172571.fb2
Francis Roundell war außer sich vor Wut. Und er war im höchsten Maße beunruhigt. Er legte sein Handy zur Seite und starrte aus dem Fenster. Seit Tagen war London von einer grauen Nebeldecke verhüllt. Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Und jetzt auch noch dieser Anruf! Alles lief völlig anders, als es geplant war. Sein kriminalistischer Spürsinn sagte ihm, dass da unbekannte Kräfte am Werk waren. Kräfte, die er absolut nicht einzuschätzen vermochte. Das störte sein Streben nach Perfektion. Mehr noch jedoch beunruhigte ihn die Tatsache, dass er sich die Geschehnisse in Marrakesch überhaupt nicht mit eventuellen Aktivitäten von Polizeiorganisationen oder Geheimdiensten erklären konnte. Es gab keinerlei plausible Erklärungen für die aufgetretenen Probleme. Der Tod eines Mannes aus ihrer Gruppe war eher harmlos gewesen. Jedenfalls waren die Meldungen in der Presse und die kurzen Verlautbarungen seitens der marokkanischen Polizei nicht dazu angetan, nervös zu machen. Irgendein Verrückter, so wie es aussah ein Wüstennomade in blauem Gewand, hatte Faisal Jawda geköpft. Traf es zu, was die marokkanischen Behörden behaupteten, war Faisal Opfer eines Zwistes mit einem Targi, einem Stammesmitglied der Tuareg, geworden. Als Hintergrund vermutete man den persönlichen Rachefeldzug eines eifersüchtigen Mannes. Das war zwar unangenehm, denn dieser Faisal war aufgrund seines Organisationstalents und seiner exzellenten Kontakte zu Behörden eine große Hilfe für die Gruppe gewesen. Er hatte nahezu alle gefälschten Pässe, Visa und legalen Kreditkarten einer marokkanischen Bank auf verschiedene Namen besorgt. Gott sei Dank hatte es sich für ihr ganzes Unternehmen nicht negativ ausgewirkt, dass er in Deutschland so ausgerastet war und diese Frau vergewaltigt hatte. Für den weiteren Verlauf der Aktion war er zu ersetzen. Insofern musste er mit dem Tod Faisal Jawdas seinen Plan nicht ändern.
Mit dem Tod von Ibrahim, von dem er erst heute Nacht erfahren hatte, verhielt es sich allerdings ganz anders. Ein Toter war eine Sache. Zwei Tote innerhalb so kurzer Zeit, das roch nach einem Zusammenhang. Und genau den konnte Francis Roundell beim besten Willen nicht erkennen. Zumal Ibrahim auf höchst ungewöhnliche Weise getötet worden war. Zumindest ungewöhnlich für Marokko! Dieser seltsame Tod war der Grund, warum er in seinem Büro in der Christie’s-Zentrale so nervös umherlief. Irgendjemand hatte Ibrahim in der Nähe des Hotels Palmeraie aufgelauert und ihn mit einer Drahtschlinge erwürgt. Mit einer Drahtschlinge! In Marokko war das so ungewöhnlich, dass dieser Mord auf den Titelseiten der Zeitungen gestanden hatte. Eine einzige Zeile in einem der Zeitungsberichte hatte ihn ins Grübeln gebracht. Das Töten mit einer Drahtschlinge war ein Modus Operandi, den jeder Polizist in Europa kannte. Die Mafia wandte diese Methode gerne an. Zwischen Täter und Opfer gab es immer eine Beziehung. Täter und Opfer kannten sich. Nur so war es möglich, dass der Täter nahe genug an den zum Tode Verurteilten herankam, um ihn dann von hinten mit einer Drahtschlinge zu strangulieren. Eine grausame Form, denn in vielen Fällen waren diese Drahtschlingen so konstruiert, dass sie sich, waren sie einmal zusammengezogen, nicht mehr mit Muskelkraft öffnen ließen. Der feine Draht schnitt sich in den Hals des Opfers ein und der zum Tode Verurteilte starb unendlich langsam.
Über solchen Todesurteilen schwebte zumeist der Ruch der Vendetta. Diese Vermutung beunruhigte Francis Roundell sehr. Wer, zum Teufel, hatte Ibrahim in Marrakesch getötet? Wer kannte Ibrahim gut genug, um so nahe an ihn heranzukommen, dass er ihn auf diese Art erwürgen konnte? Wer war es, der eine italienische Variante des Fememordes so perfekt kopieren konnte und keine Spuren hinterließ? Abrupt blieb Francis Roundell in seinem Büro stehen. Italien! Florenz! Hastig zog er einen Ordner mit internationalen Pressemeldungen über den Überfall auf den Palazzo Pitti in Florenz aus dem Regal. Sein Blick blieb an einem als Titelstory in einem italienischen Magazin aufgemachten Bericht über den Raub von Florenz hängen. Er konnte nur leidlich Italienisch, aber da er Latein gelernt hatte, konnte er lesen, was dort stand: »Der schnelle Tod des alten Mannes – Sardischer Museumswärter in die Luft gesprengt …«
Der Museumswärter war ein alter Mann aus Sardinien gewesen, und Sardinien hatte den Ruf, die Insel der Banditen zu sein. Jahrzehntelang war nicht ein Jahr vergangen, in dem auf der italienischen Mittelmeerinsel keine Menschen entführt worden waren. Und jedes Jahr hatte es dort grausame Blutfehden gegeben. Vendetta und Omertá – Rache und das ewige Schweigen: Auf jeder Polizeiakademie Europas wurden diese Termini gelehrt.
»Mist, verfluchter!«, murmelte er. Das konnte doch nicht wahr sein, oder doch? Waren die Geschehnisse in Marrakesch nicht, wie er anfänglich gedacht hatte, auf die heimlichen Aktivitäten irgendwelcher Nachrichtendienste, sondern auf den privaten Rachefeldzug eines wild gewordenen sardischen Banditen zurückzuführen? Was steckte dahinter? Francis Roundell konnte sich keinen Reim darauf machen. Und wenn schon!, dachte er schließlich und lächelte in sich hinein. Beim jetzigen Stand der Dinge war das eigentlich kein Problem. Ganz im Gegenteil, es war eher von Vorteil, zumindest für ihn selbst! Wer immer auch seinen Privatkrieg da focht, er schaffte einen Täter nach dem anderen aus dem Weg. Im Grunde brauchte er auch diese Araber nicht mehr. Zumindest nicht die in Marrakesch. Tote Araber musste man nicht mehr bezahlen. Und tote Mitwisser waren weder als Zeugen zu gebrauchen noch konnten sie ihr eigenes Spielchen spielen. Von Vorteil war auch, dass die Ermittlungsbehörden nun völlig andere Spuren verfolgten. Ja, grinste Francis Roundell hämisch, eigentlich entledigt mich das gewisser Probleme. Jetzt muss ich nur noch die Sache mit Marie-Claire in den Griff kriegen. Und das sah nicht schlecht aus, obwohl er sich fragte, warum seine Mitarbeiterin ihm bestimmte Dinge verschwieg.
»Wieso«, murmelte er leise vor sich hin, »wieso hat sie mir nichts von den Gesprächen mit dem Inder in Berlin erzählt? Wieso erfahre ich das nur über die Tonbandaufzeichnungen, die mit dem Richtmikrofon aufgenommen worden waren? Und wieso hat sie mir heute Morgen am Telefon nicht gesagt, dass sie mit Abdel Rahman auf den Weihnachtsmarkt geht?« Auch dass sie das Manuskript dieses Buches besaß, hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Ob sie etwas ahnte? Wenige Minuten später verließ Francis Roundell, Sicherheitschef bei Christie’s, sein Büro. Als er aus dem Gebäude trat, war er fest entschlossen, sich den Deal seines Lebens nicht von Marie-Claire de Vries vermasseln zu lassen. Tote Zeugen sind schlechte Zeugen. Wenn das in Italien und Marrakesch galt, würde das auch in Wien gelten.
*
Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann war sich absolut sicher, diesen Namen schon einmal gelesen oder gehört zu haben.
»Frattini … Frattini …«, murmelte er schon seit einer halben Stunde vor sich hin und wühlte ständig in Aktenordnern und Zeitungsausschnitten. In dem Büro, das ihm die marokkanischen Kollegen vom DST in ihrem Hauptquartier in Marrakesch eingerichtet hatten, war es stickig. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Türme von Passagierlisten. Langsam begann er, die Arbeitsweise des DST zu bewundern. In jedem europäischen Land, das wusste er, hätte es endlos lange gedauert, bis Fluglinien dazu gebracht worden wären, ihre Passagierlisten herauszurücken, vor allem dann, wenn nur ein Anfangsverdacht bestand. Hier in Marokko dagegen schienen die Sicherheitsdienste allmächtig zu sein. Alles war möglich, es mussten keine bürokratischen Hürden genommen werden. Effizienz nannte man diese Vorgehensweise. Dafür sorgte eine persönliche Direktive des jungen Königs, der den beteiligten Ermittlungsbehörden in dieser Sache absolut freie Hand eingeräumt hatte. Seitdem liefen die Ermittlungen auf Hochtouren, und die Passagierlisten aller von und nach Marokko fliegenden Airlines trudelten prompt bei ihm ein. Es waren Zigtausende von Namen. Zunächst hatte man per Computer ein Raster erarbeitet. Alle Passagiere unter achtzehn Jahren, alle über sechzig Jahre sowie nachgewiesen verheiratete Passagiere waren aus den Listen herausgefiltert worden. Alle anderen wurden direkt mit dem Interpol-Datenbestand abgeglichen. Übrig geblieben waren knapp sechstausend Namen – strukturiert nach Herkunftsländern. Aus Italien waren im vorgegebenen Zeitraum nur hundertzwanzig Männer und Frauen nach Marokko eingereist. Siebzig davon waren nach Marrakesch geflogen. Dieser Frattini war einer von ihnen. Woher nur kannte er diesen Namen? Die Datenbestände von Interpol hatten keine positiven Treffer ergeben. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er starrte auf seinen Computer. Hier im Hause gab es keinen öffentlichen Internetanschluss, aber auf dem Weg zu diesem Bürohaus hatte er ein Internetcafé gesehen.
Zehn Minuten später strahlte der bei Interpol Lyon tätige deutsche Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann. Google-Search! Das Ding des Jahrhunderts. Zehn verschiedene Suchbegriffskombinationen hatte er in dem Internetcafé eingegeben, immer mit dem Namen Frattini. Hunderttausende Treffer hatte er erzielt. Als er diesen Namen schließlich zusammen mit »Florenz« eingegeben hatte, hatte er vor Freude und Überraschung laut aufgeschrien. Das war es! Der tote Aufseher aus dem Palazzo Pitti in Florenz! Leonardo Frattini! Daher kannte er den Namen. Sein tragischer Tod hatte die Titelseiten der italienischen Zeitungen tagelang dominiert. Der alte Mann stammte aus Sardinien. Und jener Frattini, der hier in Marrakesch vor einigen Tagen gelandet war, war laut Auskunft des Hotels, in dem er in den ersten zwei Tagen gewohnt hatte, in Nuoro geboren. Nuoro – eine Provinzhauptstadt auf Sardinien.
Oberst Khalid Semouri vom marokkanischen Nachrichtendienst DST, dem er das eine halbe Stunde später erzählte, war maßlos beeindruckt und zugleich besorgt.
»Es scheint, als entwickle sich diese ganze Angelegenheit zu einem außergewöhnlich komplizierten Fall. Erst dieser deutsche Adlige, der sich Marokko als Spielwiese für seine Rachefeldzüge aussucht. Jetzt vermutlich noch ein Europäer, der hier in Marrakesch den Racheengel spielt. Und was die Leute um diesen Jilani Rezaigui alias Abdel Rahman beziehungsweise Faisal Ben Ait Haddou betrifft, wissen wir noch immer nicht genau, wie wir sie einzuschätzen haben. Sind es Terroristen oder brutale Kriminelle, einfach Kunsträuber ohne Skrupel?«
»Ich gehe davon aus«, antwortete Bernhard Kleimann, »dass wir es eher mit Kriminellen zu tun haben. Oder haben Sie Erkenntnisse, die einen terroristischen Hintergrund vermuten lassen?«
»Nicht direkt, Kollege Kleimann, nicht direkt! Aber ich habe heute Morgen ein Dossier unseres Auslandsgeheimdienstes bekommen, das mich doch sehr nachdenklich macht.«
Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann horchte auf. Von solchen Erkenntnissen hatte er bislang nichts gewusst. Er hatte allerdings längst erkannt, dass die marokkanischen Kollegen mit der Weitergabe von Informationen sehr zurückhaltend waren. Es schien da staatsinterne Befindlichkeiten zu geben, die nicht gerade hilfreich waren für eine international koordinierte Aktion wie diese. Oder es ging wieder einmal um Erkenntnisse des marokkanischen Nachrichtendienstes, die den Quellenschutz über alle anderen Aspekte stellten. Entsprechend vorsichtig fragte er nach.
»Neue Erkenntnisse? Können Sie mir ungefähr sagen, um was es geht?«
Oberst Semouri kratzte sich verlegen am Kopf. Es schien ihm schwer zu fallen, diese Frage zu beantworten.
»Ich werde Ihnen sagen, was ich sagen darf. Aber ich muss Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass diese Erkenntnisse strengstem Quellenschutz unterliegen und in keinerlei Weise zu operativen oder exekutiven Maßnahmen führen dürfen. Können Sie mir das versprechen?«
»Ja, selbstverständlich, Herr Oberst!« Bernhard Kleimann war gespannt auf das, was er nun erfahren würde. Immer noch zögerte der marokkanische Geheimdienstbeamte, sein Wissen preiszugeben. Er sprach auffallend leise.
»Wir beobachten seit geraumer Zeit die Entstehung einer terroristischen Zelle im spanischen Granada. Es gibt auffallende Reiseaktivitäten marokkanischer Staatsbürger, von denen wir wissen, dass sie engen Kontakt zu Al Kaida haben. Sie werden verstehen, dass wir dieses Wissen mit größter Vorsicht handhaben müssen. Seit den fünf terroristischen Anschlägen in Casablanca 2003, dem Anschlag auf der tunesischen Insel Djerba und vor allem seit dem grauenhaften Anschlag von Madrid wissen wir, das hier in Marokko Zellen von Al Kaida aktiv sind. Drei der Täter von Madrid waren Marokkaner! Einer von ihnen hatte Kontakt zu den Tätern von Casablanca. Und jene Leute in Granada, von denen ich jetzt spreche, gehören zum direkten Unterstützerkreis dieser Zellen.«
Plötzlich wusste Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann, warum die marokkanischen Behörden in dieser Ermittlungssache auf den Codenamen Mraksch so überempfindlich reagierten. Hier ging es nicht nur um den Raub der beiden Sancy-Diamanten, hier ging es um nationale Interessen. Er ahnte, was sein Kollege ihm jetzt sagen würde.
»Der Terroristenführer Osama bin Laden hat in einer der Videobotschaften nach dem Anschlag von New York gesagt: ›Wir werden nicht hinnehmen, dass sich die Tragödie von Andalusien in Palästina wiederholt.‹ Sie wissen sicherlich, Kollege Kleimann, dass Granada als letzte Bastion des Islam auf europäischem Boden im Jahre 1492 fiel, was das Ende des fast fünfhundert Jahre zuvor an der Meerenge von Gibraltar begonnenen islamischen Kreuzzugs nach Europa bedeutete. Die Moslems der Stadt wurden damals gezwungen, zum Christentum zu konvertieren. Das haben viele Moslems nie vergessen! Der spanische Regierungschef hat einmal gesagt, dass die Probleme mit Al Kaida im 8. Jahrhundert begannen, als Spanien von den Mauren erobert wurde.«
»Und was hat das mit dem aktuellen Fall, also mit dieser von uns observierten Gruppe um Abdel Rahman zu tun?«, unterbrach ihn Kriminalhauptkommissar Kleimann.
»Mehr, als mir und Ihnen lieb ist, verehrter Kollege«, erwiderte der marokkanische Geheimdienstbeamte und blickte dabei sehr ernst.
»In den letzten Jahren hat sich Granada zu einem wahren Wallfahrtsort für fundamentalistische Moslems entwickelt. Einer von ihnen ist hier aus Marrakesch! Seit einem Jahr observieren wir ihn rund um die Uhr – allerdings ohne den Spaniern das zu sagen! Es ist der Bruder von Jilani Rezaigui, was übrigens sein tunesischer Aliasname ist! Dieser Jilani war sehr oft in Granada. Wir haben viele ihrer Gespräche abgehört. Furcht erregend, sage ich Ihnen! Jilani Rezaigui hat viele Namen, sehr viele. Diese Männer versuchen, fanatische junge Leute für Anschläge zu rekrutieren. Gleichzeitig sind sie damit beschäftigt, große Geldsummen aufzutreiben, ganz egal wie und wo. Wofür, darüber sind wir uns noch nicht ganz im Klaren. Wahrscheinlich haben diese beiden Raubüberfälle in Bayern und Florenz damit zu tun. Zumindest wissen wir aus den hier abgehörten Telefonaten und Gesprächen im Hotel Palmeraie, dass die beiden gestohlenen Diamanten hier in Marokko sind. Und wir wissen, dass da noch irgendetwas mit einem dritten Diamanten abläuft. Sagt Ihnen der Name ›Florentiner‹ etwas?«
Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann atmete laut hörbar aus. Vieles von dem, was Oberst Semouri soeben gesagt hatte, stand seit einigen Tagen als Vermutung im Raum. Dennoch überraschte es ihn sehr, dass die Täter von Bayern und Florenz so dicht an islamischen Terroristengruppierungen angesiedelt waren.
»Was sind Ihre Pläne, Ihre Direktiven, Herr Oberst?«, fragte er unverblümt.
Der Marokkaner lächelte. »Sie werden verstehen, dass mein Land alles in seiner Macht Stehende tun wird, diese unheilvolle Konstellation von Terroristen und Räubern zu sprengen. Und Sie werden verstehen, dass wir dabei Mittel und Wege wählen, die in den demokratischen Staaten Europas nicht unbedingt auf Verständnis stoßen werden! Wir müssen verhindern, dass sich unser Land zu einem Sprungbrett für islamische Fundamentalisten entwickelt, die in Europa Anschläge verüben wollen! Marokko lebt maßgeblich vom Tourismus. Wir können kein zweites Madrid oder Casablanca gebrauchen. Bäume kann man fällen, aber sie wachsen nach. Also muss man sie samt Wurzeln vernichten. Das, lieber Kollege, ist unsere Direktive aus Rabat. Und wir werden uns strikt daran halten. Wir lösen dieses Problem. Mit unseren Mitteln.«
Selbstgefällig lächelte der DST-Beamte den deutschen Kriminalhauptkommissar an, wartete, bis dieser sein Büro verlassen hatte und wählte dann eine Telefonnummer in Marokkos Hauptstadt Rabat. Eine Männerstimme meldete sich. Der Geheimdienstmann sprach sehr leise.
»Wir haben ihn lokalisiert! Die Identität steht fest … ja, kein Zweifel an der Täterschaft … ja, absolut sicher … ja, zu Befehl!«
Wenige Minuten später erteilte Oberst Khalid Semouri über Funk einen Befehl an den Leiter der Antiterroreinheit, die seit zwei Tagen einen Renault-Kastenwagen am Stadtrand von Marrakesch observierte. Es war ein Mietwagen – angemietet von Carlo Frattini.
Am späten Nachmittag kehrte der Sarde zu seinem Fahrzeug zurück. Er trug das blaue Gewand der Tuareg. Kopf und Gesicht waren verhüllt. Als er den Schlüssel in die Fahrzeugtür stecken wollte, stellte er fest, dass die Tür bereits offen war. Verwundert schaute er auf und starrte beunruhigt zu den Fahrzeugen und Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Er konnte nichts Verdächtiges erkennen, aber intuitiv spürte er die Gefahr. Plötzlich hatte er das Gefühl, als geschehe irgendwo da draußen in den Häusern um ihn herum etwas, was in einem direkten Zusammenhang mit dem Mann zu tun hatte, der sein nächstes Opfer werden würde: Faisal Ben Ait Haddou, der Araber, der mit dem Ambulanzflugzeug aus der Schweiz nach Marrakesch geflohen war. Alles deutete darauf hin, dass er einer der führenden Köpfe der Anschläge war. Aber er war derzeit nicht in Marrakesch. Doch irgendwann würde er zurückkehren, und dann würde er ihn töten! Genau in diesem Augenblick hatte er jedoch das Gefühl, als sei dieser Faisal jetzt irgendwo hier in seiner Nähe. Eigentlich konnte das nicht sein. Langsam zog er den Autoschlüssel heraus und versuchte, sich langsam und unverdächtig umzudrehen.
Die Kugel eines marokkanischen Scharfschützen der DST-Antiterroreinheit traf ihn genau in diesem Moment in die rechte Schläfe. Commissario Carlo Frattini aus Florenz war tot, bevor er in seinem blauen Tuareg-Gewand auf der Straße aufschlug.
*
Faisal Ben Ait Haddou alias Jilani Rezaigui alias Abdel Rahman war maßlos beeindruckt von dem prachtvollen Farbenmeer in den Bäumen vor und an den Fassaden des Rathauses von Wien. Tausende Papierlaternen in allen Farben hingen in den riesigen Bäumen des Parks. Alle Fenster und Erker waren festlich beleuchtet. Vom Eingang des Burgtheaters aus sah er hinüber zu den unzähligen Holzbuden auf dem Platz vor dem Rathaus, das ihn, so hell erleuchtet, wie es jetzt im frühen Abendlicht gegen den rötlichen Abendhimmel erstrahlte, irgendwie an Big Ben in London erinnerte. Den hatte er zwar nur ein einziges Mal aus dem Flugzeug heraus beim Landeanflug auf London gesehen, als er Francis Roundell besuchte, aber die Ähnlichkeit schien ihm doch gegeben.
Er sah Marie-Claire de Vries von der gegenüberliegenden Straßenseite auf ihn zukommen. Sie lächelte und sah in dem pelzbesetzten Mantel sehr verführerisch aus. »Quelle femme«, murmelte er vor sich hin und ging auf sie zu.
»Bonsoir, Marie-Claire! Ich darf Sie doch mit dem Vornamen anreden, oder?«
Marie-Claire war froh, dass es bereits ein wenig dunkel war, denn sie errötete leicht. Die Nähe dieses Mannes, seine Stimme und seine Ausstrahlung verwirrten sie. Um davon abzulenken, blickte sie auf das Lichtermeer und die Tannenbäume vor dem märchenhaft schön beleuchteten Rathaus. Auf einmal musste sie mit den Tränen kämpfen. Das romantische Ambiente des Weihnachtsmarktes, die unzähligen Lichter und Kerzen und die Gerüche aus den Würstchen-, Kastanien-, Lebkuchen- und Zuckerbäckerbuden erinnerten sie an glückliche Kindheitstage. Mit großen Augen beobachtete sie das weihnachtliche Treiben im Halbdunkel. Ein wunderbares Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie fühlte sich unendlich wohl. Die Nähe dieses Arabers löste auf eigentümliche Weise eine Flut von Erinnerungen bei ihr aus. Es waren schöne Erinnerungen aus den Zeiten, als sie glücklich und mutig durch Marokko, Tunesien, Syrien und Ägypten gereist war. Es waren die schönsten Jahre ihres Lebens gewesen – frei von jeglichen bourgeoisen Zwängen des Elternhauses. Frei von zeitlichen und materiellen Zwängen. Ja, damals war sie frei gewesen, hatte tun und lassen können, was sie wollte. Davon war in den letzten Jahren nicht viel übrig geblieben. Aber sie sehnte sich danach zurück. Und irgendwie spürte sie, dass dieser Abdel Rahman ihr ein bisschen von dieser Sehnsucht erfüllen konnte.
»Kommen Sie, Abdel! Ich entführe Sie heute auf den christlichen Weihnachtsmarkt von Wien. Bald ist Weihnachten. Das Fest des Friedens – und der Liebe.«
Der Abend wurde so romantisch, wie Marie-Claire es gehofft, aber auch befürchtet hatte. Was immer sie sich im Laufe des Tages an Strategien, Dialogen und Ablenkungsmanövern vorgenommen und zurechtgelegt hatte, erwies sich plötzlich als pure Illusion. Alles verlief ganz anders. Der Abend strömte dahin wie ein mächtiger Fluss, der zum Meer will und dabei keine Hindernisse akzeptiert. Sie war das Treibholz. Sie hatte sich vorgenommen, ihm mit perfiden Mitteln Geheimnisse über sein Interesse an dem Florentiner zu entlocken. Cool und berechnend hatte sie sein wollen, aber er lachte so unwiderstehlich herzlich, erfreute sich an Kleinigkeiten dieses Weihnachtsmarktes, dass sie sich schließlich schämte, solche Gedanken überhaupt gehabt zu haben. Abdel sprach überhaupt nicht über den Grund seines Aufenthaltes in Wien. Stattdessen lud er sie ein, mit ihm auf dem Kinderkarussel zu fahren.
Den ganzen Abend über wurde sie von ihren Gefühlen und Gedanken drangsaliert. Ratio und Emotion führten in ihrem Inneren Krieg. Dieser Mann, so versuchte sie sich zur Räson zu rufen, ist vielleicht gefährlich! Vergiss nicht, dass er sich für den Florentiner interessiert. Wer weiß, wer ihm den Auftrag dazu gegeben hat. Vielleicht ist auch er nur Handlanger von Leuten, die unentdeckt bleiben wollen. So, wie es bei Gregor letztendlich auch der Fall war. Gregor handelte im Auftrag einflussreicher Leute. Wer hatte Abdel Rahman beauftragt zu versuchen, das Originalmanuskript dieses Buches zu kaufen? Wer war bereit, zweihunderttausend Euro für das Manuskript auszugeben? Und warum? Er hatte im Café ganz offensichtlich heimlich in dem Manuskript geblättert. Er will nichts von dir – er will nur den Florentiner! Dann erkannte sie, dass sie schon seit dem ersten Zusammentreffen mit ihm nur einen Gedanken hatte: Sie wollte ihn. Und was danach kam, war ihr vollkommen gleichgültig.
Marie-Claire ließ sich fallen. Und Abdel fing sie auf. Wenn er lachte, sah sie in seinen tiefdunklen Augen die grenzenlose Weite und Freiheit der Wüste. Wenn er sie anschaute, tauchte sie ein in jene Nacht in der syrischen Wüste bei Palmyra, in der sie zwischen den römischen Ruinen eingeschlafen und erst gegen Mitternacht so unglaublich glücklich und frei und so voller Lebenskraft wieder aufgewacht war. Er rief Erinnerungen in ihr wach, es war wie ein Zurückkehren in ihr eigentliches Leben. Damals hatte sie geahnt, dass es andere Inhalte in ihrem Leben sein würden, die den Lauf der Dinge für sie beeinflussen würden. Nicht ihr Beruf, nicht ihre Familie, nicht der Besitz. Damals hatte sie zum ersten Mal gefühlt, dass tief in ihr eine unbändige Sehnsucht schlummerte, die sie nicht näher beschreiben konnte. Männer wie Abdel Rahman gehörten zu dieser Sehnsucht! Er wirkte so frei, ehrlich und herzlich, dass Marie-Claire daran zweifelte, dass ein solcher Mensch Böses in sich tragen konnte. Sie trieb auf ihn zu, unablässig. Da war das kleine Mädchen an der Hand seiner Mutter, das vor der Zuckerwattehütte stand und mit großen Augen zuschaute, wie der Mann die süße Gaze um den Holzstab zauberte. Abdel sah die Kleine, sah ihre Augen, kaufte die Zuckerwatte und einen kandierten roten Apfel dazu, gab beides der Mutter und sagte: »Madame, Sie sollten in die Augen Ihrer Tochter schauen, dann wissen Sie, wovon Ihr Kind träumt.« Da war das alte Ehepaar, das vor dem Luftballonstand verharrte. Sie waren beide sicherlich über siebzig Jahre, gebeugt vom Leben und sehr ärmlich gekleidet. Sie wollten einen Ballon kaufen, aber sie kamen nicht an den Verkäufer heran. Abdel sah es, kaufte zwei Ballons – und drückte sie den beiden lächelnd in die Hand. Marie-Claire war verzaubert.
Plötzlich tauchte aus der Menschenmenge Cathrine auf. Sie war allein.
»Hallo, Schwesterchen«, flötete sie so unangenehm schrill, dass Marie-Claire sofort erkannte, dass ihre Schwester zu viel getrunken hatte. Das geschah in letzter Zeit öfters. Der Konflikt mit ihrem Mann, die Unzufriedenheit mit ihrem Dasein hinterließen Spuren.
Cathrine war unglaublich aufreizend gekleidet. Ihr Pelzmantel war geöffnet. Darunter trug sie einen wagemutig kurzen, schwarzen Rock. Marie-Claire ahnte, dass Cathrine an diesem Abend einsam war. Und sie ahnte, dass Cathrine nur hier war, um dies zu ändern. Zumindest für diese Nacht. Missmutig küsste sie ihre Schwester auf beide Wangen.
»Darf ich vorstellen?«, wandte sie sich zu Abdel. »Meine Schwester – meine Zwillingsschwester Cathrine.«
Von diesem Moment an verlief der Abend ganz anders. Es dauerte nur eine halbe Stunde, und Marie-Claire empfand wieder diese tiefe Eifersucht ihrer Schwester gegenüber. So gut sie sich verstanden, so innig und vertraut sie schon als Kinder nahezu alle Dinge des Lebens gemeinsam gefühlt und gelebt hatten, so konfliktreich war das Thema Männer stets gewesen. Alles teilten sie. Ängste, Nöte, Freuden, Empfindungen, Gedanken und Träume. Sie waren sich in vielen Dingen extrem ähnlich. Die Natur hatte sie als eineiige Zwillinge nicht nur mit einer frappierenden Ähnlichkeit, sondern auch mit wundersamen Gemeinsamkeiten, was ihr Fühlen und Denken betraf, versehen. Daraus schöpften sie viel Kraft. Streit hatte es in ihrem Leben höchst selten gegeben. Weder Neid noch Missgunst konnte ihre gegenseitige schwesterliche Liebe beeinträchtigen. Doch wenn es um Männer ging, hatte es schon mehrmals heftige Auseinandersetzungen gegeben, bei denen Marie-Claire gelegentlich voller Scham hatte erkennen müssen, dass da ein Gefühl wie Hass in ihr schlummerte. Hass auf ihre Zwillingsschwester.
Für Cathrine waren Männer kaum mehr als ein Mittel zum Zweck, Spielzeuge, austauschbare Statisten bei ihrer verzweifelten Suche nach innerer Zufriedenheit. Sie interessierte sich bei Männern nur für Äußerlichkeiten. Fesch mussten sie sein, mit einem tollen Körper. Und Geld mussten sie haben. Ja, Marie-Claire hasste Cathrine, wenn diese sich an Männer heranmachte, für die sie selbst tiefe Gefühle hegte. Sicherlich, sie hatten auch schon manch lustige Spielchen mit Männern getrieben. Ihre verblüffende Ähnlichkeit hatten sie gelegentlich für verrückte Abenteuer eingesetzt, hatten das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel in jungen Jahren einmal sogar so weit getrieben, dass sie beide im Laufe eines Abend mit ein und demselben Mann ins Bett gegangen waren, nur um herauszufinden, ob dieser Mann ihre Körper erkennen konnte. Sie hatten wissen wollen, ob dieser Mann bei all ihren körperlichen Übereinstimmungen zumindest den Unterschied ihrer Seelen bemerken würde. Aber das war vor vielen Jahren gewesen. Mittlerweile war ihr Verhältnis, wenn es um Männer ging, eher angespannt. Je frustrierter Cathrine in ihrer verworrenen, gefühllosen Beziehung geworden war, desto deutlicher wurde ihre Missgunst, wenn Marie-Claire in Begleitung eines gut aussehenden Mannes war. So wie an diesem Abend, der so wunderschön begonnen hatte und nun plötzlich von einer unangenehmen Stimmung überlagert wurde. Cathrine himmelte Abdel an. Sie hakte sich scheinbar unbedarft bei ihm ein und presste sich eng an ihn. Marie-Claire kochte vor Wut. Da war es plötzlich wieder, dieses Gefühl des Hasses! Oder hatte sie Angst, Cathrine, hemmungslos und egoistisch, wie sie sein konnte, könnte diesen schönen Abend zerstören? Wieso eigentlich? Schließlich kannte sie diesen Abdel so gut wie gar nicht. Dennoch spürte sie den Kloß in ihrem Magen, als ihre Schwester heftig mit Abdel zu flirten anfing. Die Chance, dem Treiben ein Ende zu bereiten, kam schneller als erhofft. Als Abdel sich kurz entschuldigte, fauchte Marie-Claire ihre Schwester an.
»Was soll das? Wenn du einen Mann fürs Bett brauchst, dann geh nach Hause zu deinem stinkreichen Gatten. Oder such dir deinen Lover irgendwo anders. Aber verschwinde und lass uns in Ruhe!«
Cathrine de Vries starrte ihre Schwester fassungslos an. So hatte Marie-Claire noch nie mit ihr geredet. Ihre Augen glänzten unnatürlich. Plötzlich lachte sie hämisch.
»Übernimm dich nur nicht, Schwesterlein! Hast doch drei Männer zur Auswahl: den Inder, deinen Gregor – und nun auch noch einen Araber! Keiner von denen scheint dir gut genug zu sein! Obwohl, für Araber hattest du ja schon immer ein Faible. Bei dem da kann ich dich sogar verstehen.«
Marie-Claire spürte, wie sie vor Erregung zitterte. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie ihre Schwester so abgefertigt! Es war ihr unangenehm, aber es tat auch gut. Dennoch wollte sie ihre Worte relativieren. Sie sah, wie betroffen Cathrine war. Bevor sie etwas sagen konnte, drehte sich Cathrine weg.
»Ich hole mir noch was zu trinken. Verabschieden darf ich mich ja wohl noch von deinem Omar Sharif, oder …?«
Als Cathrine wenige Minuten später mit einem Glas Glühwein zurückkam, stand Abdel wieder neben Marie-Claire.
»Monsieur, ich hoffe, Sie sehen mir nach, wenn ich mich jetzt verabschiede. Ich habe zu Hause einen treuen Ehegatten, der sehnsüchtig auf mich wartet. Aber wenn Sie wieder einmal in Wien sein sollten und meine liebe Schwester Marie-Claire aus irgendwelchen Gründen keine Zeit haben sollte, können Sie mich gerne anrufen. Wäre mir eine große Freude, Ihnen dann mal Wien von seinen schönsten Seiten zu zeigen.«
Wie vom Donner gerührt starrte Marie-Claire ihre Schwester an. Sprachlos sah sie zu, wie Cathrine in ihre Handtasche griff, eine Visitenkarte hervorzog und sie Abdel reichte.
»Rufen Sie mich einfach an. Wann immer Sie möchten. Au revoir, Monsieur Abdel. Ciao, Schwesterchen.«
Wenige Augenblicke später schloss Cathrine de Vries ihren nahe des Volksgartens geparkten Wagen auf. Sie weinte, weil sie sich schämte, ihre Schwester so schlecht behandelt zu haben. Und sie fühlte sich grenzenlos einsam und allein. Die silbergraue Limousine auf der anderen Straßenseite nahm sie kaum wahr. Es war ein Fahrzeug mit Wiener Kennzeichen. Ein Mann und eine Frau saßen in dem Wagen. Dann fuhr Cathrine weg. Der Mann am Steuer des Fahrzeugs nahm ein Funkgerät in die Hand und sagte: »Schwester der Zielperson fährt stadteinwärts. Sollen wir dranbleiben?«
Es geschah aus Trotz und aus Verzweiflung. Im ersten Moment nach dem Disput mit ihrer Schwester hatte Marie-Claire de Vries überlegt, sich von Abdel Rahman zu verabschieden. Ihre Laune war auf einem Tiefpunkt angelangt. Sie war stinksauer auf Cathrine. Hin- und hergerissen sah Marie-Claire Abdel an.
Ein wenig enttäuscht war sie schon, dass er so bereitwillig auf Cathrines Flirten eingegangen war. Die Blicke, mit denen er den Körper ihrer Schwester gemustert hatte, waren ihr nicht entgangen. Was wollte dieser Abdel Rahman eigentlich? Ihre Schwester, sie oder doch nur den Florentiner? Zum ersten Mal in ihrem Leben traf Marie-Claire schließlich eine Entscheidung, die sich gezielt gegen ihre Schwester richtete. Sie wusste, dass sie eifersüchtig war und dass ihre Reaktion kindisch war, aber sie wollte nicht zurückstecken, sondern das tun, was sie sich den ganzen Tag über vorgenommen hatte.
»Ich habe Hunger«, leitete sie ihr Vorhaben vermeintlich unbedarft ein, griff nach seiner Hand und schmiegte sich ein wenig an seine Schulter. »Außerdem wird mir der Rummel hier zu viel. Diese Menschenmassen sind grauenhaft. Lass uns irgendwohin gehen, gemütlich essen und plaudern. Erzähl mir ein bisschen von dir.«
Marie-Claire hoffte, dass er ihre versteckte Andeutung richtig deuten würde. Der Platz vor dem Rathaus hatte sich tatsächlich merklich mit Besuchern gefüllt. Die Romantik der ersten Stunde war einem hektischen Treiben gewichen. Abdel reagierte wie erhofft. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie kaum spürbar an sich.
»Ja, lass uns das machen! Auch ich würde gerne mehr von dir erfahren. Ich glaube, dass es viele Dinge gibt, die uns verbinden. Zu viel Zeit haben wir dafür nicht, ich muss bald wieder zurück nach Marokko …«
Marie-Claire blieb einen Moment stehen. Sie sah hinauf zu den erleuchteten Fenstern des Rathauses. Jedes Fenster war wie ein Weihnachtskalender verschlossen und mit einer Zahl versehen. Mit jedem Tag, mit dem sich Heiligabend näherte, wurde ein Fenster geöffnet. Es waren noch knapp zwei Wochen. Eine grenzenlose Einsamkeit überfiel sie. Weihnachten! Wo würde sie Weihnachten sein? Wieder allein zu Haus oder, aus Angst davor, bei Cathrine? Oder würde sie noch einmal eine dieser grauenhaften Reisen unternehmen, auf denen sie sich noch einsamer als zu Hause in ihrer Wohnung fühlte?
»Wir gehen zu mir, bestellen uns beim Italiener was zu essen und vergessen, was morgen sein wird – okay?«
Abdel Rahman wandte sich langsam zu ihr um und blickte sie an, drang mit seinem Blick tief in ihre Seele. Er griff in ihr langes Haar, schob es zur Seite und gab ihr einen sanften Kuss auf den Halsansatz. Seine Lippen berührten ihre Haut kaum, aber sein warmer Atem ließ sie zittern. Er spürte es.
»Wir können auch später noch essen gehen …«
Es gab kein Später. Es gab kein Essen. Und es gab weder Zeit noch Raum. Was geschah, als sie in ihrer Wohnung über dem Donaukanal ankamen, ließ keinen Platz für Worte. Weder sie noch er wollten sprechen. Sie wollten nichts voneinander wissen. Keiner fragte den anderen, wo er herkam und wo er hinwollte. Das Gestern war vergessen und an das Morgen dachten sie nicht, weil sie ihre Vernunft im Aufzug zu Marie-Claires Wohnung zurückgelassen hatten. Marie-Claire fühlte sich wie in Trance. Was um sie herum geschah, nahm sie nur über schemenhafte Bilder wahr: der Aufzug, die Wohnungstür, ihr verdunkeltes Schlafzimmer, das nur von den Sternen diffus erhellt wurde. Ihre Seele war verzaubert, ihr Körper hypnotisiert. Der Gedanke, dass sie noch nie bereit gewesen war, sich einem fremden Mann hinzugeben, huschte wie ein Wetterleuchten an ihr vorbei. Angst durchzuckte sie nur in jenem Augenblick, als er ihr die Bluse mit einem kräftigen Ruck zerriss. Doch sie verflog, als er sie nicht mit seinen starken Händen auf ihr Bett zwang, sondern seine Lippen über ihre Brüste gleiten ließ, sie sanft nach hinten drängte und sie spürte, dass es zärtliche Gewalt war. Nein, es war keine Gewalt! Es war Dominanz. Er bestimmte über sie, ohne es zu sagen. Und sie ließ es geschehen und genoss es. Sein Körper dirigierte sie hin zu jenem Abgrund, an dem es kein Zurück, sondern nur das Fallenlassen gab. Die Umrisse seines nackten Oberkörpers zeichneten sich gegen das von außen erhellte Fenster ab. Sie sah wenig und fühlte mit ihren Händen doch, wie muskulös und männlich sein Körper war. Sie sah seine Augen nicht, aber sie wusste, dass er ihre Augen sehen konnte. Marie-Claire schloss sie. Seine Stimme klang sanft, aber auch fordernd. Sie duldete keinen Widerspruch und erwartete keine Antwort.
»Ich muss Ihnen die Augen verbinden, Marie-Claire! So, wie Sie mich anschauen, bliebe mir nichts anderes, als Ihre Seele zu lieben. Das möchte ich nicht! Nicht heute! Erst morgen.«
Marie-Claire erschauerte. Er siezte sie! Warum? Mit geschlossenen Augen folgte sie den Geräuschen. Sein Hemd raschelte. Sie hörte, wie er es zerriss. Seine Hände hoben ihren Kopf zärtlich an. Er band ihr mit einem Teil seines Hemdes die Augen zu. Um sie herum war die Nacht. Alle Geräusche waren jetzt sehr gedämpft. Sie hörte seinen Atem nicht mehr, aber sie spürte ihn, wie er warm und schnell und gierig von ihrem Hals über die Schulter über ihren nackten Oberkörper glitt. Plötzlich verharrte er. Sie wollte nicht, dass er aufhörte. Sie wollte, dass er dort, wo sein heißer Atem soeben ihren Unterleib zum Beben gebracht hatte, weitermachte, mit seinen Zähnen ihren Rock zerriss. Aber er tat es nicht.
Er saß jetzt kniend auf ihr, presste sie mit seinem Gewicht auf das Bett. Sie erstarrte! Mit festem Griff nahm er ihre linke Hand, hob sie hoch, schnürte Stoff um ihr Handgelenk und band sie mit schnellen, geübten Handgriffen erst an den linken, dann die andere Hand an den rechten Bettpfosten am Kopfende des Metallbettes. Gänsehaut raste von ihrem Bauch hin zu den Händen und über den Rücken zurück zu ihrem Bauch. Sie war hilflos. Und sie erschrak, weil sie es liebte, so hilflos auf ihrem Bett zu liegen, vom Körper eines Mannes zu Bewegungslosigkeit gezwungen, nichts hörend und nichts sehend. Sollte sie schreien? Hatte sie Grund zu schreien? Wer war dieser Mann, der sie so fordernd und doch sanft dirigierte? Plötzlich spürte sie, wie er sich langsam zu ihr hinabbeugte. Sein Atem war jetzt fiebrig – und sehr nahe an ihren Lippen. Sie sah nichts, aber sie roch ihn. Da draußen in der Dunkelheit war nur noch er. In ihm einten sich all jene Gerüche, die sie aus Syrien, Ägypten und Tunesien kannte. Gerüche, die Erinnerungen, Sehnsüchte und Begierden weckten: süßklebrige Datteln, betörender Hibiskus, der modrige Geruch des Nils; Minzetee und Apfeltabak aus heißen Shisha-Wasserpfeifen vor den Ziegenhaarzelten in den Dünen von Mezouga; salziges Meerwasser in den Ruinen von Karthago – und das herbe Aroma von schwitzenden Männern mit tiefdunklen Augen und düsteren Geheimnissen. All das trug er in sich, atmete es aus, hauchte es ihr über ihren nackten Oberkörper, bis sie bebte vor Gier nach dem Kuss. Aber er kam nicht. Er tat nicht, wonach sie gierte, worum ihr Körper bettelte. Nein, er folgte nicht ihrem Verlangen. Er gab die Regeln vor. Er tat, was er wollte. Er wollte sie quälen. Sanft, liebevoll quälen. Er hauchte ihr seinen Willen über das Gesicht, presste seinen Mund über ihre Scham und ließ die Gluthitze seines Atems durch ihren Rock und durch den Slip hindurch in sie eindringen, bis sie weinte vor Lust und ihm mit ihrem bebenden Körper zeigte, dass sie noch intensiver zärtlich gequält werden wollte. Und wieder tat er, was er wollte. Und sie tat, was er vorgab. Die ganze Nacht hindurch. Er befahl, dass sie sich fallen ließ – und sie fiel. Ihre Seele und Körper stürzten ab, dorthin, wo er auf sie wartete, um sie sanft aufzufangen und sie wieder mit seinem Körper dorthin zu drängen, wo sie noch nie in ihrem Leben gewesen war. Sie einten sich im Fall, losgelöst von irdischen Gesetzen. Schwerelos. Er nahm sie, wie er es wollte. Er tat es sehr bestimmend, löste die Fesseln nicht, drehte sie herum, bediente sich ihres Körpers nach seinem Verlangen. Und sie ließ ihn gewähren. In blindem Vertrauen.
Als sie am frühen Morgen die Augen aufschlug, war er weg. Noch immer lag sie an den Händen gefesselt in ihrem Bett und glaubte ihn in sich zu spüren. Aber er war weg. Nur sein Geruch haftete noch an ihr. Und dann war da plötzlich der Gedanke, ob all das nicht doch ihr Karma sei. Was war da heute Nacht geschehen? Sie hatte mit einem Mann geschlafen, den sie nicht kannte. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie bei einem Mann das Gefühl gehabt, dass er alles von ihr wusste! Ja, Abdel schien alles von ihr zu wissen. Er wusste Dinge von ihr, die sie selbst noch nicht wusste. Oder hatte sie es nur verdrängt, dass da in ihr ein Verlangen schlummerte, das er jetzt mit Leben erfüllt hatte? Kein Mann hatte sie jemals zum Höhepunkt gebracht. Aber Abdel hatte es getan. Den Gipfel der ekstatischen Wollust, auf den er sie gezwungen hatte, hatte sie die ganze Nacht hindurch nicht verlassen. Er befahl, sie hatte gehorcht. Er hatte gelockt, sie war ihm gefolgt. Er hatte ihr sanft wehgetan, weil er nicht aufhörte, als sich die Wogen der Lust in ihrem Bauch nicht mehr glätten wollten. Sein Körper, seine Hände, seine Zunge hatten weitergemacht, bis sie jammerte und wimmerte und doch hoffte, es möge nie ein Ende haben. Heute Nacht war sie einem Mann begegnet, der erkannt hatte, dass sie Dominanz liebte, aber er hatte es sehr zärtlich getan. Das hatte sie noch nie zuvor erlebt, nicht einmal geahnt, dass sie es mögen würde. Sie wollte mehr davon. Sie musste ihn wiedersehen.
Marie-Claire löste ihre Hände aus den Fesseln. Nur widerwillig wälzte sie sich aus dem Bett und ging ins Bad. Sie dachte an den Florentiner und die seltsamen Dinge, die um ihn herum geschahen. Auch wenn ihr nicht der Sinn danach stand, musste sie sich jetzt um ihre Arbeit kümmern. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen. Ein Wiedersehen mit Abdel musste erst einmal warten.
Auf ihrem Schreibtisch lagen Stapel von Unterlagen und mehrere Bücher, die sie lesen musste – alles Material zum Florentiner. Niemand erwartete von ihr, dass sie den Florentiner aufstöbern, den derzeitigen Besitzer ausfindig machen würde. Nein, ihre Aufgabe war lediglich, die Historie des Diamanten zu recherchieren, herauszufinden, worin das Interesse von Gregor, Abdel – und vielleicht auch von Sanjay an diesem Diamanten lag. Die Geschichte des Diamanten sollte sie eruieren. Mehr nicht. Bislang war sie nur von einem Abenteuer ins nächste gestolpert. Jetzt galt es, endlich den Bericht zu schreiben, den Francis von ihr erwartete. Morgen früh würde sie in die Schweiz fliegen. Dort hoffte sie, die Ruhe zu finden, die sie für das Schreiben des Berichts brauchte. Francis Roundell hatte ihr eine E-Mail geschickt und ihr einen Abgabetermin gesetzt. In einer Woche musste ihr Bericht dem Board of Directors in London vorliegen. Danach erst würde sie darüber nachdenken, wann sie Abdel Rahman wiedersehen wollte und ob es gut für sie sein würde, ihn wiederzusehen. Über Nacht war etwas hinzugekommen, das sie nur schwer einordnen konnte. Gestern noch hatte sie sich vorgenommen, egoistisch zu sein, sich zu nehmen, von Abdel Rahman zu nehmen, was sie haben wollte. Für eine Nacht haben wollte. Das war misslungen. Dieser Araber war näher an ihr wahres Ich heran gekommen, als ihr das lieb war.
Als sie gegen zehn Uhr ihren Computer ausschaltete, fiel ihr Blick auf einen Stapel Dokumente auf ihrem Schreibtisch. Hatte sie den Umschlag mit der Kopie der handschriftlichen Aufzeichnungen von Alphonse de Sondheimer gestern Morgen nicht verschlossen? Gestern hatte sie noch nicht gewusst, dass Abdel Rahman in ihre Wohnung kommen würde. Aber er war da gewesen. Die ganze Nacht. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wann er aufgestanden und aus der Wohnung gegangen war. Plötzlich bekam Marie-Claire de Vries Angst. Auf dem Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer lag nicht nur das Manuskript zum Buch über die Vitrine XIII. Da lagen auch die Bücher über Marie-Antoinette, über die Medici und über Karl den Kühnen und die Ritter vom Goldenen Vlies. War Abdel in ihrem Arbeitszimmer gewesen? Hatte er …?
»Merde, Merde!«, fluchte sie. »Der Typ hat dir den Verstand aus dem Hirn ge …! Der Scheißkerl hat schon wieder in deinen Unterlagen geschnüffelt. Was, verdammt noch mal, will er?«