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Damit hatte Carlo Frattini nicht gerechnet. Der Sicherheitsbeamte an der Einfahrt zum Palmeraie Golf Palace Hotel & Resort ließ ihn nicht passieren. Gestern war er noch völlig problemlos reingekommen, hatte lediglich gesagt, er sei Hotelgast. Nahezu den ganzen Tag hatte er damit verbracht, sich mit den Örtlichkeiten des mehrere Hektar großen Terrains, mit dem Golfplatz, den Tennisplätzen, Reitställen und den insgesamt neun Restaurants und Bars der Anlage vertraut zu machen. Schnell hatte er erkannt, dass dieses unüberschaubare und von morgens bis abends gut besuchte Resort ideal für seine Pläne war. Niemand achtete hier auf einen Europäer. Um die fünf Swimmingpools herum lagen Urlauber aus aller Welt und marokkanische Stammgäste, die durchweg im Pulk mit vielen Kindern die Liegen bevölkerten. Nein, er als Sarde fiel hier nicht auf. Damit hatte er eine optimale Ausgangsbasis.
Draußen, in Marrakesch, mischte er sich als Gacel Sayah verkleidet, der Targi, unter die einheimische Bevölkerung. In Hotels und Restaurants verhielt er sich wie die Touristen, von denen Tag für Tag Zehntausende durch die Souks, Prachtpalais und weitläufigen Gartenanlagen der Stadt zogen. So unproblematisch hatte er sich das nicht vorgestellt, als er von Italien aus losgeflogen war. Sein südländisches Aussehen erleichterte es ihm, sich völlig frei zu bewegen. Die Stadt begann ihm zu gefallen. Sie hatte ein sehr eigenes Flair, lag wunderschön in der fruchtbaren, von herrlichen Palmenhainen und Gärten geprägten Ebene mit den jetzt schon schneebedeckten Bergen des Atlas-Gebirges im Hintergrund. Es war ein reizvolles Motiv: Die mächtige Stadtmauer, überthront von Palmen und Moscheen, durchsetzt von Palästen und wunderbaren Gärten – und im Hintergrund der über viertausend Meter hohe, schneebedeckte Djabal Toubkal. Der Kontrast zwischen dem mittelalterlich-orientalisch anmutenden Treiben auf dem Djemaa el Fna und in der Medina, der Moderne in Marrakesch Nouveau und dem fantastisch-luxuriösen Ambiente in den unzähligen Palästen der Stadt war faszinierend. Das Klima war zudem sehr angenehm. Für Dezember war es noch sehr warm, tagsüber sogar warm genug, um am Pool liegen zu können. In dieser Anlage hier gab es zwei beheizte Schwimmbecken, an denen sich gestern die Gäste aufgehalten hatten. Und genau dort, in einem der dreigeschossigen, roten Wohntrakte an dem größten der insgesamt fünf Swimmingpools, lagen die zwei Zimmer, in denen sich die Araber aufhielten. Einige dieser Männer hatte er bereits identifiziert. Es waren Marokkaner, die zusammen mit ihren Familien hier in Marrakesch lebten. Er hatte bereits damit angefangen, deren Privatleben auszukundschaften. Von jenem Mann, den er in den letzten Tagen nahezu rund um die Uhr observiert hatte, wusste er, dass er einen verhältnismäßig regelmäßigen Tagesablauf hatte. Dazu gehörten der Besuch des Friseurs und der Besuch seiner Freunde hier im Hotel. Ganz offensichtlich war dieser kleine, sehr schmächtige Mann für die Logistik innerhalb der Gruppe zuständig. Er erledigte Botengänge, besorgte Fahrzeuge und schien der Kontaktmann zu bestimmten Behörden zu sein. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war er bei dem Überfall auf das Schloss in Deutschland dabei gewesen. Er war ganz eindeutig Marokkaner. Bei den anderen war er sich nicht so sicher. Einer hatte seines Wissens gleich mehrere Identitäten. Nach den ihm von Freunden und Kollegen übermittelten Interpol-Daten hieß er mal Jilani Rezaigui, gelegentlich auch Faisal Ben Ait Haddou und derzeit wohl Abdel Rahman. Vieles sprach dafür, dass er der oder zumindest einer der Anführer war. Seine Nationalität war ebenso unklar wie seine Zugehörigkeit zu einer Terrorgruppe. Carlo Frattini stand noch immer mit seinem Wagen in der Nähe der Zufahrtsstraße zum Schlagbaum des Hotels. Nachdem der Wärter ihn abgewiesen hatte, war er zurückgefahren. Er überlegte, was er tun sollte. Er kannte die Gepflogenheiten hier nicht. Konnte er den Wärter mit einem kleinen Trinkgeld bestechen? Oder würde er mit einem solchen Versuch nur Aufmerksamkeit erwecken? Er war noch nie in Marokko gewesen. Das wenige Arabisch, das er konnte, hatte er in Tunesien gelernt. Diese Sprache war eine echte Herausforderung für jeden Abendländer – geschrieben wie gesprochen. Schon allein das Schreiben von rechts nach links stellte alles Gelernte auf den Kopf. Die achtundzwanzig Basiszeichen der Schrift, die nie als Einzelbuchstaben, sondern stets verbunden verwendet werden, waren eine tückische Fehlerquelle für jeden Europäer. Und die gesprochene Sprache hatte sich für ihn schnell als kaum zu bewältigendes Problem herausgestellt.
Die vielen kehligen Laute malträtierten sein italienisches Sprachgefühl. Das Schlimmste war, dass Arabisch weltweit so viele Dialekte hatte, dass zum Beispiel ein Syrer mit einem Marokkaner nicht kommunizieren konnte. Sein gelerntes Hocharabisch nutzte ihm daher hier in Marrakesch nicht sehr viel. Es reichte, um sich mit einigen arabischen Schimpfworten allzu aggressive Souvenirhändler vom Leibe zu halten. Dagegen konnte er fast alles lesen – auch das Schild am Schlagbaum des Hotels. Dort stand, dass Hotelgäste unaufgefordert ihre Zimmernummer sowie den Namen nennen sollten.
Verärgert wollte er soeben seinen Wagen zurücksetzen, als hinter ihm ein Auto heranfuhr und direkt hinter ihm stehen blieb. Es war ein Mietwagen. Das konnte er an zwei Querstrichen auf dem Kennzeichen erkennen. Er schaute in den Rückspiel. Am Steuer saß ein Europäer um die fünfzig Jahre. Auf dem Rücksitz konnte Carlo Frattini Golfgepäck erkennen. Der Fahrer hinter ihm hupte verärgert. Carlo Frattini beugte sich aus dem Seitenfenster heraus und rief dem Fahrer ein italienisches Schimpfwort zu. Der andere beugte sich nun ebenfalls aus dem Fenster. Als Frattini den Gang einlegte, um zurück in die Stadt zu fahren, hörte er, wie ihm der Mann in dem Golfdress auf Deutsch »Dummkopf, hier ist Halteverbot …« hinterherrief.
*
Auf der Terrasse vor dem Zimmer im Erdgeschoss nahe dem Swimmingpool saßen drei Männer in der wärmenden Morgensonne. Sie tranken Tee. Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein schob den Vorhang am Fenster seines Zimmers auf der gegenüberliegenden Seite des Pools mit der Waffe ein wenig zur Seite. Vorsichtig schaute er durch die Zieloptik. Zwei Männer waren durch einen Oleanderbusch verdeckt. Der dritte saß mit dem Rücken zur Terrassenwand und hielt ein Handy am Ohr. Das Zielfernrohr war von hervorragender Qualität. Gregor von Hohenstein konnte nahezu jedes Detail im Gesicht des Mannes erkennen. Er war kaum älter als dreißig Jahre, ungewöhnlich breitschultrig und dick. Der Araber trug eine goldene Kette und einen fast monströsen Goldring an der Hand, die das Handy hielt. Diesen Mann hatte er in Deutschland nicht gesehen. Vorsichtig justierte Gregor von Hohenstein die Zieloptik. Das 4-12x50-Zielfernrohr hatte eine fantastische Auflösung. Das MilDot-Absehen besaß auf dem feinen Fadenkreuz kleine Pünktchen zum Vorhalten in der Bewegung, aber das würde er nicht brauchen. Die Männer saßen nahezu bewegungslos da. Ungefähr siebzig Meter – mehr waren es nicht zwischen ihm und den Arabern. Die Lochkimme mit dem Leuchtkornvisier hatte ihm soeben ein perfektes Ziel gegeben.
Langsam ließ er den Vorhang wieder zurückgleiten und setzte sich. Geradezu liebevoll strich er über die Waffe in seiner Hand. Sie war sehr leicht. Der modifizierte Schaft aus Aluminium schimmerte matt. Er griff nach der Spannhilfe. Der erste Versuch misslang. Erst jetzt wurde ihm bewusst, welch irrsinnige Kraft hinter den beiden Wurfarmen steckte. Auf neunzig Meter konnte er damit ein faustgroßes Ziel problemlos treffen. Da er sich mit solchen Waffen nicht auskannte, hatte er sich kundig machen müssen, welche Pfeile er am besten verwenden sollte. Seine Wahl war schließlich auf Carbonpfeile gefallen. Sie besaßen eine hervorragende Eigenpräzision. Die Befiederung war leicht gedrallt und ließ damit den Pfeil im Flug rotieren, was zu einer perfekten Stabilisierung führte.
Er griff nach einem der Pfeile, die er samt der zerlegten Armbrust in seinem Golfsack ins Hotel gebracht hatte. Die zwanzig Zoll langen Pfeile wogen laut Hersteller gerade mal fünfundzwanzig Gramm. Sie hatten Jagdspitzen – kreiert zum gnadenlosen Töten. In Abschussposition blieben die drei Schneiden an der Spitze des Pfeils nach hinten geklappt und wurden durch einen Gummiring dort gehalten. Beim Auftreffen würden die wie Rasierklingen geschärften Schneiden auseinander klappen. Ein solcher Pfeil würde sich wie eine rotierende Rakete in das Ziel bohren und neben der Schockwirkung erhebliche innere Verletzungen bewirken. Das Opfer würde entweder direkt sterben oder verbluten. Bei der enormen Durchschlagkraft solcher Pfeile war die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Spitze auf der anderen Seite des Körpers wieder austreten würde. Das gäbe nochmals eine tödliche Wunde. Ja, diese Pfeile waren gedacht, zu töten. Deswegen hatte er sie ausgewählt. Was ihn an dieser Waffe besonders begeisterte, war, dass sie lautlos war. Kein Brechen des Schusses, kein verräterisches Mündungsfeuer verrieten den Schützen. Das Opfer würde den rotierenden Pfeil nicht hören, so schnell flogen diese gefiederten Carbon-Dinger bei einem Zuggewicht von hundertzwanzig Kilogramm. Der Tod wäre nur ein leises Surren. Mehr nicht … Georg von Hohenstein legte einen Pfeil vorsichtig in die Führung. Mit dem Zeigefinger tippte er sanft gegen die Pfeilspitze, damit das hintere Ende direkt an der Sehne anliegen würde. Er wollte nochmals versuchen, die Wurfarme der Armbrust mit der Spannhilfe in Schussposition zu bringen, entschied sich dann aber, das Zielfernrohr erneut zu justieren. Ein weiterer Blick zwischen den Vorhängen hindurch, durch die Zieloptik hinüber zu den Arabern auf der Terrasse zeigte ihm, dass die Mattscheibe des Zielfernrohrs ihm ein optimales Ziel gab. Der Araber mit dem Handy war jetzt ins Zimmer gegangen, wo er ihn noch sehen konnte. Georg von Hohenstein grinste hämisch. Wenn er jetzt abdrückte, würde der Pfeil wie eine Nadel durch einen solchen Vorhang hindurchsausen. Der Mann im Zimmer würde getroffen umfallen, ohne dass die beiden anderen draußen auf der Terrasse es bemerkten. Vielleicht würde der Getroffene nicht einmal mehr Zeit zum Röcheln haben. Vielleicht würde er sogar die Zeit haben, einen zweiten Pfeil auf einen der Männer auf der Terrasse abzufeuern! Oder wäre es umgekehrt besser? Erst einen Schuss ins Herz einer der Männer draußen, dann die Schockwirkung des zweiten Mannes ausnutzen, seine Sprach- und Handlungsunfähigkeit angesichts seines blutüberströmten, von einem Pfeil durchbohrten Freundes ausnutzen, nachladen und einen zweiten Pfeil auf das nächste Opfer abschießen. Der andere würde bestimmt hochspringen und somit ein perfektes Ziel abgeben. Bei einer solch kurzen Distanz konnte man nicht vorbeischießen! Dann würde der Dritte aus dem Zimmer herauskommen und in Lebensgröße im Türrahmen stehen. Drei auf einen Schlag! Das war nur mit einer solchen Waffe möglich.
Georg von Hohenstein richtete sich abrupt auf. Als wolle er die grausamen Gedanken der letzten Minuten ausmerzen, schüttelte er sich. Er war angewidert von sich selbst, schämte sich plötzlich für das, was ihm durch den Kopf gegangen war. Was war los mit ihm? Wie konnte er nur solch brutale, menschenverachtende und zynische Gedanken haben? Nein, das war er nicht. Er war kein eiskalter Killer, der den Tod mehrerer Menschen plante. Er hatte nicht wirklich Freude an dem, was er hier tat. Er war kein Mörder! Er war immer ein friedliebender Mensch gewesen. Erinnere dich, warum du hier bist, durchfuhr es ihn. Diese Männer da drüben mochten Diebe, Räuber sein, aber sie waren Menschen. Sie hatten ihm nichts getan, auch wenn sie offensichtlich zu einer Bande gehörten. Doch das war Aufgabe der Polizei. Er war nur aus einem einzigen Grund hier und nur aus einem einzigen Grund bereit zu töten: Er wollte den Kleinen, den Schmächtigen, der Klara vergewaltigt hatte! Ihn wollte er töten. Das konnte er nur, weil es seine einzige Hoffnung war, dem Leben wieder einen Hauch von Perspektive zu geben. Wieder schaute Georg von Hohenstein durch das Zielfernrohr. Entsetzt riss er die Augen auf. Was war das auf einmal?
»Verdammte Scheiße! Mist, verfluchter …«, zischte er. Die Mattscheibe des Zielfernrohrs begann milchig-trüb zu verlaufen. Das Ziel, die Terrasse, der Oleanderbusch, die Männer hinter dem Busch verschwammen. Er konnte sie nur noch schemenhaft erkennen. Alles verlief sich in Grautönen mit Kreisen um das Fadenkreuz herum. Verwirrt starrte er über das Zielfernrohr hinweg zur gegenüberliegenden Terrasse. Dann sah er, was geschah. Die tief stehende Vormittagssonne lugte langsam über den Giebel des Hauses. Sonnenstrahlen touchierten die Palmenkronen über der Terrasse – und schienen nun direkt in sein Zielfernrohr! Er wusste, was nun geschehen würde, er kannte diese Situation von der Jagd. Kein Schütze konnte bei tief stehender Sonne einen halbwegs sicheren Schuss abgeben! Wieder blickte er ins Zielfernrohr – und erstarrte!
Schweißtropfen schossen aus seinen Poren hervor. Sein Herz raste. Seine Hand zitterte mitsamt der Armbrust. Da war er!
Der schmächtige Araber, der Mann, der Klara vergewaltigt hatte! Er hatte offensichtlich die ganze Zeit hinter dem Busch gesessen. Jetzt stand er mitten auf der Terrasse. Die Sonne schien immer mehr in das Zielfernrohr. Das Bild jenes Mannes, den er hasste, löste sich auf der Mattscheibe in Grautönen auf. Sein Körper war faktisch nicht mehr zu sehen. Er trug ein rotes Hemd, dessen Farbe sich mit dem Orange in der Zieloptik zu diffusen Prismen und Kreisen einte. Weg war der Körper, aber er sah den Kopf, das Gesicht. Jenes Gesicht, das ihn hämisch angelacht hatte. Ja, ohne Zweifel: Das war er! Und dann war er weg. Die Sonne strahlte in voller Kraft genau in die Linse des Fernrohrs. Er war da, er konnte ihn, das rote Hemd, über das Zielfernrohr hinweg sehr gut und klar und erschreckend nahe sehen. Aber schießen konnte er nicht mehr. Ohne Zielfernrohr war das nicht möglich. Dann verschwand der Schmächtige im Hotelzimmer. Genau in diesem Augenblick klingelte das Handy von Freiherr Georg von Hohenstein. Der Ton riss ihn aus der dumpfen Welt des Tötens und des Hasses. Zitternd klappte er das Handy auf. Mit einem Auge schielte er noch immer hinüber auf die Terrasse. Da war niemand mehr zu sehen. Die Stimme am anderen Ende des Telefons war sehr freundlich und warm. Es war eine Frau. Er kannte sie nicht. Er hörte ihr auch nicht richtig zu. Alles um ihn herum war irreal, verzerrt, ein Albtraum.
»Sagen Sie das noch mal …«, schrie er plötzlich in sein Handy. Ja, er schrie – ungläubig, glücklich, zweifelnd und doch voller Glauben. Dann weinte er hemmungslos.
*
Faisal Jawda hatte ein höchst eigentümliches Gefühl. Er wusste, dass er träumte. Aber er wusste auch, dass er vor Sekunden noch einen Artikel in der Gazette du Maroc gelesen hatte. Solche Halbschlafmomente kannte er – mochte sie. Es war ein wunderschönes, zeit- und raumloses Gefühl, so wie auf einem Wattebausch schwebend auf dem Friseursessel unter dem schattigen Baum zu liegen und der realen Welt zu entgleiten. Er sah über sich die Äste und Blätter des sich sanft in der Mittagshitze bewegenden Eukalyptusbaumes. Und doch waren sein Geist und sein Körper entfleucht. Er hatte oft darüber nachgedacht, wie er dieses Gefühl des Schwebens und Dahintreibens erhalten konnte. Entspannter konnten Körper und Geist nicht sein. Nicht einmal wenn er Haschisch rauchte oder den Rauch der Wasserpfeife lange und tief inhalierte, kamen solche Empfindungen zustande.
Heute war es besonders intensiv, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, dass er tatsächlich sehr entspannt war. Zu Recht. Die Dinge liefen gut. Seine beiden Freunde hatten ihn heute Morgen wissen lassen, dass sie die Zimmer im Hotel wahrscheinlich in einer Woche aufgeben würden, weil ihre Arbeit erledigt sei. Deshalb war er nach Marrakesch gefahren, hatte sich eine Zeitung gekauft und war zu seinem Freund, dem Friseur gegangen. Moussa war nicht da, aber der Laden war wie immer geöffnet. Er hatte er sich auf dem Sessel im Freien ausgestreckt, seine Zeitung gelesen und war darüber eingeschlummert, bis ihn die Worte in dieser seltsamen Sprache zu stören begannen.
Arabisch war es nicht, was er da hörte. Auch die Stimme kannte er nicht. Sie kam von irgendwo hinter ihm. War es wieder ein Tourist, der hier zufälligerweise vorbeikam und nach dem Weg fragte? Mühsam rappelte er sich hoch. Und drehte sich, auf die Ellbogen gestützt, um. Da war zwar keine Stimme mehr, aber hinter ihm stand ein Mann. Es war ein Targi, in blauem Gewand, das Gesicht und den Kopf mit einem schwarzen Tuch umwickelt. Nur die Augen waren zu sehen. Doch diese Augen waren nicht die jener Männer, die er, Faisal Jawda, so gut kannte. Als Soldat hatte er seinen Dienst im Süden Marokkos absolviert. Vier Jahre lang war er in Guelmim und später in Tarfaya, südlich des Anti-Atlas-Gebirges, stationiert gewesen. Der militärische Konflikt um Spanisch-Sahara war zwar damals schon beendet gewesen, aber in Rabat traute niemand den einstigen Guerillas der Frente Polisario wirklich. Das waren höchst unbeugsame, freiheitsliebende Männer. Mit dem marokkanischen König in Rabat hatten sie ebenso wenig im Sinn wie mit seinen Vorstellungen von einem geeinten Marokko. Diese Männer mochten keine Gesetze und Reglements. Sie mochten keine Fremden. Sie mochten nur die Wüste. Les hommes bleus – die blauen Männer, hatten die französischen Kolonialherren sie genannt. Und auch sie hatten die Tuareg wegen ihres extremen Freiheitsdrangs und des Beharrens auf ihren traditionellen Lebensformen gehasst. Die Tuareg in Algerien hassten Unfreiheit ebenso, wie es jeder Targi in Mali, Niger, Mauretanien und auch in Marokko tat. Sie liebten die Wüste. Und sich selbst. Sie fühlten sich als Söhne der Wüste. Sonst nichts. Ihre Heimat lag zwischen den Horizonten der Dünen der Sahara. Grenzen kannten und akzeptierten sie nicht. Und weil dieses Selbstverständnis nicht mit neuzeitlichen Regierungsformen, mit Staatsgrenzen, Schulen und anderen »Unfreiheiten« der Gegenwart in Einklang zu bringen war, waren les hommes bleus Nordafrikas unbeliebt. Dass sie jetzt vermehrt nach Marrakesch kamen, um sich gegen Geld von Touristen fotografieren zu lassen, störte viele hier in der Stadt. Diese Männer waren renitent, streitsüchtig – und wehrhaft. Immer hatten sie einen Dolch unter dem Gewand verborgen und trugen diese verfluchten Schwerter mit sich, mit denen sie perfekt umgehen konnten. Der Targi, der jetzt hinter ihm stand, hatte auch so ein Ding: gut einen Meter lang, mit einem Griff aus gegerbtem Ziegenleder. Die Klinge war schmal, hatte zwei Blutablaufrinnen und einige Gravuren. Es handelte sich um einen Skorpion und ein paar Schlangenlinien. Faisal Jawda konnte die Details auf dem Schwert genau erkennen. Es war das Schwert eines Targi. Aber dieser Mann war kein Targi! Seine Augen verrieten ihn. Diese Augen trugen zwar auch dieses Hochmütige, Unbeugsame, von Hass Erfüllte in sich, aber es waren keine Augen, die von der Wüstensonne Afrikas zu Sehschlitzen deformiert worden waren. Der Mann hatte nicht die typischen Falten beidseitig der Augen vom ewigen Zusammenkneifen als Schutz gegen die grellen Reflexe in den Sanddünen. Die Augen dieses Mannes waren sehr klar. Sie sagten etwas. Er konnte lesen, was es war.
Panisch schoss Faisal Jawda hoch und versuchte, sich aufzurichten. Er musste sich dabei mit dem Oberkörper umdrehen und verlor den Mann für Bruchteile von Sekunden aus den Augen. Aber er hörte, was geschah, denn er kannte das Geräusch einer durch die Luft sausenden Klinge, deren Vibration Töne kreiert, die nur kennt, wer sie schon einmal ganz nahe an seinem Kopf gehört hat. Er hatte solche Töne gehört! In der Wüste. Bei einem Streit mit einem Targi, der sich sein Schwert nicht von den Soldaten hatte abnehmen lassen wollen. Wie ein Wahnsinniger hatte er die schmale, dünne Klinge durch die Luft sausen lassen, um sich die Soldaten vom Leibe zu halten. Nur knapp war diese Klinge an seinem Ohr vorbeigesaust. Seither kannte er, Faisal Jawda, diesen Ton. Er trug den Tod in sich. Das wusste er. Und genau diesen Ton hörte er jetzt hinter sich. Er wusste nur nicht, warum …
*
Oberst Khalid Semouri, Offizier des Geheimdienstes DST von Al-Mamlaka al-Maghrebia, wie Marokko sich offiziell nennt, machte die Anwesenheit europäischer Geheimdienstleute und hochrangiger Polizisten aus Europa nervös. Vom deutschen Bundeskriminalamt war gestern Abend ein Abteilungsdirektor eingeflogen. Die Österreicher hatten ebenfalls einen Beamten geschickt. Aus Rom war gleich ein Stellvertreter des Staatssekretärs mit einem Sonderflugzeug gelandet. Und ein Beamter der Interpol-Sonderkommission aus Lyon war anwesend. Marrakesch war plötzlich zum Treffpunkt hochrangiger Polizisten und Nachrichtendienstler aus Europa geworden. Viele unangenehme Fragen waren gestellt worden. Mit den Antworten waren die ausländischen Kollegen nicht immer zufrieden gewesen. Entsprechend angespannt war die Stimmung. Auch er fühlte sich bei dem Gedanken unwohl, dass sein Land durch die Aktivitäten dieser Terroristen weltweite Aufmerksamkeit erlangen würde. Davon hatte man, seit die Geschehnisse in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla eskalierten, wahrlich genug. Der Flüchtlingsstrom von Tausenden Schwarzafrikanern, die aus den südlich der Sahara gelegenen Staaten nach Marokko einsickerten, um von den beiden zu Spanien gehörenden Küstenstädten nach Europa zu kommen, stellte Marokko vor schier unlösbare Sicherheitsprobleme. Hinzu kamen islamische Fundamentalisten, die Marokko als Stützpunkt nutzten und mit Anschlägen wie dem in Casablanca einen der wichtigsten Wirtschaftszweige Marokkos, den Tourismus, empfindlich trafen. Und jetzt auch noch diese Verbrecher, derentwegen bei Interpol eine eigene Sonderkommission eingerichtet worden war und von denen vermutet wurde, dass sie ebenfalls Mitglieder einer islamisch-fundamentalistischen Terrorgruppe waren. Dass man diese Sonderkommission sinnigerweise Mraksch nannte, hatte Seine Majestät, den König von Marokko, Mohammed VI., außerordentlich erzürnt. Der Geheimdienst DST war angewiesen worden, dieses »Problem auf unkonventionelle Weise« sehr schnell zu lösen. Seit den Geschehnissen am gestrigen Tag schien das jedoch ein höchst schwieriges und gefährliches Unterfangen zu werden. Nach dem dramatischen Zwischenfall gestern waren alle Sicherheitsorgane Marokkos in höchster Alarmstufe versetzt worden. Ausländische Geheimdienstleute und europäische Polizisten waren jetzt nicht mehr sonderlich willkommen. Sein Land war zwar Mitglied von Interpol und legte bei der Bekämpfung des internationalen Rauschgifthandels auf eine enge Kooperation mit den Europäern Wert. Wenn es jedoch um innere Angelegenheiten ging, neigte auch der junge König in all seiner Liberalität und seinen Tendenzen zu mehr Transparenz, zu Wegen, die seinem Vorgänger und Vater schon den Ruf eingebracht hatten, nicht gerade demokratisch zu sein. Seit man wusste, dass hochrangige Beamte des marokkanischen Innenministeriums Kontakte zu dieser Gruppe hatten, ihnen Pässe und Visa lieferten, waren des Königs Berater hoch sensibilisiert. Es galt, das Ansehen Marokkos zu schützen. Mit welchen Mitteln war dabei gleichgültig. »Liquidieren«, hatte der Innenminister gesagt. Oberst Khalid Semouri sah das ebenso. Sollte man solch brutalen Männern etwa mit rechtsstaatlichen Mitteln entgegentreten? All diese Europäer störten ihn enorm. Zu viele kritische Augen würden beobachten, wie seine Spezialeinheit vorgehen würde. Die Vorabklärung hatte eine gute Lagesituation ergeben. In den beiden Hotelzimmern waren alle Telefonate abgehört, die Zimmer selbst verwanzt worden. Jeder Schritt der Terroristen wurde von Observanten verfolgt. Gestern Nacht war von Seiten der Europäer ein Vorschlag für eine Lösung des Problems gemacht worden, der ihm nicht gefiel. Nur widerwillig hatte er, als Leiter der marokkanischen Antiterroreinheiten, dem zugestimmt. Oberste Maxime, so war er vom Innenminister persönlich angehalten worden, war Schadensbegrenzung. Und keine negativen Schlagzeilen in der Weltpresse! Er schaute auf die Uhr. Es war sieben Uhr. Die Sonne ließ das Zielobjekt erstrahlen. Die Palmen wiegten sich im Wind. Auf der Zufahrtstraße war es auffällig ruhig. Kein einziges Auto befuhr die Straße vom Dar Tunsi zu dem Palast. Alles war weiträumig abgesperrt.
Neben ihm standen Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann von Interpol und sein deutscher Kollege vom Bundeskriminalamt. Die beiden würde er gleich brauchen. Sie schauten ihn erwartungsvoll an. Die Observation hatte ergeben, dass er noch schlief. Im Objekt befanden sich insgesamt acht Personen. Hinzu kam das Hauspersonal. Oberst Semouri nahm das Funksprechgerät in die Hand. »Zugriff!«, flüsterte er.
Freiherr Georg von Hohenstein bekam fast einen Herzinfarkt, als die Tür zu seiner Suite im Palais Rhoul mit einem unvorstellbar lauten Knall, begleitet von grellen Blitzen und gefolgt von dichten Qualmwolken, aus der Angel flog. Er lag im Bett und war von der schlaflosen Nacht völlig erschöpft. Panisch riss er die Arme schützend vor sein Gesicht, wollte sich aus dem Bett aufrichten und fliehen. Mehrere Männer in dunklen Tarnanzügen hechteten auf ihn zu und fixierten ihn mit ihren Körpern. Er konnte ihren Schweiß riechen. Alle waren maskiert. An ihren Augen sah er, dass es Araber waren. Sie waren bereit zu töten. Er hatte solche Augen vor nicht allzu langer Zeit bei sich zu Hause auf seinem Schloss an der Donau gesehen. Solche Augen würde er nie wieder in seinem Leben vergessen. Die Araber pressten ihn aufs Bett. Die Mündungen ihrer Pistolen und Maschinenpistolen waren auf seinen Kopf gerichtet. Er hatte Todesangst und war sich sicher, dass dies sein Ende sein würde. Dann hörte er eine seltsame Stimme.
»Herr Freiherr von Hohenstein … Sie brauchen keine Angst zu haben! Kleimann … Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann ist meine Name. Diese Männer werden Sie jetzt loslassen. Dann werden Sie Ihre Koffer packen, werden uns aus diesem wunderschönen Tausendundeine-Nacht-Palast hinausbegleiten und in ein Flugzeug steigen, das wir Ihnen bereitgestellt haben. Sie werden zu Ihrer Frau fliegen und sich um sie kümmern. Sie wissen ja seit dem Anruf gestern, dass ihre Frau aus dem Koma erwacht ist. Sie braucht Ihre Hilfe, Ihre Liebe! Sie braucht keinen Killer an ihrer Seite! Sie, Herr von Hohenstein, werden Ihre höchst eigentümliche Golfausrüstung samt der Carbonpfeile hier lassen! Sie werden mit niemandem über all das hier sprechen. Auch nicht mit Ihrer Frau! Und wir werden auch mit niemandem darüber sprechen, wenn Sie sich an diese Regeln halten. Wenn nicht, verschwinden Sie mindestens zwanzig Jahre in einem marokkanischen Gefängnis irgendwo in der Wüste.«
Georg von Hohenstein war erschüttert. Er brach zusammen.
Er weinte und schüttelte sich vor Entsetzen und vor Freude. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er die Augen wieder öffnen und ein Wort sagen konnte. Die Männer mit den Waffen waren weg. Die aufgesprengte Tür seiner Suite lag mitten im Raum. Es roch nach verbranntem Holz. Es waren nur noch drei Männer anwesend. Der deutsche Kriminalhauptkommissar trat an sein Bett. Ein arabisch aussehender Mann mit sehr grimmigem Gesichtsausdruck stand neben ihm.
»Kennen Sie diesen Mann?«, fragte der Deutsche und hielt ihm ein grausiges Farbfoto entgegen. Der Kopf des Mannes, der da abgelichtet worden war, ließ keine Zweifel aufkommen, dass es ein Toter war. Georg von Hohenstein kannte ihn.
»Ja«, schluchzte er entsetzt, »ich kenne diesen Mann. Er hat … er hat … mich und meine Frau auf unserem Schloss überfallen. Und er hat meine Frau …«
»Ich weiß, was dieser Mann getan hat, Herr von Hohenstein. Wir alle wissen es. Wir wissen auch, was Sie vorhatten. Der Provinzgouverneur von Ouarzazate hat die Beamten vom marokkanischen DST auf Sie aufmerksam gemacht. Er hat sich gefragt, wieso Sie ein Zielfernrohr für die Jagd auf Niederwild brauchen. Schnepfen schießt man bekanntlich mit Schrot! Seien Sie froh, dass es Ihnen nicht gelungen ist, Ihren Plan durchzuführen. Sie wären hier in einem marokkanischen Gefängnis verrottet. Aber was Sie planten, Herr von Hohenstein, haben gestern andere vollendet! Wer es war, wissen wir nicht genau. Mein marokkanischer Kollege Oberst Semouri geht davon aus, dass es ein persönlicher Racheakt war. Ein Mann in einem blauen Gewand wurde in Tatortnähe gesehen. Solche Gewänder werden von den Tuareg getragen. Und Oberst Semouri sagte mir, dass die Tuareg bekannt sind für ihre brutalen Vorgehensweisen, wenn sich jemand an ihre Frauen heranmacht. Wie auch immer: Fakt ist, dass dieser Mann hier auf dem Bild, vermutlich der Marokkaner Faisal Jawda, tot ist. Seit gestern. Jemand hat ihm mit einem Schwert den Kopf vom Rumpf getrennt. Mit einem Schlag. Es heißt, es sei ein Targi gewesen. Fußabdrücke am Tatort von ledernen Sandalen sprechen für diese These.«