172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

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21. Kapitel

Die mächtigen Lehmmauern waren baufällig, und das riesige Tor mit seinen verrosteten Eisenbeschlägen verhieß nichts Gutes. Doch hinter dem wehrhaften Gemäuer lag das Paradies: Haushoher Oleander thronte über dem schmalen Weg; Bougainvillen wallten in prächtigem Rot und Weiß und Lila von den Dächern und Mauern herab; die Orangenbäume trugen schwer unter der Last der Früchte, deren Duft sich mit dem der Zitronenbäumchen einte; Bananenstauden mit überdimensional großen Fruchtblüten säumten schmale Wasserkanäle, die sich zwischen den vielen Springbrunnen durch das üppige Grün schlängelten.

Ein eigentümliches Geräusch erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick ging hoch zu den eckigen Türmen, die über dem Innenhof des alten Anwesens thronten. Filigran in die Zinnen des Turms eingeflochten konnte sie dort oben ein riesiges Nest ausmachen, in dem zwei Schwarzstörche stolz mit nach hinten gebeugtem Kopf ihre Lebenslust in den blauen marokkanischen Himmel klapperten. Um den nächstliegenden Turm kreisten zwei Falken. Die mit dunkelbraunen Flecken akzentuierten Federkleider glänzten im späten Abendlicht. Ihre krummen Schnäbel öffneten sich zu herzergreifendbegeisterten Schreien nach Freiheit, die an den alten Gemäuern widerhallten und die prachtvollen gelben, roten und schwarzen Vögel in den Bambusbüschen nahe des Swimmingpools überhaupt nicht zu ängstigen schienen. Das Paradies! Ja, das musste es sein. Ihr Blick wanderte von den gelb-braunen Wasserschildkröten des Teichs zu einem mächtigen Pfau, der sich ihr aufgeplustert und arrogant in den Weg stellte. Sein braunes Krönchen auf dem Kopf wippte mit jedem Schritt, den er ihr näher kam. Der im abendlichen Streiflicht metallisch schimmernde Hals und Körper waren das Schönste, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Missmutig, mit abgehackt-vorsichtigen Tippelschritten kam er näher. Eiii … Eiii …, krähte er seiner Verärgerung in den afrikanischen Himmel und entfaltete sein prächtiges Federkleid, das sich ihr als Barriere aus Tausenden blau-grün-weißer Pfauenaugen entgegenstellte. Marie-Claire lächelte.

»Ist ja schon gut, du eitler Pfau! Ich lass dich ja in Ruhe. Pass lieber auf, dass sich die Turmfalken da oben nicht deine Babys holen.«

Glücklich lächelnd ging sie einige Schritte zurück und wählte einen anderen Pfad durch das Urwaldgrün hin zu ihrem Zimmer. Ach, wie schön das Leben doch sein konnte! Hier, in diesem Paradies wollte sie bleiben. Hier hatte der Schöpfer seine farbenfrohsten Kreaturen und betörendsten Düfte geeint, um der Welt zu zeigen, zu welchen Wundern er in der Lage war.

Ja, hier wollte sie bleiben. Für immer. Sie wollte jeden Morgen vom Geklapper der Störche geweckt werden, wollte mit dem ersten Augenblick des frühen Tages durch die Fenster hindurch die Orangen und Zitronen, die Hibiskusblüten und Bougainvillen sehen und mit dem ersten tiefen Atemzug all das in sich aufnehmen, was diese Welt an Düften offerierte. Es war ein wundervoller Tag. In einem Palast wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Nur ihr Traumprinz schien heute äußerst missmutig zu sein. Er erwartete sie bereits im Schlafgemach, dessen seidige Vorhänge sich im Wind des Deckenventilators bewegten.

Wie immer am frühen Tag, bevor die Lakaien das Frühstück unter dem Baum nahe des Sees servierten, trug er ein schlichtes, knielanges Gewand. Er verzog sein Gesicht zu einer ungehaltenen Grimasse und ergriff sie an ihren Schultern.

»Marie-Claire!«

Marie-Claire de Vries wollte ihn barsch anfahren, ihn zurechtweisen, weil er ihre sanften Gedanken unterbrochen hatte, aber ihre Stimme versagte. Sie schaute ihn entsetzt an. Sanjays Augen funkelten bösartig. Verärgert versuchte sie, seine Hände von ihren Schultern abzuschütteln. Aber er verstärkte seinen Griff und schüttelte sie unwirsch.

»Jetzt wach doch endlich auf. Wir sind gleich da!«

Panisch richtete sich Marie-Claire auf. Angstgefühle überlagerten plötzlich ihre Bilder von Pfauen, Falken und farbenprächtigen Blumen. Verwirrt flog ihr Blick nach rechts, hin zu dem Fenster, durch das sie morgens die Schönheit des Tages in ihr Leben eindringen ließ, aber das Fenster war verschlossen, war mit grauem Plastik verdunkelt. Die Sonne über ihr war ungewöhnlich grell. Sie blinzelte hinein. Neonlicht blendete sie. Das Zwitschern der Vögel draußen im Patio des Palastes war einem penetranten Dröhnen gewichen. Sanjay sprach jetzt wieder sehr sanft und liebevoll mit ihr.

Seine Augen zeigten wieder das, was auch sie ihm mit ihren Augen sagte. Der Druck seiner Hände auf ihren Schultern ließ nach. Zärtlich streichelte er ihr über die Wange.

»Wach auf, Marie-Claire! Du hast geträumt! Wir werden gleich landen.«

Marie-Claire wollte nicht aufwachen. Störrisch presste sie die Augenlider zusammen wie ein Kind, das die erschreckende Wahrheit nicht sehen wollte. Erst jetzt spürte sie die Vibrationen um sie herum, registrierte das Rauschen der Klimaanlage und den Gurt um ihren Körper. Ihre Finger tasteten ihr näheres Umfeld ab. Was sie fühlte, war weiches, geschmeidiges Leder. Sie saß in einem Flugzeug! In einem kleinen mit sehr komfortablen Sitzen. In solch einem Flugzeug hatte sie noch nie gesessen. Sie wollte, dass es nicht stimmte, verwehrte sich der Realität. Wieso saß sie in einem Flugzeug? Sie wollte zurück, in den Palast – zu den Pfauen. Und zu den Falken. Zurück ins Paradies.

Aber der Traum war zu Ende. Es war der schönste Traum ihres Lebens gewesen. Aber es war ein Albtraum, weil sie wusste, dass es dieses Paradies, in dem sie sich im Schlaf wie eine Fee bewegt hatte, tatsächlich gab, sie aber nie wieder in ihrem Leben dorthin zurückkehren würde. Ja, sie war schon einmal dort gewesen, in dem ehemaligen Emirpalast in der Oasenstadt Taroudant, weit im Süden Marokkos, jenseits der Gipfel des Hohen Atlas. Vor vielen Jahren. Es gab diesen Palast, das jetzige Hotel Palais Salam! Salam – Friede! Sie suchte den Frieden, den inneren Frieden. Deshalb hatte sie nach ihrer Flucht aus der Wohnung von Abdel Rahman nur einen einzigen Gedanken gehabt: Sie wollte nach Taroudant ins Hotel Palais Salam. Es blieb ein Traum, der sich schnell zu einem Albtraum wandelte. Denn schon an der ersten Straßenkreuzung, der sie sich nach ihrer Flucht genähert hatte, standen Polizeiautos. Eine Straßensperre. Sie suchten nach ihr! Der Traum, mit einem Bus oder einem Taxi von Marrakesch nach Ouarzazate und von dort den weiten Weg nach Taroudannt ins Palais Salam zu nehmen, hatte sich schnell zerschlagen. Der Albtraum, der seinen grausamen Höhepunkt mit dem Tod von Cathrine gefunden hatte, war noch nicht zu Ende gewesen. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, was nach dem Sprung aus dem Fenster geschehen war. Da waren nur noch Fragmente in ihrer Erinnerung: die kalte Nacht, das Entsetzen, das ihr den Atem zum Rennen durch die Gärten und über die Geröllebenen zwischen Palmeraie und Marrakesch genommen hatte. Viele Kilometer war sie durch die nordafrikanische Nacht gehetzt, war gestürzt, war vor den Männern mit den Gewehren und vor der Wahrheit geflohen. Die Wahrheit war, dass Cathrine nicht mehr lebte. Realität war, dass sie nur wenig Geld, zwei Pässe und nur die Kleider, die sie am Körper trug, besaß. Und zwei unvorstellbar wertvolle Edelsteine, die ihr nicht gehörten. Aber eins war auch sicher: Wer immer sie gewesen waren, diese Männer in Abdel Rahmans Wohnung, sie würden sie suchen! Wollten sie sie töten? Warum? Wo war sie jetzt? Es fiel ihr schwer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Vorsichtig nahm sie ihre Hände von den Augen weg, wandte sich nach links und blinzelte die Realität an. Sanjay saß neben ihr. Ja, er war es. Fragend schaute er sie an.

»Gleich! Warte …«, flüsterte sie und schloss die Augen wieder, versuchte, sich zu erinnern. Sie brauchte die Erinnerung, um die Gegenwart zu verstehen. Die atemlose Flucht vom Hotel Palmeraie nach Marrakesch hatte ihr alle Kraft geraubt. Sie hatte nicht nachdenken können. Zu sehr war sie darauf konzentriert gewesen, in der stockfinsteren Nacht nicht in einen Abgrund zu stürzen oder zu nahe an eine Straße zu gelangen. Straßen musste sie meiden, ebenso wie Flughäfen und Menschen. Sie musste dahin fliehen, wo viele, sehr viele Menschen waren. Anonymität war der beste Schutzschild. Aber sie musste auch unauffällig sein. Mit ihren langen, blonden Haaren fiel sie überall auf. Die Haare würden sie verraten!

Eine Glasscherbe, an der sie sich beim Hinfallen die Hand aufgeschnitten hatte, brachte die rettende Lösung. Es hatte sehr wehgetan, als sie sich die Haare mit der Glasscherbe abgeschnitten hatte. Es hatte nicht nur körperlich wehgetan. Ihre Haare gehörten zu ihrem Leben, so wie Cathrine dazugehörte – dazugehört hatte. Schon als Kind hatte sie die Haare lang getragen. Mit jeder schmerzhaft mit der Glasscherbe abrasierten Strähne, die auf die von der Nacht umhüllte marokkanische Erde fiel, war ihr bewusster geworden, in welch aussichtsloser Situation sie steckte. Alles war so verworren, so grausam irreal, dass sie auf ihrer Flucht durch die Nacht mehrfach den Gedanken gehabt hatte, sterben zu wollen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie diese Erlebnisse jemals würde verkraften können. Wer würde ihr glauben? Wer konnte ihr helfen? Wem durfte sie noch glauben? Wieder öffnete sie vorsichtig die Augen. Sanjay war nicht weg. Er saß schweigend neben ihr, blickte sie abwartend an. Erst jetzt registrierte sie ihre eigene Kleidung. Wo waren die Jeans, die Bluse? Sie trug einen Sari aus feinstem Tuch, durchwirkt mit silbernen und goldenen Fäden.

»Wohin fliegen wir?«

»Nach Kairo. Und von dort weiter nach Indien.«

»Zu dir nach Hause?«

»Ja.«

»Wer bin ich? Warum trage ich diese indischen Kleider?«

»Du bist nicht mehr Marie-Claire de Vries. Ich habe dir einen indischen Pass, eine neue Identität besorgt. Es ist der Pass meiner Schwester. Sie lebt als Wirtschaftsattaché in London. Sie hat es mir zuliebe getan. Du siehst ihr mit den kurzen Haaren und in diesem Sari verblüffend ähnlich. Niemand wird dich mit diesem Diplomatenpass aufhalten. Die Beamten am Flughafen in Marrakesch haben dich für meine Frau gehalten. Du hast jetzt ein Leben und drei Pässe. Wer du in Zukunft sein willst, kannst du später entscheiden.«

»Ich heiße jetzt Kasliwal?«

»Ja.«

»Habe ich auch einen Vornamen?«

»Sogar zwei: Akuti Asha.«

»Was bedeutet das?«

Sanjay lächelte und schwieg für einen Moment.

»Akuti heißt Prinzessin. Und Asha bedeutet Hoffnung. Du bist also, wie meine Schwester es auch ist, eine Prinzessin der Hoffnung.«

»Ich bin jetzt also eine Prinzessin aus dem Morgenland? Eine Mohrin?«

»Ja.«

Marie-Claire schloss wieder die Augen. Das beruhigende Dröhnen des Flugzeugs durchströmte sie. Aber die Erinnerung kam wieder. Die Bilder der Flucht: Sie war hässlich gewesen, mit ihren zerfransten, kurzen, wie von Mäusen angeknabberten Haaren. Zum ersten Mal hatte sie das vor dem kleinen Laden einer Frau am Stadtrand von Marrakesch in einem Spiegel gesehen, der an der Mauer des Krämerladens hing. Sie hatte geweint, so hässlich sah sie aus. Und so alt und zerschunden, mit tiefen Ringen unter den Augen. Für ein paar Dirhams hatte sie bei der Frau Henna gekauft. Und eine Flasche Sidi Harazen, Mineralwasser, mit der sie sich hinter einem Busch die Haare rötlich-braun gefärbt hatte. Dann war sie beim Bab Agnaou durch die Stadtmauer in die Souks von Marrakesch geschlichen. Mitternacht war es gewesen. Einige der winzigen Läden hatten noch geöffnet. So konnte sie für wenig Geld einige gebrauchte, europäische Kleidungsstücke kaufen. Wieder öffnete sie die Augen. Sanjay schien darauf gewartet zu haben. Sie mochte das Gefühl, neben ihm zu sitzen. Der Gedanke, dass sie auf dem Weg nach Indien waren, beruhigte sie.

»Erzähl mir, wie ich hier in dieses Flugzeug gekommen bin. Ich mag mich nicht erinnern.«

»Du hast mich angerufen, hast mir erzählt, dass Cathrine tot ist und dass du in einem miesen Drecksloch von Zimmer irgendwo in den Souks von Marrakesch festsitzt und nicht mehr leben willst.«

»Und du bist dann einfach gekommen? Ist das dein Flugzeug? Warum tust du das?«

Marie-Claires Fragen einten sich mit Hilfe seiner Antworten zu schemenhaften Erinnerungen. Da war der marokkanische Greis mit den gutmütigen Augen gewesen, der sie mit wenigen Worten aus ihrer Verzweiflung herausgerissen hatte. Ja, sie war verzweifelt gewesen! Wo sollte sie im nächtlichen Marrakesch hin? In eines der Touristenhotels konnte sie nicht. Wer weiß, ob man sie dort nicht bereits suchte. Sie hatte den alten Mann, der offensichtlich auch in seinem Laden, der kaum mehr als ein Bretterverschlag war, schlief und wohnte, gefragt, ob er nicht wisse, wo sie ein einfaches Zimmer bekommen könne. Für wenig Geld. Er hatte es gewusst. Es war kein einfaches Zimmer, es war ein Rattenloch. Ohne Heizung, ohne Wasser, die Wände verschimmelt und das Bett so grauenhaft schmutzig, dass sie sich auf den Boden gelegt und sich mit einem Teppich zugedeckt hatte. Kurz vor dem Einschlafen war ihr erneut der Gedanke gekommen, dass sie nicht mehr leben wollte. Dann war sie erschöpft eingeschlafen.

Den gleichen Gedanken hatte sie am nächsten Morgen wieder gehabt, durchgefroren, malträtiert von schmerzhaften Blessuren am ganzen Körper – und ohne Hoffnung. Ihre Hoffnung war in der Nacht gestorben. Dann hatte sie an der Wand in der Kälte des Morgens die mit Pflaster befestigte Seite aus einem Magazin gesehen, auf der eine sehr freizügig gekleidete europäische Frau für Schmuck warb. Mit ihren verweinten Augen sah sie das Collier, sah die funkelnden Edelsteine, erinnerte sich an die beiden Sancys in ihrer Tasche – und an den Florentiner. Sein Fluch hatte sie fest im Griff. Es gab nur einen Menschen, der diesen Fluch beenden konnte: Sanjay! In ihm manifestierten sich an diesem kalten Morgen ohne Sonne, ohne Essen, aber mit viel Angst ihre letzten Hoffnungen. Sie rief ihn nicht von ihrem Handy aus an. Es wurde wahrscheinlich längst abgehört. Das öffentliche Münztelefon, das sie benutzte, ließ ihren Mut nach einer halben Stunde vergeblichen Wählens schon schwinden, als sie ihn tatsächlich erreichte. Viel hatte sie ihm nicht erklären können, weil sie ununterbrochen geschluchzt und nur wenig Geld hatte. Aber Sanjay hatte auch nichts wissen wollen. »Ich hole dich da raus«, hatte er gesagt. Mehr nicht.

Alles, was danach geschehen war, erzählte ihr Sanjay nun – auf dem Flug nach Kairo. Von dort, er hatte es gesagt, aber sie wusste noch nicht, was das bedeutete, würden sie nach Indien fliegen. Mehr wusste sie derzeit nicht und wollte sie auch nicht wissen. Denn ihre Gedanken waren wieder bei Cathrine. Ihr Tod begleitete sie auf diesem Flug in eine Zukunft, die vom Fluch des Florentiners überschattet sein würde.

Das Flugzeug begann den Landeanflug auf Kairo. Sanjay hatte ihr gesagt, dass sie den Learjet dort auftanken mussten, bevor sie weiter gen Indien fliegen konnten. Sie blinzelte aus dem Augenwinkel heraus zu ihm hinüber. Er saß entspannt in dem breiten Ledersessel und hatte die Augen geschlossen. Aber er war wach. Auch sie schloss ihre Augen und flüsterte: »Ich habe den Großen und den Kleinen Sancy!«

»Und ich habe den Florentiner!«

»Ich weiß! Das heißt, ich habe es vermutet. Ich ahnte es, nachdem ich das Manuskript dieses Buches gelesen habe. Und dann das Dossier.«

»Meine Familie hat den Florentiner von einem jüdischen Schmuckhändler gekauft, der nach Amerika ausgewandert ist.«

»Von Ostier?«

»Ja! Der Juwelier, der ihn vom letzten österreichischen Kaiser als Sicherheit für eine Darlehenssumme von 1,2 Millionen Schweizer Franken bekommen hatte, verkaufte den Stein nach dem Tod von Kaiser Karl I. an Ostier. Er wollte ihn in viele kleine Steine zerstückeln, aber Marianne Ostier hat das verhindert. Sie war eine begnadete Schmuckdesignerin. Für sie wäre es eine ruchlose Tat gewesen, einen solch wunderschönen Stein zu zerteilen. Es gab eine Skizze von ihr, ihn in zwei Teile zu schneiden.«

»Jene Skizze, die dem Manuskript von Alphonse de Sondheimer beigefügt war?«

»Ja! Aber Marianne Ostier hat es nicht übers Herz gebracht. Mein Vater hat davon erfahren. Und er hat den Florentiner zurückgekauft. Für sehr viel Geld. Auch mein Vater wusste, dass dieser Diamant nach Indien gehört. Er hat ein Vermögen dafür bezahlt!«

Marie-Claire de Vries atmete tief durch. Ihr Herz pochte wild. Die Ehrlichkeit von Sanjay erschütterte sie, weil sie plötzlich erkannte, dass sie ihm Unrecht getan hatte mit all ihren Verdächtigungen.

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«

»Du hast mich lange nicht gefragt. Als du es dann tatest, wusste ich von den unheilvollen Entwicklungen, die sich da abzeichneten. Ich hätte es dir später freiwillig erzählt. Aber dann bist du nach Marrakesch geflogen. Du hast an mir gezweifelt. Richtig?«

»Ja! Ich habe mich in den letzten Wochen in einer Welt aus Halbwahrheiten und Lügen bewegt. Nichts war so, wie es sich darstellte. Ich hasse diese Welt der Lügen, der Gier und des Neids! Ich kenne sie aus meinem Elternhaus. Und ich habe immer, schon als Kind, versucht, eine Welt zu finden, ein Leben zu leben, in dem andere Normen und Werte gelten. Der Weg zu der Erkenntnis, dass es diese Welt nicht gibt, war ein schmerzhafter. Verzeih mir bitte, dass ich dir misstraut habe. Kannst du das?«

»Ja.«

»Wolltest du den Florentiner 1981 auf einer Auktion bei Christie’s verkaufen?«

»Nein. Es war nicht der Florentiner, der damals auftauchte! Es war die Kopie, die im 18. Jahrhundert in der Schatzkammer in Wien lag. Ich weiß, wer sie eurem Auktionshaus angeboten hat. Diese Kopien erfreuen das Herz eitler Menschen, die nicht das Geld haben, sich Originale zu kaufen. Mehr Schein als Sein, so sagt man doch in Europa, nicht wahr?«

»Wieso bist du gerade jetzt nach Europa gekommen?«

»Ich wollte die beiden Sancys kaufen. Wir waren schon lange in Verhandlungen mit den Besitzern.«

»Wir?«

»Ja, wir! Mein Bruder Pappu hatte diese Idee. Aber er hat mich hintergangen.«

Marie-Claire zuckte zusammen. Abrupt richtete sie sich in dem Sitz auf und blickte Sanjay fragend an. Er antwortete mit geschlossenen Augen, ohne auf ihre Frage zu warten.

»Pappu ist ein sehr gieriger Mensch. Leider! Er wusste von der Statue der Göttin, wusste von dem Schatz. Er hat irgendwann Francis Roundell kennen gelernt. Damit begann das Unheil. Der Fluch des Florentiners zog ihn und die anderen Männer ins Verderben. Dieser Francis Roundell war noch vor wenigen Tagen bei Pappu in Jaipur. Ein Vertrauter in unserer Familie hat es mir erzählt. Roundell war der Mann, den Pappu auserkoren hatte, mich zu hintergehen. Es ist ihm misslungen, aber er hat viel Leid über unbeteiligte Menschen gebracht. Auch über dich. Und über mich. Wenn nicht in diesem Leben, so dann im späteren: Pappu wird dafür büßen. Ich bin traurig, dass ich einen Bruder verloren habe.«

»Und ich bin traurig, weil ich eine Schwester verloren habe.«

»Du siehst, selbst im Leid scheinen wir zusammenzugehören. Was wirst du jetzt mit den beiden Sancys tun?«

»Was sollte ich deiner Meinung nach damit tun?«

»Du kannst sie den europäischen Besitzern zurückgeben. Man wird dich rehabilitieren, dich loben, belohnen …«

»Du hattest mir am Ufer des Sees in Grandson so etwas Schönes gesagt über das Licht und die Schönheit und das Sein. Wie sagt ihr in Indien?«

»Die völlige Abwesenheit von Licht ist Finsternis – nichts! Das höchste Licht ist das Eine – das Eine ist aber zugleich das erste Schöne – Lichthaftigkeit ist Schönheit. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, je lichthafter ist es, desto schöner ist es auch! All das eint sich in Diamanten.«

»Anstatt sie den europäischen Besitzern zurückzugeben, könnte ich die Sancys ja auch den ursprünglichen Eigentümern zurückgeben …«

Sanjay Kasliwal schwieg lange. Sie ahnte, wusste, was er sagen würde.

»Du weißt, was ich denke: Sie gehören dem indischen Volk. Die Sancys stammen aus der Erde Indiens. Sie sind stets eins gewesen mit dem Florentiner – in der Vergangenheit, tief unten in der Erde. Und als Tränen Gottes waren sie eins auf der Statue. Ihr inneres Feuer sucht nach Vereinigung. Ich habe den Florentiner. Du hast die beiden Sancys. Es war wohl göttliche Vorsehung, dass es so geschieht. Jetzt ist es deine freie Entscheidung, was du mit den beiden Sancys machst. Wir könnten aber auch gemeinsam wiedervereinen, zusammenfügen, was schon immer aus einer göttliche Fügung heraus zusammengehörte: Wir beide – die beiden Sancys und der Florentiner.«