172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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4. Kapitel

Wien tower, ambulance 101 for start-up and clearance«, nuschelte Flugkapitän Richard Kristoffs in sein Mikrofon. Die Antwort des Lotsen aus dem Kontrollturm am Flughafen in Wien-Schwechat kam schnell.

»Start-up is approved, please confirm destination«, krächzte die Stimme des Lotsen über den Äther.

»Heading for Rheintal, Switzerland«, antwortete Richard Kristoffs und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Wieder war der Fluglotse erstaunlich schnell.

»Ambulance 101, you are cleared for take-off runway 29.«

Vorsichtig schob Richard Kristoffs die beiden Gashebel nach vorne, überprüfte mit routiniertem Blick die Triebwerksdaten, löste die Bremsen und gab vollen Schub.

»V1 – rotate, V2, positiv rate – gear up –!«, murmelte er hinüber zu seinem Copiloten. Steil zog der Learjet in die Wolken, dem Himmel entgegen. Mit dem Ende des Steigflugs löste der Pilot seinen Sicherheitsgurt und atmete tief durch. Glück gehabt, verdammtes Glück gehabt, ging es ihm durch den Kopf. Vor knapp einer Stunde hatte er noch im Autobahnstau auf der Südtangente gestanden und gedacht, dass ihn diese Situation seinen Pilotenjob kosten würde. Er wusste, dass er sich während einer Flugbereitschaft immer nur im näheren Umfeld von Wien bewegen durfte und faktisch innerhalb einer Stunde nach Eingang eines Notrufs startklar sein musste. Die Verkehrsverhältnisse in Wien hatten sich in den Jahren nach der Osterweiterung der EU jedoch so dramatisch verschlechtert, dass gewisse Ausfallstraßen und Autobahnen regelmäßig unter dem Blechlawinen erstickten. Die Südtangente Richtung Graz war am schlimmsten. Am frühen Morgen strömten Heerscharen von Pendlern in die Stadt, am Nachmittag wälzten sich die Blechlawinen wieder stadtauswärts. Ausgerechnet diese Strecke musste er nehmen, um seine Töchter zum Reitunterricht zu fahren. Es waren kaum mehr als vierzig Kilometer von seiner Wohnung im fünften Bezirk zu dem Reitstall, aber die Autobahnbauarbeiten verursachten rund um die Uhr Staus. Heute hatte er sich über dieses Wissen hinweggesetzt. Schon nach knapp einer halben Stunde Fahrt hatte das Handy geklingelt. Er wurde zum Flughafen beordert: ein Notfall! Kurz entschlossen war er einfach auf dem Standstreifen zur nächsten Ausfahrt an dem Stau vorbeigefahren. Das war zwar verboten, aber letztendlich war es gut gegangen. Er hatte die Ausfahrt erreicht und war auf der Gegenfahrbahn zurück Richtung Wiener Flughafen gerast. Die Kollegen hatten bereits alle Unterlagen vorbereitet. Das Briefing für die Crew und die Notärztin war kurz gewesen. Jetzt saß er im Cockpit, in knapp einer Stunde würden sie in Rheintal landen. Joachim, sein Copilot, blätterte in den Flugunterlagen. Hinten im Learjet hörte er die Ärztin mit dem Sanitäter sprechen.

»Um was geht es eigentlich genau?«, fragte Richard Kristoffs den Copiloten.

»Ist ein Diplomat, dem bei einem Unfall ein Metallstab in den Bauch gedrungen ist. Allerdings schon vor ein paar Tagen«, antwortete dieser. »Soweit ich es aus den Unterlagen ersehen konnte, möchte er lieber in seinem Heimatland im Krankenhaus behandelt werden. Nichts Ungewöhnliches also, reine Routine.«

Das sah Dr. Ulrike Blagus anders. Die Ambulanzärztin wirkte sehr beunruhigt, als sie knapp eine Stunde später auf dem Flugfeld von Rheintal im Dreiländereck Deutschland-Österreich-Schweiz das Cockpit betrat. Der Patient, nach Krankenunterlagen und Aussehen offensichtlich ein Araber, war vor wenigen Minuten auf einer Trage aus dem wartenden Krankenwagen in den Learjet umgelagert worden. Weil sie gesehen hatte, dass die Wunde unterhalb der rechten Rippen unter dem Verband blutete, hatte sie den Patienten untersucht – und war erschrocken.

»Das ist keine Unfallverletzung«, flüsterte sie Flugkapitän Richard Kristoffs nun zu, »das ist eine Schusswunde! Ist zwar nur ein Durchschuss, aber es ist keine Unfallverletzung!«

»Sind Sie sich sicher?«, fragte Richard Kristoffs leise und schaute die Ärztin erschrocken an. Er kannte sie von früheren Flügen. »Kennen Sie sich aus mit Schusswunden?«

»Ja, und ob ich mich damit auskenne«, antwortete die Ärztin. »Ich war als Ärztin lange Zeit im Balkankrieg. Schusswunden habe ich genug gesehen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Mann da hinten einen Durchschuss aus einer Neun-Millimeter-Waffe erlitten. Ist glatt durchgegangen. Eine Infektion kann ich nicht diagnostizieren. Nur ganz leichte Blutungen, die wahrscheinlich durch den Transport bedingt sind. Die Wunde ist relativ gut geheilt, aber wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nicht sagen. Er macht einen ziemlich fitten Eindruck. Daher verstehe ich nicht, warum er mit einem Ambulanzflugzeug ausgeflogen werden muss. Die Wunde wurde professionell versorgt, das zumindest steht fest.«

Flugkapitän Richard Kristoffs blätterte in den Unterlagen, die ihm von den Schweizer Kollegen des Rettungsfahrzeugs übergeben worden waren. Alles war vorschriftsmäßig und komplett. Die Schweizer Sicherheitsbehörden am Flughafen hatten dem Patienten eine Ausreisegenehmigung erteilt. Das ärztliche Dossier war von einem Krankenhaus in Zürich amtlich beglaubigt ins Englische übersetzt und von einem Professor mit arabischem Namen unterschrieben worden. Und dort war ganz eindeutig von einer Unfallverletzung die Rede. Zudem war der Patient ein Diplomat und unterstand somit nicht der Schweizer Jurisdiktion.

Die Sache war ihm suspekt. Aber er sah keine Möglichkeit, den in wenigen Minuten geplanten Start zu verzögern oder gar bei den Schweizer Behörden am Flughafen vorstellig zu werden, zumal ein Beamter des Schweizer Zolls und ein Polizist beim Umladen des Patienten anwesend waren. Nein, nach internationalem Recht konnte er als Pilot eines Ambulanzfluges in einem solchen dubiosen Fall nichts unternehmen. Später, nach der Rückkehr nach Wien, würde er einen Bericht schreiben. Mehr konnte er nicht tun, Wenige Minuten später startete der Learjet vom Flughafen Rheintal. Als der Schweizer Lotse über Funk um Bestätigung des Zielflughafens bat, hatte Flugkapitän Richard Kristoffs allerdings ein mulmiges Gefühl. Der Zielflughafen beunruhigte ihn ebensosehr wie sein undurchsichtiger Fluggast. Glücklicherweise würde er für die Strecke mit dem Learjet kaum mehr als vier Stunden brauchen.

Was soll’s, dachte er sich. Mach dir keine Gedanken über Dinge, die dich nichts angehen. Wenn alles nach Plan läuft, bist du spätestens morgen Vormittag wieder zu Hause. Seine Antwort über Funk an den Lotsen im Tower war entsprechend kurz: »Ambulanz 101 bestätigt Flug nach Marrakesch.«

*

Marie-Claire de Vries konnte sich nicht erinnern, jemals so viele japanische und chinesische Touristen auf dem Heldenplatz vor der Hofburg gesehen zu haben. Die Sonne schien angenehm warm, und auf den Wiesen saßen Hunderte junge Leute. Auffallend viele Grüppchen von Schwarzafrikanern lungerten herum. Seit die Wiener Stadtverwaltung und die Polizeibehörden sich dazu durchgerungen hatten, als Drogenumschlagplätze bekannte Plätze in der Stadt mit fest installierten Videoanlagen zu überwachen, hatte es eine wundersame Völkerwanderung in der Wiener Innenstadt gegeben. Die Dealer und Drogenabhängigen waren vom Karlsplatz und aus den umliegenden U-Bahn-Eingängen verscheucht worden und ins weitaus nettere Ambiente zwischen Parlament, Volkspark, Hofburg und Nationalbibliothek umgesiedelt. Nebeneffekt dieser gleichsam populistischen wie sinnlosen Aktion war, dass nunmehr auch harmlose afrikanische Studenten aus der nahen Universität zu Dealern abgestempelt wurden. An diesem ungewöhnlich milden, sonnigen Novembertag herrschte um die beiden grün patinierten Bronzereiterdenkmäler von Prinz Eugen und Erzherzog Karl herum ein geradezu babylonisches Sprachgewirr. Immer, wenn sie hier vorbeikam, erinnerte sich Marie-Claire an die nette Geschichte, die ihr Großvater ihr als Kind über dieses gigantische Reiterdenkmal von Erzherzog Karl erzählt hatte. Im Gegensatz zu den meisten Reiterstandbildern ruht dieses Monument nur auf den Hinterbeinen des Pferdes und benutzt nicht, wie die meisten Reiterstandbilder der Stadt, den Pferdeschweif als dritte Stütze. Die Angst, diese wagemutige Konstruktion könne in sich zusammenstürzen und damit seinen Ruf ruinieren, hatte den Künstler namens Anton Dominik von Feinkorn so gequält, dass er geisteskrank geworden und daran gestorben war. Lächelnd ging sie weiter. Die wehende Staatsfahne auf dem Leopoldinischen Trakt der Hofburg signalisierte, dass der Bundespräsident im Hause war. Die zwei Polizisten vor dem mächtigen Holztor des Bundeskanzleramts streckten ihre Gesichter der wärmenden Sonne entgegen. Die Droschkenkutscher auf der Straße zwischen den beiden Reiterdenkmälern schienen angesichts des außergewöhnlich milden Novemberwetters zufrieden. Sogar einige Terrassenplätze des Cafés im Innenhof der Hofburg waren besetzt.

Zielstrebig ging Marie-Claire über die Straße auf das prächtige, dunkelrot-grau-schwarze Schweizer Tor zu. Sie hatte sehr unrühmliche Erinnerungen aus der Schulzeit an dieses Tor. Bei ihrem ersten Schulausflug in der vierten Klasse des Lycée Français de Vienne hatten sie mit ihrer Kunstlehrerin vor diesem Tor gestanden. Weil sie gewagt hatte, die fünf Halbreliefs über dem Tor als »grausige Totenschädel« zu bezeichnen, hatte ihr Madame Babites eine Strafarbeit aufgebrummt. Bis zum nächsten Unterricht hatte sie einen zehnseitigen Aufsatz über die Inschrift am linken Tor der Hofseite schreiben müssen, wo geschrieben steht: ›Si deus pro nobis quis contra nos‹. Seither wusste sie, dass dieser Spruch, »Wenn Gott mit uns ist, wer kann gegen uns sein?«, aus dem Brief des Paulus an die Römer stammte, aber auch der Lieblingsspruch der Gattin des Erzherzogs Johann und der ihrer Kunstlehrerin, der erzkonservativen und streng religiösen Madame Babites, war!

Sie würdigte das herrliche Groteskenfresko und die Wappen verschiedener österreichischer Provinzen an der Innendecke des Tors nur mit einem kurzen Blick und ging weiter in den Innenhof. Der Gedanke, die Wiener Schatzkammer heute nach so vielen Jahren unter solch eigentümlichen Rahmenbedingungen wieder zu besuchen, gefiel ihr. Seit sie sich intensiv mit den Unterlagen beschäftigt hatte, die sie von Francis Roundell bekommen hatte, drehte sich ihr ganzes Denken nur noch um den Florentiner-Diamanten und um die Ritter vom Goldenen Vlies. Das war der spannendste Auftrag, den sie bei Christie’s je erhalten hatte! Am gestrigen Abend war sie in der Staatsbibliothek auf Hintergrundinformationen gestoßen, die sie vermuten ließen, dass dieser Auftrag ihr ein Höchstmaß an Kompetenz abverlangen würde. Sich mit dem Florentiner zu beschäftigen hieß letztendlich, sich mit der Geschichte des Abendlandes auseinander zu setzen: von den Kreuzrittern bis zur Gegenwart. Endlich konnte sie ihr Wissen aus ihrem Arabistikstudium und von ihren Reisen in Nordafrika und im Nahen Osten in einen Auftrag einbringen! Ihr Studium der Kunstgeschichte würde ebenso hilfreich sein wie ihre Ausbildung als Goldschmiedin. Ohne Frage hatte Francis Roundell sie deswegen mit diesen Recherchen beauftragt. Zufrieden lächelte sie vor sich hin. In der Schatzkammer war sie schon öfters gewesen, aber die Vitrine mit der Nummer XIII hatte sie bislang noch nie unter solchen Aspekten betrachtet. Seit sie gestern Abend Informationen über die Vitrine und ihren Inhalt zusammen getragen hatte, ahnte sie, dass aufregende Zeiten auf sie zukommen würden. Zum Nachdenken über persönliche Probleme würde sie nur wenig Zeit haben.

Das kam ihr sehr gelegen, denn ihr Ägyptenurlaub hatte sie wieder einmal mit jenen grausamen Realitäten konfrontiert, die sie schon seit Jahren verdrängte. Wie oft hatte sie sich schon geschworen, nicht mehr allein – als Single – in Urlaub zu fliegen. Doch wie schon in den zurückliegenden Jahren hatte sich auch in diesem Jahr wieder keine Freundin gefunden, die Zeit oder Lust gehabt hätte, sie zu begleiten. Also hatte sie erneut allein gebucht, ahnend und fürchtend, dass sich die Erfahrungen von vielen der vergangenen Reisen wiederholen würden. Und genau das war geschehen. In den Hotels hatte sie die miesesten Einzelzimmerabstellkammern bekommen; in den Restaurants hatte man sie wie eine Aussätzige in die Ecken verbannt; an den Bars und auf den Terrassen war sie permanent von penetranten ägyptischen Männern angequatscht worden. Und den unglaublich schönen Sonnenuntergang in der Oase Fayoum hatte sie schließlich allein bewundern müssen. Sie hasste das Alleinsein, das Reisen als Single. Sie wollte sich mitteilen, ihre Begeisterung teilen, mit einem Partner teilen – nicht in sich hinein schweigen.

Sie fragte sich, was sie in ihrem Leben falsch gemacht hatte, dass es so gekommen war. Sie hatte keine Probleme, Männer kennen zu lernen. Ihre Beziehungen mit Männern waren zwar oft langjährige Beziehungen gewesen. Doch ihr wirklich großer Traum von einem Leben mit einem seelenverwandten Mann – und mit Kindern – hatte sich nicht erfüllt. Das Schlimmste daran war, dass einige ihrer ehemaligen Partner auch heute noch, als Freunde auf platonischer Ebene, beteuerten, dass sie eine tolle, eine attraktive, ja eine außergewöhnliche Frau sei. Aber die das sagten, hatten sie alle verlassen. Keiner von ihnen war in der Lage zu erklären, warum. Oft schon hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, ob vielleicht ihre Kindheit und ihre Erfahrungen als Jugendliche in ihrem von Lieblosigkeit und Streben nach Besitz geprägten Elternhaus ein Grund für das Scheitern ihrer Beziehungen war. Ihr Elternhaus war ohne Frage eine schwere Hypothek. Ihr Vater, ein erzkonservativer Jurist, renommierter Universitätsprofessor und lange Zeit als ÖVP-Mitglied Abgeordneter im Parlament, hatte für Kinderseelen nie Zeit gehabt. Sein Denken galt ausschließlich seiner Karriere. Sein Beruf, die Villa im dreizehnten Bezirk und das Landhaus am Neusiedler See waren seine Lebensinhalte. Von seinen Kindern erwartete er, wie auch von seinen Studenten an der Uni und seiner Ehefrau, Zucht und uneingeschränkten Gehorsam. Seine moralisch-ethischen Prinzipien waren zu Hause Gesetz, sein Erfolg war die Messlatte, an dem er seine beiden Töchter, aber auch deren Freunde und Männer maß. Doch diesen Anforderungen war niemand gewachsen. Alles hatte sie versucht, es ihm recht zu machen, aber es war ihr nie gelungen. Für ihn war sie eine missratene Tochter. Eine Erklärung dafür, warum das so war, hatte sie nie gefunden. Auch nicht dafür, dass all ihre Beziehungen zu Männern letztendlich gescheitert waren. Sie wusste nur, dass ihre biologische Uhr tickte. Sie war über vierzig Jahre alt. Ihren Wunsch nach Kindern hatte sie längst reduziert – auf ein Kind. Ja, ein Kind, danach sehnte sie sich. Doch darüber nachzudenken, quälte sie. Deshalb stürzte sie sich seit einigen Jahren in ihre Arbeit. Und deshalb war sie heute froh, keine Zeit zu haben, um über diesen grauenhaften Ägyptenurlaub nachzudenken. Der Florentiner und diese ominösen Ritter vom Goldenen Vlies würden sie ablenken. Das war gut so.

Entsetzt starrte sie auf die Schlange wartender Touristen vor dem Eingang zur Schatzkammer. Ihre Freundin Christiane Schachert, mit der sie sich verabredet hatte, weil sie ihre Dissertationsarbeit als Kunsthistorikerin über das Burgundische Erbe geschrieben hatte, und die seit einiger Zeit in der neu gegründeten Abteilung für Marketing, Sponsoring und Event-Management des Kunsthistorischen Museums arbeitete, saß auf der Treppe der Botschaftsstiege vor der Hofburgkapelle. Sie lächelte ihr gequält zu.

»Grauenhaft, diese Menschenmassen! Hier wird es bald so aussehen wie in Venedig auf dem Markusplatz oder wie im Juli vor den Uffizien in Florenz«, schimpfte Marie-Claire de Vries, umarmte Christiane, küsste sie auf beide Wangen und setzte sich zu ihr auf die gelblichen Steintreppen. Ihre Freundin sah völlig abgearbeitet aus. Das brünette Haar hing ihr strähnig auf die Schultern herab, und sie hatte Schatten unter den Augen.

»Chrissie, du siehst furchtbar aus, wenn ich das einmal so direkt sagen darf! Bist du krank?«

»Nein, meine Liebe, ich bin nicht krank, ich bin bescheuert! Ich arbeite für eintausendvierhundert Euro im Monat vierzehn Stunden am Tag und bin auch noch so blöd, Arbeit mit nach Hause zu nehmen, um sie am Wochenende zu erledigen.«

»Was nichts anderes bedeutet, als dass du mal wieder Liebeskummer hast, richtig?«, unterbrach Marie-Claire sie. Sie ahnte, dass es ihrer Freundin nicht gut ging. Chrissie hatte ein unrühmliches Faible für Männer, die bereits vergeben waren.

»Ich bewundere deinen Scharfsinn«, erwiderte die Freundin. »Mein stressiger Job beim Kunsthistorischen Museum macht mich bei weitem nicht so krank wie dieser verfluchte Beziehungsstress. Aber ich hasse es nun mal, alleine zu sein! Das weißt du doch. Ist ja nichts Neues. Neu ist höchstens, dass ich derzeit einsam bin, obwohl ich gleich zwei Verehrer habe. Der eine hat noch weniger Zeit als ich. Er ist Broker an der Börse, was gleichbedeutend mit einen Achtzehn-Stunden-Job ist. Wenn er mal Zeit hat, schläft er. Leider nicht mit mir! Und der andere ist gerade mit seiner angeblich ach so gehassten Frau und seinen Kindern im Urlaub! Aber was soll’s, zumindest garantiert mir mein Aktien-Lover, dass ich nicht immer allein aufstehen muss! Aber jetzt erzähl mir lieber, wieso du mit mir in die Schatzkammer willst? Ich habe leider nicht sehr viel Zeit, doch für einen kurzen Rundgang und ’ne Tasse Kaffee danach wird es reichen. Komm, ich lancier dich an diesen Massen vorbei.«

Vor der Kasse der Schatzkammer im Tiefgeschoss herrschte ein unglaubliches Gedränge. Trotz Klimaanlage war es stickig-heiß. Marie-Claire war froh, dass ihre Freundin ihr es ermöglichte, ohne große Wartezeiten in dieses wundervolle Museum zu gelangen. Schon als Kind hatte sie hier die prunkvollen Schätze aus tausend Jahren europäischer Geschichte, die Insignien und Kleinode des Heiligen Römischen Reiches, die Insignien der österreichischen Erbhuldigung und den Kronschatz des Hauses Habsburg bestaunt. Während ihres Kunstgeschichtestudiums hatte sie viele Tage in dieser Schatzkammer verbracht. Irgendwie freute sie sich darauf, wieder einmal in die mystisch-dumpfe Atmosphäre dieses einzigartigen Museums mit seinem schummrigen Licht einzutauchen. Zumal sie sehr aufgeregt war. Was immer sie früher hier auch bestaunt und bewundert hatte, nie hatte sie einzelne Preziosen und Ausstellungsgegenstände in einem mit der Gegenwart verbundenen Kontext gesehen. Der heutige Besuch war anders. Sie würde vieles mit anderen Augen sehen. Dazu gehörten das Burgundische Erbe – und der Schatz des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Ihre Tasche musste sie an der Garderobe im Vorraum des Treppenaufgangs abgeben. Der Kontrast zwischen dem modern gehaltenen Foyer mit seinen schlichten grau-blau-weißen Steinböden und dem pompösen Kronleuchter fiel ihr erst auf, als sie auf der Treppe auf halber Höhe stehen blieb.

»Warte einen Moment, Christiane. Bevor wir da reingehen, will ich dir kurz sagen, was mich hierher treibt. Ich mache gerade die Basisrecherche zu einem Projekt, bei dem irgendwie die Ritter vom Goldenen Vlies und der Florentiner Diamant eine Rolle spielen. Ich kann noch nichts Konkretes sagen, im Moment ist es noch reine Schreibtischrecherche. Aber du kennst ja meinen Job. Wie immer ist natürlich alles streng vertraulich.«

Christiane Schachert blieb abrupt auf der Treppe stehen.

»Ups«, brachte sie ihr Erstaunen zum Ausdruck, »der Florentiner? Die legendenumrankte Zierde und der Fluch des Hauses Habsburg? Das ist ja eine nette Überraschung! Vor allem, weil du ihn in Verbindung mit den Rittern vom Goldenen Vlies nennst.«

Marie-Claire de Vries machte keinen Hehl daraus, dass sie alles, nur nicht diese Reaktion ihrer Freundin erwartet hatte.

»Du kennst dich mit dem Florentiner aus?«

»Was heißt auskennen? Als ich meine Dissertation schrieb, bin ich zufällig auf den Florentiner gestoßen. Mich hat dieser Edelstein sofort fasziniert. Ich weiß, dass er einer der legendärsten Diamanten des Abendlandes ist. Und ich weiß, dass Kaiser Franz Joseph ihn aus der österreichischen Staatskrone entnehmen und ihn in ein Diadem für seine Kaiserin Sisi umarbeiten ließ. Sonderlich viel Glück hat ihr das nicht gebracht. Sie hat ihn angeblich nur ein einziges Mal tragen können, bevor sie am 10. September 1898 in Genf mit einer Feile erstochen wurde. Man sagt diesem Florentiner nach, dass er all seinen Besitzern nur Unglück brachte. Ich denke, deswegen hat Kaiser Franz Joseph ihn später auch in eine Brosche umarbeiten und ihn hier in der Schatzkammer verschließen lassen. Und zwar in der Vitrine XIII – über die es ein Buch gibt.«

Marie-Claire de Vries lächelte zufrieden. Es war eine kluge Entscheidung gewesen, Christiane in die Recherchen einzuweihen.

»Ich habe von diesem Buch gehört. Was den Florentiner betrifft, kann ich nur sagen, dass sich schon jetzt, am Anfang meiner Recherchen, zu bestätigen scheint, dass dieser Stein eine unglaublich fesselnde Historie hat. Um ihn ranken sich sehr tragische Geschehnisse, und das in geballter Form! Schenkt man all den Mythen und Legenden um diesen Diamanten Glauben, dann ist er tatsächlich mit einem Fluch belegt. Er hat vielen Tod und Verderben gebracht. Die Habsburger scheinen davon extrem betroffen gewesen zu sein. In jenen Zeiten, in denen der Florentiner dem Haus Habsburg gehörte, hat es in der Kaiserfamilie auffallend viel tragische Unfälle gegeben: Der Bruder von Kaiser Franz Joseph ist in Mexiko umgebracht worden; Sisis erstes Kind ist im Alter von zwei Jahren in Ungarn gestorben; Sisis Sohn Rudolph hat sich und seine Geliebte in Mayerling umgebracht; Kronprinz Ferdinand wurde in Sarajewo erschossen! Und nur wenige Jahre später floh die Kaiserfamilie aus Wien in die Schweiz. Die österreichische Monarchie und damit das über Jahrhunderte so mächtige Haus Habsburg waren binnen weniger Jahre von der politischen Landkarte Europas verschwunden. Und damit ist nur ein Teil der blutigen Vergangenheit dieses Diamanten erzählt! Es ist wirklich irrsinnig aufregend, sich mit diesem Edelstein zu beschäftigen. Aber wieso hat dich eigentlich vorhin der Zusammenhang mit dem Ritterorden vom Goldenen Vlies so erstaunt?«

Eine Gruppe von etwa dreißig Chinesen drängte sich lärmend an ihnen vorbei das Treppenhaus hinauf. Ihre Freundin schien von den wenigen Stufen atemlos zu sein.

»Mist! Ist ein schnödes Leben, das ich führe. Zu viel Zigaretten und zu wenige Streicheleinheiten für meine Seele! Mir geht die Puste schon nach zehn Stufen aus. Vielleicht ist’s besser, dass mein Broker es vorzieht zu pennen, statt mich zu schweißtreibenden Matratzenspielen zu überreden.«

Marie-Claire musste laut lachen. Sie liebte diese unverblümte Direktheit und den schwarzen Humor ihrer Freundin, aber sie wusste auch, dass sich hinter diesen witzigen Bemerkungen ihrer Freundin bittere Wahrheiten verbargen. Christiane holte tief Luft und sprach dann weiter.

»Mich überrascht dieser Zusammenhang zwischen dem Diamanten und dem Orden vom Goldenen Vlies deswegen, weil das jetzt das zweite Mal innerhalb weniger Tage ist, dass ich mit diesem mysteriösen Orden vom Goldenen Vlies zu tun habe. Das ist schon seltsam! Aber das erkläre ich dir später …«

Zum Schutze der licht- und umweltempfindlichen Exponate der Schatzkammer, aber auch aus Sicherheitsgründen waren alle Fenster der Schatzkammer verdunkelt. Speziallampen beleuchteten die wenigen Vitrinen, Bilder und Kunstschätze nur spärlich. Marie-Claire brauchte einige Minuten, bis sie sich an das diffuse Licht im ersten Raum gewöhnt hatte. Touristen mit Audiokassetten scharten sich um die Glasvitrinen und lauschten, den Blick auf die Kunstschätze gerichtet, den Stimmen aus den Kassetten. Die gedämpfte Atmosphäre verlieh dem Raum ein gespenstisches Ambiente. Alle Besucher flüsterten nur und schienen bedacht darauf zu sein, sich lautlos durch den Saal zu bewegen.

Schon im zweiten Raum blieb Christiane stehen. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf ein riesiges Gemälde an der gegenüberliegenden Stirnwand.

»Da, schau ihn dir an, diesen pausbäckigen Monarchen!«, flüsterte sie. »Da hast du einen jener Männer, die dem Orden der Ritter vom Goldenen Vlies als Souveräne vorstanden: Kaiser Karl VI. – im Vliesornat! Und davor in der Vitrine die Krone des späteren Kaisertums Österreich. Eine viel sagende Konstellation! Inbegriff einer Macht, die für uns heute kaum noch vorstellbar ist! Der Monarch und der Orden vom Goldenen Vlies.«

Marie-Claire widmete der prächtigen, mit wunderbaren Perlen und vier überdimensionalgroßen Rubinen besetzten Kaiserkrone nur einen beiläufigen Blick. Ihre volle Aufmerksamkeit galt dem gut zwei mal drei Meter großen Gemälde. Voller Respekt näherte sie sich dem Ölbild. Umgeben von den Insignien seiner Herrschaftstitel, dem österreichischen Erzherzogshut, der böhmischen Wenzelskrone, der Reichskrone und der ungarischen Stephanskrone saß der Monarch lässig, mit nach vorne gestrecktem rechtem Fuß auf einem Sessel. Seine schulterlangen, blondgelockten Haare akzentuierten auf höchst eigentümliche Weise seine geröteten Pausbacken und das Doppelkinn. Sehr majestätisch sah Kaiser Karl VI. nicht gerade aus.

»Das ist das Ornat des Ordens vom Goldenen Vlies«, flüsterte Christiane erneut. »Und schau dir mal diese goldene Kette, diese Collane mit dem goldenen Widder an seinem Hals an! Wer dieses purpurrote, gold- und silberdurchwirkte Samtgewand und eine solche Collane mit dem Widder trug, der gehörte damals zu den mächtigsten Männern des Abendlandes! Am Anfang, also als Herzog Philipp der Gute von Burgund diesen Orden im Jahre 1430 gründete, waren es einunddreißig honorige Mitglieder, die dem Orden angehörten und die diesen Chaperon, diesen Hut da mit der langen Schleife, trugen.«

Marie-Claire schaute ihre Freundin verwundert an.

»Warum zeigst du mir ausgerechnet dieses Bild? Wenn ich richtig informiert bin, sind die meisten Exponate des Hauses Burgund und der Ritter vom Goldenen Vlies am anderen Ende der Schatzkammer untergebracht – in Raum fünfzehn und sechzehn, richtig?«

»Das ist richtig, meine liebe Marie-Claire. Aber ich dachte mir, der Name Kaiser Karl VI. habe doch eine gewisse Symbolkraft. Immerhin heißt der jetzige Souverän dieses legendären Ordens auch Karl! Sein adliges ›von‹ haben sie ihm ja bekanntlich abgesprochen. Im Nachkriegsösterreich sind Adelstitel ja verpönt. Der Souverän der Ritter vom Goldenen Vlies ist dieser Karl aber dennoch! Was ich recht bizarr finde ist die Tatsache, dass es ohne den Einfaltsreichtum dieses pausbäckigen Mannes hier auf dem Gemälde die letzten dreihundert Jahre überhaupt keine Habsburger Monarchie mehr gegeben hätte! Wer weiß, vielleicht hätte es dann auch keinen Orden vom Goldenen Vlies, keine Sisi, keinen Florentiner und damit kein so großes Leid in der Familie der Habsburger gegeben!«

Marie-Claire riss verwundert die Augen auf. Dass ihre aus Hamburg stammende, über ihre Heirat nach Wien gekommene Freundin gelegentlich zu sehr eigenwilligen Interpretationen historischer Fakten tendierte, zudem gelegentlich sehr radikal-feministische Ambitionen hatte, wusste sie. Sie waren immerhin schon seit fünfzehn Jahren befreundet. Sie wusste auch, dass Christiane eine exzellente Historikerin war. Diese These und der Mystizismus aus Chrissies Mund verblüfften sie jedoch sehr.

»Du musst dich nicht wundern, wenn du als ›Piefke‹ – als Deutsche – mit solchen Thesen hier in Österreich einen Sturm der Entrüstung auslöst!«

»Aber es ist nun mal so, meine Liebe«, triumphierte Christiane Schachert und grinste. »Um es deutlicher auszudrücken: Kaiser Karl VI. war der letzte männliche Habsburger! Wäre er trotz der ihm wohl eigenen aristokratischen Borniertheit nicht so unglaublich clever gewesen, hätte das Haus Habsburg im 18. Jahrhundert das Ende seiner glanzvollen Zeiten erleben müssen. Du weißt ja: Ohne männlichen Erbfolgen lief damals nichts! Mit einem eigenen Erbfolgegesetz, der so genannten Pragmatischen Sanktion, bestimmte er im Jahre 1713 einfach so den Vorrang der Erbfolge seiner Kinder – und zwar auch der Töchter! Das hat ihm jahrelange zähe diplomatische Verhandlungen und viel Zwist eingebracht, aber er hat es durchgesetzt. Auch wenn seine Tochter und Erbin, Maria Theresia, nach seinem Tod um die Gültigkeit dieses Gesetzes kämpfen musste, ohne dieses Erbfolgegesetz wäre das Haus Habsburg mangels männlicher Erben mehr oder minder in die Bedeutungslosigkeit versunken! Ergo hätte es auch, das vermute ich jetzt einmal, keinen direkten männlichen Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies aus dem Hause Habsburg gegeben. Erst durch die Heirat von Maria Theresia mit Franz I. von Lothringen kam faktisch ein neuer männlicher Souverän ins Spiel: ein Habsburg-Lothringischer! Du siehst, dem Mammon Macht opfert die herrschende Klasse schnell mal ein schnödes Gesetz oder schafft ein neues! Das war damals so und ist heute nicht viel anders. So gesehen kann ich dir also nur raten, liebe Marie-Claire: Schau zu, dass du schnell schwanger wirst und Jungs auf die Welt bringst! Mädchen können leicht den Untergang einer Dynastie herbeiführen. Und zum Ritter dieses edlen Ordens werden sie bekanntlich auch nicht geschlagen.«

Wieder musste sie so laut lachen, dass ein Museumswärter sie mit grimmiger Miene zur Ruhe ermahnte. Marie-Claire war von ihrer Freundin restlos begeistert. Chrissie war einfach genial! Sie konnte mit wenigen Worten Dinge unglaublich prägnant auf den Punkt bringen. Wie Giftpfeile schossen Wahrheiten manchmal aus ihrem Mund. Wenngleich sie den historischen Wahrheitsgehalt dieser These ihrer Freundin nicht wirklich beurteilen konnte, so merkte sie doch, dass Christiane sich mit den Verknüpfungen des Vlies-Ordens mit dem Hause Habsburg sehr gut auskannte. Da ihre bisherigen Recherchen schon gezeigt hatten, dass die Historie des Florentiner-Diamanten sehr eng mit der Geschichte der Habsburger verknüpft war, ahnte sie, dass sie das Wissen ihrer Freundin noch oft in Anspruch nehmen würde. Christiane war mittlerweile schon einige Schritte weiter gegangen. Sie wirkte plötzlich sehr nervös.

»Komm, ich habe nicht mehr viel Zeit«, wandte sie sich um. »Ich denke, ich habe noch eine sehr große Überraschung für dich.«

Marie-Claire fühlte sich von der Pracht der Schatzkammer überwältigt, merkte, wie sie fast geduckt und unterwürfig, von grenzenloser Ehrfurcht erfüllt die nächsten Räume durchschritt. Nur kurz verharrten sie in Raum fünf vor einem Gemälde des berühmten französischen Porträtisten des europäischen Hochadels, Jean Baptiste Isabey, das Kaiser Napoleon zeigte.

»Der hat den Florentiner ebenfalls besessen«, sinnierte Marie-Claire laut und ergänzte: »Hat ihm scheinbar auch kein Glück gebracht.«

So eilig ihre Freundin Christiane es auch hatte, so stur war Marie-Claire, als sie Raum acht betraten.

»Warte, du hektische Pressetante«, zischte sie. »Hier kann ich nicht so einfach vorbeirasen. Das hier ist eines der großen Mysterien dieser Schatzkammer. Es ist ein Wunder – für mich jedenfalls!«

Zielstrebig ging sie auf eine in fahlem Licht optisch beeindruckend präsentierte Vitrine zu und blieb davor stehen. Die »Achatschale« zählt zu den beiden als unveräußerlich deklarierten Erbstücken des Hauses Österreich. Das samt Handgriffen sechsundsiebzig Zentimeter breite Kunstwerk war von Meisterhand aus einem mächtigen Achatsteinblock herausgearbeitet worden und gilt als die größte gemmoglyptische Schale der Welt. Ein Prachtwerk, um das sich ebenfalls unzählige Legenden und Mythen ranken. Auch Marie-Claire war immer wieder aufs Neue von der geheimnisvollen Aura der Schale gefangen. Nicht nur die einzigartige Größe des Steins und die meisterhafte Formgebung der Schale hielten sie in Bann. Es waren mehr die vielen Quellen, die von einem Naturwunder, einer rätselhaften Inschrift in der Schale sprachen. Nicht von des Künstlers Hand eingeritzt oder gar aufgemalt, sondern in der Substanz des Steins, in seiner Maserung erscheint unter besonderen Lichtverhältnissen unter anderem das mystische Schriftzeichen KRISTO oder XRISTO! Schon vor Hunderten von Jahren, aber auch in der Neuzeit hatten sich Gelehrte und renommierte Wissenschaftler mit diesem Phänomen beschäftigt. Mal wurde geunkt, die Inschrift sei gar nicht vorhanden. Dann aber war im Jahre 1951 bei Reinigungsarbeiten die Inschrift wieder zu sehen. Dass die Achatschale der Heilige Gral sei, in dem das Blut Christi bei seiner Kreuzigung aufgefangen worden war, wurde ebenso behauptet, wie Mystiker darauf hinwiesen, dass es bei Lukas 19,40 hieß: »Wenn diese schweigen, werden die Steine rufen!«

Marie-Claire erschauerte innerlich. Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Für sie stellte sich bei dieser einzigartigen Achatschale nicht die Frage der wissenschaftlichen Beweisführung für die Existenz der Inschrift. Ihr fraglos sehr gläubiger Professor hatte ihr zum Ende ihres Studiums etwas gesagt, was sie nie vergessen hatte und was seither ihre Grundeinstellung zu Kunst und zu dieser mystischen Achatschale maßgeblich prägte: »Das Erkenntnisvermögen muss sich immer an dem orientieren, was es sehen will! Nur ein Auge, das dazu fähig ist, kann das Wunder sehen. Die Natur ist eine Selbstoffenbarung des Schöpfers. Daher kann nur ein von Gott begnadeter Künstler leblose Materie mit den Mächten der Seele einen.«

»Träumst du?«

Die Worte ihrer Freundin rissen sie aus ihren Gedanken.

»Tut mir Leid«, atmete Marie-Claire aus. Christiane schaute sie verwundert an.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, diese ganze Sache um den Florentiner herum verwirrt dich sehr! Wie auch immer: Ich muss dich bitten, etwas schneller zu gehen. Ich will dir was zeigen, etwas sehr Seltsames. Es wird dich umhauen …«