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Sanjay Kasliwal kam gegen Mittag auf Chateau de Vaumarcus an. In dem Moment, da sein Wagen über die Zugbrücke in den Innenhof des Schlosses fuhr, riss die Nebeldecke über dem See auf. Marie-Claire de Vries und ihre Freundin Christiane Schachert hatten sehr lange geschlafen. Nun standen beide auf der Terrasse des Schlosses und bewunderten das unten im Tal aus den letzten Nebelfetzen des Sees wie eine Fata Morgana langsam auftauchende Naturwunder. In der Nacht hatte es in den Alpen auf der gegenüberliegenden Seeseite kräftig geschneit. Dort drüben verbargen sich nahe des Berner Oberlandes Eiger, Mönch und Jungfrau. Die Sonne touchierte die weißen Berggipfel und kolorierte das Tal mit dem See in Pastellfarben. Die taubenetzten letzten Blätter auf den uralten Bäumen im Park des Schlosses glitzerten wie Gold. Die umliegenden Wiesen und Weinberge strahlten eine einzigartige Ruhe aus. Die gelb-braunen Holzläden an den Fenstern des Schlosses akzentuierten das Bruchsteingemäuer mit den drei konischen Türmen. Der Morgentau auf den Auwiesen zwischen Schloss und See, auf denen sich einst die Heerscharen Karls des Kühnen und der Schweizer gegenübergestanden hatten, war gefroren und glitzerte im Zwielicht.
Sie sahen das Auto die Straße zum Schloss heraufkommen. Marie-Claire war weniger aufgeregt als Chrissie, die eine Stunde lang vor dem Spiegel im Bad gestanden und sich geschminkt hatte, weil sie, wie sie frotzelnd bemerkte, nicht jeden Tag einen Prinz aus dem Morgenland treffen würde. Aber Sanjay sah so gar nicht wie ein Prinz aus. Statt in einer Nobelkarosse vorzufahren, wie Chrissie es erwartet hatte, stieg er aus einem offensichtlich gemieteten Kleinwagen aus. Er trug Jeans, einen einfachen Pullover und eine gefütterte Lederjacke.
»Bonjour, Mademoiselle des Vries, einen wunderschönen guten Tag, Marie-Claire«, strahlte er und streckte ihr seine weit geöffneten Arme entgegen, als seien sie seit Jahrzehnten die engsten Freunde. »Sehen Sie, Marie-Claire, jeder Fluss beginnt mit einem mickrigen, kleinen Tropfen Regen. Alles beginnt mit etwas, dem wir keine große Bedeutung beimessen, das aber plötzlich zum pulsierenden Zentrum des Geschehens wird. Damals, in Berlin, hatte ich erwähnt, dass ich vielleicht nach Grandson fahren würde. Vielleicht, hatte ich gesagt! Jetzt sind Sie und Ihre charmante Freundin hier – und ich auch …«
Da war es wieder! Marie-Claire liebte diese kryptischen Andeutungen, die blumige Sprache dieses Mannes, voller Aphorismen und philosophischer Gedanken. Es war eine Sprache, wie sie sie in den arabischen Ländern kennen und lieben gelernt hatte. Eine Sprache, die zu Sanjay passte: sanft, warmherzig – ehrlich! Marie-Claire sah, wie Chrissie den groß gewachsenen Inder mit den tiefdunklen Augen bewundernd anstarrte.
Weil die Dezembersonne das Schloss, den See und die Alpen in den herrlichsten Farben erstrahlen ließ und sie alle drei das Verlangen hatten, die Umgebung zu erkunden, fuhren sie kurz darauf hinab ins Tal und weiter nach Grandson. Schon auf der Fahrt in das nur wenige Minuten entfernte Grandson erklärte Sanjay, dass er gedenke, über Nacht zu bleiben. Marie-Claire blickte ihre Freundin Christiane an. Chrissie saß auf dem Rücksitz und schmunzelte. Der Gedanke an eine gemeinsame Nacht im Bett von Karl dem Kühnen zusammen mit einem Prinzen aus dem Morgenland löste in ihr offensichtlich die wildesten Fantasien aus, aber Sanjay Kasliwal ließ keine Missverständnisse aufkommen.
»Ich habe auf der Herfahrt im Ort herumgefragt. Es ist ein kleines Dorf. Ein Hotel gibt es nicht. In Neuchâtel soll es angeblich ein wunderschön am See gelegenes Suitenhotel geben. Das ist mir allerdings zu weit. Also habe ich mir in der einzigen Pension in Grandson ein Zimmer reserviert. Es ist sehr schlicht, um es vornehm auszudrücken, aber es soll dort exzellente Wildgerichte geben. Außerdem hat es einen sehr netten Namen. Da konnte ich nicht widerstehen.«
Das L’Auberge du Cheval Blanc lag mitten im Ort, nur wenige Meter von jener alten Festung am See entfernt, die Karl der Kühne im Januar des Jahres 1476 mit fünfzehntausend Soldaten belagert hatte. Die Schweizer Verteidiger ergaben sich, wurden aber im Auftrag des Herzogs allesamt hingerichtet oder im See ertränkt.
Dass Sanjay sich diese einfache Pension ausgesucht hatte, zeigte Marie-Claire, dass der reiche Schmuckhändler aus Jaipur alles andere als kapriziös oder anspruchsvoll war. Das schlichte, dreigeschossige Haus mit den griechischblauen Fensterläden war für das kleine Örtchen Grandson sowohl Bar, Restaurant, Pension wie auch Feinkostladen. Und das Essen war tatsächlich exzellent. Eine Speisekarte gab es nicht, dafür aber eine Hausherrin, die sowohl Köchin als auch historisch bewanderte Gesellschaftsdame war. Wie sie den köstlichen Rehbraten mit Rotkraut und Knödeln so schnell herbeigezaubert hatte, gab sie nicht preis. Marie-Claire kam zu dem Schluss, dass es wohl das Mittagessen der Familie war, das ihnen da aufgetischt wurde.
Der Mittag in dem Gasthof verlief so unglaublich entspannt, dass Marie-Claire nicht glauben wollte, diesen Mann erst seit kurzer Zeit zu kennen, ihn erst ein einziges Mal, damals in Berlin, getroffen zu haben. Christiane schien von Sanjay maßlos begeistert zu sein. Ihre Blicke ließen keine Zweifel aufkommen, dass sie Sanjay anhimmelte, aber sie hatte Stil genug, es nicht zu deutlich zu zeigen. Ihr herzliches Lachen und ihre offene Art zu plappern trugen maßgeblich dazu bei, dass sie sich schnell die zweite Flasche Wein bestellten und sich in zwanglosen Plaudereien verloren. Dann ging Sanjay plötzlich zu seinem Wagen und kehrte mit einem kleinen Päckchen zurück.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Marie-Claire! Ich habe Ihnen als kleine Aufmerksamkeit ein Buch mitgebracht, das ich erst vor wenigen Tagen auf einer Auktion erwerben konnte. Es ist ein sehr altes Buch, mit vielen alten Wahrheiten, die so beständig sind wie Diamanten! Ich hoffe, es macht Ihnen viel Freude, darin zu lesen. Da Sie sicherlich Latein können, werden Sie danach vielleicht ein wenig besser verstehen, warum ich fest davon überzeugt bin, dass die wahre Bedeutung eines Edelsteins nicht in dem materiellen Wert, den ihm die Gegenwart beimisst, liegt, sondern in seiner Kraft und Energie aus der Vergangenheit.«
Gerührt von Sanjays Worten öffnete Marie-Claire das Päckchen. Ihr Atem stockte, als sie das offensichtlich sehr alte, leicht stockfleckige, aber noch in exzellentem Zustand befindliche Buch mit den herrlichen Holzdrucken aufschlug. Es war die Coronae Gemma Nobilissima des Wilhelmus E. Newheusern aus dem Jahre 1621. Ein philosophischer Exkurs über die Beziehung zwischen Planeten, Sternen, Edelsteinen – und dem Menschen. Es war eindeutig ein Original. Vorne eingelegt steckte ein zusammengefalteter Bogen Briefpapier. Sie öffnete ihn. Er trug Sanjays persönlichen Briefkopf mit seiner Anschrift in Jaipur. Unter seine liebevollen Geburtstagswünsche hatte er ein Zitat geschrieben:
Und also werden die Edelsteine
von Feuer und Wasser erzeugt,
deshalb haben sie auch Feuer und Wasser und
viele Kräfte und Wirkungen in sich …
»Physica« von Hildegard von Bingen (1098 – 1179)
Marie-Claire errötete. Sanjay lächelte sie an. Auch er schien ein wenig verlegen zu sein. Christiane versuchte zu verbergen, dass sie am liebsten heulen würde.
»Das kann ich nicht annehmen, Sanjay! Ich kenne dieses Buch nicht, aber ich ahne, wie unvorstellbar wertvoll es ist. Es muss Sie ein Vermögen gekostet haben!«
»Ja, Marie-Claire, es hat ein Vermögen gekostet. Aber eben nur eins. Und ich habe, Gott verzeihe mir diesen Hochmut, glücklicherweise noch genug von diesem Vermögen, das ich für das einzusetzen gedenke, was mich wirklich bewegt. Mein Verlangen, nicht-irdischen, mystischen Dingen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen, ist ungezügelt. Früher habe ich viel Geld für edle Pferde und für das Polospiel ausgegeben. Jetzt, da mein garstiges Bein mir zuweilen den Dienst versagt, gebe ich Geld für Gedanken aus, die andere Menschen in anderen Zeiten aufgeschrieben haben. Bücher sind meine neue Leidenschaft! Zumindest diese Leidenschaft scheinen wir bereits zu teilen. Ich hoffe, nein, ich weiß daher, dass Sie dieses Buch mit Respekt und mit der Bereitschaft lesen werden, Dinge zu erfahren, deren Sein wir nicht beweisen können. Aber ich ahne, dass Sie längst spüren, dass nicht im Beweis das Wissen um die Existenz liegt. Im Glauben, Marie-Claire, das haben mich schon in jungen Jahren meine Eltern und Großeltern gelehrt, liegt mehr Weisheit als im Wissen! Und deswegen freue ich mich schon heute auf den Tag, da Sie anfangen werden mir davon zu erzählen, was in diesem Buch geschrieben steht. Ich kann nämlich leider kein Latein.«
Es dauerte ein bisschen, bis Marie-Claire die rührenden Worte von Sanjay Kasliwal in ihrer ganzen Tragweite verstanden hatte. Nachdem sie das Restaurant verlassen hatten, fuhren sie an den See, um dort spazieren zu gehen. Erst dort wurde ihr bewusst, was Sanjay gesagt hatte: »Zumindest diese Leidenschaft scheinen wir bereits zu teilen …« Sie begriff, dass dies seine Art war, Hoffnung auszudrücken. Ohne Frage: Sanjay mochte sie sehr – und sie mochte ihn.
»Wissen Sie, Marie-Claire, dieser Abstecher an diesen See hat für mich eine tiefe Bedeutung. Ich war früher, während meiner Internatszeit in der Schweiz, noch nicht wissbegierig und weitsichtig genug, um zu erkennen, dass sich in diesem Teil Europas, hier um den Lac de Neuchâtel herum, so unendlich viele Berührungspunkte zu meinem Leben und zu dem meiner Vorfahren finden. Hier wurde abendländische Geschichte geschrieben, aber abendländische Geschichte war auch über viele Jahrhunderte untrennbar verbunden mit der Geschichte meiner Heimat – mit Indien.«
Marie-Claire blieb verwundert stehen und blickte Sanjay Kasliwal fragend an. Die Nachmittagssonne ließ ihre letzten wärmenden Strahlen über den See gleiten und brachte den dunklen Teint Sanjays besonders intensiv zur Geltung. Das sanfte Winterlicht ließ ihn ungemein gut aussehen. Seit sie das kleine Restaurant verlassen hatten, um nahe des Sees in den Auen spazieren zu gehen, nahm sie immer deutlicher wahr, dass er ein sehr attraktiver Mann war. Seine Attraktivität zeigte sich nicht in Äußerlichkeiten. Sie erwuchs aus der Einheit seines Charmes mit seinem Charisma und seiner unendliche innere Stärke signalisierenden Körperhaltung. Alles, was Sanjay war, kam von innen. Marie-Claire überkam eine wunderbare Ruhe, eine Ausgeglichenheit, die sie gehofft hatte hier in Grandson zu finden. Sie erschrak ein wenig, als sie an die zurückliegenden Wochen dachte. Drei Männer waren in kürzester Zeit in ihr Leben getreten. Gregor von Freysing hatte sie nach den Geschehnissen am Wörthersee zwar noch einmal angerufen. Indirekt hatte er eingestanden, dass er etwas überreagiert habe, aber für sie hatte es halbherzig geklungen. Die unüberbrückbare Kluft, die seit dem Wochenende am Wörthersee zwischen ihnen bestand, war am Telefon schnell spürbar geworden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich hinter der Fassade des charmanten und gebildeten Grandseigneurs in Wirklichkeit doch ein erzkonservativer Mann verbarg, dessen Lebenseinstellung so gar nicht mit ihrer eigenen in Einklang zu bringen war. Zudem irritierte sie nach wie vor seine undurchschaubare Verbindung zu den ultrakonservativen Rittern vom Goldenen Vlies. Sein plötzliches Desinteresse am Florentiner war ebenfalls verwunderlich. Angeblich hatten seine Auftraggeber ihn angewiesen, ab sofort jegliche Recherche über den Verblieb des Diamanten einzustellen. Man wollte sich von den kriminellen Geschehnissen um den Florentiner distanzieren. Marie-Claire fiel es schwer, ihm zu glauben. Nach diesem Telefonat hatte sich Gregor nicht mehr gemeldet. Auch von Abdel Rahman hatte sie seit ihrer gemeinsamen Nacht in Wien nichts mehr gehört. So überraschend, wie er in ihr Leben getreten war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Sie machte sich darüber seltsamerweise keine Gedanken mehr. Sein Versuch, das Buchmanuskript zu erwerben, war fehlgeschlagen. Wahrscheinlich war er deshalb längst wieder abgereist. Die Nacht mit ihr war für ihn offenbar nichts anderes als ein nettes Abenteuer gewesen. Nein, sie dachte nicht mehr an diese beiden Männer, schob die Gedanken an die Turbulenzen der letzten Zeit beiseite. Sanjay strahlte eine derart faszinierende Ruhe aus, dass sie am liebsten eine Mauer um sich herum gebaut hätte, um sich vor jeglichen irritierenden Einflüssen zu schützen. Gemeinsam mit Sanjay wollte sie diese Ruhe auskosten. Erneut spürte sie, dass dieses Verlangen keinerlei sexuellen Aspekte in sich barg.
Chrissie, einfühlsam wie sie war und so schwer es ihr wahrscheinlich gefallen war, hatte sich unter dem Vorwand, dass sie sich nicht wohl fühle, zum Schloss fahren lassen. Marie-Claire hätte sie dafür umarmen können. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie vernarrt Christiane in Sanjay war. Aber Chrissie hatte schnell erkannt, dass Marie-Claire sich danach sehnte, mit Sanjay alleine zu sein, und dass sie störte. Sie hatte für sich entschieden, jegliches Misstrauen gegenüber Sanjay Kasliwal fallen zu lassen. Während des Mittagessens war sie zu dem Schluss gekommen, dass er ihr in Berlin doch die Wahrheit erzählt hatte. Er reiste durch Europa auf der Suche nach antiken Büchern, nach alten Quellen – nach allem, was seine Neugier an den religiös-mythologischen Aspekten von Edelsteinen stillen konnte. Und er war von dem Wunsch beseelt, die drei Diamanten, die Tränen Gottes aus jener legendären Statue wieder nach Indien zurückzubringen.
Sanjay Kasliwal hatte mit seiner Arbeit als Schmuckhändler viel Reichtum angehäuft, aber dennoch schien Geld nicht das Wichtigste in seinem Leben zu sein. Darin schien er sich von seinem Bruder Pappu zu unterscheiden, von dem er soeben erzählte. Marie-Claire hatte Pappu Kasliwal damals in Berlin im Wintergarten des Hotels nur kurz zusammen mit Sanjay erlebt. Er hatte auf sie den Eindruck eines eher unscheinbaren Mannes gemacht. Lediglich sein unsteter, nervöser Blick war ihr aufgefallen. Allerdings hatte sie damals bereits das Gefühl gehabt, dass die beiden Brüder sich nicht besonders gut verstanden. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie zu haben schienen, war das Polospiel. Sanjay sah nachdenklich aus, während er über seine Familie in Indien und über sein Verhältnis zu Pappu sprach.
»Pappu ist anders als ich, Marie-Claire. Die Götter haben ihm die Gier als Bürde für sein Leben in die Wiege gelegt! Seine Geschäftsmethoden sind sehr umstritten. Er ist sehr egoistisch, oft auch skrupellos!«
»Sie mögen ihn nicht sonderlich, oder?« Marie-Claire hatte das Gefühl, solche Fragen stellen zu dürfen. Sie merkte, dass Sanjay über dieses Thema nicht gerne sprach, aber sie fühlte auch, dass es ihn belastete.
»Vieles von dem, was Pappu macht, ist mit dem Ehrenkodex meiner Familie nicht in Einklang zu bringen! Mein verstorbener Vater, die Götter mögen seiner Seele gnädig sein, hat Ehre über jegliches weltliche Verlangen gestellt. Er hat danach gelebt. So wie auch der Vater meines Vaters danach gelebt hat. Und er hat meinen Bruder und mich in diesem Geiste erzogen. Aber Pappu weiß nicht, was Ehre ist. Er wird gesteuert von einer grenzenlosen Gier nach Reichtum. Er lässt sich blenden von dem Glanz eines Diamanten. Das innere Feuer eines Edelsteins ist für ihn eine Flamme, die ihn verzehrt. Pappu liebt das luxuriöse Leben, liebt sündhaft teure Luxushotels, schnelle Autos und aalt sich in dem Ruf, der unserer Familie anhaftet, legendär reich zu sein. Ja, Pappu ist anders.«
»Streitet ihr euch deswegen?«, fragte Marie-Claire.
»Nein, nicht wirklich. Nicht mehr! Früher hatten wir öfters Auseinandersetzungen wegen geschäftlicher Belange. Er stellt den hohen Profit über die Zufriedenheit eines Kunden. Pappu würde dir einen Kieselstein als Edelstein verkaufen, wenn du selbst es nicht merken würdest. Ihm ist es egal, was Kunden denken. Er liebt es, Geld anzuhäufen.«
Sanjay blieb stehen. Er schaute nachdenklich zu den Alpen auf der anderen Seite des Sees. Dann lachte er laut.
»Pappu ist wie dieser Dagobert Duck, diese Comicfigur, die es liebt, auf Goldbergen zu sitzen, Dukaten zu scheffeln und sich Böses auszudenken, um noch mehr davon zu bekommen. Wenn Pappu diese legendäre Statue mit dem darin verborgenen Schatz besäße, er würde nicht ein einziges Karat davon an unser Volk abgeben. Pappu würde es einfach so sehen, dass dieser Schatz unseren Vorfahren gehörte – und damit auch ihm. Aber lassen wir das. Es ist ein unrühmliches Thema. Und es ist irrelevant. Die Statue wird wohl immer verschlossen bleiben. Zwei der drei Diamanten, zwei der Tränen Gottes sind weg – verschwunden. Die Göttin Sita scheint zu wissen, dass es nicht gut ist, wenn die Statue wieder geöffnet würde. Vielleicht spielt sie Pappu damit einen Streich.«
Marie-Claire blickte Sanjay fasziniert an. Obwohl es erst ihr zweites Zusammentreffen war, war er ihr unendlich vertraut. Er schien ebenso zu empfinden, denn er ließ sie an seinen tiefsten Empfindungen teilhaben. Sanjay war stehen geblieben und schaute Richtung Grandson. Marie-Claire folgte seinem Blick und versuchte, von den heiklen familiären Dingen abzulenken.
»Wie meinen Sie das eigentlich, Sanjay? Wieso gibt es Ihrer Einschätzung nach eine enge Verbindung zwischen den Geschehnissen hier am See und jenen in Ihrer Heimat?«
»Wenn Sie sich mit der Geschichte einiger der berühmtesten Schmuckstücke und Diamanten der Welt beschäftigen, Marie-Claire, stoßen Sie ausnahmslos auf berühmte Adelsgeschlechter Europas. Aber auch auf berühmte Handelshäuser. Sie werden in den Wappen dieser Häuser und Herrscher auffallend oft schwarzhäutige Menschen finden! Sie müssen sich vor Augen halten, dass sich der Reichtum und damit der Einfluss dieser Handelshäuser und der Aristokraten maßgeblich auf den Kontakt und den Handel mit dem Mohrenland begründete. Unter dem Mohrenland verstand man schon immer Afrika und das Morgenland, also auch Indien. Als die Portugiesen den Seeweg nach Afrika suchten, stießen sie, nach der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung, auf die ostafrikanischen Städte Mombasa und Malindi. Dort kamen sie dahinter, dass seit Jahrtausenden Schiffe zwischen Indien und Ostafrika verkehrten. Damit war der Seeweg von Europa über Afrika nach Indien entdeckt. Der Handel mit dem Mohrenland begann – und das machte nicht zuletzt Fugger, Welser und viele italienische Handelshäuser reich.«
Marie-Claire hörte ihm fasziniert zu. Warum er ihr all das erzählte und wo da ein Zusammenhang mit Grandson, mit dem Florentiner bestand, war ihr jedoch noch nicht klar.
»Sardinien hat zum Beispiel gleich vier Mohren in seinem Wappen. Korsika führt auch Mohren im Wappen. Der berühmte deutsche Bischof Otto von Freising hat sich das Recht, einen Mohren im Wappen zu tragen, mit seiner Teilnahme am zweiten Kreuzzug verdient. Und was ich erst seit einigen Tagen weiß, der neue deutsche Papst Ratzinger, also Benedikt XVI., hat links oben auch einen Mohren in seinem Wappen! Ist doch interessant, oder? Ein wenig vereinfacht ausgedrückt ließe sich also sagen: Die Verbindung des Abendlandes zum Mohrenland und auch die Kreuzzüge waren die wirtschaftliche Basis des unvorstellbaren Reichtums der europäischen Handels- und Herrscherhäuser. Und der Reichtum des Papstes begründet sich wohl auch darauf! Meine Heimat Indien gehörte zum Mohrenland, und in der Diktion der damaligen Zeit bin auch ich ein Mohr! Aus meinem Land stammen fast all jene Diamanten, die Karl der Kühne hier, genau hier, wo wir jetzt stehen, am Ufer des Lac de Neuchâtel, bei sich trug. Aus meinem Land stammen die berühmten ›drei Brüder‹, die Karl der Kühne besaß. Mein Bestimmung ist es, sie zu finden.«
Sanjay Kasliwal drehte sich um und blickte auf die Auen und die dahinter steil ansteigenden Hügel.
»Das da drüben ist das Kloster von La Lance. Und der Ort dort hinten ist wohl Concise. Somit, liebe Marie-Claire, stehen wir genau auf jenem Schlachtfeld, auf dem am 2. März 1476 die zwanzigtausend Soldaten von Karl dem Kühnen den achtzehntausend der Schweizer Eidgenossen gegenüberstanden. Genau hier, Marie-Claire, begann der Untergang des Burgundischen Reiches. Und genau hier hatte Karl der Kühne sein Lager aufgebaut. Als er von den Schweizern überrannt wurde, ließ er all seine Reichtümer zurück. Vierhundert Wagenladungen Beute machten die Schweizer, darunter unvorstellbare Schätze, Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Alles zusammen soll diese Beute damals eine Millionen Gulden wert gewesen sein! Sie wissen ja, Marie-Claire, dass Karl der Kühne eine ungewöhnlich pompöse Hofhaltung liebte. Er nahm seinen unermesslich wertvollen Schatz stets mit auf die Schlachtfelder. Wahrscheinlich weil er es gewohnt war, immer als Sieger von dannen zu ziehen. Zumindest bis zu jenem 2. März des Jahres 1476, dem Tag ….«
»… an dem er floh und dabei drei seiner wertvollsten Diamanten zurückließ: die legendären göttlichen drei Brüder – darunter jenen Diamanten, der später der Florentiner genannt werden sollte.«
Marie-Claire hatte Sanjay unterbrochen, um seine Ausführungen zu vollenden. Eine tiefe Ehrfurcht vor diesem so unglaublich gebildeten Mann überkam sie, aber auch eine eigentümliche Ehrfurcht vor dieser Wiese, auf der sie beide jetzt standen und sich zum ersten Mal, seit sie sich kannten, lange in die Augen schauten.
»Hat es eine große Bedeutung für dich, hier zu stehen?« Marie-Claire hatte ihn geduzt, weil sie das Verlangen hatte, ihre Gefühle deutlicher zu zeigen. Er registrierte es mit einem warmherzigen Lächeln.
»Ja, es ist ein sehr erhebendes Gefühl! An dieser Stelle fielen diese drei Edelsteine, die auf vielen Umwegen aus meiner Heimat Indien hierher gelangt waren, auf den Boden. Hier fand ein Bauer sie, wollte sie wegschmeißen, weil er sie für Glassteine hielt. Für drei Gulden wechselten sie schließlich ihren Besitzer, der größte von ihnen wurde viele Jahre später für fünftausend Gulden weiterverkauft …«
»… gelangte zu Lodovico Moro, dem Herzog vom Mailand …«
»… wurde für zwanzigtausend Gulden von Papst Leo X. erworben …«
»… und gelangte damit in den Besitz der Maria de Medici …«
»… die ihn ›Florentiner‹ nannte …«
»… Durch die Heirat von Franz Stephan von Lothringen-Toskana mit Maria Theresia von Österreich gelangte er nach Wien in die Schatzkammer …«
»… wurde von Marie-Antoinette mit nach Paris genommen …«
»… gelangte nach der Hinrichtung von Marie-Antoinette auf unbekannten Wegen in die Hände von Napoleon …«
»… und kehrte wieder zurück nach Wien, wo er im Jahre 1919 aus der Schatzkammer genommen wurde …«
»… und seither verschwunden ist!«
Marie-Claire und Sanjay blickten sich an. Ihre Augen strahlten. Die Sonne war während ihres Wortwechsels, der gegenseitigen Ergänzung ihres Wissens, untergegangen. Marie-Claire hatte das Gefühl, dass sich zwei Seelen gefunden hatten. Weder sie noch Sanjay hatten gezögert, ihr Wissen um den Florentiner miteinander zu teilen. Schon in Berlin waren sie so offen zueinander gewesen. Hier führten sie fort, was Sanjay damals ihre gemeinsame Vorsehung genannt hatte. Es war ein wunderbares Gefühl. Sie ergänzten und vertrauten sich. Grenzenlos!
»Und wo ist deiner Meinung nach der Florentiner jetzt?«, versuchte sie, verwirrt von ihren großen Gefühlen, abzulenken.
»Sita weiß es. Und Madame und Monsieur Ostier!«
Marie-Claire zuckte zusammen. Diesen Namen hatte sie schon einmal gehört. Nein, sie hatte ihn gelesen. Gestern hatte sie über den Namen hinweggelesen, weil er im Kontext mit all den anderen Informationen in den Tagebüchern des Alphonse de Sondheimer über den Verkauf der Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer keine Bedeutung für sie hatte. Aber jetzt erinnerte sie sich. Ostier! Ja, auf der handschriftlichen Zeichnung, die eher einer Skizze ähnelte, hatte oben links der Name Ostier gestanden. Es war eine Skizze, ganz offensichtlich von einem Experten angefertigt, die den Schluss zuließ, dass geplant war, den Florentiner zu zerschneiden. Von Ostier? Ihr sagte der Name nichts.
Marie-Claire traute sich nicht, nach dem Ehepaar zu fragen, und lenkte ab. »Wer ist Sita?«
Sanjay schien auf die Frage gewartet zu haben. »Wie du vermutlich weißt, bin ich Hindu. Wir bezeichnen unsere Religion als Sanatana Dharma, was so viel bedeutet wie ewige Ordnung. Gemeint ist damit eine kosmische, aber auch eine menschliche Ordnung. In dieser ewigen Ordnung gilt Sita als eine Göttin für Glück und Wohlstand. Im Epos Ramajana wird übrigens das Leben Sitas mit ihrem Mann Rama erzählt. Die Legende besagt, dass diese Göttin die drei aus der Statue entwendeten Diamanten mit einem Fluch belegt hat. Du erinnerst dich, ich hatte dir das damals in Berlin schon erzählt. Und das sind unsere göttlichen drei Brüder, der Große Sancy, der Kleine Sancy und der Florentiner. Hier, wo wir jetzt stehen, hat der Fluch dem Burgunder Karl dem Kühnen zum ersten Mal Unglück gebracht. Zwei Monate später erlitt er die nächste Niederlage in Murten. Ein knappes Jahr danach starb er vor den Toren von Nancy! Seither ziehen sich die Spuren dieses Fluchs der Göttin Sita, der auf den Steinen liegt, durch ganz Europa. Die Gier nach den göttlichen drei Brüdern hat bereits viele Menschen das Leben gekostet. Und noch immer streben Menschen danach, ihrer habhaft zu werden. Das Wissen, wo einer dieser Diamanten ist, kann tödlich sein.«
Marie-Claire hatte nicht wirklich zugehört, was Sanjay gesagt hatte. Zu sehr war sie mit dem Namen Ostier beschäftigt, aber sie fragte immer noch nicht nach.
»Glaubst du an solche Flüche?«
Sanjay atmete tief durch. »Ich mache mir keine Gedanken über das Glauben. Ich glaube! Im Zusammenhang mit Diamanten ist es wichtig, einen festen Glauben an das Überirdische zu haben. Es gab eine Zeit hier in Europa, da wurden viele Kopien von berühmten Edelsteinen aus Quarz hergestellt. Übrigens auch vom Florentiner! Die Menschen glaubten damals an die heilende Wunderwirkung der Quarze – nicht an den materiellen Wert eines echten Diamanten! Du siehst also, der wahre Glauben hebt materielles Denken auf. In meiner Heimat bringt man den Glauben an die göttliche Kraft der Diamanten in einen engen Zusammenhang mit dem Licht. Auch mit dem Licht der Erleuchtung. Du weißt, das innere Feuer eines Diamanten ist einzigartig. Sein Funkeln, das Chaos der Lichtblitze in seinem Inneren ist ein Wunder. In Indien sagen wir: Die völlige Abwesenheit von Licht ist Finsternis – nichts! Das höchste Licht ist das Eine – das Eine ist aber zugleich das erste Schöne – Lichthaftigkeit ist Schönheit. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, je lichthafter ist es, desto schöner ist es auch! All das eint sich in einem Diamant.«
Marie-Claire spürte, wie Sanjays Denken ihre eher wissenschaftlich-pragmatische Einstellung aushöhlte. Was er sagte, berührte sie tief, aber sie konnte sich jetzt nicht wirklich darauf konzentrieren. Zu sehr wühlte die Frage sie auf, wen er mit Ostier gemeint hatte. Sie glaubte, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu bemerken, als sie ihn schließlich fragte: »Und wer ist Ostier?«
Sanjays Augen bekamen einen eigentümlichen Glanz. Sein Blick war irritierend sanft, und sein Lächeln wirkte gequält.
»Wir haben heute wunderschöne Stunden miteinander verbracht, und wir haben uns gegenseitiges Vertrauen bewiesen. Das ist ungewöhnlich zwischen zwei Menschen, die sich kaum kennen. Aber vielleicht kennen wir uns ja schon. Von früher. Und da, wo es ein Früher gab, da wird es auch ein Später geben. In meiner Religion ist das so. Ich werde dir später erzählen, wer Madame und Monsieur Ostier waren. Sie leben beide nicht mehr. In mir lebt nur noch die Erinnerung an sie.«
Erschrocken stellte Marie-Claire fest, dass sie mit ihrer Frage zu weit gegangen war. Sanjay wirkte plötzlich abweisend. Er bat sie, zum Auto zurückkehren zu können. Angeblich fror er. Sie glaubte ihm nicht.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, das hast du nicht. Nichts von dem, was du sagst, kann falsch sein, denn es kommt tief aus deinem Inneren. Alles ist in Ordnung. Es ist nun einmal deine Aufgabe, den Florentiner zu suchen. Ich suche ihn auch. Wo die beiden Sancys derzeit sind, wissen wir nicht. Du bist beruflich daran interessiert, das zu ergründen, versuchst, diese Edelsteine zu finden. Oder zumindest dazu beizutragen, dass sie gefunden werden. Damals in Berlin habe ich dir schon gesagt, dass ich glaube, dass die göttliche Fügung uns einen wird. Deshalb verstehe ich auch, dass du wissen möchtest, wer sich hinter dem Namen Ostier verbirgt. Nein, alles ist in Ordnung, Marie-Claire. Ich bin nur sehr müde und würde mich gerne ein wenig auszuruhen. Wenn ich nicht zu sehr störe, können wir uns zum Abendessen in eurem Schloss treffen. Ich würde gerne das Zimmer sehen, in dem Karl der Kühne einst nächtigte.«
Gegen fünf Uhr am Abend erreichten sie Schloss Vaumarcus. Während Sanjay ins Tal fuhr, stieg Marie-Claire die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Die ganze Zeit über war sie das Gefühl nicht losgeworden, dass sich ein Schatten über Sanjays und ihr Verhältnis zueinander gelegt hatte. Misstraute er ihr? Sie betrat das Zimmer Charles le Téméraires. Christiane saß vor dem Kamin und las.
»Hallo, Glücksgöttin! Komm bloß nicht auf die Idee, mir jetzt von romantischen Spaziergängen am See zu erzählen! Dann stürze ich mich nämlich aus dem Fenster vor Eifersucht! Ist das ein Mann! Für den schmeiße ich alles hin! Ich reiße mir die Kleider vom Leib und offeriere mich als seine treue Dienerin, wenn es sein muss. Ohne Fragen zu stellen. Seit heute weiß ich, dass es diese Märchenprinzen aus dem Morgenland wirklich gibt. Mein Neid ist mit dir, meine Liebe! Also sei gewarnt: Wenn du den vergraulst, werfe ich mich ihm sofort an den Hals – wenn er mich denn haben möchte.«
Marie-Claire musste lachen. Chrissie meinte all das sehr ernst. Ohne auf ihre Bemerkungen einzugehen, suchte Marie-Claire ihr Handy, das sie im Zimmer hatte liegen lassen. Sie fand es im Bett.
»Ach übrigens«, wandte sich Christiane nochmals an sie, »seit mehr als zwei Stunden klingelt das Ding da im Abstand von zehn Minuten. Vielleicht ist es dein Lover aus Marrakesch. Oder der reumütige Gregor! Mein Gott, deine Sorgen möchte ich auch mal haben. Gleich drei Männer …«
Als Marie-Claire de Vries auf ihr Handy schaute, zeigte die Uhr auf dem Display drei Minuten nach fünf an. Laut Anrufspeicher war der letzte Anruf vor einer Viertelstunde eingegangen. Es war eine Wiener Nummer, die sie nicht kannte. Ihr Interesse galt jedoch im Moment einzig diesem geheimnisvollen Namen Ostier. Sie schaltete den Laptop ein und wählte sich über das Handy ins Internet ein. Es dauerte lange, bis sie über die Kombination mehrerer Suchbegriffe fündig wurde. War das eine neue heiße Spur? Zeichnete sich hier ab, was mit dem Florentiner geschehen war, nachdem der österreichische Kaiser den Diamanten mit 1,2 Millionen Franken beliehen hatte und das Geld nicht hatte zurückzahlen können, weil er nach Madeira verbannt worden war? Wer hatte diesen wertvollen Diamanten als Sicherheit erhalten? Und was war dann mit ihm geschehen? War der Name Ostier der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Ein Schlüssel, der vielleicht sogar dazu führen konnte herauszufinden, wer den Florentiner heute besaß? Hatte Sanjay deswegen gezögert, ihr mehr über diese Ostiers zu sagen?
Marie-Claire merkte, dass sie aufgeregt war. Hastig überflog sie die wenigen Fundstellen und die Querverweise im Internet, die sie nach der Eingabe von »Ostier + Juwelier« erhalten hatte. Ihr Herz pochte schnell. Der Name Ostier war selten. Dann erstarrte sie. Da gab es eine Marianne Ostier, zweite Ehefrau des Wiener Juweliers Otto Österreicher. Er hatte ein Geschäft im ersten Bezirk von Wien, Graben 7 gehabt – nur wenige Schritte von der Hofburg und von der Schatzkammer entfernt! Und er war in dritter Generation Hofjuwelier gewesen! Also ein auserwählter Juwelenhändler mit direktem Zugang zur Hofburg – zur österreichischen Kaiserfamilie! Er war Jude, der sich aus Angst vor den Nationalsozialisten in Oliver Ostier umbenannt hatte und später nach New York ausgewandert war, wo er das Schmuckgeschäft »Ostier Jewelleries« eröffnet hatte. Glaubte man den Informationen im Internet, zählten extrem wohlhabende Schmucksammler zu seinen Kunden. Seine Frau, Marianne Ostier, hatte 1958 sogar ein Buch mit dem Titel Jewels & Women veröffentlicht. Und 1969 gab sie das Buch Collection of Jewellery designed by Marianne Ostier heraus.
Marie-Claire entfuhr ein lautes »Unglaublich!« Marianne Ostier galt bis Ende der fünfziger Jahre als eine renommierte Schmuckdesignerin, deren außergewöhnlich schöne und wertvolle Schmuckstücke nach ihrem Tode sogar versteigert worden waren! Bei Christie’s!
Das war es! Kein Zweifel. Diese Marianne Ostier – und wohl auch ihr Ehemann – waren höchstwahrscheinlich der Weg zur Wahrheit um das Verschwinden eines der berühmtesten Diamanten der Welt. Ostier war Hofjuwelier in Wien und ein anerkannter Schmuckexperte gewesen. Er hatte direkten Kontakt zum Kaiserhaus gehabt – und hatte mit Sicherheit den Florentiner gesehen. Dieser Ostier – oder war es seine Frau Marianne? – würde nie einen solch wertvollen und berühmten Edelstein in mehr oder minder wertlose, geschichtslose Teile zersägen. Nein, das würden Schmuckliebhaber niemals tun. Ohne Frage: Hier tat sich eine Sensation auf. In der Welt der Edelsteinliebhaber und -händler wäre es die aufsehenerregendste Entdeckung seit Jahrzehnten, wenn die Spur dieses Edelsteins lückenlos nachgewiesen werden könnte. Und für Christie’s wäre es eine noch größere Sensation … Plötzlich war sie sich sicher, dass Sanjay Kasliwal das wusste. Er musste das wissen. Er war ein absoluter Kenner des Edelsteingeschäfts. Ihm konnte nicht entgangen sein, dass es eine direkte Verbindung zwischen dem Florentiner und den Ostiers gab. Aber woher wusste Sanjay das? Wusste er von dem Manuskript von Alphonse de Sondheimer, hatte er es gelesen oder gar besessen? Er musste die Zeichnung gesehen haben. Jene Skizze, die offensichtlich von einem Experten angefertigt worden war als Plan für die Zerteilung des Florentiners. Stammte sie von Marianne Ostier? Wenn ja, dann wäre das der erste Beweis dafür, dass der Florentiner zirka 1960 noch existiert hatte. War der Florentiner dieser Skizze entsprechend in zwei Teile zerschnitten worden, oder hatte die Designerin davon abgesehen, weil sie beziehungsweise ihr Mann einen Abnehmer für den hundertsiebenunddreißigkarätigen Diamanten gefunden hatten? Wahnsinn, Marie-Claire de Vries, Expertin des Auktionshauses Christie’s, war auf dem besten Wege, eine sensationelle Entdeckung zu machen! Ihre Gedanken überschlugen sich. Der Florentiner war zwar im Jahre 1920 in Genf verschwunden, aber es gab ihn wahrscheinlich noch! Daher war sie sich nun absolut sicher, dass der im Jahre 1981 im Versteigerungskatalog von Christie’s auf Position siebenhundertzehn angebotene Diamant tatsächlich der Florentiner gewesen war. Irgendjemand wollte ihn verkaufen, hatte dann aber die Offerte kurzfristig zurückgezogen. Bislang hatte sie sich noch nicht mit den Versteigerungsdetails von damals beschäftigt. Sie lagen im Zentralarchiv in London in einem Tresor. Nur wenige Auserwählte hatten Zugang zu diesem Tresor, in dem Details zu Anbietern und Käufern archiviert wurden. Wer immer dort nachforschte, musste sich die Genehmigung des Board of Directors einholen und begründen, warum er gewisse Details wissen wollte. Zudem musste eine besondere Geheimhaltungserklärung unterschrieben werden. Kundennamen und alle Angaben zu ihnen waren die sensibelsten Daten bei Christie’s. Damit ging man extrem vorsichtig um. Für ihren Rechercheauftrag zum Florentiner hatte sie eine solche Genehmigung erhalten. Lustigerweise Francis Roundell selbst nicht! Er war zwar Sicherheitschef, aber die Direktoren waren stets bestrebt, die Zahl der Zugangsberechtigten überschaubar zu halten. In diesem Fall hatte man argumentiert, dass Roundell über den Bericht von Marie-Claire de Vries alle erforderlichen Informationen erhalten würde. Sie alleine war berechtigt, die Akte der damaligen Versteigerung einzusehen. Und sie zeichnete daher verantwortlich für die Geheimhaltung der sensiblen Kundendaten. So war das Gesetz des auf eine exzellente Reputation angewiesenen Auktionshauses.
Wer also hatte 1981 diesen Diamanten angeboten? Und das Angebot dann wieder zurückgenommen? Warum war der Florentiner nie zur Versteigerung gelangt? Konnte Gregor von Freysing ihr diese Frage beantworten? Oder Abdel Rahman? Oder wusste Sanjay Kasliwal, was damals geschehen war? Wusste der Inder, wo der Florentiner jetzt war? Wenn ja, warum gab er dann vor, ihn zu suchen? Das Handy klingelte und riss sie aus ihrer Begeisterung und Aufgeregtheit heraus. Missmutig schaute sie auf das Display. Es war wieder diese Wiener Nummer, die ihr nichts sagte.
»Jetzt geh schon ran«, flüsterte Christiane ihr zu und kicherte. »Vielleicht ist es ja Abdel Rahman! Oder Gregor. Die warten auf dich in Wien! Dann kannst du mir ja den Inder überlassen …«
Marie-Claire nahm das Gespräch an. Sie erkannte die Stimme sofort. Es war Christoph, Cathrines Mann. Sie hatte lange nichts von ihm gehört und noch länger nicht mit ihm gesprochen. Sie mochten sich nicht. Und ganz offensichtlich mochte Cathrine ihn auch nicht mehr.
Bevor Marie-Claire sagen konnte, dass sie sehr beschäftigt sei und nicht mit ihm sprechen könne, schlug ihr ein wahrer Wortschwall entgegen. Christoph war sehr aufgeregt. Seine Stimme überschlug sich beim Sprechen. Während sie den Worten ihres Schwagers zu folgen versuchte, liefen ihr plötzlich Tränen über die Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper. Das Handy fiel ihr aus der Hand. Christiane sprang erschrocken auf.
»Um Himmels willen, was ist denn los? Warum weinst du? Du zitterst ja am ganzen Körper! Jetzt sag schon.«
»Das war der Mann meiner Schwester. Er ist völlig aufgelöst. Cathrine ist weg – verschwunden! Er sagt, sie habe ihn völlig überstürzt verlassen, hat nur den Pass mitgenommen, ist mit einem Araber weggeflogen – nach Marrakesch.«