172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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2. Kapitel

Das Telefon klingelte, kaum dass Marie-Claire de Vries ihr Büro betreten hatte. Sie schaute auf die Uhr. Punkt neun. Die Durchwahlnummer auf dem Telefon-Display zwang ihr einen Fluch auf die Lippen.

»Merde, was will die Sicherheitsabteilung aus London schon so früh am Montagmorgen …?«

Missmutig griff sie nach dem Hörer. Nur wenige Minuten später wusste sie, warum Francis Roundell sie angerufen hatte. Vier kurze Sätze hatte der für internationale Sicherheitsfragen im Auktionshaus Christie’s zuständige Deputy Chairman im Direktorium der Zentrale in London ihr am Telefon gesagt.

»Sorry, Marie-Claire, aber Ihr Urlaub ist tatsächlich zu Ende! Ich bin zum Lunch bei Ihnen in Wien. Lassen Sie alle anderen Termine streichen. Bestellen Sie für halb eins einen ruhigen Tisch im Landtmann.«

Warum Francis jedes Mal, wenn er nach Wien kam, in dieses ihrer Meinung nach an wienerischer Arroganz, ewiggestrigem K.u.k.-Dünkel und Biedermeiermobiliar erstickende Café wollte, war ihr schleierhaft. Das mit Kirschbaumholz getäfelte, grauenhaft enge und dennoch permanent überfüllte Lokal neben dem Burgtheater war ihr persönlich zuwider. Manchmal glaubte sie, Francis beharre nur auf diesem Café als Treffpunkt für dienstliche Gespräche, weil er hier all seine Vorurteile gegen die ihm nicht sonderlich sympathischen Wiener bestätigt bekam. Er mochte Österreich, aber die Wiener mochte er nicht. Vielmehr schien er geradezu auf eine Gelegenheit zu warten, seine Aversionen gegen den arrogant-wienerischen Dünkel kundzutun. Dafür war das Café Landtmann ein idealer Ort. Dort traf sich jenes Wien, das gesehen werden wollte und im Bewusstsein lebte, gesehen werden zu müssen. Die Nähe zur Hofburg, zum Rathaus und die unmittelbare Nachbarschaft zum Burgtheater zog die vermeintliche Hautevolee der Stadt an wie Honig die Bienen.

Auch an diesem sonnigen Novembermittag war die Terrasse des Cafés überfüllt. Wie überall in der Stadt hatte der extrem milde November die Kaffeehausbesitzer veranlasst, Tische und Stühle draußen stehen zu lassen. Marie-Claire blieb einen Moment stehen, warf einen Blick über die Schar der Besucher. An einem Tisch saß ein ihr oberflächlich bekannter Feuilleton-Journalist der Kronenzeitung. Die Frau neben ihm war sehr dick und hatte sich wie ein Pfau aufgeplustert. Irgendwie war ihr anzusehen, dass sie am Abend zuvor im Burgtheater auf der Bühne gestanden hatte. Sie tat sehr wichtig, was sie aber offensichtlich nicht war, denn der verschwitzte Kellner mit dem pomadigen Haar und jener eigentümlichen, Wiener Kellnern scheinbar angeborenen Borniertheit ignorierte ihr Winken. Stattdessen ließ er einer alten Frau mit nur noch wenigen grauen Haaren auf dem Kopf über drei Tische hinweg ein schleimiges »Grüß Gott, Frau Kommerzialrätin – wie ist das werte Wohlbefinden, gnädige Frau …« zukommen.

Zwei Tische weiter saß eine fürs Landtmann viel zu provokant gestylte Frau in einem sehr weit über ihre Oberschenkel hochgerutschten, hautengen Kostüm. Sie schielte in Richtung eines am Nebentisch Sekt-Orange schlürfenden Beaus mit zartrosa Hemd und einem perfekt dazu passenden, leger über die Schultern gelegten, eierschalfarbenen Pullover.

Marie-Claire lächelte süffisant. Von ihrem Büro in der Herrengasse Nummer 17 bis hierher waren es nur wenige Schritte. Wann immer ihre Zeit es erlaubte, ging sie bei schönem Wetter vorbei am Palais Lichtenstein, weiter zum Café Landtmann und von dort in den Volksgarten. Oder sie schlenderte hinüber in den idyllischen Park vor dem Rathaus, wo sie unter den prachtvollen, uralten Bäumen Zeitung las oder sich auf die Wiese legte und döste.

Marie-Claire schaute auf die Uhr. Es war schon Viertel vor eins. Francis Roundell sollte kurz vor zwölf planmäßig in Schwechat landen. Wahrscheinlich saß er schon im Café. Ihr Blick wanderte noch einmal zu der ein wenig ordinär aussehenden Frau in dem engen Kostüm mit dem waghalsigen Dekolleté. Sie hielt jetzt einen Zigarillo zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und wühlte ostentativ in ihrer Handtasche. Der Beau am Nebentisch ahnte offensichtlich, dass sie hoffte, er würde ihr Feuer geben. Er tat ihr den Gefallen nicht. Stattdessen versteckte er sich hinter der Speisekarte, ignorierte die Blicke der Gucci-Schönheit und zeigte nur noch seine perfekt manikürten Finger am Zeitungsrand. Seine braun gebrannten Hände und Unterarme ließen Marie-Claire de Vries erahnen, dass er zu lange unter der Höhensonne gelegen hatte. In Wien, so hatte sie mit Genugtuung nach der Rückkehr aus ihrem Urlaub am gestrigen Abend erfahren, hatte es in den letzten zehn Tagen fast nur geregnet. Sie schmunzelte vor sich hin und wollte gerade zum Eingang des Cafés gehen, als Francis Roundell mit einem Taxi vorfuhr. Er stieg aus, zog einen kleinen Handkoffer hinter sich aus dem Fond und schritt zielstrebig auf sie zu.

»Marie-Claire«, ließ er seine markante Stimme über die Terrasse hallen, »Sie sehen umwerfend aus! Sie werden immer schöner.«

Die Köpfe von gut zwei Dutzend Gästen auf der Terrasse flogen herum. Marie-Claire de Vries errötete. Francis war ein unverbesserlicher Charmeur, was vielleicht mit seiner französischer Abstammung zu erklären war. Seine Komplimente waren schnörkellos und ehrlich. Was er sagte, meinte er.

»Sie wissen, Francis, dass Sie mich verunsichern, wenn Sie so flirten«, lächelte Marie-Claire de Vries und streckte dem Mann mit den Augen eines Jagdterriers ihre Wange entgegen. Diese braunen, lebhaften Augen waren Francis Roundells Markenzeichen. Jeder bei Christie’s nannte ihn deshalb den »Terrier«, denn das war er, zumindest in seinem Beruf als Sicherheitschef: ein Terrier. Gertenschlank, groß gewachsen und mit eingefallenen Wangen wirkte er zwar stets ein wenig kränklich, aber Francis Roundell war unglaublich zäh und beharrlich. Er hatte einen ausgesprochen analytischen Verstand und war ein passionierter Edelsteinexperte. Das hatte ihm den Karrieresprung vom Beamten bei Interpol zum Sicherheitschef im Auktionshaus Christie’s ermöglicht. Seit mehr als zehn Jahren leitete er nun die internationale Abteilung für Sicherheitsfragen. Francis war die perfekte Symbiose aus Kunstsachverstand und kriminalistischem Spürsinn, sprach Deutsch und vier andere Fremdsprachen nahezu fließend. Und Francis war ein Gentleman des alten Schlages. Nie gab sich der Endfünfziger einer Frau gegenüber »anlassig«, wie man in Wien sagt. Sie erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen. Galant und charmant, wie er es stets war, hatte er ihr damals die Tür zum Restaurant aufgehalten und ihr den Vortritt gelassen. Ein wenig verunsichert hatte sie geflüstert: »Das ist sehr nett – aber nicht nötig.«

Daraufhin hatte er lapidar geantwortet: »Meine gute Erziehung, Mademoiselle de Vries, die ich, das sei nebenbei bemerkt, meinen hoch geschätzten Eltern zu verdanken habe, verbietet mir, eine außergewöhnlich attraktive Frau wie Sie anzustarren. Auch wenn es mir meine darwinistisch-soziologisch erklärbare Veranlagung als Mann nahe legt, es zu tun! Da kollidieren dann freilich Gene mit guter Erziehung! Meine Eltern konnten mir bei all ihren gut gemeinten Ratschlägen jedoch nicht vermitteln, wie ich einer Dame die Tür aufhalten kann, ohne ihr beim Passierenlassen auf ihre dem Antlitz abgewandten Körperpartien zu schauen. Der Stillose stiert – und der Gentleman genießt, was an ihm vorbeidefiliert! Sie sehen also, Marie-Claire, eine gute Erziehung ist manchmal der wahre Schlüssel zu den kleinen wie auch großen Erfolgserlebnissen des Lebens.«

Das war Francis Roundell, wie sie ihn kannte. Und er wäre nicht der, den alle bei Christie’s schätzten und ihn ob seiner Wortgewandtheit verehrten, hätte er damals nicht noch in seiner köstlichen britisch-überheblichen Manier als Wortspielerei hinzugefügt: »Die niedrigen gallischen und alemannischen Völker vom europäischen Kontinent nennen solche Gesten der Höflichkeit einer Dame gegenüber ja schließlich nicht ohne Hintergedanken ›rücksichtsvoll‹. Schließlich kann die rückwärtige Ansicht einer Dame den Gentleman aufs Höchste begeistern! Was für ein Glück, dass wir jene barocken Zeiten hinter uns haben, da die Herren an den Türen einen Bückling machten und auf den Boden starrten, wenn eine Dame an ihnen vorbei in den Salon tänzelte. Nichts außer zarten Füßchen und vorbeirauschenden Röcken bekamen die Gentlemen damals als Gegenleistung für ihre Galanterie zu sehen.«

Francis’ Humor war grandios. Marie-Claire mochte ihn sehr. Und er war der einzige Mann aus der Zentrale in London, den sie ›herzte‹, wie man die Küsschen auf die linke und rechte Wange in Wien nannte. Doch so unscheinbar der eher schläfrige Sicherheitschef auch aussah und so unkompliziert er sich auch geben mochte, Francis war sehr scharfsinnig. Man durfte ihn nicht unterschätzen.

Am Eingang des Cafés blieb Francis stehen, so wie er das jedes Mal tat. Den vier hölzernen Säulen mit den eingravierten Aphorismen und Sprüchen schenkte er bei jedem Besuch seine besondere Aufmerksamkeit. Immer wieder starrte er auf die Säulen, suchte – und fand.

»Schauen Sie, Marie-Claire! Köstlich, wahrlich ein vortrefflicher Spruch.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Säule. »Was ist Ehre, ein Wort?«, stand dort geschrieben. Marie-Claire lächelte. Sie wusste, dass Francis jetzt sicherlich eine halbe Stunde laut über diesen Spruch nachdenken und sie mit seinen philosophischen Anwandlungen malträtieren würde.

In dem wie immer gegen Mittag von lärmenden Schauspielern, Künstlern und mehr oder minder hochrangigen Beamten des gegenüberliegenden Rathauses und der nahen Hofburg gefüllten Nobelcafé stank es fürchterlich nach Zigarre und nach frischer Druckerschwärze von den herumliegenden Zeitungen. Der Lärm war unerträglich. Die weiße Tischdecke in dem reservierten Separee wies hässliche Kaffeeflecken auf. Ein halb volles Glas Wein stand noch auf dem Tisch. Ein Kellner huschte zweimal vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Marie-Claire sah in Francis’ Augen, was geschehen würde, als der Kellner schließlich kam.

»Grüß Gott«, nuschelte dieser, blieb im Türrahmen gut einen Meter entfernt von ihrem Tisch stehen und fragte eher missmutig: »Was wünschen die Herrschaften?«

»Die Herrschaften wünschen, dass Sie den lieben Gott tatsächlich freundlich grüßen und ihm von einem britischen Besucher mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik ausrichten lassen, er möge sich doch freundlichst entweder für braune oder für weiße Tischdecken entscheiden. Diese hier, die weiß-braun getüpfelte im Kaffeeflecken-Look, passt so gar nicht zum Kostüm meiner charmanten Begleiterin! Und falls es nicht der liebe Gott sein sollte, der in Ihrem altehrwürdigen Etablissement für solch schnöde Dinge wie saubere Tischdecken zuständig ist, bitte ich höflichst, die Hausdame zu involvieren.«

Marie-Claire atmete tief durch. Das war der andere Francis! Der Terrier. Wenn er sich an etwas festgefressen hatte, konnten seine verbalen Tiraden wie Bisse schmerzen. Der Kellner verdrehte ungläubig die Augen. Sein volles Tablett geriet ins Wanken. Er wollte antworten, aber Francis wies ihn in perfektem Deutsch in seine Schranken.

»Es ist zwar sehr nett und fraglos Ausdruck der hinlänglich bekannten österreichischen Gastfreundschaft, dass Sie mir das Glas mit dem Weißwein von meinem letzten Besuch vor einem Monat auf dem Tisch haben stehen lassen, Herr Ober, aber meine charmante Begleiterin und auch meine Wenigkeit haben umdisponiert und uns für eine Flasche Ihres köstlichen Wachauer Federspiel-Rieslings entschieden.«

Marie-Claire glaubte für Momente, der Oberkellner würde wagen, das zu sagen, was er offensichtlich auf der Zunge hatte. Doch der Dickbäuchige räusperte sich nur kurz, schluckte konsterniert, räumte das Glas und die zerfledderten Zeitungen ab und murmelte im Weggehen ein halbherziges »’schuldigen’s! Selbstverständlich, wie die Herrschaften wünschen …«

Francis Roundell würdigte den Kellner keines Blickes mehr, wühlte stattdessen in seinem Aktenkoffer, zog einige Dokumente und Zeitungsausschnitte hervor und lächelte Marie-Claire an.

»Teuerste, erzählen Sie, wie war Ihr Abenteuerurlaub? Mit Verlaub gesagt: Erholt sehen Sie nicht gerade aus, was mich nicht sonderlich wundert. Wer durchquert schon freiwillig in einem holprigen Geländewagen die Wüste und nächtigt, umlauert von skrupellosen, wahrscheinlich sogar lüsternen Arabern, in einem Schlafsack unter freiem Himmel, verzehrt verschimmelte Lebensmittel aus Dosen und …«

»Ach, Francis«, lachte Marie-Claire de Vries lauthals los. »Sie sind und bleiben ein unverbesserlich dekadenter Zivilisationsfanatiker. Ich habe nicht die ägyptische Wüste durchquert, sondern nur die Oase Fayoum besucht. Und das auch nicht im Geländewagen, sondern in einem klimatisierten Bus – begleitet von sehr gebildeten und netten ägyptischen Reiseleitern.«

Kaum, dass Marie-Claire ihrem Sicherheitschef ein wenig von ihrem Urlaub in Ägypten erzählen wollte, änderte sich dessen Ton jedoch. In Bruchteilen von Sekunden schwenkte Francis von der erwarteten jovialen Plauderei auf eine berufliche Unterredung um.

»Da Sie ja tunlichst auf die Mitnahme Ihres Handys im Urlaub verzichten und, wie mir bekannt ist, jeglichen Kontakt zur Außenwelt während Ihrer Urlaube verweigern, werden Sie wohl kaum die Zeitungen gelesen haben, Marie-Claire, oder?«

»Nein, Zeitungen habe ich zwei Wochen lang nicht gelesen. Und auch keine Nachrichten gehört oder gesehen. Im Urlaub bin ich weg, weg von zu Hause und weg vom Job. Nur so kann ich wirklich entspannen. Ich bin erst gestern spät am Abend zurückgekommen. Was ist denn so Wichtiges geschehen, dass Sie mich gleich am ersten Tag besuchen?«

»Gestern früh wurde einer unserer renommierten Kunden auf seinem Schloss in Bayern überfallen, beraubt – und seine Frau vergewaltigt. Die Täter haben einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes entwendet – und zwar nur diesen einen Diamanten: den Kleinen Sancy!«

Marie-Claire de Vries starrte den Sicherheitschef ungläubig an.

»Das ist ja grauenhaft. Sie sprechen von Freiherr von Hohenstein und seiner Frau?«

»Ja, Marie-Claire. Was da geschehen ist, ist grauenhaft. Es waren sehr brutale Täter. Und sie wussten ganz genau, was sie wollten. Weder Bargeld noch andere Wertsachen haben sie geraubt. Dabei hätten sie Schmuck für gut acht Millionen Euro mitnehmen können. Ihr Interesse galt jedoch nur einem einzigen Brillanten – dem Kleinen Sancy!«

»Die haben Schmuck im Wert von acht Millionen Euro nicht angetastet? Das ist aber höchst sonderbar!«

»Sie sagen es, Marie-Claire, Sie sagen es. Aber es kommt noch verrückter! Nur wenige Stunden später wurde eine Vitrine im Palazzo Pitti in Florenz in die Luft gejagt.«

»Was?« Maria-Claire schüttelte entsetzt den Kopf und starrte ihren Sicherheitschef an. »Da ist doch an diesem Wochenende die wunderbare Ausstellung über Maria de Medici eröffnet worden. Ich wollte eigentlich zur Eröffnung nach Florenz fliegen.«

»Seien Sie froh, dass Sie es nicht getan haben. Es gab drei Tote bei der Sprengung der Schmuckvitrine: einen Museumswärter und zwei Besucherinnen. Der Sprengstoff hat zwei Salons sowie unschätzbare Preziosen und wertvolle Gemälde zerstört. Aber es wurde nur ein Schmuckstück geraubt – der Große Sancy!«

Marie-Claire de Vries war sprachlos. Während Francis Roundell sie ausführlich über die dramatischen Geschehnisse informierte und ihr Zeitungsausschnitte mit Bildern von den beiden Tatorten in Florenz und Bayern vorlegte, überschlugen sich ihre Gedanken. Die Brutalität, mit der die Täter vorgegangen waren, schockierte sie. Das Motiv war ihr völlig rätselhaft. Doch im Moment war Marie-Claire mehr damit beschäftigt, dass nur die Verschiebung ihrer Urlaubsreise nach Ägypten ihre Anwesenheit bei der Eröffnung der Ausstellung verhindert hatte. Der Gedanke, dass sie nur durch Zufall nicht auch Opfer dieses Sprengstoffanschlages geworden war, schlug ihr auf den Magen. Dein Karma! Ja, es ist dein Karma gewesen, das dich an diesem Tag weg von Florenz nach Ägypten geführt hat. Sie erinnerte sich der Worte ihrer Freundin, die sich seit langem mit vermeintlich göttlichen Fügungen, mit Schicksalsfragen und astrologischen Themen beschäftigte. »Der Fluss der Dinge, des Lebens ist vorgegeben«, sagte sie stets und meinte, dass es völlig sinnlos, kaum mehr als Ausdruck menschlicher Verzweiflung sei, zu versuchen, auf die wirklich großen, bedeutsamen Geschehnisse des Lebens Einfluss zu nehmen. Francis Roundells Worte rissen sie aus ihrer Nachdenklichkeit. Er klang ungewöhnlich angespannt.

»Die beiden Raubüberfälle, Marie-Claire, sind eine Sache. Weswegen ich zu Ihnen nach Wien gekommen bin, ist jedoch eine ganz andere. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen diesen beiden spektakulären Aktionen und gewissen Geschehnissen bei uns im Auktionshaus gibt.«

Marie-Claire blickte ihn fragend an. »Das verstehe ich nicht, Francis.«

»Vor einigen Monaten tauchten innerhalb von drei Wochen zwei Männer bei uns in der Zentrale auf, die sich beide für eine unserer Auktionen in Genf im Jahre 1981 interessierten. Im Versteigerungskatalog wurde damals auf Position siebenhundertzehn ein Diamant mit hundertsiebenunddreißig Karat aufgeführt. Der außergewöhnlich schöne, gelbliche Stein war uns von dem Verkäufer anonym über ein Anwaltsbüro offeriert worden.«

»Hundertsiebenunddreißig Karat? Ein gelblicher Diamant?«, unterbrach Marie-Claire ihn. »Das hört sich an, als sprächen wir hier über den Florentiner.«

»Richtig, Sie haben es erraten, Marie-Claire!« Francis Roundell machte keinen Hehl aus seiner Anerkennung für die schnelle Auffassungsgabe und die Kompetenz seiner Kollegin.

»Es ging wahrscheinlich tatsächlich um den berühmten Florentiner. Leider wurde das Verkaufsangebot kurz vor der Auktion aus uns nicht bekannten Gründen zurückgezogen. Bilder haben wir nie zu sehen bekommen. Lediglich die Expertise eines renommierten Edelsteinexperten. Wir haben nie wieder etwas von diesem Hundertsiebenunddreißig-Karäter gehört, bis nun plötzlich diese beiden Männer vor einigen Monaten auftauchten und sich für die knapp fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Auktion interessierten. Sie sprachen ganz offiziell bei uns vor und baten darum, dass wir ihr Interesse an diesem Hundertsiebenunddreißig-Karat-Edelstein an den Anwalt des damaligen Anbieters weiterleiten.«

»Ein höchst ungewöhnliches Anliegen, nicht wahr?«

»Mehr als ungewöhnlich! Das ist mir in meinen vielen Jahren bei Christie’s noch nie passiert. Zumal es bekanntlich zu den unantastbaren Geschäftsprinzipien unseres Auktionshauses gehört, keine Informationen über Käufer beziehungsweise Verkäufer an Dritte weiterzugeben. Die beiden Männer haben uns mit ihrem Anliegen so irritiert, dass unsere Sicherheitsabteilung sofort aktiv wurde. Beide Männer wurden beim Verlassen der Christie’s-Zentrale in London heimlich fotografiert. Fingerabdrücke existieren ebenfalls von beiden. Von einem der Männer haben wir ein Autokennzeichen, von dem anderen eine Telefonnummer.«

Marie-Claire de Vries schwirrte der Kopf. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden aus dem Urlaub zurück, hatte bislang keine Gelegenheit gehabt, ihre nicht ganz unproblematische Ägyptenreise und die sich für sie daraus abzeichnenden Konsequenzen für ihr Privatleben zu überdenken und zu verarbeiten, und schon wurde sie von Francis mit einer Flut von Informationen über brutale Raubüberfälle und suspekte Geschehnisse überrollt.

»Sehen Sie es mir bitte nach, Francis«, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen, »warum erzählen Sie mir all diese Dinge aus dem Jahre 1981? Was hat das mit den Raubüberfällen von gestern zu tun?« Erwartungsvoll sah sie den Sicherheitschef an. Francis Roundell nippte nachdenklich an seinem Wein. Seine Augen glänzten wieder. Mit der linken Hand fuhr er sich durch sein lichtes, ergrautes Haar. Er sprach plötzlich auffallend leise.

»Wenn mich nicht alles täuscht, Marie-Claire, gibt es da eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden spektakulären Diebstählen des Kleinen und des Großen Sancy und jenem Diamanten, der 1981 über uns in Genf zur Versteigerung gelangen sollte – also eine Verbindung zu dem Florentiner. Diese drei Diamanten waren vor mehr als fünfhundert Jahren im Besitz eines Mannes: Karls des Kühnen. Er hatte diese Edelsteine von seinem Vater, Philipp dem Guten, geerbt. Er nannte diese Diamanten damals die ›drei Brüder‹, was erahnen lässt, dass es einen mystischen Zusammenhang zwischen diesen Edelsteinen gab. Auch andere Parallelen sind höchst ungewöhnlich: Sowohl Philipp der Gute als auch sein Sohn Karl der Kühne waren Souveräne, also die führenden Köpfe des geheimnisumwitterten Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Es wurde durch alle Jahrhunderte hindurch immer wieder über eine Verbindung dieses Ordens zum sagenumwobenen Schatz der Templer gemunkelt. Außerdem gibt es da noch eine höchst mysteriöse indische Legende. Demnach sollen drei ungewöhnlich große Diamanten vor langer Zeit als Augen eine riesige Götterstatue geziert haben. Die Legende besagt, dass diese Diamanten als die ›göttlichen drei Brüder‹ über Macht, Erleuchtung und ewiges Leben wachen!«

Marie-Claire de Vries war sich im Klaren darüber, wie verdutzt sie ihren Sicherheitschef anschaute. Und sie war auch mehr als überrascht. Francis war bei all seinem Charme und seiner Neigung zu weit ausschweifenden verbalen Exkursen dafür bekannt, dass er extrem analytisch und emotionslos denken und handeln konnte. Er war ein kühler Kopf, wenn es um seine Aufgabe als Sicherheitschef des weltberühmten Auktionshauses ging, zu dessen Klientel der internationale Hochadel ebenso gehörte wie Multimillionäre und vermögende Neureiche. Francis Roundell konnte sich Gefühle in seinem Job nicht erlauben. Wenn es irgendwo bei Christie’s ein Problem gab, wenn die Herkunft oder Echtheit wertvoller Gemälde, Schmuckstücke oder anderer Kunstgegenstände nicht zweifelsfrei waren, wenn die Seriosität oder die Bonität von Kunden überprüft werden mussten oder gar der Verdacht im Raum stand, dass auch nur ein Hauch von Illegalität in Verbindung mit einem Kauf oder Verkauf im Raum stand, waren Francis und seine Leute gefragt. Für sicherheitstechnische Aspekte der Mitarbeiter des Auktionshauses war er ebenfalls zuständig. Die Sicherheitsabteilung operierte extrem verschwiegen, war direkt dem Vorstand des Auktionshauses unterstellt und nur einigen wenigen ausgewählten Personen auskunftsberechtigt. Was die Sicherheitsabteilung tat, war ebensosehr strenger Geheimhaltung unterworfen wie die Frage, wie sie es taten. Eigentlich, dachte Marie-Claire in diesem Moment, ist die Sicherheitsabteilung wie ein interner Geheimdienst. Niemand wusste, was da in der King’s Street im Londoner Stadtteil St. James vor sich ging. Vielmehr kursierte das Gerücht, es gebe außerhalb der Zentrale noch versteckte Büros des Sicherheitsdienstes, so genannte Secret Offices, in denen höchst diffizile Angelegenheiten des Auktionshauses mit größter Diskretion erledigt würden. Marie-Claire schaute Francis Roundell voller Hochachtung an. Ja, er war ein Perfektionist, wenn es sein musste berechnend und völlig emotionslos. Wenn ein solcher Mann plötzlich anfing, von Legenden und Mythen zu sprechen, musste das einen Grund haben. Sie war sich sicher, dass Francis nicht eigens aus London zu ihr nach Wien gekommen war, um ihr Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu erzählen. Die Gedanken an ihren Urlaub waren verflogen, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem, was Francis erzählte.

»Francis, Sie nehmen mir das bitte nicht übel, wenn ich sage, dass mich solche Märchengeschichten aus Ihrem Mund höchst nachdenklich machen? Was wollen Sie mir wirklich sagen? Was haben diese Legende von der Götterstatue, die Mär von dem Schatz der Templer, die Ritter vom Goldenen Vlies und diese beiden Raubüberfälle mit dem Auktionshaus Christie’s zu tun?«

Der Sicherheitschef wühlte in den mitgebrachten Dokumenten, vertiefte sich für Momente in die Kopie eines Dokuments mit Schriftzeichen, die Marie-Claire de Vries nicht einzuordnen wusste. Dann holte er tief Luft.

»Marie-Claire, mir ist natürlich bewusst, dass sich all das höchst wirr anhört, quasi wie eine Weltverschwörungstherorie. Ja, das weiß ich! Alles in allem sind das tatsächlich höchst verwunderliche Zusammenhänge! Unser Auktionshaus ist es ja gewohnt, dass sich bei wertvollen Edelsteinen und Schmuckstücken Mythen und Fakten zu kaum mehr verifizierbaren Geschichten verquicken. Aber diese Angelegenheit hier ist außergewöhnlich! Wie auch immer: Diese Männer, die bei uns in London vorstellig wurden, leben offensichtlich im Bewusstsein, dass damals in Genf der Florentiner zur Versteigerung gelangen sollte. Sie interessieren sich für diesen Diamanten. Aus welchen Gründen auch immer! Vielleicht gibt es ja sogar eine Verbindung zwischen diesen Männern und den Tätern von Florenz und Bayern. Überlegen Sie einmal, Marie-Claire. Innerhalb weniger Tage dreht sich auf einmal alles um drei der berühmtesten Diamanten des europäischen Abendlandes: den Großen Sancy, den Kleinen Sancy – und der Florentiner. Diamanten, um die sich unzählige Mythen und Legenden ranken. Der Florentiner ist seit langer Zeit nicht mehr gesehen worden! Genau gesagt, seit zirka 1920! Plötzlich zeigen höchst suspekte Männer Interesse an dem weltberühmten Edelstein und einer Versteigerung, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt. Kurz darauf verschwinden zwei weitere berühmte Diamanten, sie werden geraubt. Solche Zufälle, Marie-Claire, gibt es nicht! Und meine Einschätzung wird vom Christie’s Board of Directors in London geteilt. Wir wollen wissen, was da los ist.«

Erneut zog Francis Roundell ein mehrseitiges Dokument aus seinem Aktenkoffer hervor und überflog die Seiten.

»Einer der Männer, die vor einigen Monaten in London Interesse am Florentiner zeigten, war ein Österreicher namens Gregor von Freysing aus Wien. Ein Privatsammler, wie er behauptete. Der andere war ein Araber namens Jilani Resaigni. Er gab vor, für eine arabische Organisation zur Rückführung entwendeter arabischer Kulturgüter zu arbeiten. Und nun, Marie-Claire, kommt die Sensation! Laut der Aussage des Freiherrn von Hohenstein waren alle Täter bei dem Überfall auf ihn und seine Frau Araber! Laut von Hohenstein faselte der Anführer irgendetwas davon, dass der Stein nicht ins Abendland gehöre. In Florenz wiederum wurde einer der Täter festgenommen. Es war ein zwölfjähriger Junge! Ein Araber! Das alles ist kein Zufall, Marie-Claire! Meine Intuition sagt mir, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Männern und den spektakulären Diebstählen im Palazzo Pitti und in Bayern gibt – und damit auch eine Verbindung zum Florentiner. Irgendwann in nächster Zeit, das ahne ich, wird etwas mit diesem Florentiner-Diamanten auf uns zukommen. Wenn dieser Diamant auf dem Markt auftauchen würde, wäre das eine Sensation. Und es wäre ein unvergleichlicher ideeller wie auch finanzieller Erfolg für Christie’s, wenn wir es wären, die diesen Stein versteigern könnten. Sein materieller Wert lässt sich auf nahezu acht Millionen Euro schätzen. Aber sein ideeller Wert als ein von Legenden umrankter Edelstein, der über Jahrhunderte europäischen Königen und Kaisern gehörte, macht ihn unschätzbar und lässt fantastische Dimensionen bei einer eventuellen Versteigerung erahnen. Es ist immer gut zu wissen, Marie-Claire, dass bereits potenzielle Käufer existieren!«

Marie-Claire de Vries bestellte sich bei dem nun merklich aufmerksameren, aber nicht gerade sonderlich freundlichen Kellner einen Cappuccino. Es war bereits drei Uhr. Sie war müde und nach dem Urlaub von all diesen Informationen und Thesen überfordert. Francis hatte ihr ein umfangreiches Dossier übergeben, und sie hatte die Unterlagen kurz überflogen. Diese Basisinformationen zeigten ihr, dass der Auftrag außergewöhnlich war. Trotz ihrer Müdigkeit faszinierte sie diese höchst mysteriöse Angelegenheit maßlos.

»Francis, jetzt sagen Sie mir bitte, was ich mit all diesen Dingen zu tun habe. Ich platze ja bald vor Neugier!«

»Ganz einfach, Marie-Claire! Sie sind unsere Expertin für historische Schmuckstücke. Sie sind reiseerfahren, sprechen mehrere Sprachen fließend – darunter auch Arabisch –, und Sie genießen mein Vertrauen. Uneingeschränkt! An diesen drei Diamanten hängt mehr, als wir alle ahnen. Bitte wahren Sie strengstes Stillschweigen über das, was Sie tun. Niemand, Marie-Claire, und ich betone: niemand außer Ihnen und mir darf wissen, wonach Sie suchen. Und absolut niemand darf erfahren, dass wir in unseren Unterlagen Informationen zu dem damaligen Auktionsanbieter von Genf, dem vermeintlichen Besitzer des Florentiners haben. Niemand! Es könnte sein, dass dieser Besitzer in großer Gefahr schwebt, weil gewisse Leute wissen, warum diese drei Edelsteine irgendwie zusammengehören. Diese mysteriösen ›drei Brüder‹ oder, wie die indische Legende sie tituliert, die ›göttlichen drei Brüder‹, bergen ein Geheimnis in sich. Marie-Claire, finden Sie heraus, was es ist …«