172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

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17. Kapitel

Château de Vaumarcus war in dichten Nebel gehüllt. Vom Lac de Neuchâtel konnte Marie-Claire de Vries nur erahnen, dass es rechts von ihr lag. Sie war müde und mürrisch. Ihre Freundin Christiane saß auf dem Beifahrersitz und starrte angespannt auf die Fahrbahn, von der mit Einbruch der Dunkelheit kaum mehr etwas zu sehen war. Eine unwirtliche Ruhe umgab sie.

»Ich habe die Nase gestrichen voll!«, murrte Marie-Claire.

»Für die zweihundert Kilometer von Zürich bis hierher haben wir jetzt fast fünf Stunden gebraucht. Von Bern habe ich außer einem Autobahnschild nichts gesehen. Dass es hier Berge gibt, weiß ich nur aus Büchern. Und außerdem habe ich unglaublichen Hunger.«

Christiane Schachert blickte missmutig in die in Nebel gehüllte Umgebung.

»Und mir ist schlecht! Ich hasse es, im Nebel Auto zu fahren. Dieses verfluchte Schloss muss doch jetzt irgendwann kommen. Eben sind wir an Grandson vorbeigefahren. Laut Karte sind es bis zur Schlossauffahrt dann noch drei Kilometer. Ich hoffe nur, dass wir die nächsten Tage nicht so ein mieses Wetter haben. Dann kündige ich dir die Freundschaft.«

»Und ich werde nie wieder ad hoc Kurzurlaub auf einem Schloss in der Schweiz machen – jedenfalls nicht im Dezember!«

Marie-Claire meinte das ernst. Längst bereute sie, all ihre Bücher und Unterlagen über den Florentiner eingepackt und nach Zürich geflogen zu sein. Aber diese verwirrend-schöne Nacht mit Abdel Rahman hatte sie völlig aufgelöst zurückgelassen. Das Einzige, zu dem sie noch fähig gewesen war, war zu fliehen. Ihre Entscheidung, nach Grandson zu fliegen, war innerhalb weniger Stunden gefallen. Sie war nur froh, dass Chrissie ohne lange zu überlegen bereit gewesen war mitzukommen. Doch die Reise hin zu jenem Ort in der Schweiz, an dem der Florentiner, aber auch der Kleine und der Große Sancy zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes offiziell genannt worden waren, hatte sich schnell als schwierig herausgestellt. Der Abflug von Wien hatte sich um eine Stunde verspätet. In Zürich musste das Flugzeug ewig wegen Nebels Warteschleifen fliegen. Und während der gesamten Fahrt zum Lac de Neuchâtel hatte sich das Wetter und damit auch ihrer beider Stimmung immer mehr verschlechtert. Seit sieben Stunden war sie nun schon unterwegs. Ihre anfängliche euphorische Stimmung war tiefer Nachdenklichkeit gewichen. Vor mehr als fünfhundert Jahren hatten hier um den See herum in Grandson, Murten und Nancy Schlachten stattgefunden, die die politische Landkarte Europas maßgeblich verändert hatten. Am 2. März 1476 waren die Heere des bis dahin als unschlagbar geltenden Burgunderherzogs Karls des Kühnen von Schweizer Truppen hier in Grandson erstmals besiegt worden. Und hier war jener Diamant erstmals aufgetaucht, der seit einiger Zeit ihr Leben völlig auf den Kopf stellte.

Der Florentiner, darüber war sich Marie-Claire im Klaren, hatte ihr Leben verändert. Dass dem Edelstein seit jeher angedichtet wurde, von einem Fluch belegt zu sein, hatte sie selbst noch vor wenigen Wochen als eine jener Legenden abgetan, deren es einige in Verbindung mit berühmten Schmuckstücken und Edelsteinen gab. Aber längst nagten Zweifel an ihrer beruflich bedingten, sehr pragmatischen und rationalen Einstellung zu solchen Legenden. Wann immer sie in letzter Zeit in all der Hektik darüber nachgedacht hatte, ob an solchen mystischen Überlieferungen nicht doch etwas Wahres dran sei, waren ihr die Worte von Sanjay Kasliwal eingefallen, der Diamanten mehr oder minder eine Seele zugestand. Früher hätte sie so etwas nur belächelt, aber in letzter Zeit waren Dinge geschehen, die sie nur schwerlich mit Zufall abtun konnte. Der seit Jahrhunderten zitierte »Fluch des Florentiners« schien auch sie erfasst zu haben. Nicht auf tragische oder tödliche Weise. Nicht so wie bei Marie-Antoinette, der Königin von Frankreich, und bei Kaiserin Sisi von Österreich. Oder wie bei Karl dem Kühnen, hier in Grandson. Sie alle hatten den Florentiner besessen und waren auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen. Die ruhmreichen Herrschergeschlechter der Medici und Habsburgs, die ebenfalls den Florentiner besessen hatten, waren dramatisch schnell untergegangen. Kaiser Napoleon, einst Besitzer des Florentiners, starb in Verbannung auf St. Helena. Der letzte österreichische Kaiser, der auch der letzte Besitzer des Florentiners gewesen war, starb in Verbannung auf Madeira. Wer sollte angesichts solch tragischer Geschehnisse nicht an einen Fluch glauben?

Was immer auch in den letzten Wochen in ihrem Leben geschehen war, barg Dimensionen in sich, die sie ängstigten. Alles war anders geworden. Nichts schien mehr Bestand zu haben. Magische Kräfte schienen sie erfasst zu haben. Nicht sie bestimmte ihr Leben, nein, die Impulse kamen von außen. Am Tag und, wie bei Abdel, auch in der Nacht. Rational war das nicht mehr erklärbar, aber all das dem Fluch des Florentiners zuzuschreiben widerstrebte ihrer Art des Denkens. Wissenschaftlich betrachtet waren solche Überlieferungen zum Unheilscharakter eines Diamanten zwar absurd, Blödsinn. Aber …

»Hey, du! Marie-Claire.« Die Worte ihrer Freundin Christiane rissen sie aus ihrer Versunkenheit. »Hoffentlich ist das Schloss genauso romantisch, wie es auf den Bildern aussieht. Ich habe nämlich schon immer davon geträumt, in einem von Nebel verhüllten, von gruseligen Untieren und lüsternen Schweizer Landsknechten belagerten Schloss zusammen mit einer Frau in einem Himmelbett zu liegen.«

Beide Frauen schauten sich kurz an und lachten dann lauthals los. Sie lachten so heftig, dass Marie-Claire am rechten Fahrbahnrand anhalten musste.

»Weißt du was, Marie-Claire«, presste Christiane hervor, »wir eliminieren für die nächsten Tage das Thema Männer ganz einfach aus unseren Gedanken! Ein Hoch auf das Leben! Zwei der tollsten Frauen Wiens in einem Himmelbett in einem Schloss an einem See, der leider nicht zu sehen ist. Genau! So machen wir es: lesen, essen, trinken – schlafen. Ich hoffe nur, dass dieses Himmelbett breit genug ist.«

Kurz darauf erreichten sie die links der Straße auf einer Anhöhe unterhalb der Rehberge gelegene Burg. Die drei Zinnen der einstigen Festungsanlage ragten in den hier oben auf den Hügeln sternenklaren Nachthimmel. Madame Thalmann, über die Marie-Claire die Reservierung des einzigen in diesem Privatschloss zu mietenden Zimmers arrangiert hatte, begrüßte sie herzlich und führte sie durch die kalt und düster wirkenden Gemäuer hinauf zu dem Zimmer. Ein kleines Schild an der Tür wies darauf hin, dass hier in dem gleichnamigen Zimmer einst Charles le Téméraire, eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 15. Jahrhunderts, residiert hatte. Chrissie verdrehte die Augen und flüsterte: »Buuuh, hier gibt es bestimmt Gespenster – männliche Gespenster.«

Das Bett, in dem der Burgunderherzog und Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies, Karl der Kühne, im März des Jahres 1476 genächtigt hatte, verschlug ihnen beiden die Sprache. Ein purpurfarbener Baldachin überspannte, von vier Holzpfosten getragen, das aus Eichenholz gezimmerte Hochbett, das schräg gegenüber eines traumhaft schönen, mit gelblichem Sandstein eingefassten, fast mannshohen Kamins stand. Die Gastgeberin hatte bereits ein Feuer gemacht. Der Geruch von brennendem Buchenholz durchzog den großen, mit Holzparkett ausgelegten Raum, in dessen Mitte ein antiker Holztisch mit sechs Stühlen stand. Neben dem mit rotem Samt bezogenen Sessel am Erkerfenster stand eine Ritterrüstung. Im Zwielicht des Feuers und der spärlichen Beleuchtung zweier Wandlampen waren in Deckenhöhe mittelalterliche Wandmalereien zu erkennen. Eine alte, handkolorierte Landkarte des einstigen burgundischen Reiches hing neben der Eingangstür. Marie-Claire war fasziniert. Die wohlige Wärme des Feuers und das gespenstisch-romantische Ambiente dieses Raums ließen ihr Gänsehaut über den Rücken laufen.

»Ist das nicht toll, Chrissie? Wunderschön! Wie im Mittelalter! Ein Bett wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht – in einem verwunschenen Schloss! Genau der richtige Ort, um sich in alte Bücher über kühne Ritter zu vergraben – und von mystischen Prinzen und legendären Diamanten aus dem Morgenland zu träumen! Es ist …«

Ihr Handy läutete. Wie elektrisiert schaute Marie-Claire fragend ihre Freundin an. Dann blickte sie auf die Armbanduhr. Es war fast zehn Uhr. Wer rief sie so spät am Abend noch an? Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht, aber es war eine Schweizer Vorwahl.

»Warum nimmst du das Gespräch nicht an?«, zischte Chrissie. Marie-Claire konnte die großen, fragenden Augen ihrer Freundin im Schein des Feuers sehen. Dann verstummte das Läuten des Handys. Marie-Claire stand noch immer wie angewurzelt neben dem Kamin. Nervös fingerte sie nach einer Zigarette und zündete sie zitternd an.

»Was ist denn los?« Chrissie sprach ungewöhnlich leise.

»Abdel …?«

»Nein, viel schlimmer!«, antwortete Marie-Claire. »Es war mein personifiziertes Karma! Ich bin mir sicher. Ich spüre, dass er es war. Und ich frage mich, ob es solche Zufälle geben kann, Chrissie! Hier, in diesem Raum, schlief vor mehr als fünfhundert Jahren jener legendäre Burgunderherzog, der vermutlich als erster Europäer den Florentiner besessen hat. Den Kleinen und den Großen Sancy auch! Er trug den Florentiner nicht seines unvorstellbaren Wertes wegen, sondern im Glauben, dass ein solcher Edelstein seinen Besitzer unschlagbar und unsterblich machen würde. Denn die Bezeichnung Diamant, das wusste Karl der Kühne, kommt aus dem Griechischen adamas – der Unbezwingbare! Aber der Stein brachte ihm, dem bis dahin unschlagbaren Feldherrn, dem Herausforderer des französischen Kaisers und des deutschen Kaisers Friedrich III., kein Glück! Die mystische Macht der göttlichen drei Brüder, wie er den Kleinen Sancy, den Großen Sancy und den späteren Florentiner nannte, ließ seine Macht nach den drei Schlachten von Grandson, Murten und Nancy binnen weniger Monate zerbrechen. Die Legende sagt, dass er die drei Diamanten hier unterhalb dieses Schlosses verlor – auf der Flucht vor Schweizer Heeren. Wenige Monate später gab es kein Burgund mehr. Er selbst war tot: von Schweizer Lanzen bei Nancy durchbohrt, sein im See eingefrorener Leichnam von Wölfen zerfleddert. Und kaum bin ich hier in diesem Raum, ruft er an.«

Christiane Schachert unterbrach ihre Freundin. »Hörst du jetzt auf, so mystischen Quatsch zu reden! Kein Auge mache ich hier in diesem Bett zu, wenn du so redest. Sag mir lieber, wer da angerufen hat.«

»Das ist kein mystischer Quatsch, meine Liebe! Das ist Furcht erregender Ernst! Hier, in diesem Château de Vaumarcus, begann die Legende des Florentiner-Diamanten. Der Edelstein hieß damals noch nicht so. Aber der Fluch jenes Diamanten, hinter dem ich und offensichtlich auch andere nun her sind, begann genau hier in diesem Zimmer. Hier in diesem Zimmer lagen wahrscheinlich damals auch die beiden Sancy-Diamanten. Drei unvorstellbar wertvolle Diamanten – im Besitz eines Mannes, der zudem noch Souverän der Vlies-Ritter war! Alle drei Edelsteine sind jetzt verschwunden. Stattdessen sind nun gleich drei Männer in meinem Leben aufgetaucht. Alle interessieren sie sich für diese Diamanten. Keiner von ihnen sagt mir die Wahrheit, aber alle drei stellen mein Leben auf den Kopf. Mein Leben ist eine einzige Katastrophe. Das sind die Fakten, Chrissie! All das ist kein Zufall! Es ist eine Fügung, dass ich jetzt hier stehe. Es ist mein Karma, dass er jetzt anruft.«

»Wer denn, verflixt noch mal?« Christiane Schachert spürte, wie sie von der eigentümlichen Stimmung ihrer Freundin angesteckt wurde. Noch nie zuvor hatte sie Marie-Claire so erlebt. Erneut läutete das Handy der Freundin. Wie paralysiert nahm Marie-Claire das Telefon in die Hand. Sie blickte nicht auf das Display. Sie wusste, wer anrief. Ohne Chrissie anzuschauen flüsterte sie: »Das ist jener Mann, aus dessen Land der Große Sancy, der Kleine Sancy und der Florentiner geraubt wurden – vor ewigen Zeiten. Diese Diamanten gehörten seinem Volk. Deswegen ist er hier in Europa. Und glaub mir, Chrissie: Dass er genau jetzt anruft, ist göttliche Allmacht, Karma – Fügung. Es ist alles, aber kein Zufall!«

Hektisch schritt Marie-Claire auf das flackernde Feuer des Kamins zu. Ihr Schatten hob sich überdimensional gegen die holzgetäfelte Decke und das Bett mit dem roten Baldachin ab. Sie nahm den Anruf an.

»Good evening, Mister Kasliwal …, hallo Sanjay, wie geht es Ihnen?«

Marie-Claire telefonierte eine halbe Stunde mit Sanjay Kasliwal. Kaum hatte er sich gemeldet, hatte sich das vertraute Gefühl für ihn wieder eingestellt. Es kam ihr so vor, als kenne sie ihn seit ewigen Zeiten – aus einem früheren Leben. Dennoch konnte sie ihrer Freundin nicht erklären, was sie dazu bewogen hatte, den Inder nach Grandson einzuladen. Sanjay hatte aus Genf angerufen, wo er sich zusammen mit seinem Bruder aufhielt. Von dort wollten sie zusammen weiter nach St. Moritz reisen. Er hatte sie angerufen, weil er Marie-Claire zum Geburtstag gratulieren wollte. An jenem schönen Abend in Berlin hatte sie ihm aus irgendwelchen Gründen ihr Geburtsdatum genannt. Ihr Geburtstag war ein weiterer Grund dafür gewesen, dass sie sich so kurzfristig entschlossen hatte, nach Grandson zu fliegen. Seit einigen Jahren hasste sie ihren Geburtstag, denn er erinnerte sie daran, dass sie älter wurde. Deswegen hatte sie Chrissie gebeten, mit nach Grandson zu kommen. Mit der Frohnatur Christiane zu fliehen, schien ihr ein Ausweg zu sein. Sie hoffte, dort die frustrierenden Erlebnisse ihrer Ägyptenreise, das Zusammentreffen mit Gregor, die Nacht mit Abdel Rahman und die mehr als turbulenten Geschehnisse rund um den Florentiner für eine Weile vergessen zu können. Hier wollte sie sich ganz auf den Bericht für Francis Roundell konzentrieren. Konnte es dafür einen besseren Ort geben als Grandson?

Gegen Mitternacht, Chrissie und sie hatten vor dem flackernden Kaminfeuer im Zimmer Charles le Téméraire des Château de Vaumarcus schweigend eine Flasche Rotwein getrunken, unterbrach Marie-Claire die Stille.

»Frag mich nicht, warum ich das gemacht habe. Frag mich bitte nicht! Ich weiß, dass mein Leben derzeit sehr chaotisch ist. Aber ich muss auch zugeben, dass ich mich unglaublich wohl fühle und erleichtert bin, seit ich weiß, dass Sanjay kommt! Von Genf nach hier ist es mit dem Auto über Lausanne kaum mehr als eine Stunde Fahrt. Er wird übermorgen gegen Mittag hier sein. Und ich freue mich wie ein kleines Kind vor dem Weihnachtsbaum auf ihn. Bist du mir deswegen böse?«

Christiane Schachert hatte ein wenig das Verlangen zu heulen. So nahe hatte sie sich Marie-Claire schon lange nicht mehr gefühlt. Dieses Zimmer, die unglaubliche Ruhe hier auf dem Hügel über dem See, das Kaminfeuer und das wunderschöne Schweigen der letzten Stunde bewirkten seltsamerweise nicht Schwermut, vielmehr fühlte sie sich gelöst und befreit. Kichernd schaute sie ihrer Freundin in die Augen.

»Du bist süß! Ich könnte dich knuddeln. Ich fühle ganz genau, dass dieser Inder in deinem Leben eine große Rolle spielt – spielen wird. Ich habe nur ein einziges Problem damit.«

Marie-Claire schaute verwundert auf. »Was meinst du damit? Was für ein Problem?«

»Nun ja, Süße: Fakt ist, dass es in diesem Schloss nur ein einziges Gästezimmer gibt. Und zwar dieses hier. Um uns herum ist, glaube ich, nur Wald. Kein Hotel! Du wirst mir die sehr pragmatische Frage verzeihen, aber schlafen wir beide ab übermorgen im Bett Karls des Kühnen zusammen mit einem Inder, mit einem Märchenprinzen aus dem Morgenland? Du rechts, ich links – er in der Mitte? Oder muss ich vor dem Kamin schlafen?«

Die Augen ihrer Freundin funkelten schelmisch. Sie starrten sich gegenseitig liebevoll an. Dann lachten sie los, laut und sehr glücklich.

Am nächsten Tag regnete und schneite es abwechselnd. Noch immer hüllte dichter Nebel den See und das Schloss ein. Das Wetter war so trist, das Kaminfeuer flackerte so romantisch und das Frühstück, das ihnen Madame Thalmann auf dem Zimmer servieren ließ, war so üppig, dass beide beschlossen, das Bett und das Zimmer nicht zu verlassen. Marie-Claire nahm das Manuskript über die Vitrine XIII aus ihrem Aktenkoffer und las im Bett. Chrissie dagegen saß im Sessel vor dem Feuer und stöberte in Unterlagen und Büchern über Marie-Antoinette, die Tochter des österreichischen Kaiserpaars und einstige Besitzerin des Florentiners. Um die Beziehungen mit Frankreich zu festigen, war sie im Alter von vierzehn Jahren mit dem französischen König Ludwig XVI. verheiratet worden. Als Hochzeitsgeschenk nahm die Braut auch eine prachtvolle Halskette mit nach Paris. Der große, gelbliche hundertsiebenunddreißigkarätige Edelstein, der die Kette zierte, sollte ihr kein Glück bringen. Der Fluch des Florentiners erfasste auch Marie-Antoinette. Am 16. Oktober des Jahres 1793 wurde sie in Paris wegen angeblichen Hochverrats auf dem Schafott hingerichtet.

Marie-Claire arbeitete sich durch das Manuskript über die Flucht des letzten österreichischen Kaiserehepaares in die Schweiz im Jahre 1919 durch. Die Memoiren des Schmuckhändlers Alphonse de Sondheimer, die auch einige Zeichnungen enthielten, wühlten sie auf.

»Irgendwo in diesem Manuskript muss etwas stehen, was das Verschwinden des Florentiners damals in Genf erklärt«, murmelte sie nach mehr als zwei Stunden des Lesens vor sich hin.

»Seit damals ist dieser Diamant verschwunden. Aber vieles spricht dafür, dass er irgendwo auf der Welt noch existiert. Francis Roundell lässt mich sicherlich kein Phantom suchen. Schließlich wittert er ein großes Geschäft für Christie’s. Gregor, Abdel – und letztendlich auch Sanjay glauben ebenfalls an die Existenz des Diamanten! Zumindest Gregor und Abdel scheinen zu glauben, dass in diesen Memoiren die Erklärung zu finden ist, wer den Stein damals erwarb – oder auch stahl! Weißt du, wenn du dir dieses Manuskript durchliest, dann wird eines klar: Dieser Sondheimer war ein Pedant! Der hat alles genau aufgeschrieben. Nur im Fall des Florentiners hat er das nicht gemacht – jedenfalls steht darüber nichts Genaues in dem Buch! Da gibt es vage Andeutungen, dass geplant wurde, ihn in zwei oder gar mehrere Teile zu zerschneiden. Eine handschriftliche Zeichnung für diesen Plan liegt diesen Memoiren auch bei. Übrigens steht auf dieser Zeichnung oben der Name ›Ostier‹ vermerkt. Irgendwo habe ich den Namen schon einmal gelesen, ich weiß nur nicht mehr, wo. Ich denke nicht, dass der Plan, den Diamanten zu teilen, durchgeführt wurde. Ich habe mit unseren Fachleuten gesprochen. Der berühmte Edelsteinexperte Jean Baptiste Tavernier hat den Florentiner für die Medici vermessen, geschätzt und dokumentiert. Damals hieß dieser Diamant noch ›der Toskaner‹ und war – übrigens zusammen mit den beiden Sancys – im Besitz von Maria de Medici. Daher wissen wir sehr genau, wie dieser in Form eines Brioletts mit neunfacher Anordnung der Facetten geschliffene Stein aussah. Weißt du, man kann einen Diamanten nicht einfach so in der Mitte spalten oder, wie es ab dem 17. Jahrhundert gemacht wurde, mittels eines feinen Eisendrahtes, der mit durch Öl gebundenem Diamantenpulver beschichtet war, zersägen. Jeder Diamant hat eine unverwechselbare innere Struktur, eine Wachstumsrichtung – und damit ein so genanntes inneres Feuer, das allerdings erst durch das perfekte Schleifen und das Polieren richtig zur Geltung kommt. Rohdiamanten sind, mit Verlaub gesagt, ziemlich unscheinbar. Jeder Diamant ist einzigartig! Wenn du ihn einfach zerschneidest, wird er fast wertlos. Besonders dann, wenn er schon wie der Florentiner geschliffen wurde. Aus den Aufzeichnungen dieses Tavernier wissen wir daher, dass der Florentiner, wenn überhaupt, nur in zwei Teile hätte zerschnitten werden können, um zwei neue, halbwegs wertvolle Edelsteine daraus zu fertigen. Daraus wären dann ungefähr ein Achtzigkaräter und ein Fünfzigkaräter geworden. Aber jedem Edelsteinliebhaber würde solch eine brachiale Tat Tränen in die Augen treiben.

Zudem liegt der Wert eines Edelsteins ja nicht nur im Materiellen. Damals in Genf schätzte man den Florentiner auf rund vier Millionen Schweizer Franken, was eine unglaubliche Summe war. Angeblich hat der österreichisch-ungarische Exkaiser Karl I. ihn ja dann für 1,2 Millionen über Sondheimer beliehen.

Nein, meine Liebe, dieser Florentiner wurde nicht zerstückelt! Glaube mir. Der wahre Wert dieses Steins ergibt sich für einen Edelsteinexperten aus seiner fantastischen Geschichte. Nur wenige Diamanten sind im Besitz so vieler edler, aristokratischer Häupter des Abendlandes gewesen. Genau das macht den Florentiner so unschätzbar wertvoll. Darin besteht ja auch meine jetzige Arbeit. Ich recherchiere die Geschichte dieses Edelsteins, damit, falls er jemals wieder auftaucht, seine Historie einwandfrei dokumentierbar ist – und damit sein Preis ins schier Unermessliche steigen kann. Nein, einen solchen Diamanten teilt man nicht einfach auf. Den gibt es noch! Die Frage ist nur: Wo? Im Buch steht darüber nichts. Aber vielleicht hier in diesem Manuskript? Und vielleicht ist es eine versteckte Nachricht.«

Chrissie schaute zu ihr hinüber. »Ist das Manuskript denn nicht identisch mit dem veröffentlichten Buch?«

»Nein, absolut nicht. Wenn ich davon ausgehe, dass das, was ich hier lese, wirklich die originalgetreue Abschrift des von Sondheimer verfassten Gedächtnisprotokolls ist, dann gibt es in vielen Passagen enorme Abweichungen zwischen dem Buch und diesem Manuskript.«

»Ach so, das ist gar nicht das Original?«, blickte Christiane Schachert ihre Freundin erstaunt an.

»Nein, es ist eine Abschrift. Und wie immer, wenn es um den Florentiner geht, ist das alles sehr verworren! Einer jener Leute, die Sondheimer bei der Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen halfen, war der Schriftsteller Max-Hermann Neiße. Er lebte damals in London. Als er 1941 starb, heiratete Sondheimer seine Witwe, die, so habe ich herausgefunden, diese Abschrift verfasst hat. Sie war meines Wissens Ausländerin, was die vielen Rechtschreibfehler in dem Manuskript erklärt. Soweit ich informiert bin, gab es eine handschriftliche Version, ein Original und eine Abschrift.«

»Und warum war dieses Buch eine so geheimnisvolle Sache?«

Christiane Schachert hatte ihr eigenes Buch zur Seite gelegt und schaute ihre Freundin erwartungsvoll an. Marie-Claire blätterte kurz in ihren Unterlagen.

»Da gab es sicherlich eine ganze Menge Gründe. Zum einen hat dieser Schmuckhändler, zumindest nach seinen eigenen Angaben, geradezu unvorstellbar wertvolle Schmuckstücke im, wie er vorgibt, persönlichen Auftrag des österreichischen Exkaisers und im Auftrag seines Sekretärs verschachert, was im Zweifelsfalle nichts anderes als gewerbsmäßige Hehlerei, also eine Straftat war. Denn die neue österreichische Regierung hatte behauptet, dass große Teile des vom Kaiser in die Schweiz verbrachten Schmuckes aus den Vitrinen XII und XIII der Wiener Schatzkammer nicht Privateigentum der Habsburger, sondern Staatseigentum waren. So gesehen hätte Alphonse de Sondheimer also Diebesgut verscherbelt. Zusammen mit dem Exkaiser! Und das ist der eine heikle Punkt. Du kannst dir sicher vorstellen, dass eine solche Behauptung die Nachfahren des Hauses Habsburg zu gerichtlichen Schritten veranlasst hätte. Also hat der Verlag beziehungsweise haben Verlag und der anonyme Herausgeber wichtige Passagen des Buches mit Kommentaren und Fußnoten relativiert und juristisch entschärft. Warte, ich lese dir eine Passage vor.«

Marie-Claire blätterte in dem Buch mit dem schwarzen Schutzumschlag und der rosa-weißen Aufschrift.

»Hier ist es, auf Seite vierundzwanzig! Da werden seitenweise die mitgenommenen Schmuckstücke aufgelistet. Also: ›Wie man merkt, mehren sich die Hinweise auf toskanischen Staatsschmuck, bei welchem es noch weniger als beim österreichischen Staatsschmuck zu begründen gewesen sein mochte, wieso er auf einmal habsburgischer Privatschmuck geworden wäre!‹ Das ist so eine Passage. Und was den Florentiner betrifft, findest du auf Seite siebenundzwanzig des Buches auch eine Stelle, die es in sich hat. ›Als Franz Stephan von Lothringen … das Großherzogtum Toskana im Jahre 1736 als Ersatz erhielt, kam der Florentiner in den Besitz des neuen Großherzogs, wodurch sich der Stein als typisches Staatseigentum charakterisierte … woselbst er … eine … von uns nicht näher zu untersuchende Transmutation in ein habsburgisches Privatschmuckstück erfuhr!‹ Du siehst also, meine liebe Chrissie, dieses Buch wimmelt vor versteckten Andeutungen darauf, dass der Exkaiser letztendlich geklaut hat! Und ein wenig schwingt auch die Vermutung mit, dass die im Exil lebende kaiserliche Familie nicht unerhebliche Wertgegenstände und Gelder irgendwo heimlich in Tresoren versteckt hat, weil sie fürchten musste, dass ihr ganzes Vermögen konfisziert werden würde. Du kannst dir ja vorstellen, welche Empörung eine solche Behauptung im immer noch k.u.k. verliebten Österreich ausgelöst hätte, wenn sie an die breite Öffentlichkeit gelangt wäre. Am Ruf des letzten österreichischen Kaisers darfst du nicht rütteln, erst recht nicht, seit ihn der Papst seliggesprochen hat. Der andere Punkt ist der, dass Sondheimer sehr akribisch Buch darüber geführt hat, wohin er einzelne Schmuckstücke der Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer verkaufte beziehungsweise verschleuderte. Er hat minuziös und detailliert aufgeschrieben, wie er Schmuckstücke bis zur Unkenntlichkeit zerstört, Edelsteine brachial aus ihren Fassungen herausgebrochen hat, damit keiner herausfinden konnte, welchem Kaiser- oder Fürstenhaus die Schmuckstücke gehörten. Den bankrotten Monarchen war wohl peinlich, dass sie plötzlich wie das gemeine Volk mit Pfandleihern zu tun hatten.«

Marie-Claire legte das Manuskript zur Seite, rutschte vom Bett, zog aus einem Stapel von Unterlagen ein Buch heraus, ging zum Kamin, streckte Wärme suchend ihren Rücken dem Feuer entgegen und blätterte in dem Buch.

»Hier, in diesem Standardwerk über Juwelen und Preziosen steht genau beschrieben, welche Schmuckstücke Graf Berchtold, seines Zeichens der Oberstkämmerer der Wiener Schatzkammer, auf Befehl des Kaisers am 1. November 1918 aus den Vitrinen XII und XIII entnahm. Den Großteil davon hat der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer, wie bereits gesagt, in der Schweiz verscherbelt. Irrsinnige Werte waren das! In Zahlen kann man das kaum benennen. Jedes einzelne dieser aufgeführten Schmuckstücke war damals weltbekannt, letztendlich unveräußerlich – und jedes für sich Millionen wert! Alles weg, verhökert! Das müssen schon verrückte Zeiten gewesen sein, damals, im Jahre 1919 bis 1921, hier in der Schweiz. Die Zentralmächte waren zusammengebrochen – und mit ihnen die Landeswährungen. Geld war nur mehr das Papier wert, auf dem es einst gedruckt wurde! Der Schweizer Franken war die Währung überhaupt. Jeder wollte Franken haben. Die aber hast du nur bekommen, wenn du Wertgegenstände und Immobilien hattest. In Bern, Zürich und Luzern ging es damals wohl sehr hoch her. Alle Staaten hatten ihre Vertreter dort. Die Hocharistokratie Europas scharte sich um die Schweizer Banken herum. Der griechische König lebte in Luzern, ebenso wie der Maharadscha von Kapurtala. In Lugano residierten Prinz Nikolaus und die anderen Griechen, in Montreux Prinzessin Palays, die ehemalige Großfürstin von Russland. Im Hotel Dolder in Zürich hielt sich die Großfürstin Anastasia auf. Und Kaiser Karl von Österreich wohnte mit seinem unglaublichen Hofstaat in der Villa Pragins zwischen Lausanne und Genf. Ich sage dir, Chrissie, damals sind in der Schweiz eine ganze Menge Leute sehr reich geworden an der neuen Armut der Fürsten und Könige. Denen blieb nämlich nichts anderes übrig, als ihre Schätze in Franken umzuwandeln. Alle berühmten Schmuckhändler-Dynastien und Bankiers hatten damals ihre Repräsentanten in der Schweiz. Wo Aas ist, sind auch Geier! Tiffany, Rosenheim, Cartier – alle waren sie hier und haben den geflohenen Kaisern, Königen und Fürsten ihre Dienste angeboten. Und die haben verscherbelt, was sie hatten beiseite schaffen können. Oder sie haben alle Wertgegenstände bei Banken oder Juwelierhändlern gegen einen Apfel und ein Ei verpfändet, was meistens eine fatale Angelegenheit war. Denn zurückzahlen konnten die meisten ihre Kredite nicht mehr. Mit wahnwitzigen Summen wurde da jongliert! Nicht mit ein paar Millionen! Mit Milliarden! Diamanten, Brillanten, Königskronen und weiß der Teufel welche Kunstschätze noch verschwanden auf Nimmerwiedersehen. So auch der Florentiner. Wer immer ihn damals erworben hat: Für denjenigen ist es das Geschäft des Jahrtausends gewesen.«

Marie-Claire schwieg eine ganze Weile. Sie war wie gebannt von den detaillierten Schilderungen über die Zustände hier in der Schweiz in den Jahren 1919 bis 1921, nach dem Untergang des monarchistischen Europa und Russlands. Für Momente erinnerte sie sich an den Tag am Wörthersee in Gregors Villa. Die Rede, die sie heimlich gelesen hatte, zeigte mehr als deutlich, dass es ganz offensichtlich noch immer eine nicht unerhebliche Zahl einflussreicher Menschen gab, die weiterhin von einer Monarchie träumten und bereit waren, dafür zu kämpfen. In Österreich gab es dafür sogar eine sehr banale Erklärung. Die Erste Republik hatte sehr schnell jegliche Adelstitel verboten. Aus Aristokraten mit uralten Adelstiteln waren über Nacht titellose Staatsbürger geworden. Viele von ihnen trauerten seither jenen Zeiten nach, da ihr adliger Stand schon über den Namen sichtbar wurde. Der Enkel des letzten österreichischen Kaisers hieß jetzt Karl Habsburg und nicht Karl von Habsburg. Gregor gehörte ebenfalls zu diesen ihres Adelstitels beraubten Dynastien. Er träumte wohl auch davon, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Zweifelsohne saßen diese ewiggestrigen Monarchisten in ganz Europa – so wie die Ritter vom Goldenen Vlies! Waren das jene Leute, die Gregor erwähnt hatte? Waren es seine Auftraggeber, für die er bei Christie’s in Erscheinung getreten war? War deren Interesse an dem Florentiner letztendlich machtpolitisch motiviert? Lag der Fluch des Florentiners darin begründet, dass dieser Diamant immer nur machtgierige Potentaten – europäische Potentaten – ins Unglück stürzte? War der Untergang des einflussreichen Templer-Ordens, eingeleitet durch die grausamen Verfolgungen durch Papst Clemens V. im Jahre 1307 und den Tod des letzten Großmeisters, Jacques de Molay, auf dem Scheiterhaufen, auf diesen Fluch zurückzuführen? Angeblich war der Florentiner über die Templer nach Europa und an die Ritter vom Goldenen Vlies gelangt. Historisch belegt war das jedoch nicht.

Es hatte schon etwas sehr Faszinierendes und Geheimnisvolles mit diesem Diamanten auf sich – und mit den beiden Sancys! Jeder Europäer, jeder Fürstenhof und jedes Königreich des Abendlandes, die mit dem Florentiner zu tun gehabt oder ihn besessen hatten, waren untergegangen. Das war ein Fakt! Aber war es Zufall?

Marie-Claire versuchte die Erinnerung an Gregor abzuschütteln. Seit ihrem letzten Telefonat hatte er sich nicht mehr gemeldet. Wenn es stimmte, dass er und seine Auftraggeber kein Interesse mehr am Florentiner hatten, dann würden sie sich wahrscheinlich nie mehr wieder sehen.

Es irritierte sie, dass sie ausgerechnet hier in diesem Schloss an ihn denken musste. Karl der Kühne war hier in diesem Zimmer und in der ganzen Region allgegenwärtig. Auch er war ein Ritter vom Goldenen Vlies gewesen. Auch er hatte die edelsten und einflussreichsten Männer des damaligen Europas um sich geschart, sie über den Vliesorden moralisch und politisch an sich gebunden, weil auch er, von Größenwahn beseelt, von einem Mittelreich in Europa träumte – mit ihm an der Spitze. Einem mächtigen Pendant zum französischen und zum deutschen Kaiser. Sein Traum war hier bei Grandson zum ersten Mal von eidgenössischen Heeren zerschlagen worden. Und damit hatte der Fluch des Florentiners begonnen. Zumindest hier im Abendland.

»Und, was erschüttert dich so, dass du dauernd so stöhnst und dein Gesicht verziehst beim Lesen?«, versuchte sie auf andere Gedanken zu kommen und griff nach einem Buch, das auf einem Tisch neben Christiane lag. Ihre Freundin hatte es mitgebracht, aber noch nicht erzählt, um was es in dem Buch ging. Der Titel ließ sie aufmerken: »Sanson – Die Henker von Parisi Was liest du denn für gruselige Geschichten? Reichen dir unser Spukschloss und all die Geschichten um den Florentiner herum noch nicht? Mir jedenfalls brummt der Kopf! Noch nie in meinem Leben bin ich so zwischen historischen Fakten und Legenden hin und her gewankt. Ich weiß schon nicht mehr, was Wahrheit und was Mythos ist. Ich will’s, ehrlich gesagt, auch bald nicht mehr wissen. Ich schreibe jetzt einfach meinen Bericht für Francis Roundell – und dann mache ich Urlaub. Soll er damit machen, was er will. Aber jetzt sag: Was ist das für ein Buch?«

»Fürchterlich blutrünstig und bedrückend ist es! Wenn du dich mit den Abgründen der Menschen beschäftigen willst, wenn du wissen möchtest, wie grausam Menschen sein können und was sie sich alles einfallen lassen, um zu quälen und zu foltern, dann musst du es lesen! Aber es ist schwer verdaulich, ehrlich! Es sind die Memoiren der französischen Henkersfamilie Sanson! Als sechsbändiges Werk erstmals im Jahre 1862 in Paris erschienen.«

»Und so was liest du – freiwillig?«

»Was heißt hier freiwillig, meine Liebe? Du hast mich doch gebeten, mich mit Literatur rund um den Florentiner zu beschäftigen, oder etwa nicht?«

Marie-Claire riss erstaunt die Augen auf. »Du meinst, das da ist die Geschichte des Henkers von …«

»Erraten! Das hier wurde herausgegeben von Henri-Clément Sanson – dem letzten männlichen Mitglied dieser Henkersdynastie, die über mehrere Generationen in Frankreich das schaurige Amt des Scharfrichters ausübte. Auch in Paris zu Zeiten der Revolution.«

»Und genau der hat …?«

»Nein, nicht er selbst! Aber sein Sohn Charles-Henri – genannt der Schöne, was ziemlich skurril ist. Der schöne Henker von Paris! Dieser schöne Henker hat tatsächlich Königin Marie-Antoinette geköpft! Die aus dem Hause Habsburg stammende österreichische Frau des französischen Königs. Jene Frau, die den Florentiner einst von Wien nach Paris brachte.«

Marie-Claire de Vries schluckte betroffen. Das war noch so ein Beispiel dafür, dass der vermeintliche Fluch des Florentiners offensichtlich ausschließlich machthungrige europäische Adelige einholte. Marie-Antoinette war bekannt gewesen für ihre politischen Intrigenspielchen und für ihren zynischen Dünkel: »Sollen sie doch Kuchen fressen, wenn sie kein Brot haben«, soll sie über das französische Volk während der großen Hungersnot im Jahre 1788 gesagt haben.

»Die Legende sagt, dass Marie-Antoinette den Florentiner zusammen mit anderen Schmuckstücken während ihrer Haft in ihrem Rocksaum eingenäht hatte. Sie soll ihn dem Henker Charles-Henri Sanson übergeben haben, bevor der sie am 16. Oktober 1793 geköpft hat«, fuhr Christiane fort.

Marie-Claire lächelte. »Na, das ist ja wohl eine jener Legenden, die ich lieber nicht in meinen Bericht erwähne, oder? Das ist doch eher unglaubwürdig: Die Königin schleppt ihre Preziosen mit in den Kerker und schenkt sie dann ihrem Henker? Klingt ziemlich absurd.«

»Nein, ist es keineswegs, liebe Marie-Claire. Wenn du dieses Buch hier liest, kommst du schnell zu dem Schluss, dass es früher wohl gang und gäbe war, sich beim Henker einen schmerzlosen Tod oder andere Annehmlichkeiten zu erkaufen. Bei der Lektüre läuft es dir eiskalt den Rücken runter. Das ist nämlich so etwas wie eine historische Abhandlung über die grausamsten Foltermethoden, die sich Henker über die Jahrtausende hinweg haben einfallen lassen. Von der Schandsäule über den Pranger hin zu Männern, die verkehrt auf einem Esel sitzend durch die Stadt reiten mussten, wenn sie sich von ihrer Frau haben schlagen lassen. Immer waren es Henker, die solche Urteilsvollstreckungen durchführen mussten. Die rissen Menschen Zungen raus, blendeten sie mit glühenden Stangen, rissen ihre Körper bei lebendigem Leibe mit Pferden auseinander. Und wenn der Delinquent sicher sein wollte, dass der Henker beim Köpfen nicht, wie es wohl oft geschah, ein halbes Dutzend Mal mit dem Schwert zuschlagen musste, bis der Kopf ab war, hat er dem Henker vorher ein ansehnliches Sümmchen zukommen lassen. Das gleiche Spielchen haben sie beim Tod auf dem Scheiterhaufen praktiziert. Wenn du als Hexe keine Lust hattest, langsam von den Flammen aufgefressen zu werden, hat der Henker heimlich eine Lanze in dem Scheiterhaufen versteckt, deren Spitze genau auf das Herz zielte. Wenn du Geld hattest, hat der Henker, während die Flammen loderten, die Lanze mit einem Hammerschlag in dein Herz gerammt. Dann hast du nicht mehr gespürt, wie dein mit Schwefel getränktes Kleid in Flammen aufging.«

»Hör bloß auf! Solche Geschichten kann ich absolut nicht gebrauchen. Nicht hier in so einem alten Schloss, in dem überall mittelalterliche Rüstungen herumstehen und alles an Karl den Kühnen erinnert. Der war nämlich ebenfalls für seine äußerst brutalen Methoden bekannt. So genial er wohl als Feldherr war, so grausam war seine Rache, wenn sich Widerspruch oder Widerstand regte. In der Nähe von Lüttich, in einem Ort namens Dinant, hatten einige Bürger Karl verspottet. Der zog mit einem Heer dorthin, brandschatzte die Stadt, ließ alle Kinder und Frauen totschlagen. Achthundert Männer wurden paarweise zusammengebunden und wie Katzen in der Maas ertränkt. Das also zu solch grausigen Dingen, liebe Chrissie. Der Mann, der das angeordnet hat, lag nämlich einst in dem Bett hier, in dem wir jetzt nächtigen! Hoffen wir, dass wir es nicht auch noch mit einem Fluch Karls des Kühnen zu tun kriegen. Mir reicht es nämlich langsam mit Flüchen.«

»Mich interessiert dieses Henkerslexikon eigentlich nur, weil es tatsächlich heißt, dass Marie-Antoinette dem Henker von Paris in der Nacht vor ihrer Hinrichtung den Florentiner gab. Sie hatte in der Conciergerie, dem Gefängnis, immer ihre schwarze Trauerkleidung getragen, weil sie ja ihren Mann schon hingerichtet hatten. Für ihre Hinrichtung zog sie aber sehr früh am Morgen in Gegenwart des Henkers ihr weißes Totenkleid und die weiße Kopfhaube mit dem schwarzen Band an. Im Saum des schwarzen Kleides, so heißt es, waren Schmuckstücke versteckt. Darunter der Florentiner. Das zu den Legenden, an denen angeblich ja immer etwas Wahres dran ist. Kannst es ja in deinem Bericht erwähnen.«

Marie-Claire des Vries hatte sich an den Tisch gesetzt. Der Laptop stand vor ihr. Es fiel ihr schwer, sich auf den bereits angefangenen Bericht für Francis Roundell zu konzentrieren. Die Flut der historischen und kunsthistorischen Informationen auf die für solche Berichte üblichen zehn Seiten zu bringen, schien ihr unmöglich. Schließlich entschied sie sich, die harten Fakten von den Legenden und den Mythen zu trennen.

Im Lauf des Tages hatte sich der Nebel draußen wieder verdichtet. Die eigentümliche Stille im und außerhalb des Schlosses machte sie plötzlich nervös. Die makabren Dinge, die ihr Chrissie aus dem Buch über den Henker vorgelesen hatte, verstärkten ihre zunehmend schwermütigen Gedanken. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sich Unheilvolles anbahnen. Es war nur ein Gefühl, durch nichts erklärbar, aber es ängstigte sie. Zu oft in den letzten Wochen hatte sie ähnliche Gefühle gehabt, und immer waren tatsächlich dramatische Dinge geschehen. Was würde als Nächstes passieren? Morgen würde Sanjay Kasliwal kommen. Barg auch er ein Geheimnis in sich? Wusste der sanftmütige Inder mehr über den Florentiner, als er ihr gesagt hatte? Unruhig richtete sich Marie-Claire auf und schaute hinüber zu Christiane. Ihre Freundin hatte das Buch beiseite gelegt. Auch sie schien in Gedanken vertieft zu sein, starrte in die Glut des Feuers und nippte an dem Glas Rotwein.

»Chrissie …«

»Ja …«

»Glaubst du an solche Sachen wie Karma und Flüche? Glaubst du daran, dass es keine Zufälle gibt, dass die Dinge des Lebens vorbestimmt sind?«

»Nun ja, was soll ich sagen? Ich bin Kunsthistorikerin. Ich tendiere dazu, mich an Fakten zu orientieren.«

»Chrissie!«

»Ja?«

»Weich meiner Frage nicht aus! Glaubst du an Karma – an Flüche?«

»Nun ja, wenn du mich so nachdrücklich fragst, Marie-Claire … was soll ich dazu sagen. Also …«

»Danke! Das reicht mir als Antwort.«