172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 17

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14. Kapitel

Um neun Uhr morgens war der Anruf ihres Verlagsfreundes Peter gekommen. Das Gespräch hatte nicht dazu beigetragen, dass Marie-Claire de Vries ruhiger wurde. Seit ihrer Rückkehr vom Wörthersee fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Geschehnisse dort setzten ihr sehr zu. Millionen Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum nur hatte Gregor sie so rüde behandelt? Hatte er das, was er gesagt hatte, wirklich so gemeint? Oder war er menschlich von ihr so enttäuscht, weil sie in seinen Unterlagen herumgeschnüffelt hatte, dass er ihr nur wehtun wollte?

Marie-Claire war völlig aufgelöst. Sie hatte das Gefühl, durch ihr Leben zu taumeln. Sie reagierte auf Impulse von außen, aber sie agierte nicht. Und das schadete vor allem ihrer Arbeit. Sie arbeitete nicht so, wie Francis Roundell es von ihr erwartete. Es war ihr noch nie während ihres gesamten Berufslebens passiert, dass sich private Befindlichkeiten auf ihre beruflichen Pflichten ausgewirkt hatten. Die Konflikte zeichneten sich bereits so drastisch ab, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie Francis all das erklären sollte. Francis! Natürlich hatte er sich wieder gemeldet, hatte telefonisch nach dem Stand der Dinge gefragt und angedeutet, dass entweder er nach Wien oder sie nach London kommen müsse. Glücklicherweise konnte sie ihn wegen des anstehenden Gesprächs mit Peter etwas vertrösten. Heute Abend jedoch musste sie ihn anrufen. Weder wusste sie, welche Fakten – und nur um die ging es – sie ihm mitteilen sollte, noch hatte sie einen blassen Schimmer, was sie ihm überhaupt sagen wollte und konnte! An ihrem Misstrauen ihm gegenüber hatte sich nichts geändert. Ihr Leben hatte sich komplett verändert. Ihr spukten nur noch Bilder und Fakten von Vlies-Rittern, absurde Philosophien einer christlich-fundamentalistischen Organisation, indische Mythen und aberwitzige Theorien über den Florentiner durch den Kopf. Nachts hatte sie eigentümliche erotische Träume.

War das Zufall? Gab es solche Zufälle? Gab es hinter dem Geflecht der kleinen Geschehnisse eine Bestimmung, die vorgab, was geschah – geschehen würde? Warum, und diese Frage beschäftigte sie seit dem Anruf von Peter am frühen Morgen, warum kam dieser dubiose Araber ausgerechnet jetzt nach Wien? Wieso hatte ihre Freundin Chrissie ausgerechnet heute Vormittag angerufen und ihr mitgeteilt, dass Gregor kein Vlies-Ritter – aber oberster Bandinhaber dieser ultra-katholischen Bruderschaft war? Was hatte Chrissie gesagt? »Vielleicht legt dieser Gregor von Freysing sich ja so ins Zeug mit der Suche nach dem Florentiner, weil er sich für die Aufnahme in den Vlies-Orden qualifizieren will. Vielleicht ist er ein Profilneurotiker.«

All diese Geschehnisse, die sich um den Florentiner rankten, verwirrten sie und beeinträchtigten ihre Disziplin, die sie sonst stets bei der Arbeit zeigte. Zumal sie Gregor noch immer nicht richtig einzuschätzen wusste. Seit dem Besuch am Wörthersee versuchte sie jegliche Gedanken an ihn zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht so recht. Sie wusste jedoch, dass ihre anfängliche Begeisterung für Gregor einer tiefen Nachdenklichkeit gewichen war. So, wie sie jetzt empfand, konnte sie sich kaum vorstellen, Gregor jemals wieder sehen zu wollen. Und jetzt dieser Araber! Wie war noch einmal sein Name? Abdel Rahman? Sie fand das sehr hilfreich von Peter, dass sie diesen Mann am späten Nachmittag kennen lernen würde, auch wenn es ganz sicher bedeutete, weitere Verflechtungen bei ihrer Recherche berücksichtigen zu müssen. Denn der Araber interessierte sich ebenfalls für den Florentiner. Sein Interesse war so ausgeprägt, dass er dem Verlag, bei dem Peter arbeitete, jetzt sogar offiziell angeboten hatte, das Originalmanuskript des Buches über die Vitrine XIII in der Wiener Schatzkammer für zweihunderttausend Euro abzukaufen. Peter hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, dass dies für den Verlag eine enorme Summe war, zumal dieses Buch bereits vor fast fünfzig Jahren veröffentlicht worden war. Da sich niemand mehr für das Buch interessierte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Verlag das Manuskript an den Araber verkaufen würde. Das hatte Peter am Telefon angedeutet. Die Entscheidung würde im Laufe des Tages fallen. Daher hatte man sich mit dem Araber auf ein erneutes Treffen um achtzehn Uhr geeinigt.

Marie-Claire schaute auf die Uhr. Zum Mittagessen hatte sie sich mit ihrer Schwester Cathrine verabredet, und vermutlich würde ihre Freundin Christiane Schachert ebenfalls kommen. Mit Neuigkeiten, wie sie am Telefon gesagt hatte. Entsprechend gespannt stieg Marie-Claire an der Urania in die Straßenbahn. Zehn Minuten später betrat sie das Eck-Café im Gebäude der Börse am Inneren Ring. Cathrine ging hier regelmäßig hin, weil ihr Mann Christoph beruflich an der Börse zu tun hatte.

Womit Christoph letztendlich sein Geld machte, konnte Marie-Claire nicht so recht sagen. Wann immer er davon sprach, überschüttete er sie mit einem derart verwirrenden Fachchinesisch, dass sie es längst aufgegeben hatte, irgendetwas davon verstehen zu wollen. Sie wusste nur eins: Christoph schwamm in Geld – und seine Ehefrau Cathrine somit auch. Das aber war seit Jahren das Einzige, was die beiden noch gemeinsam hatten. Die Ehe von Cathrine und Christoph war kaum mehr als ein Interessenverband. Er war fast sechzig Jahre alt, und er war wirklich alt. Cathrine war erst einundvierzig und sah noch sehr jung und attraktiv aus. Ihr Mann interessierte sich für Geld – und zwar ausschließlich dafür. Cathrine hatte mit den Jahren gelernt, dass sie mit Geld ihre Interessen befriedigen konnte. Davon gab es nicht viele: Kleider, Schmuck – und Reisen. Auf ihren Reisen holte Cathrine das nach, was Christoph ihr weder geben wollte noch geben konnte. Ein bisschen Liebe, Zärtlichkeit, Sex. Cathrine saß im hinteren Raum des Tri-Café. Wie immer war das Café in der Mittagszeit mit Börsianern überfüllt. Sie sahen alle gleich aus. Die Männer im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren trugen dunkle Anzüge und schienen ein Faible für rosafarbene Hemden und glänzende Gel-Frisuren zu haben. Die Frauen hatten entweder Hosenanzüge oder viel zu kurze Röcke an. Alle besaßen mindestens zwei Handys, die selbst in der Mittagszeit ständig rappelten. Cathrine trug ein umwerfend schickes Kleid, das ihre schlanke, feminine Figur unterstrich. Da sie Cathrines Lieblingsboutiquen in der Stadt kannte, ahnte Marie-Claire, dass dies eins der Dreitausend-Euro-Kleidchen war, von denen die Kleiderschränke ihrer Schwester in der Villa im dreizehnten Bezirk überquollen.

»Schwesterchen, du siehst umwerfend aus!«, begrüßte sie Cathrine und umarmte sie liebevoll. Sie freute sich wirklich, Cathrine wieder einmal zu sehen. In der Hektik der letzten Wochen hatten sie fast nur noch telefonisch Kontakt gehalten. Cathrine wusste zwar so ziemlich alles, was geschehen war, aber ihre Neugierde entlud sich sofort.

»Hat er dich noch mal angerufen?«

Marie-Claire stutzte: »Wen meinst du?«

»Na, dieser Gregor – der reiche Herr von Freysing! Der mit dem netten Häuschen am Wörthersee!«

Marie-Claire lächelte zwar, aber es fiel ihr schwer, Cathrine nicht anzufauchen. Kaum hatte sie ihr damals von Gregor auch nur im Ansatz erzählt, hatte ihre Schwester sofort begonnen, sich mit der Geschichte der von Freysings zu beschäftigen. Adel übte auf Cathrine eine grenzenlose Faszination aus. Sie war eine wandelnde Enzyklopädie europäischer Adelsgeschlechter. Was sie nicht über Bücher und das Internet herausbekam, suchte und fand sie in den Klatschspalten der Yellow-Press-Magazine. Ja, Cathrine wusste alles über die vermeintliche High Society Wiens und Österreichs. Und fraglos war es schon immer ihr großer Traum gewesen, auch ein »von« in ihrem Namen zu tragen.

»Nein, er hat nicht angerufen! Und ich glaube auch nicht, dass er das tun wird, liebe Schwester! Gregor ist emotionslos. Er hat von mir etwas gewollt, hat es nicht gekriegt – und hat mich dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Das war’s!«

»Ich kann dich wirklich nicht verstehen.« Cathrine schüttelte verständnislos den Kopf. »Dieser Mann steht mit beiden Beinen im Leben, siehst gut aus, hat Geld – und ist geschieden! Du warst doch so grenzenlos begeistert am Anfang. Wieso angelst du dir den nicht? Musst du immer nur deinen Job im Kopf haben?«

»Der wollte nichts von mir, jedenfalls nichts außer meinem Hintern. Das war von Anfang an nichts anderes als der Versuch einer Affäre! Allerdings geschickt und auch stilvoll eingefädelt, das muss ich schon sagen. Hätte er es offen gesagt, dass er mich nur bumsen will, hätte ich wahrscheinlich sogar Ja gesagt. Ich weiß nämlich schon nicht mehr, wie das überhaupt geht …«

Marie-Claire war sich im Klaren darüber, das es nicht so ganz stimmte und ziemlich pathetisch klang, was sie da sagte. Jedenfalls was Gregor betraf. Die Bemerkung zu ihrem Liebesleben stimmte jedoch: Ihr war bewusst geworden, dass sie in Sachen Streicheleinheiten und Sex enorme Defizite hatte. Lange hatte sie das perfekt verdrängen können, aber seit dem Intermezzo am Wörthersee begriff sie, wie sehr sie sich danach sehnte. Gregor hatte sie sehr wohl angezogen, schließlich war er ein attraktiver Mann. Und er war zärtlich gewesen. Als er sie gestreichelt und liebkost hatte, war da eine fast erloschene Flamme in ihrem Inneren kurz aufgeflammt. Nur leider war sie sofort wieder verschwunden, weil sie mehr wollte als nur ein flüchtiges Abenteuer. Doch das hatte sich wieder einmal als eine Illusion herausgestellt. Daher hatte sie in den letzten Tagen für sich die Entscheidung getroffen, zumindest in Bezug auf Sex auf ihre Kosten zu kommen.

Sie wollte Cathrine soeben bitten, das Thema Gregor endgültig fallen zu lassen, als Christiane kam. Schon von Weitem war ihr anzusehen, dass sie bester Laune war. Chrissie war einfach eine Lebenskünstlerin, eine Frohnatur. Sie schaffte es immer wieder, dem Leben die positiven Aspekte abzugewinnen.

»Mein Gott, ihr beiden seht euch heute mal wieder so verblüffend ähnlich, dass selbst ich euch kaum auseinander halten kann! Wenn ihr jetzt noch das gleiche Kleid anhättet, möchte ich den Mann sehen, der weiß, wer Cathrine und wer Marie-Claire ist.«

Christiane wandte sich an Marie-Claire. »Du, ich habe tolle Nachrichten für dich! Dass dieser Gregor tatsächlich der oberste Bandträger dieser katholischen Bruderschaft ist, habe ich dir ja schon am Telefon gesagt. Und ich kann dir als beste Freundin eigentlich nur raten, dir diesen Typen zu angeln! Vergiss doch seine Feierabendspielchen mit dieser Bruderschaft! Vergiss sie! Männer brauchen ihre Träume! Die einen spielen Fußball am Wochenende, die anderen träumen davon, ein edler Ritter zu sein und wiederum andere sehen sich als milites christiani im Kampfe für einen Orbis Europaeus Christianus! Ist eh nur Fantasterei. Also schnapp dir diesen Mann. Er sieht gut aus, hat Geld, will dich – und ist geschieden!«

Marie-Claire lachte lauthals los. Chrissie war so unglaublich süß mit ihren pragmatischen Lebensweisheiten. Dennoch stimmten sie die Worte der Freundin nachdenklich, denn Chrissie hatte ihr praktisch den gleichen Rat gegeben wie Cathrine.

»Ihr beide seid unmöglich! Lasst mich doch in Ruhe mit euren Ratschlägen. Schaut einfach mal ehrlich in den Spiegel. Dann erkennt ihr, dass meine Einsamkeit nicht nur ehrlicher, sondern auch verträglicher ist. Ich muss mir nicht im Abstand von wenigen Monaten die Birne zusaufen, um das Wissen, wie fad und inhaltslos mein Leben ist, zu ertränken. Und ich bekomme auch nicht in regelmäßigen Abständen Krisen, die mit der Erkenntnis enden, dass man nichts ändern kann und es deswegen besser ist, alles so zu lassen, wie es ist! Also lasst mich in Frieden! Sag mir lieber, was du so Sensationelles in Sachen Florentiner herausgefunden hast.«

Die Stimmung war kurz davor zu kippen. Cathrine de Vries blinzelte ihre Schwester verärgert an. Sie mochte es nicht, wenn Marie-Claire ihr Dinge sagte, die sie selbst wusste. Christiane Schachert hingegen schaute verwundert drein. Für Momente herrschte betroffenes Schweigen. Dann kramte Christiane Schachert einige Notizen aus ihrer Handtasche. »Also gut, betrachten wir das hier eben als rein geschäftliches Meeting. Ist wohl besser so. Unsere liebe Marie-Claire scheint mir derzeit nicht in der besten Stimmung zu sein. Also, ich war so frei, in der Nationalbibliothek für dich einige Recherchen zu machen. Langsam finde ich die vielen Geschichten um den Florentiner-Diamanten nämlich wirklich sehr interessant. Die Informationen, die ich vom Kustos der Wiener Schatzkammer bekommen habe, werden dich umhauen. Pass auf, ich lese dir mal was vor …«

Christiane Schachert blätterte in ihren Unterlagen. Schließlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte. Sie räusperte sich. »Auszug aus den Allerneusten Nachrichten vom Römisch-Kaiserlichen Hofe – nebst einer ausführlichen historischen Beschreibung der Kaiserlichen Residenzstadt Wien …«

Christiane Schachert blickte Marie-Claire triumphierend an: »Das ist ein Buch, das im Jahre 1730 von einem Johann Basilii Küchelbeckers in Hannover veröffentlicht wurde. Und was, glaubst du, steht da auf zwei Seiten geschrieben, was wird da als vermeintliches Prunkstück der Wiener Schatzkammer en detail beschrieben?«

Marie-Claire de Vries musste lächeln. Ihre Freundin lachte triumphierend, und ihre Augen blitzten auf.

»Der Florentiner?«

Christiane Schachert schüttelte den Kopf. »Daneben geraten, meine Liebe! Absolut daneben! Hör zu …« Wieder blätterte sie und las dann vor: »… ein Modell von dem Florentinischen großen orientalischen Diamant, in der Größe einer Welschen Nuss … Solches aber ist nur ein Böhmischer Diamant, und nebst anderen Präsenten der Spanischen Kaiserin ehemals aus Spanien nachgeschickt worden …«

Marie-Claire de Vries starrte erst Chrissie und dann ihre Schwester Cathrine an. Zunächst wusste sie das Gehörte gar nicht einzuordnen. Dann aber begriff sie, was Christine da ausgegraben hatte.

»Ein böhmischer Diamant? Also eine Kopie …?« Sie zitterte innerlich, wartete auf Chrissies Antwort.

»Richtig! Das war eine Kopie. Eine originalgetreue Kopie des Florentiner-Diamanten. Und zwar in der Wiener Schatzkammer!«

Marie-Claire wollte etwas sagen, aber Christiane unterbrach sie. »Wahrscheinlich war es eine Kopie aus Quarz. Aber sie muss täuschend echt gewesen sein, was für sich schon eine Sensation ist. Das Verrückte daran ist was ganz anderes. Diese Kopie war in Wien, bevor der wirkliche Diamant, also der echte Florentiner nach Wien kam. Und zwar bereits Jahre vorher! Jetzt frage ich mich mit meinem kleinen Kunsthistorikerhirn, was Seine Durchlaucht, der Kaiser zu Wien, mit der Kopie eines schon damals weltbekannten Diamanten macht. Vor allem in der Schatzkammer! So eine Quarzkopie ist gerade mal den Arbeitslohn des Schleifers wert gewesen. Ein solches Steinchen muss man nicht in der Schatzkammer bewachen lassen! Oder was denkst du?«

Marie-Claire brauchte eine Weile, um diese höchst eigentümliche Situation einzuschätzen. Ihre Schwester Cathrine kam ihr zuvor.

»Ist doch ganz einfach! Entweder die kaiserlichen Hoheiten haben sich mit einem Diamanten geschmückt, den sie gar nicht besaßen, haben also unglaublich angegeben, quasi vorgegeben, diesen unvorstellbar wertvollen Diamanten zu besitzen. Oder die wussten überhaupt nicht, dass es eine Kopie war, und sind vielleicht beim Kauf betrogen worden. Sie haben Ramsch gekauft und haben den Ramsch dann vielleicht auch noch beliehen, wenn die Kassen knapp waren! Wer hätte sich schon damals getraut, dem Kaiser zu sagen, dass es eine Kopie ist, die er als Sicherheit für ein Darlehen anbietet?«

»Kann schon sein«, schaltete sich Christiane Schachert wieder ein. »Es gibt da schon einige ähnliche Geschichten. Hinzu kommt, dass unser werter Herr Kustos der Schatzkammer freimütig zugibt, dass kein Mensch weiß, was mit dieser Kopie später passiert ist. So akribisch die Bücher der Schatzkammer stets geführt wurden, so verwunderlich ist, dass in den Jahren und Jahrhunderten danach diese Kopie nie wieder erwähnt wurde. Weg ist er – der Florentiner – äh, die Kopie! Einfach weg.«

Eine Stunde später fuhr Marie-Claire de Vries zurück nach Hause. Statt mehr Klarheit zu haben über die Historie des Florentiners, zeichnete sich nun doch das ab, was sie seit dem Gespräch mit Sanjay Kasliwal befürchtete: ein Skandal, eine Sensation. Es gab tatsächlich zwei Kopien eines der berühmtesten Diamanten des Abendlandes! Eine hatte in der Schatzkammer in Wien gelegen – und war verschwunden. Eine andere Kopie lag, wie sie bereits wusste, in dem Museum in Mailand. Dort wusste niemand, woher sie stammte. Aber das Original, der echte Florentiner, war seit 1920 verschwunden! Der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer hatte ihn vermutlich über Mittelsmänner vom letzten österreichischen Kaiser bekommen, um ihn zu verscherbeln. Plötzlich fiel ihr eine Passage aus dem Buch Vitrine XIII ein. »Das kann doch wohl nicht wahr sein, das ist unmöglich …«, murmelte sie in der Straßenbahn vor sich hin. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause und lesen, lesen, was Sondheimer damals geschrieben hatte. Aber sie kam nicht zum Lesen. Kaum dass sie ihre Wohnung betreten hatte, läutete das Telefon. Peter bat sie ohne Angabe von Gründen, eine Viertelstunde vor dem verabredeten Termin in das Café zu kommen. Wenige Minuten später klingelte ihr Telefon erneut. Diesmal war es Francis Roundell. Auffällig kühl, kurz und knapp bat er sie für den nächsten Morgen um ein ausführliches Telefonat, bei dem sie ihm den aktuellen Stand ihrer Recherchen darlegen sollte. Einen schriftlichen Bericht, den er der Geschäftsleitung von Christie’s vorlegen wollte, erwartete er spätestens Anfang kommender Woche. Gegen Ende ihres Gespräches fragte er beiläufig, wann sie plane, nach Grandson zu reisen. Am Wochenende, hatte sie geantwortet. Ja, am Wochenende wollte sie in die Schweiz, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das zeitlich schaffen wollte.

Der recht barsche Ton von Francis beschäftigte sie noch, als sie geduscht und dem Anlass entsprechend elegant-adrett gekleidet das Kaffeehaus gegenüber dem Hotel Imperial betrat.

Peter erwartete sie bereits. Er wirkte ungewöhnlich nervös und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er sah übernächtigt und sehr fahl aus und sprach geradezu gehetzt.

»Hallo, Marie-Claire. Schön, dich mal wieder zu sehen. Ist sicherlich schon gut ein Jahr her. Immer noch auf der Spur der verschwundenen Preziosen reicher Menschen?«

»Grüß dich, Peter! Na, du schaust mir aber sehr urlaubsreif aus! Gehörst wohl auch zu jenen Menschen, die für ein Taschengeld den Beruf zu ihrem Leben machen – so wie ich.«

»Da hast du freilich Recht. Gestern hatten wir Vertretertagung, vorgestern waren zwei Autoren bei mir, morgen werde ich nach Berlin fliegen – und den heutigen Tag habe ich mit nichts anderem verbracht als mit diesem blöden Manuskript eines Buches, das fünfzig Jahre alt ist, ein Ladenhüter war – und jetzt dem Verlag zu unerwartetem Reichtum verhelfen würde, wenn Interpol nicht dagegen wäre.«

Marie-Claire betrachtete ihren alten Freund. Warum er diesen Beruf gewählt hatte, war ihr stets schleierhaft gewesen. Er las nicht sonderlich viel und gerne, aber er liebte es, sich mit Literaten und Künstlern zu umgeben. Sie gaben seinem ansonsten recht farblosen Leben einen Inhalt, wie er einmal freimütig eingestanden hatte. Peter, sie wusste das, weil er ihr eine Zeit lang Avancen gemacht und damals seine Lebensgeschichte erzählt hatte, war ein Konglomerat aus Komplexen. Und er war ein sehr unsicherer Mann. Obwohl er recht fesch aussah, glaubte er, für Frauen ein Antityp zu sein. Sie hatte das nie so gesehen, auch wenn aus ihnen beiden nichts geworden war. Seither waren sie Freunde, und daher wusste er, dass sie Verständnis für eine so emotionslose Begrüßung hatte.

»Jetzt mal schön langsam, Peter«, versuchte sie seinen Redefluss ein wenig zu stoppen. Sie verstand nichts von dem, was er gerade gesagt hatte. Aber er hörte ihr nicht wirklich zu. Nervös kramte er in seiner Aktentasche und holte ein dickes Bündel Papiere hervor.

»Das hier ist eine Kopie des handschriftlichen Originalmanuskripts von Alphonse de Sondheimer. Einige Seiten seiner persönlichen Notizen sind ebenfalls dabei. Es weicht in vielen Teilen von dem ab, was wir später in dem Buch gedruckt und veröffentlicht haben. Der Typ hat damals so wirres Zeug geschrieben, dass der Verlag Angst hatte, das Haus Habsburg würde ihn von einem Gericht zum nächsten zerren, wenn das alles so gedruckt werden würde, wie es in dem Manuskript steht. Du wirst sicherlich bemerkt haben, dass wir seitens des Lektorats viele Textpassagen im Buch mit Kommentaren und Fußnoten versehen haben. Das geschah aus rein juristischen Gründen, quasi um seine Tatsachenbehauptungen zu entschärfen. Denn es ist schon unglaublich, was Sondheimer über den Verkauf des Schmucks aus der Wiener Schatzkammer behauptete. Da er jetzt tot ist, kann es mir egal sein, was nun geschieht. Nimm es, Marie-Claire, lies es und mach damit, was du willst – aber versprich mir, dass kein Mensch jemals erfährt, dass du es von mir bekommen hast! Diese ganze Kiste ist so heiß und seltsam, dass es mein Dasein viel zu sehr durcheinander bringt, als dass ich mich damit wirklich beschäftigen möchte.«

Marie-Claire war irritiert. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Das ist unglaublich lieb von dir, Peter. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen. Natürlich werde ich absolut diskret damit umgehen. Es ist ja nur dazu gedacht, mir eine Vorstellung davon machen zu können, was damals in den Jahren in der Schweiz mit den Habsburger Kronjuwelen – vor allem mit dem Florentiner – wirklich geschehen ist. Aber was hast du da eben von Interpol gemurmelt? Das habe ich nicht ganz verstanden.«

Ihr Freund schaute noch nervöser als zuvor im Café umher. Seit sie hier zusammen saßen, hatte er mehrere Tassen Kaffee getrunken und eine Zigarette nach der anderen geraucht.

»Ich habe dir ja gesagt, dass dieser Araber, dieser Abdel Rahman, der gleich hierherkommen wird, angeblich im Auftrag einer arabischen Gesellschaft zur Rückführung entwendeter arabischer Kulturgüter damit betraut ist, den Verbleib von Kunstgegenständen und Schmuckstücken zu eruieren, um sie dann zurückzukaufen. Eine höchst dubiose Sache, wie ich finde! Zweihunderttausend Euro hat er dem Verlag für das Manuskript geboten, weil diese seltsame Gesellschaft davon ausgeht, dass in den Aufzeichnungen detaillierte Angaben über den Verbleib bestimmter Schmuckstücke enthalten sind. Natürlich wollten sie erst einmal quer lesen, quasi kostenlosen Einblick in das Manuskript bekommen, bevor sie das Geld auf den Tisch legen. Mensch, Marie-Claire! Zweihunderttausend Euro! Das ist viel Geld. Unsere Verlagsleitung ist vor Freude über die Tische gehüpft, als dieses Angebot kam. Und natürlich wollten sie es verkaufen. Kann ja niemand mehr was mit diesem uralten Kram anfangen. Wer traut sich heute schon noch, diese mehr als suspekte Sache damals in der Schweiz neu aufzurollen? Seit sie Kaiser Karl seliggesprochen haben, ist er hier in Österreich ein Heiliger. Keiner traut sich an dieses Thema ran. Weißt ja, dass die Familie Habsburg seit ewigen Zeiten im Zwist mit allen österreichischen Nachkriegsregierungen lag, weil es Leute gab, die behaupten, der Kaiser hätte damals Staatsbesitz versilbert. Und die Familie Habsburg sagt natürlich, dass es Privatbesitz, also Familienschmuck gewesen sei. Nein, das Thema will keiner mehr anfassen. Insofern hätte der Verlag den Text sicherlich gern abgestoßen. Aber nun wird er doch nicht verkauft.«

Erstaunt sah Marie-Claire de Vries ihren Freund an. Peter sah ziemlich fertig aus.

»Warum nicht?«

»Weil heute Vormittag ein hohes Tier vom österreichischen Innenministerium im Haus war und unseren Chef bat, wie es so schön in dieser verquirlten Staatsschützersprache heißt, ›aus übergeordneten staatlichen Interessen von einer Weitergabe des Manuskripts an Dritte abzusehen‹. De facto ist es so: Interpol, ja, Interpol bittet freundlichst, dem Herrn Abdel Rahman mit fadenscheinigen Gründen klarzumachen, dass er das Manuskript nicht bekommen kann! Für mich ist das jetzt eine echte Gratwanderung, dich diesem Araber auch noch vorzustellen. Ich habe ihm gesagt, dass du eine Edelsteinexpertin bist, die für uns an einem Buch über berühmte Diamanten arbeitet. Ich habe so getan, als hätten wir zwei hier ein Treffen, um über das Manuskript deines Buches zu sprechen. Er wird es also als Zufall deuten, dass er dich hier trifft. Verdammter Mist, da kommt er schon!«

Marie-Claire sah, wie das Gesicht ihres Freundes noch blasser wurde. Was er mit dem letzten Satz gemeint hatte, verstand sie nicht. Peters Gesicht verzog sich zu einem künstlichen Lächeln. Er stand auf und streckte seine Hand aus. Marie-Claire drehte sich um – und erstarrte.

*

Eine Stunde später hatte sich Marie-Claire de Vries noch immer nicht wirklich erholt. Sie zwang sich zu einem Höchstmaß an Selbstbeherrschung, aber in Wirklichkeit war sie mit den Nerven am Ende. Nur zeigen durfte sie es nicht. Peter war längst gegangen. Die Unterredung mit dem Araber hatte kaum mehr als zehn Minuten gedauert. Peter hatte im Auftrag der Verlagsleitung sein Bedauern zum Ausdruck gebracht, hatte um Verständnis gebeten dafür, dass die Rechtsabteilung des Verlages zu dem Schluss gekommen war, dass eine Weitergabe des aus handschriftlichen Aufzeichnungen bestehenden Manuskripts die Persönlichkeitsrechte des Autors verletzen würde. Der Autor sei zwar verstorben, aber die Sorgfaltspflicht des Verlages müsse auch eventuelle Interessen der Erben und im Manuskript genannter Dritter berücksichtigen. Daher sei es leider unmöglich, das Manuskript zu verkaufen.

Er hatte das perfekt gemacht. Wirklich professionell. Marie-Claire war maßlos beeindruckt gewesen. Das hatte sie ihm nicht zugetraut. Und sich selbst hatte sie auch nicht zugetraut, mit der danach entstandenen Situation fertig zu werden. Denn der Mann, der gekommen war und der ihr nun gegenüber saß und freundlich mit ihr plauderte, war niemand anderes als jener andere Mann von den beiden, den die Sicherheitsleute von Christie’s vor geraumer Zeit beim Verlassen der Zentrale in London heimlich fotografiert hatten. Ebenso wie Gregor von Freysing hatte sich dieser Abdel Rahman für die Auktion aus dem Jahre 1981 interessiert. Jene Auktion, bei der ein ungewöhnlich großer Diamant zur Versteigerung gelangen sollte. Nach ihrem jetzigen Kenntnisstand war Marie-Claire davon überzeugt, dass Christie’s damals der legendären Florentiner angeboten worden war.

Jetzt saß dieser Araber vor ihr. Ja, er war es. Ohne Zweifel. Sie hatte ihn sofort erkannt. Doch das war nicht der einzige, der wirkliche Grund für ihre Verwirrung. Nein. Dass um den Florentiner herum andauernd mysteriöse Dinge geschahen, Dinge, die ihre Welt auf den Kopf stellten, hatte sie im Laufe der letzten Wochen begriffen. Sie hatte sich fast schon daran gewöhnt und rechnete damit, ständig mit etwas Neuem konfrontiert zu werden. Das Problem, das sie nun hatte, war ein ganz anderes: der Mann, von dem sie nicht einmal genau wusste, wer er wirklich war und ob er wirklich Abdel Rahman hieß. Hatte Francis ihr nicht gesagt, dass er sich damals in London als Jilani – oder so ähnlich vorgestellt hatte? Doch das war ihr ebenso gleichgültig wie die Frage, warum er sich für den Florentiner interessierte. Der Mann, den sie nun schon seit einer Stunde betrachtete, dieser Mann verwirrte sie aus einem ganz anderen Grund: Sie hatte schon lange nicht mehr einem so gut aussehenden Mann gegenübergesessen. Er sah aus wie Omar Sharif in jungen Jahren. Sein Gesicht war fast ebenmäßig und doch extrem männlich und markant. Er hatte kräftige und doch schlanke, schöne Hände. Seine tiefdunklen Augen sprühten vor Lebenskraft und Elan. Und er war sympathisch, unendlich sympathisch.

Weit mehr als Gregor stellte er ihre Gefühlswelt auf den Kopf. Sie verlor sich in seinen Augen, sein Charme umhüllte sie – und gleichzeitig riet ihr der Verstand zu extremster Vorsicht. Als sie vor wenigen Minuten von der Toilette zurückgekehrt war, hatte sie gesehen, dass sie einen fatalen Fehler begangen hatte. Unter ihrem Mantel auf dem Stuhl neben ihr lag das Originalmanuskript von Alphonse de Sondheimer, und sie hatte es dort liegen lassen. Sie glaubte, den Mantel beim Aufstehen leicht gestreift zu haben, so dass der Stapel Papier jetzt deutlich zu sehen war.

Marie-Claire saß nun wieder am Tisch, lächelte und schielte auf den Nachbarstuhl. Die Hälfte des Titelblattes schaute unter dem Mantel hervor. Der Name Alphonse de Sondheimer war in großen Lettern deutlich zu lesen. Hatte der Araber es gesehen und in ihrer Abwesenheit darin geblättert? Marie-Claire wusste es nicht, und zu ihrer eigenen Beschämung hielt sie sich auch nicht bei diesem Gedanken auf …

Marie-Claire wachte mit schlechter Laune auf. Die Nacht war für sie ein einziges Martyrium gewesen. Mit allem hatte sie gestern gerechnet, aber nicht damit, dass sich der Araber kurz darauf von ihr verabschiedete. So charmant und unglaublich leutselig, wie er mit ihr in dem Café geplaudert hatte, war sie schnell davon ausgegangen, dass er sie zu einem gemeinsamen Abendessen einladen würde. Sie hätte sofort Ja gesagt! Doch er hatte nicht einmal eine Andeutung gemacht. Zuvorkommend-galant war er gewesen, sie hatten viel gelacht, sich über ihre früheren Reisen nach Marokko und Syrien unterhalten – auf Französisch! Sie hatte es unglaublich genossen, mit ihm auf Französisch zu plaudern. Sie liebte diese Sprache. Im Lycée Français wurde ausschließlich in Französisch unterrichtet. Französisch war für sie wie ihre Muttersprache. Sie konnte es besser als Deutsch und träumte sogar in dieser Sprache. Während ihrer Aufenthalte in Tunesien und Marokko hatte sie es geliebt, sich mit den Menschen dieser Länder auf Französisch zu verständigen, zumal sie Französisch sprechende Araber schon immer sehr erotisch gefunden hatte. Das war schon im Lycée so gewesen. Unter ihren Freunden an der Schule befanden sich stets Jungen aus arabischen Ländern. Sie hatten etwas, was ihren österreichischen Klassenkameraden fehlte. Diese eigentümliche Faszination, die orientalische Männer für sie hatten, zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Auf ihrer ersten Ägyptenreise, zusammen mit ihren Eltern, hatte sie sich im Alter von fünfzehn Jahren in einen jungen Ägypter verguckt und mit ihm heimlich geschmust. In Syrien war sie dann während ihres Studiums zum ersten Mal den männlichen Verlockungen Arabiens erlegen. Später hatte sie mehrere Jahre eine Beziehung mit einem Mann aus Tunesien geführt und auch die Grenzen einer solchen Verbindung, die in der Einstellung arabischer Männer zu Frauen bestanden, kennen gelernt. Jahrelang hatte sie nicht mehr darüber nachgedacht, warum sie arabische Männer so unglaublich erotisch fand – bis Abdel Rahman gestern aufgetaucht war.

Er hatte mit ihr geflirtet und dabei heimlich nach ihrem Körper geschielt. Sie war sich absolut sicher, dass er sie begehrte. Vieles hatte dieser Abdel Rahman getan und gesagt, was sie schnell glauben ließ, er würde sie bitten, den Abend mit ihm zu verbringen. Doch nach einem kurzem Telefonat entschuldigte er sich aus dringenden geschäftlichen Gründen und war verschwunden. Und mit ihm ihre wilden Fantasien! Ungläubig hatte sie ihm ihre Telefonnummer gegeben, ohne jedoch im Gegenzug seine zu erhalten. Illusion ade, hatte sie beim Verlassen des Cafés noch gedacht.

Draußen hatte er ihr, um ihr über ein unebenes Stück Weg zu helfen, die Hand gereicht – und ihre dann länger festgehalten als nötig. Die Gänsehaut, die sie in diesem Moment verspürt hatte, verging die ganze Nacht nicht. Es war eine grausige Nacht gewesen. Wirres Zeug hatte sie geträumt. Erinnerungsfragmente einten sich im Halbschlaf mit Empfindungen, die tief in ihr schlummerten und nach neuem Leben lechzten. Wie ein in Zeitlupe rückwärts laufender Film ihres Leben während des Arabistikstudiums verbanden sich Traumbilder aus der wunderschönen altrömischen Wüstenstadt Palmyra in Syrien mit den Stimmen der Sprecher der Son-et-Lumières-Show im Tempel von Karnak in Oberägypten. Da ging die Sonne hinter den Ruinen von Karthago in Tunesien unter und stieg am frühen Morgen aus denen im tunesischen Sbeitla wieder empor. In den Sanddünen des Erg Chebbi und in der Sandwüste von Chigaga sah sie sich neben dem Lagerfeuer auf dem Wüstenboden liegen und die kristallklaren Sterne über sich funkeln. In allen Traumbildern huschten Gesichter durch die Erinnerungen. Gesichter von Männern. Sie waren zu schemenhaft, als dass Marie-Claire sie hätte benennen können, aber sie wusste, wer sie waren und was sie bedeuteten, welche Sehnsucht sich in ihnen verbarg. Ja, das war ihr Leben, wie sie es sich immer vorgestellt und auch über viele Jahre gelebt hatte. Deswegen hatte sie Arabistik studiert. Dann hatte sie dieses Leben aus den Augen verloren. Doch heute Nacht hatte es tief in ihr rumort. Heute Nacht war es wieder erwacht, zusammen mit Gesichtern – arabischen Gesichtern. Was sie etwas schockiert hatte, war, dass sowohl Sanjay Kasliwal aus dem indischen Jaipur als auch Abdel Rahman darin aufgetaucht war. Eines hatte sie darüber komplett vergessen – ihren Auftrag und Francis Roundell. Das Klingeln des Handys riss sie zurück in die Gegenwart. Marie-Claire stolperte durch ihre Zweizimmerwohnung am Donaukanal. Draußen schien es sehr kalt zu sein. Der durch Abwässer erwärmte Kanal dampfte. Das Handy lag im Badezimmer, aber es klingelte nicht mehr. Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht, aber als sie sie wählte, hoffte sie. Und wirklich, er war es. Seine Stimme am anderen Ende der Leitung klang ihr unglaublich vertraut.

»Oui … quelle surprise … gerne, ja, es ist sehr schönes Wetter. Ich habe eine gute Idee! Treffen wir uns doch um vier Uhr heute Nachmittag am Eingang des Burgtheaters und gehen wir zum Weihnachtsmarkt.«