu erklären und sich dabei an die Vorsichtsmaßnahmen zu halten. Das war wirklich schwer! Aber er musste immer davon ausgehen, dass sein Handy oder der Anschluss in Marrakesch von der Polizei oder von Nachrichtendiensten abgehört wurde. Nach welchen Kriterien die unzähligen Spionage-Satelliten der westlichen Geheimdienste programmiert waren, wusste kein Mensch. Er war zwar ziemlich sicher, dass sie noch unentdeckt waren, aber es galt, vorsichtig zu sein. Die Operation war jetzt in einer sehr kritischen Phase. Was sollte er machen? Zurückfliegen ging nicht. Also musste er an seine Kreditkarte herankommen, an jene mit dem richtigen Namen, also jenem Namen, der jetzt in seinem Pass stand und auf den er eine Aufenthaltserlaubnis im Pass eingetragen hatte.

Zehn Minuten dauerte das Telefonat. Dann war er sich sicher, dass Faisal wusste, was er zu tun hatte, damit seine Kreditkarte schnellstmöglich per Kurierdienst nach Wien gelangen würde. Völlig durchgefroren steckte er sein Handy ein und ging in Gedanken versunken in der Dunkelheit zu dem gegenüberliegenden Taxistand. Plötzlich hörte er Autoreifen quietschen. Der dunkle Wagen, ein Van, stand nur wenige Zentimeter von ihm entfernt auf dem Zebrastreifen. Eine Frau saß hinter dem Steuer. Sie hupte wie wild, zeigte ihm zornig einen Vogel. Im Wagen saßen noch ein Mann und drei Kinder. Er konnte sie nur schemenhaft erkennen. Völlig verstört signalisierte er durch eine Handbewegung, dass es ihm Leid täte. Dann ging er auf ein Taxi zu, stieg im Fond ein und wies den Taxifahrer an, zum Hotel Imperial zu fahren.

»Bokra … Insch Allah«, murmelte er genervt und war sehr erstaunt, dass der Fahrer ihm in perfektem Arabisch mit türkischen Akzent antwortete: »Hier in Wien hilft dir Allah nicht sehr. Ist besser, mein Freund, wenn du dir im Klaren darüber bist, dass Ausländer und vor allem Moslems in diesem Land nicht bei allen Menschen sonderlich beliebt sind.«

Demonstrativ deutete der Fahrer an der Auffahrt zur Autobahn in Höhe der Tankstelle auf ein zerfranstes Werbeplakat. Abdel Rahman blickte aus dem Fenster. Ein Mann mit auffallend blauen Augen blickte von dem Plakat herab, auf dem in großen Lettern geschrieben stand: »Deutsch – statt Nix verstehen«. Hundert Meter weiter war der gleiche Mann vor dem Hintergrund eines historischen Gemäldes, das einen martialisch dreinblickenden Mann auf dem Pferd zeigte, zu sehen.

»Worum geht es auf diesem Plakat?«, fragte Abdel Rahman den Fahrer.

»Die sind von der letzten Wahl hier hängen geblieben«, erklärte dieser. »Der Mann auf dem Pferd ist Prinz Eugen. Der hat vor ein paar hundert Jahren die Türken besiegt und vertrieben. Und das will dieser Politiker da mit den blauen Augen wohl auch.«

Abdel Rahman fühlte sich zwar irgendwie belästigt von dem redseligen Türken, und als »Freund« mochte er auch nicht bezeichnet werden. Dann aber dachte er sich, dass es vielleicht für seinen Aufenthalt in Wien hilfreich sein könnte, einen ortskundigen und Arabisch sprechenden Menschen, zudem noch einen Taxifahrer zu kennen. In der misslichen Situation, in der er sich ohne Kreditkarte und mit nur wenig Bargeld befand, waren solidarische Helfer sicher von Nutzen. Widerwillig signalisierte er seine Kommunikationsbereitschaft.

»Du bist Türke?«

»Ja, mein Freund, ich bin Türke – Kurde! Schon seit zehn Jahren hier. Aber ich weiß nicht, ob ich hier bleiben will. Ist eine schöne Stadt. Aber die Menschen … viele mögen keine Ausländer. Der da mit den blauen Augen hat das zu seinem Wahlkampfthema gemacht und fast fünfzehn Prozent der Wiener scheinen seiner Ansicht zu sein, was Ausländer betrifft. Das ist kein gutes Gefühl, mein Freund! Fünfzehn Prozent von zwei Millionen Wienern – das sind dreihunderttausend Menschen in dieser Stadt, die gut finden, was dieser Politiker und seine Partei denken. Sie haben Angst vor Fremden und vor Fremdem. Sie wissen nichts über uns Moslems. Seit es Osama bin Laden gibt, sehen sie, glaube ich, in jedem Moslem einen Terroristen! Sehe ich etwa aus wie ein Terrorist, hm? Ich habe vier Kinder. Alle sind sie hier geboren, haben die österreichische Staatsangehörigkeit. Es sind gute Kinder …«

Der Fahrer schaute durch den Rückspiegel seinen Fahrgast in dem eleganten Anzug an, an dessen Handgepäck er den Anhänger der ersten Klasse der Austrian Airlines bemerkt hatte.

»Na, und du, mein Freund, siehst ja nun auch nicht gerade wie ein Terrorist der Al Kaida aus.«

Richard Kristoffs hatte die Situation nicht mitbekommen. Er war mit seinen Töchtern hinten im Fond des Wagens beschäftigt gewesen, als seine Frau mit aller Kraft auf die Bremse getreten hatte. Er prallte mit seinen Knien gegen das Armaturenbrett. Es tat höllisch weh. Schmerzerfüllt starrte er erst seine Frau an, erkannte dann die Zusammenhänge und wollte dem Mann auf dem Zebrastreifen unflätige Schimpfworte zubrüllen. Aber er tat es nicht. Völlig entsetzt starrte er den ungefähr fünfundvierzigjährigen Mann in dem sommerlichen Jackett durch die Windschutzscheibe hindurch an. Er erkannte ihn sofort. Er sah dessen eigentümliche Schulterhaltung, etwas nach vorne gebeugt, den Arm leicht angewinkelt. Ja, er war es!

»Wahnsinn! Absoluter Wahnsinn …«, flüsterte er so leise, als könne der da draußen ihn hören. Seine Frau schaute ihn fragend an. Richard Kristoffs wühlte hektisch in seiner Jackentasche, zerrte sein Handy hervor. Zitternd ging er den Nummernspeicher durch und fluchte dabei. »Scheiße, Scheiße … wo habe ich nur diese Nummer gespeichert. Wie hieß dieser Typ bloß noch mal?«

Schließlich fand Richard Kristoffs, was er suchte. Nervös drückte er die automatische Wahltaste. Eine Frauenstimme meldete sich.

»Hier ist Kristoffs, Flugkapitän Richard Kristoffs. Ich muss dringend Herrn Poll, Dr. René Poll von der Terrorismusfahndung sprechen. Es ist eilig. Sehr eilig … Mist, verfluchter! Dann sagen Sie ihm, dass ich angerufen habe. Sagen Sie ihm, dass ich eben am Flughafen Wien den Terroristen Faisal Ben Ait Haddou gesehen habe! Sagen Sie ihm, dass ich absolut sicher bin. Absolut! Der Araber steigt jetzt in ein Taxi mit dem Kennzeichen W – 32221 – TX.«

Eine halbe Stunde später saß Richard Kristoffs in dem startklaren Learjet. Das Flugzeug hob ab und stieg in den Nachthimmel über Wien. Als Richard Kristoffs die hell erleuchtete Innenstadt Wiens sah, konnte er nicht ahnen, dass dort unten soeben ein Mann aus dem Taxi stieg und in das schräg gegenüber der Oper gelegene Hotel Imperial ging. Und Flugkapitän Richard Kristoffs konnte auch nicht ahnen, dass nicht unweit der Oper und des Hotels in einem Büro des ehemaligen Palais Modena Dr. René Poll von der Abteilung II des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung zusammen mit gut einem Dutzend Kollegen aus ganz Europa eine Einsatzbesprechung führte. Wenige Minuten zuvor hatte seine Sekretärin ihn über den Anruf des Flugkapitäns Richard Kristoffs informiert. Der österreichische Sicherheitsbeamte unterbrach das Gespräch für einen Augenblick.

»Das ist ja eine nette Überraschung! Der Flugkapitän, der damals unseren Mann nach Marrakesch geflogen hat, hat ihn vor wenigen Minuten zufälligerweise am Flughafen Wien gesehen!« Zu dem neben ihm sitzenden Beamten von Interpol Lyon, dem deutschen Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann gewandt, ergänzte Dr. René Poll süffisant: »Gute Arbeit, Kollege Kleimann! Ohne Ihren Riecher würden wir jetzt ganz schön ins Schleudern geraten. Aber so wussten wir ja bereits, dass Faisal Ben Ait Haddou alias Jilani Rezaigui alias Abdel Rahman uns in Wien besuchen wird. Die alte Regel gilt eben noch immer, auch für Araber: Mit Speck fängt man Mäuse.«

*

Faisal Jawda war sich nicht ganz sicher, aber er hatte das Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Heute Morgen, ganz in der Nähe des Djemaa el Fna. Beschwören wollte er es nicht, liefen doch am Vormittag Hunderte von ausländischen Touristen über den großen Marktplatz am Rande der Medina. Europäer sahen sich in seinen Augen oft sehr ähnlich; er konnte sie nur schwer auseinander halten. Die oftmals sehr dicken Männer trugen fast immer diese hässlichen, wadenlangen Baggyhosen und ärmellose T-Shirts, eine Baseballkappe und die obligatorische Kameratasche. Dazu eine Sonnenbrille. Viele von ihnen sahen geradezu lächerlich und vor allem nicht gerade männlich aus. Und lächerlich benahmen sie sich zumeist auch, wenn sie über den »Platz der Gehenkten« von Marrakesch schlichen, um Schlangenbeschwörer, Akrobaten, Marktweiber und vor allem die Wasserträger mit ihren roten Pluderhosen und den Messingkannen auf dem Rücken zu fotografieren.

Dieser Mann heute Vormittag hatte ebenfalls eine kurze Hose und ein ärmelloses Shirt getragen. Auffällig war lediglich seine große Tasche gewesen, in der Faisal schließlich einen Laptop vermutet hatte. Er hatte den dicklichen Mann nur für Bruchteile von Sekunden gesehen. Das war wenige Minuten nachdem er von der Avenue de la Ménaa durch das Bab el-Djedid in die kleine Seitengasse an der Kutubiya-Moschee gegangen war. Hier ließ sich Faisal regelmäßig bei seinem Stammfriseur rasieren, trank dabei einen Tee und las die Zeitung. Meistens hielt er danach noch ein kleines Schläfchen. Heute war er zunächst jedoch zu beschäftigt gewesen, hatte er doch dringend zum Postbüro am Place du 16 Novembre gehen müssen, um dafür zu sorgen, dass sein Freund diese verdammte Kreditkarte per DHL oder Fedex schnell bekommen würde. Auf dem Rückweg war ihm dieser Europäer erneut aufgefallen. Vielleicht weil sich der Mann nicht so ängstlich durch die Medina bewegte. Faisal hätte nicht weiter darüber nachgedacht, wenn er diesen Mann mit dem südländischen Teint und der schwarzen Umhängetasche soeben nicht ein drittes Mal gesehen hätte. Auffällig war auch, dass dieser Mann jetzt, zur Mittagszeit, durch die Medina ging. In einer Zeit, in der kaum ein Tourist unterwegs war. Die saßen um diese Uhrzeit meist beim Lunch im Luxushotel La Mamounia oder an den Swimmingpools in den modernen Hotels drüben in Marrakesch Nouvelle. Es waren nur einige Augenblicke gewesen, dann war der Fremde mit der ungewöhnlich selbstbewussten Haltung in einer Seitengasse verschwunden.

Kurz darauf stand Faisal Jawda wieder vor dem Friseurgeschäft. Wie erwartet hatte Moussa in der Mittagszeit nichts zu tun. Er war nicht da, aber sein Laden war auf. Die drei Sessel in dem kleinen Raum mit den blauen Türen und Fenster waren unbesetzt, und auch die beiden Sessel unter dem großen Eukalyptusbaum waren frei.

Faisal Jawda freute sich. Er saß sehr gerne hier draußen im Schatten des riesigen Baumes, las Zeitung, trank seinen Chai und nutzte die halbe Stunde der Rasur, um sich zu entspannen. Danach stand ihm heute der Sinn. Im Moment lief nicht alles nach Plan. Ständig geschah etwas, das ihren Zeitplan durcheinander brachte. Vorgestern noch hatte ihr guter Freund und Bruder Ismail vom Innenministerium in Rabat für große Aufregung gesorgt, weil er sie darüber informiert hatte, dass auffällige Aktivitäten bei Interpol in Lyon zu beobachten seien. Eine Terrorismus-Sonderkommission war dort eingerichtet worden, die strengster Geheimhaltung unterlag, und daher kam ihr Verbindungsmann auch an keinerlei Information.

Trotz dieser beunruhigenden Nachricht sah es jedoch ganz so aus, als ob ihre Aktion schon in Kürze abgeschlossen werden würde. Und zwar erfolgreich! Was sollte schon noch passieren? Sobald die anderen wieder aus Wien zurück in Marrakesch wären, würden vermutlich kaum mehr als zwei Wochen vergehen, bis sie die Stadt verlassen konnten – mit viel Geld auf einem Schweizer Bankkonto.

Faisal Jawda setzte sich auf den bequemen Friseursessel unter dem Baum, kippte ihn nach hinten, kramte eine alte Zeitung aus seiner Jackentasche und legte sie sich aufs Gesicht. Die Dezembersonne ließ ihn schläfrig werden. Er nahm den Ruf des Muezzin von der nahen Kutubya-Moschee nur noch im Unterbewusstsein wahr, fühlte sich mit einem Mal sehr entspannt und entschied gerade, einen Mittagsschlaf zu halten, als kräftige Männerhände sich plötzlich von hinten um seinen Hals legten und zudrückten. Panisch riss er die Augen auf. Er wollte sich aufrichten, aber die Hände pressten ihn mit enormer Kraft zurück in den Sessel. Der Druck um seinen Hals verstärkte sich. Seine Angst artikulierte sich in einem furchterregenden, kehligen Schrei. Mit aller Kraft stürzte er nach vorne. Der Druck um den Hals war weg. Er wirbelte herum und ging geduckt in Angriffsstellung, bereit, den Angreifer abzuwehren.

»A Salemaleikum, du Schurke! Was fällt dir ein, dich hier mit deinem von Allah gestraften Körper und Geist so einfach auf meinen edlen Liegesitzen niederzulassen!«

Faisal Jawda verdrehte ungläubig die Augen. Es fiel ihm schwer zu lachen. Noch immer zitterten seine Hände. Vor ihm stand sein Freund Moussa, der fettleibige und stets grinsende Besitzer des Ladens. Ein gutmütiger Riese, der keiner Fliege der Welt etwas zuleide tun konnte, der aber eine höchst eigentümliche Vorliebe für Scherze dieser Art hatte. Faisal atmete tief durch. Warum bist du bloß so panisch?, fragte er sich. Es ist doch alles in Ordnung. Weit und breit war kein Fremder zu sehen, nichts Ungewöhnliches war geschehen. Als er sich wenige Minuten später wieder in den Sessel legte und schließlich tief und fest einschlief, löste sich aus dem Schatten eines nahen Torbogens eine männliche Gestalt und verschwand blitzschnell in einer Nebengasse. Der Mann trug helle Baggyshorts und ein T-Shirt.

Zehn Minuten später stieg derselbe Mann aus einem Renault-4-Kastenwagen auf dem Parkplatz nahe des Bab Douckala. Er war nicht wiederzuerkennen. Er trug jetzt die weiten, stahlblauen Gewänder der hommes bleus der Wüste. Kopf und Gesicht waren mit einem schwarzen Tuch umwickelt, so wie es die Tuareg in den Wüsten der Sahara im Süden Marokkos zu tun pflegten. Nur seine Augen waren noch zu sehen. Es waren die dunklen, unergründlichen Augen, die viele Sarden haben.

Für einen Targi war Carlo Frattini allerdings verhältnismäßig klein, aber er fühlte sich wie einer dieser »Söhne des Windes«, wie diese Wüstennomaden in jenem Buch genannt wurden, das er sich vor seinem Abflug von Rom nach Marrakesch gekauft hatte. Er liebte dieses Buch, verschlang es geradezu, sog jede Zeile in sich auf. Zweimal hatte er den Roman Tuareg von Alberto Vasquez-Figuera bereits gelesen. Viele Tipps hatte er sich aus diesem Buch geholt. Auch die Idee, sich in Marrakesch wie ein Targi zu verkleiden, war ihm durch dieses Buch gekommen. In einem Souvenirladen in der Altstadt hatte er sich alle erforderlichen Kleidungsstücke gekauft, ein großes Schwert und auch ein kleines Messer, das, so hatte er gelesen, jeder Targi versteckt im Ärmel seines Gewandes trug. Selbst Sandalen mit Lederriemen hatte er dort kaufen können. Jetzt fühlte er sich fast wie Gacel Sayah, die Hauptfigur aus dem Roman.

Noch nie in seinem Leben hatte er ein Buch gelesen, das den Hass eines Menschen und die daraus resultierenden Rachegefühle auf so nachvollziehbare Weise beschrieb. Dieser Targi hatte alles aufgegeben, seine Heimat verlassen, war bereit, sein Leben zu geben, um die besudelte Ehre seiner Familie, den Tod seiner Frau zu rächen. Ja, der Targi in diesem fantastischen Buch dachte, fühlte und handelte wie er, Carlo Frattini aus dem kleinen sardischen Ort Lu Fraili, Sohn des von diesen hier in Marrakesch lebenden Männern getöteten Leonardo Frattini – einem alten Museumswärter im Palazzo Pitti von Florenz.

Von heute an würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis er die Vendetta vollenden könnte. Die Täter hatte er ausgemacht. Die Angaben des kleinen Araberjungen hatten sich als sehr genau und wahr erwiesen. Alles andere hatte er über seine Kollegen und Freunde in Erfahrung gebracht. Drei der vermutlich insgesamt sechs Araber hatte er gestern gesehen. Sie wohnten etwa zehn Kilometer außerhalb von Marrakesch in zwei Wohnungen auf dem Terrain einer noblen Wohnanlage nahe eines Golfclubs. Der Mann, den er heute observiert hatte, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer derjenigen, die in Deutschland mit dabei gewesen waren. Die vorliegenden Personenbeschreibungen ließen diesen Verdacht zu. Drei Araber waren gestern verreist. Wohin, das hatte er nicht herausfinden können. Wann sie zurückkommen würden, war ihm egal. Er hatte Zeit. Und Geduld. Für jeden einzelnen dieser Mistkerle würde er, der Targi Gacel Sayah alias Carlo Frattini, sich Zeit nehmen. Wenn es sein musste, ein ganzes Leben lang. Alle würden sie sterben – ohne zu wissen, wer sie getötet hatte.

*

Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein rieb sich zufrieden die Hände. Vor ihm auf dem Tisch lagen vier Pakete. Zu seiner großen Überraschung waren sie alle ohne Probleme angekommen. Keines der Pakete sah so aus, als sei es vom Zoll oder einem Unbefugten geöffnet worden. Die Sicherheitsfäden, die er beim Verschließen in die Kordeln jedes einzelnen Paketes spiralförmig eingewickelt hatte, waren alle unbeschädigt. Dieser Trick gefiel ihm. Ein Freund vom militärischen Abschirmdienst hatte ihm das einmal gezeigt und vorgemacht, wie man ein Paket mit den Kordeln so umschlingt, dass es absolut unmöglich ist, sich heimlich Zugang zu dem Paketinhalt zu verschaffen, ohne dabei die hauchdünnen Sicherheitsfäden zu zerreißen. Nein, an allen vier Päckchen waren die Fäden intakt. Und nirgendwo war ein kleines Loch zu sehen, das darauf hätte schließen lassen, dass der Inhalt mittels Sonde überprüft worden war. Perfekt! Jedes Teil war da! Endlich!

Das erste Paket war ihm schon vor einigen Tagen unter der Anschrift der Jagdhütte von Ousmane, des Provinzgouverneurs von Ouarzazate, zugestellt worden. Die zweite Sendung war vor vier Tagen in der Post in der Avenue Mohammed V. postlagernd angekommen. Nur eine Woche hatte es von München nach Marrakesch gedauert. Das dritte Päckchen war per DHL an seine Adresse hier in Marrakesch gegangen und auch das vierte, dessen Inhalt sicherlich bei jeder Kontrolle die Aufmerksamkeit eines marokkanischen Zollbeamten erweckt hätte, war per internationalem Kurierdienst in Ouarzazate zugestellt worden. Er ging zwar davon aus, dass einige der Pakete routinemäßig geröntgt worden waren, aber bis auf Paket Nummer vier war das bei keinem ein Problem. Die Metallteile konnte man in einem Röntgenbild absolut nicht als das erkennen, was sie letztendlich waren. Das hatte er in Deutschland extra bei einem befreundeten Arzt in dessen Röntgengerät getestet. Nur das Super ZF 4-12 x 50 mit dem beleuchteten MilDot-Absehen und Paralexenausgleich, das mit dem vierten Paket ankam, war ein wenig kritisch gewesen. Deswegen hatte er als Adressat absichtlich den Namen, Titel und die Anschrift des marokkanischen Provinzgouverneurs angegeben und diesen auch über das zu erwartende Paket informiert. Ein Zielfernrohr war für den Provinzgouverneur als Waffenscheinbesitzer und leidenschaftlicher Jäger nichts Verfängliches. Die fünf wie Kugelschreiber aussehenden Metallstäbe im gleichen Paket wiederum konnten nur nachdenklich machen, wenn man wusste, was in den anderen Paketen war.

Georg von Hohenstein war jetzt endlich entspannt. Die Vorbereitung der ganzen Sache hatte viel Zeit und auch Nerven gekostet. Die Waffe in so viele Einzelteile zu zerlegen, dass jedes Teil für sich völlig nichts sagend war, hatte eine echte Herausforderung dargestellt. Er hatte das Problem mit Hilfe eines Jagdfarmers in Namibia gelöst, bei dem er schon mehrfach als Jagdgast gewesen war. In Namibia wurde mit solchen Waffen gejagt. Ansonsten war ein solches Gerät als Jagdwaffe überall auf der Welt entweder verboten oder verpönt. Er selbst hatte auch lange Zeit Ressentiments gehabt. Dann aber, während eines Aufenthalts in Namibia, war die Ablehnung in grenzenlose Begeisterung umgeschlagen. Pieter, der Besitzer der Jagdfarm, hatte ihn mitgenommen, hatte ihn mit der Handhabung dieser ungewöhnlichen Waffe vertraut gemacht und ihn davon überzeugt, dass die gängigen Vorurteile durch nichts zu begründen waren.

»Die Schockwirkung ist die gleiche wie die eines Gewehres. Das Tier verspürt weder außergewöhnliche Schmerzen, noch leidet es lange. Vorausgesetzt, du triffst richtig. Und, vorausgesetzt, du kommst nahe genug an das Tier heran«, hatte er geschwärmt und ergänzt: »Genau darin liegt die wahre Herausforderung dieser Form des Tötens: Du musst gut sein als Jäger, musst nahe herankommen an das, was du töten willst. So gesehen hat bei dieser Jagd das Opfer eine größere Chance als bei der Jagd mit dem Gewehr samt Zielfernrohr, wo du auf eine Distanz von mehreren hundert Metern anonym schießen und töten kannst. Mit dieser Waffe hier bist du nahe dran, siehst, fühlst und riechst deine Beute. Und umgekehrt! Zwischen Opfer und Jäger existiert eine Verbindung. Es kann sein, dass du in die Augen jenes Wesens blickst, das du zu töten bereit bist. Das ist Jagd! So wie in den Zeiten des Urmenschen. Und sie ist lautlos! Wenn du ein guter Schütze bist und da triffst, wo der Tod im Körper lebt, wird das Röcheln des getroffenen Opfers das Einzige sein, was du hörst.«

Diese Worte Pieters hatte er nie vergessen. Niemals in seinem Leben zuvor hatte er ein derart ausgeprägtes Verlangen verspürt, seiner Beute so nahe zu sein, wenn er sie tötete. Mit dieser Waffe würde er ihn töten! Bald. Er musste nur Geduld haben. Er wusste bereits, wo sie sich versteckten. Die Waffe brauchte nur zusammengebaut zu werden. So, wie sie jetzt vor ihm lag, in mehr als dreißig Teile zerlegt, sah sie unscheinbar und harmlos aus – nicht wie eine Waffe. Gelöst lehnte Georg von Hohenstein sich zurück. Er verließ seine Suite über die Terrasse und ging dann zu einer Couch nahe dem Swimmingpool und ließ sich eine Flasche Rotwein bringen. Die späte Nachmittagssonne kolorierte die beiden Seitenflügel der Villa in zarten Pastellfarben. Der Swimmingpool erstrahlte in kristallklarem Blau. Das in einer ebenso beeindruckenden wie auch eigenwilligen Architektur einer römischen Villa nachempfundene Palais Rhoul gefiel ihm außergewöhnlich gut. Er war begeistert. Ein Freund aus Paris, der seit langer Zeit in Marrakesch lebte, hatte ihm dieses auf fünf Hektar Land erbaute Juwel marokkanischer Lebenskunst empfohlen. Es entsprach geradezu perfekt Georgs persönlichem Lebensstil wie auch den Erfordernissen seines Vorhabens.

Wenngleich er nach seiner Ankunft von Ouarzazate im Palais Rhoul sehr versucht gewesen war, das im Garten aufgebaute, extrem luxuriöse Royale-Zelt mit seinen hundert Quadratmetern, mit einem kleinen Pool im Schlafzimmer, mit Kamin und Deluxe-Plüsch-Ambiente zu nehmen, hatte er sich letztendlich für eine Suite im Haupthaus entschieden. So geschmackvoll und luxuriös dieses Royale-Zelt auch war, so wenig sicher schien es ihm für sein Vorhaben. Die Suiten in dem U-förmig um den Pool herum gebauten Haupthaus waren abschließbar und schalldicht. Hier konnte er ungestört telefonieren und seine vier Pakete auspacken, ohne dabei überrascht zu werden.

Georg Ludwig von Hohenstein atmete tief durch. Er fühlte sich wohl, war aber auch von sich selbst überrascht. Dafür, dass er mit der Planung eines Mordes an einem Menschen befasst war, fühlte er sich außergewöhnlich entspannt. Moralische Bedenken bedrückten ihn nicht. Sein Unrechtsbewusstsein war durch sein Verlangen nach Rache, nach gerechtfertigter Rache verdrängt worden. Was er vorhatte, musste er tun. Es war weder gesetz- noch rechtmäßig, aber es war gerechtfertigt. Und es war die einzige Möglichkeit, zumindest zu versuchen, sein Leben wieder erträglich zu machen. Und das von Klara. Gestern hatte er mit der Klinik am Chiemsee telefoniert. Sie lag noch immer in diesem medizinisch schwer einzuschätzenden Tod-Leben-Wach-Tiefschlafzustand. Sie lebte, aber sie war tot.

Georg von Hohenstein betrachtete die Anlage des Palais Rhoul. Sein Versteck lag auch unter logistischen Kriterien optimal. Zum Zentrum von Marrakesch waren es kaum mehr als zwanzig Minuten. Der Flughafen war in dreißig Minuten zu erreichen. Und das Versteck der Araber lag, so wie das Palais Rhoul, in der Palmeraie – also ganz in seiner Nähe! Alles war absolut perfekt!

Dass er sich so sonderbar zufrieden und wohl fühlte, hatte aber auch andere Gründe. Es war das Bewusstsein, seit langer Zeit wieder einmal etwas zu tun, das nicht mit Geld, mit dem Mehren des Vermögens, der Verwaltung der Güter und Wertpapiere und mit dem Gieren nach mehr zu tun hatte. Er war sich an diesem Abend im Palais Rhoul in der Palmeraie von Marrakesch absolut sicher, dass sein Plan gelingen würde. Sein Opfer hatte er bereits lokalisiert. Es wohnte im Palmeraie Golf Palace, einer noblen Hotelanlage.

Für die Araber war dieser Komplex ein ideales Versteck, das war ihm bei der ersten Besichtigung klar geworden. Das Gelände war riesig, unüberschaubar und von vielen Tagesgästen frequentiert. Niemand achtete hier auf unbekannte Gesichter.

Was für die Araber von Vorteil war, das erwies sich jetzt auch für ihn als idealer Ort, seinen Plan zu realisieren. Das Palais Rhoul lag nur wenige Minuten entfernt. Eine Golfausrüstung hatte er sich bereits gekauft. Die Waffe passte ohne Probleme in den Golfbag – samt Golfschlägern. Nahe genug rankommen würde er auch. Er hatte sich als vermeintlicher Golfspieler bereits für zwei Wochen ein Zimmer auf der anderen Seite des Pools, direkt gegenüber ihren Wohnungen gemietet. Jetzt galt es, die Aktivitäten der Araber zu beobachten, ihren Tagesablauf auszukundschaften, die Fährten zu verfolgen, zu warten, bis das Wild müde war – und ein gutes Ziel abgeben würde. Seine Rache würde lautlos sein.