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Commissario Franco Manzoni war außer sich vor Wut. In wenigen Sekunden entlud sich all seine Frustration aus den zurückliegenden fünfunddreißig Dienstjahren. »Porca miseria«, presste er hervor, sprang mit hochrotem Kopf und blitzenden Augen vom Stuhl hoch und schritt wild mit den Händen gestikulierend durch sein Büro hin zum Fenster. Laut und schnell atmend starrte er für Momente hinunter auf die Straße, drehte sich dann abrupt um und blickte Staatssekretär Alberto Pellini aus dem Justizministerium mit unverhohlener Verachtung an.
»Bei allem gebotenen Respekt, Herr Staatssekretär: Was Sie fordern, ist ein Unding, ein Skandal! Das ist eines Rechtsstaates nicht würdig! Seit fünfunddreißig Jahren bin ich nun im Dienst, und wenn es das Letzte ist, was ich vor meiner anstehenden Pensionierung tun werde: Das werde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern wissen! Mit mir, Herr Staatssekretär, ist das nicht zu machen – basta!«
Der Staatssekretär schien völlig unberührt von den Worten des Kommissariatsleiters. Hinter seiner dickglasigen Nickelbrille blickte er mit grenzenloser Arroganz den noch immer aufgebracht in seinem Büro auf und ab laufenden Commissario an. Er kannte Franco Manzoni seit vielen Jahren. Ein exzellenter Kriminalbeamter, der sich in den Hochzeiten der Roten Brigaden in den siebziger Jahren bei einem Sonderkommando in Rom einen hervorragenden Ruf als Terroristenfahnder erworben hatte. Aber das lag nun schon viele Jahre zurück. Seit der Commissario aus privaten Gründen als Kommissariatsleiter für Eigentumsdelikte nach Florenz versetzt worden war, war es ruhig geworden um den legendären Terroristenfahnder. Nein, aus dem einst mit höchst unkonventionellen Mitteln unglaublich effektiv und erfolgreich agierenden schlanken Terroristenjäger war ein dickleibiger, träger Pensionist geworden. In sechs Monaten würde er aus dem Dienst ausscheiden, und daher war sich Staatssekretär Pellini sicher, dass dieser cholerische Anfall des Commissario nicht lange anhalten würde. Außerdem war Manzoni weisungsgebunden. Der Innenminister hatte entschieden, dass der arabische Junge abgeschoben werden würde. Daran konnte Commissario Manzoni kaum etwas ändern.
»Franco«, suchte er den aufgebrachten Kriminalbeamten zu besänftigen, »Sie sprechen von Rechtsstaatlichkeit, führen sich selbst aber auf wie ein Ignorant, dem jegliches Feingefühl für das Recht fehlt! Unsere Gesetze sagen nun einmal unmissverständlich, dass ein zwölfjähriges Kind nicht strafmündig ist. Das vorläufige Gutachten unseres Psychologen attestiert diesem kleinen arabischen Knirps einen IQ, der eher im Grenzbereich zum Schwachsinn angesiedelt ist. Der wird nicht einmal nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden können! Wollen Sie ein Kind, das, mit Verlaub gesagt, auch noch blöde ist, ins Gefängnis sperren?«
»Dieses angeblich blöde Kind hat drei Menschen umgebracht!«, fauchte Commissario Manzoni ungehalten. »Es ist ein kleiner, abgerichteter Killer!«
»Ohne jegliches Unrechtsbewusstsein …«, unterbrach ihn der Staatssekretär.
»Quatsch, absoluter Quatsch ist das«, echauffierte sich Franco Manzoni. Er spürte, dass er in der Stimmung war, seinen ganzen angestauten Unmut rauszukotzen. Diesen aufgeblasenen Staatssekretär mit seinem Hühnerhabichtgesicht mochte er sowie nicht. Ihm war heute alles egal. In sechs Monaten würde er pensioniert. Jetzt war die Zeit gekommen, zu sagen, was er zu sagen hatte. »Dieser arabische Knirps ist genauso wenig unschuldig, wie es jene Kinder sind, die in Palästina mit Stein- und Metallschleudern israelische Polizisten beschießen und schwer verletzen, Molotow-Cocktails werfen – und dann hinterher von der palästinensischen Propaganda in den Medien weltweit als arme, unschuldige, von brutalen israelischen Soldaten geschundene Kinder präsentiert werden!«
»Ich bitte Sie, Franco …«, wollte der Staatssekretär den in Rage geratenen Beamten unterbrechen. Aber Franco Manzoni fühlte sich plötzlich ungemein wohl bei dem, was er sagte.
»Dieser junge Bursche, der einen Museumswächter und zwei Besucherinnen im Palazzo Pitti in die Luft gejagt hat, ist genauso wenig unschuldig, wie es jene Kinder sind, die von Djihad-Fanatikern ausgebildet werden, mit Sprengstoffgürteln um den Bauch Zivilisten zu töten. Das sind keine Kinder, verdammt, das sind junge Menschen, die in einer von abgrundtiefem religiös-fundamentalistischem Hass geprägten Welt aufwachsen. Nach Jahren gezählt sind es Kinder. Richtig! Aber es sind Täter, die genau wissen, was sie tun, weil alle anderen Menschen in diesen Regionen es ohne jegliches Unrechtsbewusstsein auch tun. Und deswegen ist es für sie legitim, zu verletzten, zu töten – bei vollem Bewusstsein, dass sie töten. Wenn eines von diesen, wie Sie sagen, Kindern in einem fundamentalistischen, nach den Rechtsprinzipien der Scharia regierten Land eine ähnliche Straftat begehen würde, träfe es die geballte Macht der Gnadenlosigkeit Allahs, Herr Staatssekretär! Einem Kind, das dort klaut, wird die Hand abgehackt. Wenn es zu jung ist, das Kind, wird seinem Vater die Hand abgehackt! Denn er ist es, der verantwortlich ist für das Tun seines leiblichen Zöglings. So ist das mit der Rechtsstaatlichkeit in anderen Ländern!«
Staatssekretär Pellini hätte gerne gesagt, dass vieles stimmte von dem, was Commissario Manzoni sagte, aber das durfte er nicht. Seine Direktiven aus dem Justizministerium waren eindeutig und nicht zu diskutieren. Verlegen räusperte er sich.
»Das unterscheidet eben Rechtsstaatlichkeit in Europa von jener in den von Ihnen benannten Ländern. Für unsere moralisch-ethischen Werte und die daraus resultierenden Rechtsprinzipien hat das christliche Abendland jahrhundertelang gekämpft. Franco, wollen Sie, dass wir zurück in die Zeiten der Barbarei, diktatorischen Unrechtssysteme und despotischen Willkürherrschaft fallen?«
»Das ist absurd, Herr Staatssekretär, völlig widersinnig, was Sie da fragen. Natürlich will ich das nicht! Aber es kann auch nicht sein, dass aus jenen Ländern, die sich unseren Rechtsprinzipien nicht verpflichtet fühlen, dass aus solchen Ländern vermeintliche Kinder von ihren Vätern und Verwandten nach Italien geschickt werden, hier Straftaten begehen, bandenmäßig organisiert klauen, mit Rauschgift handeln – oder, wie jetzt im Palazzo Pitti, Menschen mit Sprengstoff in die Luft jagen, um dann als arme, unschuldige Kinderlein völlig straffrei wieder nach Hause geschickt zu werden. Das unterhöhlt unser Rechtsprinzip, degradiert unsere Kriminalbeamten zu Witzfiguren! Es macht mich und die Menschen dieses Landes zu recht- und hilflosen Hampelmännern – machtlos gegenüber jenen, die unsere demokratischen Prinzipien für ihr Tun skrupellos ausnutzen. Das, Herr Staatssekretär, kann nicht sein!« Der Commissario holte tief Luft, wandte Alberto Pelini demonstrativ den Rücken zu, schaute aus dem Fenster und sprach weiter. Diesmal jedoch sehr ruhig.
»Politische Entscheidungen wie die Erweiterung der Europäischen Union sind eine wunderbare Sache. Ohne Frage. Aber seit die EU wächst wie ein gutartiges Geschwür, ist die Diskrepanz zwischen dem, was in Brüssel oder Rom entschieden wird, und dem, was wir von der Exekutive draußen auf der Straße mitmachen müssen, zu einem kaum mehr zu bewältigenden Problem mutiert. Zehntausende Flüchtlinge strömen aus Nordafrika und vom Balkan nach Italien. Sie wissen selbst, wie dramatisch die Situation in den Auffanglagern ist! Ein nicht unerheblicher Prozentsatz jener, die da als Flüchtlinge kommen, sind kriminelle Elemente. Die kommen, weil sie hier in wenigen Monaten durch Diebstahl und andere Delikte nicht nur das Geld für die Passage auf den Schiffen professioneller Menschenschmuggler zurückzahlen können. Nein, die verdienen durch kriminelle Aktivitäten hier so viel Geld, wie sie in ihren Heimatländern im ganzen Leben nicht in die Hände kriegen würden. Angst vor dem Gefängnis? Pah, die lachen sich schief. Ein italienisches Gefängnis ist für die ein Drei-Sterne-Hotel mit Vollpension! Angst vor Abschiebung? Nein, haben sie nicht. Sie kommen einfach wieder. Bulgarische Kinderbanden machen die Bahnhöfe Italiens unsicher. Albanische Kinderbanden sind die Straßendealer und Kuriere internationaler Heroin- und Kokaingangs. Die Kids sind manchmal erst zehn Jahre alt! Nehmen wir eins von ihnen fest, sind sie strafunmündig und dürfen nicht einmal verhört werden! Abgeschoben werden können sie auch nicht. Ihre Eltern sagen ganz einfach, dass es Ihnen Leid tut, was ihre Zöglinge da anstellen. Zwei Wochen später sind die Jungen und Mädchen wieder auf der Straße – wo sie hingeschickt werden! So wie dieser angeblich marokkanische Junge mit dem geradezu lächerlichen Namen Ibrahim Moulay Idriss! Das ich nicht lache!«
»Was ist mit diesem Namen?«, unterbrach Alberto Pellini ihn. Commissario Franco Manzoni lächelte süffisant. »Es ist der Name einer marokkanischen Stadt, die Grabstätte von Idriss I. – also so was wie eine Pilgerstätte! Diese Leute erlauben sich, uns zu verarschen. Sie schicken uns ein Kind, einen Killer mit dem Namen eines vor Hunderten von Jahren verstorbenen marokkanischen Heiligen. Allein das, Herr Staatssekretär, diese maßlose Provokation wäre früher für mich Grund genug gewesen, mich wie ein Spürhund auf die Fährte dieser Leute zu heften. Aber das werde ich wohl nicht mehr tun. Ich denke, in Anbetracht der Tatsache, dass übergeordnete staatliche Interessen, wie es so schön heißt, in diesem Falle jegliche polizeiliche Ermittlungen unterbinden, werde ich wohl die nächsten sechs Monate bis zu meiner Pension fürchterlich krank werden. Ja, ich werde krankfeiern. Das heißt, eigentlich bin ich es schon.«
»Finden Sie nicht, dass Sie ein bisschen pathetisch sind«, versuchte Staatssekretär Pellini die extrem angespannte Stimmung ein wenig zu entkrampfen. Doch mit seiner Bemerkung erreichte er genau das Gegenteil. Der Commissario wirbelte herum, ging auf den Staatssekretär zu, schüttelte den Kopf und lachte hämisch.
»Wer diesen Jungen geschickt hat oder ihn vielleicht sogar durch Erpressung gezwungen hat, die beiden Sprengstoffpäckchen anzubringen, war ein Profi – ein eiskalter, skrupelloser Profi. Und wenn mich nicht alles täuscht, wenn mich nicht meine zwanzig Jahre Erfahrung in der Terroristenfahndung täuschen, dann waren das Terroristen. Arabische Terroristen! Denn über eins sind wir uns ja wohl alle im Klaren: Die Täter von Bayern und jene vom Palazzo Pitti sind ein und dieselben Leute. Da wette ich meine Pension drauf! Ich weiß nur noch nicht, wie diese Dinge wirklich zusammenpassen. Aber ich will es jetzt auch nicht mehr wissen.«
Staatssekretär Alberto Pellini schluckte betroffen. Er musste dieses in Grundsatzdiskussionen ausartende Gespräch kraft seiner Autorität abrupt beenden. Und er wollte es auch beenden, denn ihm war klar geworden, dass Franco Manzoni Recht hatte. Der Commissario lag mit seiner Einschätzung, dass arabische Terroristen in die Vorfälle verwickelt waren, genau richtig. Im Innenministerium sah man das ganz genauso, und daher hatte sich der italienische Geheimdienst längst mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst in Verbindung gesetzt.
Bedeutungsvoll zog Pellini ein Dokument aus seinem Aktenkoffer hervor. »Wie auch immer, Commissario Manzoni. Der Innenminister hat befunden, dass der zwölfjährige Ibrahim Moulay Idriss in Abstimmung mit dem Botschafter des Königreichs Marokko wegen Strafunmündigkeit und verminderter Schuldfähigkeit abgeschoben wird. Man wird ihn heute gegen sechzehn Uhr einem Bevollmächtigten der Botschaft übergeben. Der Junge darf bis dahin weder polizeilich noch staatsanwaltlich befragt werden.«
Mit sehr leiser Stimme wandte Alberto Pellini sich zu Franco Manzoni. »Ich weiß, dass Sie Recht haben, Franco. Ich weiß es! Aber das ist nun einmal das italienische Recht, das Gesetz. Es ist ein Kind. Wir handeln nur nach Recht und Gesetz.«
Gegen fünfzehn Uhr verließ Commissario Franco Manzoni sein Büro. Als er über den Flur zum Treppenaufgang des Polizeipräsidiums ging, trug er keine Dienstwaffe mehr. Er hatte sie seinem Vorgesetzten wortlos auf den Tisch gelegt und sich krank gemeldet.
»Nein«, murmelte er am Haupteingang vor sich hin, »hier wird nicht nach Recht gehandelt – nur nach dem Gesetz. Recht und Gesetz sind zwei verschiedene Paar Schuhe an den Füßen einer den aktuellen Geschehnissen hinterherhinkenden Nation.«
Kaum, dass er den Innenhof des Polizeipräsidiums verlassen hatte, holte er sein Handy hervor und rief eine gespeicherte Nummer an.
»Du hast knapp eine Stunde Zeit«, flüsterte er, »um vier Uhr wird der Junge an die marokkanische Botschaft übergeben. Pass auf dich auf! Noch was, Carlo: ich verlasse mich darauf, dass du mich aus dieser ganzen Sache raushältst.«
*
Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein hörte dem für die Haftprüfung zuständigen Richter zwar zu, aber seine Gedanken waren woanders. Wie in Trance hörte er die Stimme seines Rechtsanwaltes.
»Natürlich ist meinem Mandanten bewusst, dass er weder den Schuldausschließungsgrund der putativen Notwehr noch den der Erwiderung auf der Stelle geltend machen kann. Mein Mandant stand zur Tatzeit unter Schock. Er war nach den brutalen Geschehnissen mit seiner Frau nicht zurechnungsfähig. Er ist bereit, die Verantwortung für seine Tat zu tragen. Da Sie sein an Eides Statt niedergelegtes Geständnis haben und bei meinem Mandaten fraglos weder die Haftgründe der Flucht- noch der Verdunkelungsgefahr bestehen, stellen wir hiermit den Antrag, meinen Mandanten gegen Kaution aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Er ist ein angesehener, rechtschaffener Mann, Familienvater und seit Jahrzehnten Mitglied dieser Stadtgemeinde. Selbstredend wäre mein Mandant auch bereit, seinen Reisepass abzugeben und sich bis zur Gerichtsverhandlung regelmäßig bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden.«
Bei dem Stichwort Reisepass schreckte Freiherr von Hohenstein aus seinen Gedanken hoch. Das wäre schlecht, wenn ich den Reisepass abgeben müsste, schoss es ihm durch den Kopf. Es wird zwar kein allzu großes Problem sein, sich gefälschte Dokumente zu besorgen, sein Geschäftspartner Dimitri in Moskau könnte da sicherlich behilflich sein. Es würde jedoch seine Pläne fraglos sehr erschweren, wenn er sich regelmäßig bei einer Polizeidienststelle melden müsste. Nein, das wäre alles andere als gut. Es war absehbar, dass er längere Reisen unternehmen müsste. Vielleicht in den Nahen Osten, vielleicht nach Nordafrika. Dafür musste er flexibel und mobil sein.
Gespannt starrte er den Richter an. Er kannte Friedhelm Ringmann gut. Seit Jahren spielten sie zusammen Golf und waren beide Mitglieder im Lions Club. Friedhelm schaute ihn an. Ihm war anzusehen, dass ihm die Situation peinlich war. Freiherr von Hohenstein lächelte ihn kurz an und war nicht wirklich überrascht, wie Friedhelm Ringmann, Richter am Landesgericht Sigmaringen, schließlich entschied.
»In Anbetracht der Tatsache, dass Freiherr von Hohenstein sein Geständnis unter Eid bestätigt hat und seitens der Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte dafür gesehen werden, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entziehen wird, ordne ich hiermit an, dass die Untersuchungshaft des Freiherrn Georg Ludwig von Hohenstein gegen Zahlung einer Kaution von einhunderttausend Euro mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird.«
Georg von Hohenstein triumphierte innerlich. Nun stand seinem Plan nichts mehr im Wege. Er war auf freiem Fuß. Klara war in der psychiatrischen Privatklinik eines gemeinsamen Freundes gut aufgehoben. Jetzt galt es zunächst, über Freunde bei den Sicherheitsbehörden mehr Details über die Täter und ihre eventuellen Hintermänner in Erfahrung zu bringen. Das würde kein Problem sein. Sein Anwalt hatte Akteneinsicht, auch in die Ermittlungsakten der Kriminalpolizei. Alles Weitere würde er über einen Studienkollegen, der beim bayrischen Innenministerium in leitender Position war, erfahren. Er wollte Rache, Genugtuung! Seit er erfahren hatte, dass der von ihm erschossene Fahrer des BMW keine Narbe am Bauch hatte, folglich nicht der Vergewaltiger gewesen sein konnte, trieb ihn nur noch ein Gedanke an: den Schmächtigen zu finden und ihn zu töten. Georg Ludwig von Hohenstein wunderte sich noch immer darüber, dass es nicht der schmächtige Araber gewesen war, dem er laut Polizeibericht in die Schläfe geschossen hatte. Er war sich absolut sicher gewesen, in dem Fahrer des Wagens den Vergewaltiger seiner Frau erkannt zu haben. Ganz egal, dachte er jetzt. Einer ist tot. Er hat es verdient. Einer ist verwundet. Den hatte die Kugel eines Polizisten erwischt. Und den, der Klara vergewaltigt und mich gezwungen hat, dabei zuzuschauen, den Kleinen mit der Narbe auf dem Bauch, den schnappe ich mir …
Gegen Viertel nach drei wurde Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein aus der Untersuchungshaft entlassen und stieg in den Wagen seines Anwalts.
*
Nahezu zeitgleich betrat der Kriminalbeamte Carlo Frattini vom Betrugsdezernat das Zimmer 323 im dritten Stock des Polizeipräsidiums von Florenz. Seine Kollegin Francesca saß auf dem Stuhl in der Ecke des Büros, unmittelbar neben dem vergitterten Fenster. Der kleine Araber hockte zusammengekauert in einer Ecke und starrte ihn an. In dem Trainingsanzug, den man ihm von der marokkanischen Botschaft gebracht hatte, sah er älter aus.
»Ciao, Francesca«, grüßte Carlo. »Der kleine Killer wird gleich abgeholt. Ich dachte, er will vielleicht noch einmal auf die Toilette, bevor er fährt. Ist eine lange Fahrt von Florenz nach Rom. So wie ich die Araber kenne, wird er kaum mit dir auf die Toilette gehen wollen.«
Die Kriminalbeamtin lächelte ihn an. »Was machst du denn hier? Von mir aus, frag ihn, wenn es dir gelingt. Zu mir sagt er keinen Pieps. Aber du kannst ja perfekt Arabisch. Vielleicht muss er wirklich mal. Aber pass auf, dass er nicht aus dem Fenster springt.«
Der Junge starrte den hünenhaften Mann mit der Waffe im Schulterholster ängstlich an.
»Komm mit! Aber versuch nicht abzuhauen. Du kommst hier nicht raus. Außerdem holen dich deine Landsleute gleich ab. Also komm.«
Der arabische Junge wunderte sich, auf Arabisch angesprochen zu werden. Verunsichert lächelnd ging er langsam auf Carlo Frattini zu. Entsetzt schüttelte er den Kopf, als der Kriminalbeamte ihm Handschellen anlegte.
»Dass machen wir hier in Italien immer so mit Mördern«, zischte Carlo Frattini wütend und schob den Jungen vor sich her aus dem Zimmer.
Zwanzig Schritte den Flur entlang nach rechts lag die Herrentoilette. Der Flur war menschenleer. Carlo Frattini öffnete die Tür. Im Vorraum war niemand. Im hinteren Raum mit den vier Toilettenkabinen schien ebenfalls niemand zu sein. Er bückte sich und schaute unter den Türen hindurch. Nein, keiner da! Sein Blick ging zu dem kleinen Fenster an der Stirnwand. Es war nicht vergittert, weil es nur in den engen Luftschacht führte. Hier konnte kein Festgenommener fliehen. Jedenfalls kein Erwachsener. Der Junge starrte ihn an. Angst lag in seinem Blick. Blitzschnell griff Carlo Frattini mit der rechten Hand nach dem Kopf des Jungen, riss ihn herum, zwang ihn mit seinem Körpergewicht auf den Boden, presste seine Hand auf den Mund des sich wild wehrenden Kindes, zerrte mit der anderen Hand eine Rolle Klebeband aus seiner Jackentasche und verband ihm mit wenigen Handgriffen den Mund. Er spürte die große Angst des Jungen unter sich.
»Hör auf zu strampeln«, fuhr er ihn an und drehte ihn auf den Rücken.
Der Junge riss die Augen weit auf. Er hatte Todesangst. Der Kriminalbeamte huschte zur Eingangstür, verriegelte sie von innen und schloss die Zwischentür hinter sich. Der Junge blieb wie paralysiert liegen. Langsam schritt Carlo Frattini an ihm vorbei zum Fenster, öffnete es, packte das schmächtige Kind mit beiden Händen an der Hüfte, wuchtete es mühelos vom Boden direkt an das Fenster und legte den in Handschellen gefesselten kleinen Körper mit dem Bauch auf das Fenstersims, so dass der Kopf des Kindes aus dem Fenster im dritten Stock hinab in den Lüftungsschacht baumelte. Der Junge hörte schlagartig auf zu zappeln. Die Angst, in den engen Schacht hinabzustürzen, lähmte ihn. Carlo Frattini stöhnte unter der Anstrengung und Aufregung.
»Du hast meinen Vater getötet. Ihr habt meinen Vater getötet! Er war ein gutmütiger Mann, ein kranker alter Museumswärter, der es verdient hätte, friedlich zu sterben und nicht in die Luft gesprengt zu werden …«
Der Junge schluchzte. Carlo Frattini empfand kein Mitleid. Stattdessen zuckte er kurz mit beiden Händen, als wolle er das Kind hinabstoßen. Doch er zog den Jungen wieder zurück, ließ ihn auf den Boden gleiten und drehte ihn auf den Rücken. Er erschrak ein wenig, als er die Todesangst in den Augen des Kindes sah.
»In meiner Heimat Sardinien gilt unter sardischen Hirten seit jeher das Gesetz der Vendetta: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Tötest du meinen Vater, töte ich dich oder deinen Vater – oder deine Brüder. Ich bin Polizist. Kein besonders guter, nein. Ich habe schon gestohlen, und ich habe schon betrogen. Sarden sind arm. Sie waren es immer. Auch ich war arm, ein Hirte, als Kind so dünn und so unschuldig, wie du es einmal warst. Arm geboren – und arm wäre ich krepiert, aber ich wollte nicht arm sterben. Deswegen habe ich Dinge getan, die ein Polizist nicht tut. Das bereue ich nicht. Aber mein Vater hat mich dafür verachtet. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich heute ein sardischer bandito per causa di honore sein werde! Ich töte heute als Bandit mit ehrenwerten Gründen, als Sohn meines ehrenwerten alten sardischen Vaters Leonardo Frattini. Er mochte mich nicht sonderlich, aber er war mein Vater. Und du weißt genau, was das für mich bedeutet, denn ihr Araber kennt dieses Denken. Die Ehre der Familie steht über allen irdischen Dingen und Gesetzen. Also töte ich dich – oder den, der dich beauftragt hat, den Sprengstoff anzubringen …«
Der Junge verharrte völlig regungslos. Seine Augen signalisierten, dass er verstanden hatte.
»Ich werde dir jetzt ein Blatt Papier und einen Bleistift geben. Du schreibst mir deinen Namen auf, den richtigen Namen, den Namen deines Vaters, deiner Mutter und deiner Brüder! Hast du verstanden? Ich will die Adresse deiner Familie – und ich will den Namen und alles, was du sonst noch weißt von den Männern, die dich nach Italien geschickt haben. Machst du es, werde ich das Gesetz der Vendetta an den wahren Schuldigen vollstrecken. Ich werde schweigen, wenn du mir alles aufschreibst. Denn auch das gilt auf Sardinien: das Gesetz der Omertá – des ewigen Schweigens. Niemandem werde ich sagen, woher ich meine Informationen habe. Du wirst frei sein, wenn du tust, was ich verlange. Wir auf Sardinien verschonen Kinder und Frauen, aber nur, wenn sie unschuldig sind. Beweise, dass du unschuldig bist. Führe mich zu den Schuldigen, zu den Mördern meines Vaters.«