172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

19. Kapitel

Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann wusste nicht, was er tun sollte. Seinem italienischen Kollegen Gianfranco Moreni ging es nicht anders. Die beiden Interpol-Beamten saßen auf der Dachterrasse eines Cafés am Djema el Fna in Marrakesch und starrten schon seit geraumer Zeit auf das bunte Treiben unten auf dem Marktplatz. Die untergehende Sonne strahlte das quadratische Minarett der nahen Kutubiya-Moschee an, des im 12. Jahrhundert erbauten Symbols der machtvollen Ausdehnung des Almohadenreiches. Die goldenen Kugeln auf dem Dach der Moschee reflektierten die Sonnenstrahlen. Unten auf dem Marktplatz herrschte reges Treiben. Zwischen den Ständen der Obst- und Gemüseverkäufer drängten sich Menschenmassen. Verhüllte muslimische Frauen in ihren traditionellen langen Kleidern, aber auch junge Mädchen in kurzen Röcken gingen von Stand zu Stand. Das allgegenwärtige Nebeneinander von Tradition und Moderne gefiel Kleimann an Marrakesch. Hier, unmittelbar an den Souks der Altstadt gelegen, auf dem »Platz der Gehängten«, auf dem früher Rechtsbrecher öffentlich hingerichtet wurden, zeigte sich der Facettenreichtum dieser Oasenstadt am Fuße des schneebedeckten Hohen Atlas. Hier prallten lärmend und farbenprächtig mehrere Welten aufeinander: Wasserverkäufer mit riesigen Messingbehältern auf dem Rücken, ausstaffiert mit roten Pluderhosen, den Kopf bedeckt mit breitkrempigen Hüten, versuchten zu verkaufen, was in diesen Dezembertagen bei kaum mehr als achtzehn Grad niemand brauchte; Hökerer und Quacksalber, Schlangenbeschwörer und Geschichtenerzähler zogen die Marktbesucher in ihren Bann. Akrobaten wirbelten durch die Lüfte und beeindruckten ihre Zuschauer mit waghalsigen Flickflacks; der Geruch und Rauch der unzähligen Garküchen hing über dem Geschehen. Das war das traditionelle, farbenfrohe und sehr exotische Marokko, von dem er anfänglich geglaubt hatte, es werde nur für Touristen aufrechterhalten. Doch sein marokkanischer Kollege Khalid Semouri hatte ihm glaubhaft versichert, dass dies keine aufgesetzte Touristenshow, sondern marokkanischer Alltag sei. Ein Alltag, zu dem die Repräsentanten des Maroc Nouveau ebenso gehörten. Die gestylten jungen Männer ließen ihre auf Femme fatale zurechtgemachten Freundinnen in den bauchfreien Jeans mit Vorliebe direkt vor den Cafés rund um diesen Platz vor den Augen der greisen Marktweiber aus den sündhaft teuren Kabrioletts steigen. Es war ein faszinierender Platz, und wann immer es ihm möglich war, ging er von seinem nahe gelegenen Hotel aus hierher, um auf dieser Dachterrasse zu sitzen und das bunte Treiben zu beobachten. Ja, diese Stadt gefiel ihm. Sie sprühte vor Leben. Die zehn Kilometer lange, in der Morgen- und Abendsonne ockerfarben erstrahlende Stadtmauer umringte und behütete eine Welt, die nach anderen als im nahen Europa geltenden Gesetzen zu funktionieren schien.

Heute aber stand Bernhard Kleimann absolut nicht der Sinn nach den architektonischen und kulturellen Schönheiten dieser alten und doch auch so modernen Stadt. Er war zutiefst beunruhigt. Nur widerwillig gestand er sich ein, dass die Operation Mraksch völlig aus dem Ruder lief. Sein italienischer Kollege und er hatten sich daher nach dem heutigen Meeting mit den marokkanischen Kollegen hierhin zurückgezogen, um die Situation realistisch zu bewerten. Realistisch hieß in diesem Falle, dies ohne marokkanische Geheimdienstleute und Polizisten zu tun. Denn die, darüber war er sich ebenso im Klaren wie Gianfranco Moreni, kochten ihr eigenes Süppchen. Zwar waren die Kollegen immer sehr nett, vermeintlich kooperativ und letztendlich auch sehr effizient. Aber Effizienz à la Maroc, so hatte es Gianfranco vor einer halben Stunde so treffend wie auch zynisch umschrieben, »… heißt nicht, Probleme nach demokratischen, rechtsstaatlichen Prinzipien und mit kriminalistischer Perfektion zu lösen – sondern sich bei Problemen der Schusswaffe zu bedienen.«

Damit hatte er die seltsamen Todesumstände des italienischen Kommissars Carlo Frattini gemeint. Offiziellen Verlautbarungen der marokkanischen Behörden zufolge war der Sohn des im Palazzo Pitti umgekommenen Museumswärters von unbekannten Tätern auf offener Straße überfallen, durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe getötet und seines Fahrzeugs beraubt worden. Am helllichten Tag und auf einer belebten Hauptstraße. Das war die marokkanische Version, die von höchster Stelle in Rabat sogar dem italienischen Außenministerium in Rom »mit Bedauern« übermittelt worden war. Dass Gianfranco Moreni als altgedienter Kriminalist und langjähriger Leiter der Mordkommission in Palermo sehr wohl den Unterschied zwischen einem Schuss aus einer Handfeuerwaffe aus nächster Nähe und einem Schuss aus einem Gewehr mit kleinkalibriger Highspeed-Munition kannte, schienen die marokkanischen Kollegen nicht einmal in Erwägung gezogen zu haben, als sie Moreni erlaubt hatten, die Leiche des toten Commissario zu identifizieren. Seither war dieser sehr erregt, was noch immer nicht zu überhören war.

»Bernardo, ich weiß nicht, ob ich lieber schreien oder schweigen soll! Die haben Carlo Frattini liquidiert, glaub es mir! Die Leiche hatte einen Einschuss im Kopf, die zweifelsfrei erkennen ließ, dass der Schütze von einer erhöhten Position aus geschossen hat. Der Schusskanal lief von oben in der Schläfe nach unten zum Wangenknochen auf der anderen Seite des Gesichts. Vorne ein kleines Loch. Hinten ein kleines Loch. Typisch für kleinkalibrige Hochgeschwindigkeitsmunition – die übrigens international verboten ist. Nur Killer verwenden diese Munition! Nix da, Schuss aus nächster Nähe! Die haben ihn liquidiert. Und damit war das Problem des rachelüsternen Polizisten aus Italien gelöst. Die scheren sich um nichts, die lösen hier Probleme anders. Und so werden sie auch weiterhin agieren!«

Bernhard Kleimann schwieg betroffen. Er wusste, dass sein italienischer Kollege Recht hatte. Er wusste aber auch, dass es nichts brachte, den mysteriösen Tod von Carlo Frattini an die große Glocke zu hängen. Öffentlichkeit war das Letzte, was man in diesem sensiblen Fall gebrauchen konnten. Niemand in Rom und Lyon wusste so genau, was um Carlo Frattini herum geschehen war. Spielraum für abstruse Vermutungen gab es genug. Was hatte der Sohn des toten Museumswächters in Marrakesch gemacht? Wieso hatte er seine gesamten Ersparnisse zusammengekratzt, um diese Reise finanzieren zu können? Stand sein Tod etwa im Zusammenhang mit dem zweier Marokkaner, über den die hiesigen Medien berichtet hatten? Der Einzige, der dazu etwas hätte sagen können, war tot.

»Wir werden kaum Antworten auf unsere Fragen bekommen«, versuchte Bernhard Kleimann seinen italienischen Kollegen ein wenig zu beruhigen. »Es ist eine heikle Sache. Die Marokkaner sind ohnehin nicht gerade hoch erfreut, dass wir von Interpol hier mit dabei sind. Die wären froh, wenn sie die ganze Sache alleine regeln könnten. Aber die neusten Entwicklungen haben den marokkanischen Sicherheitsbehörden auch gezeigt, dass sie uns brauchen. Das ist alles so verflucht verworren, dass auch ich ehrlich gesagt nicht mehr weiß, wie ich damit umgehen soll. Was, zum Teufel, macht diese Marie-Claire de Vries jetzt plötzlich hier in Marrakesch? Ich verstehe das nicht!«

Gianfranco Moreni schien sich dazu durchgerungen zu haben, nicht mehr über den Tod seines Kollegen Frattini nachzudenken. Bevor er antwortete, schaute er sich allerdings auffällig misstrauisch um, ob in ihrer unmittelbarer Nähe noch andere Zuhörer saßen. Leise sagte er dann: »Auch wenn ich diesen Typen hier bei den Behörden nicht so recht traue, so gehe ich doch davon aus, dass sie in der Lage sind, Passdaten richtig zu lesen. Es war Marie-Claire de Vries! Diese Mitarbeiterin von Christie’s ist hier in Marrakesch angekommen. Zusammen mit Abdel Rahman, alias Faisal Ben Ait Haddou – alias Jilani Rezaigui. Sie sind von Wien über Casablanca nach Marrakesch geflogen. Laut Oberst Semouri sitzen die beiden seit gestern in einer Wohnung auf der anderen Seite des Golfclub-Hotels, in einer der Eigentumswohnungen, die zum Reitclub gehören. Raffiniert ausgesucht, diese Verstecke! In der riesigen Anlage herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Da fallen Fremde nicht auf. Man hat zwei Wohnungen auf dem gleichen Terrain – mit unterschiedlichen Zufahrtsstraßen und vielen Fluchtmöglichkeiten! In der einen sitzen die Leute fürs Grobe, die Handlanger, in der anderen wohnt der Anführer. Sie werden nie zusammen gesehen, obwohl sie nur knapp fünfhundert Meter voneinander entfernt sind. Aber jetzt wissen wir zumindest, wo sich Abdel Rahman versteckte! Und Marie-Claire de Vries ist ebenfalls dort. Ich hoffe nur, dass diese Wohnung auch das Versteck für die beiden geraubten Diamanten ist.«

»Ich glaube schon«, antwortete Bernhard Kleimann. »Abdel Rahman hat sich extrem konspirativ verhalten, als sie zu dieser Wohnung gefahren sind. In einem der abgehörten Telefonate hat er eine Formulierung verwendet, aus der man schließen kann, dass er die beiden geraubten Diamanten hier hat. Allerdings verstehe ich nicht, warum diese Marie-Claire jetzt hier auftaucht. Ist sie denn eine Komplizin? Auf jeden Fall hat sie ein Verhältnis mit diesem Araber. Die Kollegen in Wien haben die beiden auf dem Weihnachtsmarkt beobachtet. Am nächsten Morgen kam er aus ihrer Wohnung. Jetzt ist sie plötzlich hier, obwohl sie doch in die Schweiz hatte fliegen wollen. Das ist schon alles sehr verworren! Ich verstehe auch nicht so ganz, wieso Francis Roundell hier bald auftauchen wird. Das ist für ihn sehr risikoreich! Die abgehörten Telefongespräche sind aber eindeutig. Er kommt her! Und, ehrlich gesagt, Gianfranco, ich freue mich schon auf den Moment, wenn ich Francis hochnehmen kann. Er ist ein Saukerl. Er hat versucht, mich, als seinen alten Freund und Kollegen, für seine dreckigen Spielchen zu missbrauchen, die er vermutlich schon seit Jahren treibt. Er als Sicherheitschef bei Christie’s hat die besten Kontakte. Er sitzt mittendrin in der Schmuck- und Kunstszene. Niemand wäre doch auf die Idee gekommen, dass er sein Wissen für krumme Geschäfte nutzt. Daher sehne ich mich regelrecht nach einem Wiedersehen. Ich kann nur hoffen, dass die Marokkaner nicht wieder eigene Wege gehen, ohne uns darüber zu informieren. Die sind seit den Anschlägen von Casablanca so paranoid, was Terroristen betrifft, dass sie am liebsten alles abknallen, was ihnen diesbezüglich Probleme bereiten könnte. Die scheren sich einen Dreck um rechtsstaatliche Spielregeln.«

»Wobei wir ja nun ziemlich sicher wissen, dass dieser Jilani oder Abdel oder Faisal kein Terrorist ist. Das ist ein schnöder Krimineller, ein Handlanger für die Geschäfte von Francis Roundell. Er ist der Kopf der Bande. Und Abdel Rahman ist seine rechte Hand. Der erledigt die Drecksarbeit für Geld.«

»Von dem er aber die Hälfte seinem terroristischen Bruder in Granada zukommen lässt«, unterbrach Bernhard Kleimann.

»Und der hat nun mal ganz eindeutig Kontakt zu den Hintermännern der Terroranschläge von Casablanca und Madrid! Ich wäre also mit meiner Einschätzung, dass er kein Terrorist ist, etwas vorsichtig, lieber Kollege.«

Hauptkommissar Bernhard Kleimann hielt inne. Gedankenversunken schaute er hinunter zum Djemaa el Fna. Touristen schoben sich in kleinen Grüppchen über den Platz. Leise sprach er weiter: »Der Bruder von Abdel Rahman ist ein Puzzleteil, das ich ebenfalls noch nicht so ganz einordnen kann. Er ist ohne Frage eine wichtige Figur innerhalb dieses Netzwerkes islamistischer Fundamentalisten. Unsere Nachrichtendienste tun sich zwar ziemlich schwer, uns Informationen zu liefern, weil es natürlich wieder einmal um politische Rücksichtnahmen und um das leidige Thema Quellenschutz geht. Wahrscheinlich aber ist der Bruder sogar für die Finanzierung aller Aktivitäten der spanischen Zelle dieser Terrorgruppe verantwortlich. Was Francis Roundell betrifft, so wissen wir nach dem derzeitigen Stand unserer Ermittlungen lediglich, dass diese Terrorgruppierung ihn logistisch und personell in seinen kriminellen Aktivitäten unterstützt. Roundell plant die Coups, lässt sie von den Leuten um Abdel Rahman ausführen – und die kassieren dafür dann Geld, mit dem sie ihre terroristischen Ziele finanzieren. So einfach ist das. Francis Roundell können wir aber deswegen eine Zugehörigkeit zu den Terroristen ebenso wenig nachweisen wie Abdel Rahman. Ich glaube eher, dass sich da eine unheilvolle Allianz aufgetan hat. Was ja nichts Neues ist.«

»Absolut nicht«, bestätigte Gianfranco Moreni die Einschätzung seines Kollegen. »Solche Kooperation gibt es immer wieder. Sogar die Mafia lieferte in der Vergangenheit immer wieder Waffen an Terrorgruppierungen. Und zwar weltweit. Deswegen ist ein Mafioso aber noch kein Terrorist. Die machen Geschäfte mit allen, die gut bezahlen. Ich pflichte Ihnen allerdings bei, dass es sich hier um eine höchst brisante Kooperation zwischen Terroristen und Kriminellen handelt. Viele spektakuläre Kunstdiebstähle der Vergangenheit müssen unter diesen Aspekten noch einmal neu aufgerollt werden. Wer weiß, wo Roundell seine Finger sonst noch drin hatte. Er scheint immer nach demselben Muster vorzugehen: Erst lässt er berühmte Kunstgegenstände von seinen terroristischen Helfern stehlen. Dann bietet er den Versicherungen an, die geklauten Kunstgegenstände zurückzuholen, was ihm ja nicht schwer fällt. Und hinterher kassiert er wahnwitzige Belohnungen von der Versicherung! Wahrscheinlich ist das mit den beiden Schmuckstücken von Bayern und Florenz auch so geplant.«

Bernhard Kleimann schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Es bleibt dennoch offen, was es mit diesem Florentiner auf sich hat, von dem Marie-Claire de Vries dauernd spricht. Die abgehörten Telefonate sind diesbezüglich nicht sonderlich aufschlussreich. Erstaunlich ist aber, dass Abdel Rahman irgendwie auch was mit diesem Florentiner zu tun hat. Er taucht letztendlich immer da auf, wo Marie-Claire de Vries ist. Und immer führt die Spur zu Roundell. Dieser Florentiner-Diamant ist meines Wissens seit ungefähr 1920 verschwunden. Also, wieso wird er so intensiv gesucht? Was hat der Florentiner mit den beiden Sancys zu tun? Hat er was damit zu tun? Das alles passt nicht richtig zusammen. Und ich muss mich wiederholen: Warum ist Marie-Claire de Vries in Marrakesch?«

»Warten wir’s ab«, unterbrach ihn der italienische Beamte.

»Die marokkanischen Kollegen haben die Wohnung im Hotel Palmeraie verwanzt. In Abdel Rahmans Wohnung war das bislang nicht möglich, weil er sie nie verlässt. Vielleicht ist er zu intensiv mit dieser Marie-Claire beschäftigt. Auf jeden Fall sind alle Telefone jetzt angezapft. Rahmans Handy sollte jetzt ebenfalls abgehört werden, auch wenn das technisch ein wenig komplizierter ist. Aber ab Mittag hören wir mit! Vielleicht sind wir bald etwas klüger. Wenn Francis Roundell tatsächlich kommen sollte und sich auch nur annähernd abzeichnet, dass die beiden gestohlenen Diamanten hier in Marrakesch sind, sollten wir auf jeden Fall zugreifen. Wir müssen zugreifen! Es geht schließlich nicht nur um zwei Diamanten, sondern auch um Mord. Wobei ich wirklich hoffe, dass die Marokkaner bei dem Zugriff nicht wieder den Weg der verbrannten Erde wählen und alles liquidieren, was nicht schnell genug die Hände gen Himmel streckt.«

*

Marie-Claire de Vries war verzweifelt. Sie wollte weinen, traute sich aber nicht. Der feste Griff des arabisch aussehenden Mannes tat ihr weh. Seine Fingernägel gruben sich in ihren Unterarm ein. Sie verstand noch immer nicht, warum er sie so brutal behandelte. Dann kamen zwei Polizisten. Sie lächelten freundlich. Ihre Schweizer Uniformen wirkten beruhigend. Marie-Claire ging davon aus, dass sich dieses Missverständnis schnell klären würde.

Der Flughafen von Zürich war zu dieser späten Abendstunde fast menschenleer. Um sie herum hatte sich jedoch am Kontrollschalter für die Boarding Cards eine kleine Gruppe Neugieriger versammelt. Die Gaffer tuschelten. Das Wort Terroristin fiel. Ihr Blick wanderte zur Uhr an der Wand über den Hinweistafeln für den Abflug. In einer Stunde ging ihre Maschine nach London. Es war der letzte Flug nach London an diesem Abend, und sie musste ihn unbedingt erreichen. Das Leben von Cathrine hing davon ab.

»Was ist hier los?«, fragte einer der beiden Polizist barsch. Der Kontrolleur für die Boarding Cards, der Marie-Claire noch immer am Arm festhielt, tat sehr stolz.

»Der Name im Pass dieser Frau ist nicht identisch mit dem Namen, der auf ihrer Boarding Card steht. Sie ist mir aufgefallen, weil sie so nervös ist. Deswegen habe ich sie festgehalten. Da stimmt etwas nicht!«

»Bitte Ihren Ausweis, Madame! Die Boarding Card und das Ticket«, forderte der Polizist sie auf. Marie-Claire war sprachlos. Sie verstand überhaupt nicht, um was es ging. Was sollte denn mit ihrem Pass nicht stimmen? Sie war doch mit dem gleichen Pass vor drei Tagen zusammen mit Chrissie von Wien nach Zürich geflogen.

»Impossible!«, zischte sie und hielt dem Polizisten die gewünschten Dokumente hin. Sie zitterte. Der Polizist sah es. Mürrisch blätterte er in dem Pass, schaute Marie-Claire an, prüfte die Boarding Card, schaute auf das Flugticket und blickte ihr schließlich misstrauisch in die Augen.

»Vous êtes Madame de Vries? Madame Cathrine de Vries?«

Aufmerksam betrachtete er die Frau, die vor ihm stand. Sie war auffallend hübsch, mit langen blonden Haaren, sie wirkte sehr gepflegt und war modern gekleidet. Außer einer kleinen Handtasche und einem Laptop hatte sie kein Gepäck bei sich. Da auf dem Ticket kein Gepäckkontrollsticker zu sehen war, ging er davon aus, dass die Frau nur mit Handgepäck unterwegs war. Das kam ihm seltsam vor. Sie hatte laut Ticket noch ein lange Reise vor sich. Das Ticket war erst vor einer Stunde hier am Flughafen gekauft und mit einer Kreditkarte bezahlt worden. Die Boarding Card galt für den Abendflug von Zürich nach London Heathrow. Für den nächsten Tag war ein Flug von London nach Casablanca und weiter nach Marrakesch gebucht. Und das alles ohne Koffer, ohne Kleidungsstücke? Hier stimmte tatsächlich etwas nicht. Augenscheinlich war diese Frau optisch identisch mit der abgebildeten Person in dem österreichischen Reisepass, den er in der Hand hielt. Der Pass schien auch echt zu sein. Er war etwas abgegriffen und voller Stempel aus aller Welt. Doch auf dem Ticket der British Airways stand ein anderer Name, zumindest ein anderer Vorname. Im Pass hieß diese Frau Cathrine de Vries. Auf allen anderen Dokumenten hieß sie seltsamerweise aber Marie-Claire de Vries. Als er ihr das zeigte, wurde die Frau sehr nervös. Voller Panik starrte sie in ihren Pass und blätterte darin herum.

»Ich … ich verstehe das nicht!«, stotterte Marie-Claire de Vries. Sie spürte, wie ihr Schweißperlen auf die Stirn traten.

Wie konnte es geschehen, dass sie den Reisepass von Cathrine in der Handtasche hatte? Wann war das passiert? Angestrengt dachte sie nach und ihr fiel eine mögliche Erklärung ein: Vor drei Monaten waren sie und Cathrine zusammen in Rom gewesen. Hatten sie damals im Hotelzimmer in Rom versehentlich ihre Pässe vertauscht? War es möglich, dass sie beide seitdem mit falschen Pässen reisten? War es möglich, dass auf ihrer gesamten Reise nach Ägypten niemandem aufgefallen war, dass sie den Reisepass ihrer Zwillingsschwester benutzte? Ihr selbst auch nicht? War das möglich? Ihre Gedanken überschlugen sich. Ja, wieso nicht? Cathrine und sie sahen sich im realen Leben und auch auf den Passbildern täuschend ähnlich. Dann noch derselbe Familienname, dieselbe Staatsangehörigkeit, dasselbe Geburtsdatum, derselbe Wohnort: Wien! Cathrine war also mit ihrem Reisepass unterwegs. Und sie war weit weg, in Marrakesch – und in Gefahr. Vielleicht sogar in Lebensgefahr! Wenn sie jetzt hier in Zürich festgenommen oder zumindest länger aufgehalten würde, was würde dann in Marrakesch geschehen? Würde Abdel Rahman …? Marie-Claire begriff, dass sie die Polizisten nur dann von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugen konnte, wenn sie noch irgendein anderes Personaldokument vorzuweisen hatte.

»Um Gottes willen«, blickte sie die beiden Polizisten flehend an. »Das ist der Reisepass meiner Zwillingsschwester. Wir müssen ihn vertauscht haben. Wir sind eineiige Zwillinge. Das Ticket hatte ich heute telefonisch bestellt. Der Frau am Schalter ist wohl nicht aufgefallen, dass es ein Pass mit einem anderen Vornamen ist.«

Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche. Der Führerschein! Ja, auf dem Führerschein stand ihr richtiger Name – mit Bild! Auf der Kreditkarte auch – allerdings ohne Bild. Auf ihrem Dienstausweis, ja, auf dem Hausausweis von Christie’s war auch ihr Bild, ihr richtiger Name, ihre Anschrift. Sie gab den Polizisten alle Dokumente. Siedend heiß wurde ihr plötzlich bewusst, dass es nicht das Problem war nachzuweisen, dass sie Marie-Claire de Vries war. Das Problem war, dass sie jetzt keine gültigen Reisedokumente mehr besaß. Sie würde nicht weiterreisen dürfen, bis das alles geklärt war. Sie würde nicht nach London kommen, um die Dokumente zu holen, die Abdel Rahman haben wollte! Und sie würde nicht nach Marrakesch weiterfliegen können! Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen.

»Hier, schauen Sie …«, presste sie hervor und zog ein Bild aus der Brieftasche. Es zeigte Cathrine und sie vor der Spanischen Treppe in Rom. Auf der Rückseite des Fotos stand ein Datum. »Hier, bitte, sehen Sie. Wir sind Zwillinge.«

»Wie heißt Ihr Sicherheitschef, Madame de Vries?« Sie hörte die Stimme des Polizisten wie in Trance, verstand aber nicht, was er mit dieser Frage bezweckte. Prüfend hielt er ihren Hausausweis in der Hand.

»Roundell … Francis Roundell«, schluchzte sie. Der Polizist wirkte plötzlich sehr ernst. Er fuhr die Gaffer an.

»Gehen Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen!« Dann tat er einen Schritt auf Marie-Claire zu und fasste sie am Arm: »Ich muss Sie bitten, mir auf die Wache zu folgen. Sie sind vorläufig festgenommen.«

*

Abdel Rahman alias Faisal Ben Ait Haddou alias Jilani Rezaigui versuchte, seine Nervosität zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zum Fenster und schaute durch den Vorhang hindurch auf den Weg, der vom Parkplatz des Reitstalls zu der Wohnung führte, in der er sich aufhielt. Er konnte nichts Auffälliges feststellen, dennoch hatte er ein ungutes Gefühl. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass da draußen seltsame Dinge geschahen. Sechs Autos waren dort unten geparkt. Es waren die gleichen Fahrzeuge wie am frühen Morgen. Sie gehörten reichen Marokkanern, die sich eine Eigentumswohnung in dieser noblen Clubanlage erlauben konnten. Insgesamt standen sechs Häuser auf dem Terrain. In jedem waren ein Dutzend Wohnungen untergebracht. Die meisten davon waren Maisonettewohnungen mit zwei Etagen und sechs Zimmern. Anonymität und Diskretion waren hier oberstes Gebot. Er wusste, dass ein General der marokkanischen Armee in dem gegenüberliegenden Wohnblock gleich zwei Wohnungen besaß. In einer der Wohnungen des Generals hielten sich zwei sehr junge Frauen auf. Er sah sie manchmal abends durch die Gardinen hindurch. Es waren offensichtlich heimliche Gespielinnen des Generals, der immer nur am Wochenende kam.

Abdel Rahman schaute auf die Uhr. In der Schweiz war es jetzt neun Uhr. Vor knapp vier Stunden hatte er mit Marie-Claire telefoniert. Sie hatte laut aufgeschrien, als sie gehört hatte, dass Cathrine mit ihm in Marrakesch sei. Und sie hatte ihn unflätig beschimpft, als sie erfuhr, dass Cathrine freiwillig mit ihm geflogen war. Das hatte Marie-Claire nicht geglaubt. Also hatte er ihr erzählt, wie er Cathrine am Tag nach dem Besuch des Weihnachtsmarktes angerufen und sie sich mit ihm verabredet hatte – nur wenige Stunden nachdem er Marie-Claires Wohnung am frühen Morgen verlassen hatte. Abdel Rahman grinste dämonisch. Es hatte ihm gefallen: zwei Schwestern innerhalb von vierundzwanzig Stunden! Eine hübscher als die andere. Und dann auch noch Zwillingsschwestern! Selbst ihre Körper waren sich sehr ähnlich. Und eine war geiler als die andere. Die eine liebte die harte Art. Die andere war so heiß auf ihn gewesen, dass sie sich schon mittags nach dem Essen in der Toilette des Restaurants von ihm hatte bumsen lassen. Und abends im Hotel dann noch einmal. Immer wieder. Schließlich war sie ihm auf die Nerven gegangen. Hätte sie nicht plötzlich angefangen, von der Arbeit ihrer Schwester Marie-Claire zu erzählen, hätte er sie wahrscheinlich aus dem Hotelzimmer hinauskomplimentiert. Aber dann war dieser eine Satz gefallen. Diese Sache mit der Statue, in der angeblich ein Schatz versteckt sein sollte! Ein einziger Satz aus dem Mund von Cathrine hatte den Dingen plötzlich eine andere Wende gegeben. So heiß, wie sie auf ihn war, so dumm schien sie auch zu sein. Ohne dass er sie überhaupt gefragt hatte, erzählte sie von dem Geheimauftrag ihrer Schwester, von dem Dossier bei Christie’s in London. Und ihm war klar geworden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Florentiner, dem Buchmanuskript und diesem Schatz – und damit auch einen Zusammenhang zwischen den beiden Sancys und dem Florentiner gab.

Plötzlich sah er vieles in einem anderen Licht, er begriff vieles: Der Scheißkerl Roundell wollte ihn aufs Kreuz legen! Da lief ein wahnwitziges Ding ab. Hier ging es nicht um schnöde Diamanten, die später an die Versicherungsgesellschaften verkauft werden sollten. Es ging es um viel mehr! Roundell hatte ihm lediglich gesagt, dass diese drei Diamanten einen enormen Wert hätten, weil sie früher einmal zusammengehört hatten. Aber das war wohl nur die halbe Wahrheit gewesen. Er erkannte, dass er mit Cathrine de Vries völlig unerwartet einen Joker in der Hand hielt. Mit ihr als Geisel würde er von Marie-Claire de Vries all das bekommen, was Roundell brauchte: das Buchmanuskript – und die geheimen Unterlagen über diese Auktion bei Christie’s vor so vielen Jahren. Jene Unterlagen, aus denen offensichtlich hervorging, wer den Florentiner-Diamanten jetzt besaß. Die beiden Sancy-Diamanten hatte er bereits. Sie lagen im Wohnzimmer nebenan in einem Aquarium im Sand versteckt. Wie zwei kleine, glitzernde, von Goldfischen bewachte Kieselsteinchen sahen sie aus. Bislang waren sie nur ein paar Millionen Euro wert gewesen. Jetzt aber ging es um einen Schatz – um unvorstellbaren Reichtum! Und jetzt war er, Abdel Rahman, mit von der Partie! Roundell hatte keine andere Chance. Was immer das für ein legendärer Schatz war, um den es hier ging, ohne ihn würde Roundell diesen Coup nicht durchziehen können. Wenn Marie-Claire de Vries morgen käme und diese Unterlagen mitbringen würde, wäre man dem Besitzer des Florentiners einen entscheidenden Schritt näher. Und damit dem Schatz. Er aber hatte die beiden Sancys. Wenn, wie Cathrine de Vries es so dahingeplappert hatte, alle drei Edelsteine zum Öffnen der Statue erforderlich waren, kam Roundell jetzt nicht mehr an ihm vorbei. Roundell war zwar der Einzige, der offensichtlich wusste, wo diese Statue sich befand, aber ohne die beiden Sancys lief nichts. Und wo die versteckt waren, wusste Roundell nicht!

Abdel Rahman lächelte süffisant vor sich hin. Die war wirklich zu dämlich, diese Cathrine de Vries! Eine von diesen frustrierten und nicht ausgelasteten Huren, die zu Hause einen stinkreichen Mann sitzen haben, sich aber von anderen Männern vögeln lassen und dann anfangen zu plappern. In dem Moment, als er erkannte, was er mit Cathrine de Vries in der Hand hatte, in diesem Moment hatte er entschieden, Cathrine de Vries nach Marrakesch zu locken und sie dann als Geisel festzuhalten. Es war ihm danach nicht sonderlich schwer gefallen, sie die ganze Nacht hindurch zu verwöhnen, den zärtlichen, einfühlsamen und vernarrten Liebhaber zu spielen. Einer, der davon träumt, sie als Frau zu haben. Für immer und ewig. Und sie hatte ihm das tatsächlich abgenommen. Eine Nacht hatte er gebraucht, um sie dazu zu kriegen, mit ihm nach Marrakesch zu fliegen. Mit völlig verklärtem Blick war sie nach Hause gefahren, hatte Pass, Geld, Kreditkarten und ein paar Kleider eingepackt und war mitgekommen. Doch wie hatte sie dann geschrien und um sich geschlagen, als er ihr hier in der Wohnung die Wahrheit gesagt hatte. Und die Wahrheit war sehr einfach: Entweder Marie-Claire schaffte dieses Buchmanuskript und die geheimen Unterlagen aus dem Christie’s-Archiv heran, oder ihre Zwillingsschwester würde sterben! Genau das hatte Cathrine de Vries ihre Schwester am Handy wissen lassen. Jetzt lag sie oben im Zimmer und schlief. Er hatte sie am Bett festgebunden und mit einem Betäubungsmittel in Tiefschlaf versetzt. Abdel Rahman fragte sich, ob Marie-Claire tun würde, was er von ihr verlangte. Oder war sie cleverer als ihre Schwester, die offensichtlich glaubte, sie würde Marrakesch jemals wieder lebend verlassen? Cathrine glaubte das wirklich und war sich absolut sicher, dass Marie-Claire seinen Forderungen nachkommen würde.

»Meine Schwester liebt mich – sie würde alles tun, um mir zu helfen! Wir sind Zwillingsschwestern«, hatte sie geschluchzt.

Abdel Rahman schaute noch einmal aus dem Fenster. Draußen vor dem Haus war nach wie vor alles ruhig. Der Abendhimmel war von den Lichtern der nahen Stadt erhellt. Es erinnerte ihn daran, dass er heute einen Zettel im Postfach gefunden hatte. Die Verwaltung des Reitclubs teilte darin mit, dass morgen Abend im Club, in den dazu gehörenden Wohnanlagen sowie im Hotel Palmeraie eine routinemäßige Notfallübung der Feuerwehr von Marrakesch stattfinden würde, in dessen Rahmen es zu Lärm- und Rauchbelästigung kommen könne. Auch am Parkplatz stand das auf einem großen Plakat geschrieben, verbunden mit dem Hinweis, dass die Zufahrtswege zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr gesperrt seien. Es ärgerte ihn ein wenig. Er verstand nicht, warum das so spät mitgeteilt wurde. Wie auch immer: Genau zu dieser Zeit würde Marie-Claire de Vries morgen Abend ankommen. Und Francis Roundell. Das würde eine große Überraschung werden. Roundell wusste weder, dass Marie-Claire auf dem Weg nach Marrakesch war, noch dass Abdel Cathrine de Vries als Geisel genommen hatte. Marie-Claire wiederum ahnte nicht, dass Roundell hier sein würde. Und beide wussten sie nicht, dass er, Abdel Rahman, jetzt ebenfalls über den Schatz in der Statue Bescheid wusste.

Würde Marie-Claire so handeln, wie ihre Schwester das glaubte und wie er das erwartete? Oder hatte sie so etwas wie Stolz und Ehrgefühl? Hasste sie Cathrine jetzt? Schließlich hatte sie mit dem Telefonat erkannt, dass ihre eigene Schwester sie betrogen hatte. Würde sie jetzt noch die Unterlagen bringen, um ihre Schwester zu retten?

Eine andere Frage, die er sich seit gestern stellte, war, wieso Roundell sich nicht selbst diese Unterlagen aus dem Christie’s-Archiv besorgte. Er saß doch als Sicherheitschef von Christie’s an der Quelle. Wieso musste Roundell warten, bis Marie-Claire diese Dossiers hatte? Das war etwas, das Abdel Rahman nicht begriff. Doch das würde sich sicherlich mit dem Kommen von Francis Roundell klären. Seine Gedanken wanderten zurück zu Marie-Claire. Es machte ihn nervös, dass er nicht genau abschätzen konnte, wie sie nun handeln würde. Was hatte sie ins Telefon geschrien? »Ich bringe dich um!«

*

Francis Roundell war die Fliegerei absolut leid. Erst letzte Nacht war er aus Indien zurückgekehrt. Der Zeitunterschied und der extreme Klimaumschwung steckten ihm noch in den Knochen, zumal er nur zwei Tage Zeit gehabt hatte für die Dinge, die er in Jaipur hatte erledigen müssen. Dafür aber war dort alles perfekt gelaufen. Der Zugang zu der Statue war jetzt endgültig gewährleistet. Der Inder, den er nicht sonderlich mochte, hatte sich mit den Verfahrensweisen und vor allem mit den finanziellen Abmachungen einverstanden erklärt. Alles war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Die beiden Sancys hatte er schon. Den Florentiner würde er ebenfalls bald besitzen.

Auch wenn er mit allem zufrieden sein konnte, war er müde und abgespannt. Eigentlich hatte er ab morgen zwei Tage Urlaub. Daher stand ihm absolut nicht der Sinn danach, jetzt nach Marokko zu fliegen, zumal er es nicht für besonders klug hielt, derzeit mit Abdel Rahman zusammenzutreffen. Es gab zwar keine wirklich konkreten Hinweise darauf, dass die internationalen Ermittlungsbehörden aktiv waren, aber genau das beunruhigte ihn. Es konnte der Eindruck entstehen, als seien die spektakulären Raubüberfälle in Bayern und Florenz vergessen. Das war jedoch mit Sicherheit nicht der Fall. Francis Roundell kannte seinen ehemaligen Kollegen Bernhard Kleimann gut genug. Seit fast einer Woche versuchte er ihn zu erreichen. Nach ihrem Zusammentreffen in Lyon hatten sie kaum miteinander gesprochen. Das musste nicht unbedingt etwas bedeuten, es konnte aber auch ein Indiz dafür sein, dass die Operation Mraksch in der heißen Phase war. Und Kleimann gehörte zu dieser Sonderermittlungsgruppe. Nein, jetzt nach Marrakesch zu fliegen war wirklich nicht klug. Zumal er weitaus Wichtigeres zu tun hatte. Auch mit Marie-Claire de Vries hatte er schon viel zu lange nicht mehr telefoniert. Sie war in die Schweiz geflogen und hatte sich von dort nur kurz gemeldet. Was sie genau dort machte, wusste er nicht. Sie schwieg sich über ihre Aktivitäten aus. Ihr Bericht war längst überfällig. Francis hatte das Gefühl, als lasse sich Marie-Claire absichtlich Zeit mit dem Schreiben des Berichts. Im Zentralarchiv von Christie’s war sie noch nicht gewesen, das hatte er in Erfahrung gebracht. All das beunruhigte ihn.

Und jetzt dieser höchst eigenartige Anruf von Abdel Rahman. Was nur wollte der Araber? Er war sich ganz sicher, dass Abdel Rahman irgendetwas im Schilde führte. Aber was? Francis spürte, dass die Dinge irgendwie aus dem Ruder liefen. Abdel hatte sich zwar sehr bemüht, unbedarft zu wirken, aber das war ihm misslungen. Von wichtigen Veränderungen und neuen Erkenntnissen hatte er gefaselt und auf dem Treffen beharrt. Francis Roundell ging nachdenklich in seiner Wohnung auf und ab. Der Kamin flackerte unruhig. Draußen stürmte es noch immer. Hatte Abdel in Wien irgendwelche Dinge in Erfahrung gebracht, von denen er nichts wissen sollte? Vermutlich war es besser, sich schnell von dem Araber zu trennen. Für immer. Abdel wusste zu viel. Ebenso wie Marie-Claire. Wenn er sie nach Abschluss dieser Sache aus dem Wege räumen würde, wenn sie verschwunden wäre, würden das Board of Directors bei Christie’s und auch die Ermittlungsbehörden davon ausgehen, dass Marie-Claire hinter der ganzen Sache steckte. Ja, wenn Abdel Rahman und Marie-Claire unschädlich gemacht worden wären, stünde seinem Triumph nichts mehr im Weg. Drei Jahre lang hatte er die ganze Sache geplant. Das Genialste war, dass kein Verdacht auf ihn fallen würde. Geschickt hatte er sehr viele falsche Spuren gelegt. Jeder würde Marie-Claire verdächtigen, denn sie war es, die sich ja so intensiv mit dem Florentiner beschäftigte. Sie würde Einblick in die geheimen Archivunterlagen nehmen, von denen er schon längst wusste, was drinstand. Genau das war das Raffinierteste an seinem Plan. Marie-Claire de Vries lebte im Bewusstsein, dass der Auftrag für die Recherche nach dem Florentiner vom Board of Directors bei Christie’s gekommen war. Das aber stimmte nicht. In der Führungsetage von Christie’s wusste niemand etwas davon. Er hatte sie in diesem Glauben gelassen, damit sie nicht misstrauisch wurde. Marie-Claire würde, falls jemals jemand dahinterkommen würde, zur Verantwortung gezogen werden. Aber dann wäre sie längst verschwunden. Tote Zeugen konnten nun einmal nicht sprechen.