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In Raum fünfzehn der Schatzkammer herrschte eine wunderbare Ruhe. Seit Marie-Claire eine Tür passiert hatte, auf der ›Das burgundische Erbe‹ avisiert wurde, war sie noch aufgeregter. In diesen Räumen, das wusste sie aus ihren Unterlagen, befanden sich die prächtigsten Insignien des Ordre de la Toison d’Or – des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Hier, so hoffte sie, würde sie beginnen, die Zusammenhänge zwischen dem Ritterorden und dem Florentiner besser zu verstehen. Ihr Auftrag war, die Geschichte des Florentiners zu eruieren. Hier, dessen war sie sich sicher, würde sie Antworten finden auf die vielen Fragen, die sich ihr in Verbindung mit dem Florentiner und den beiden geraubten Sancys stellten.
Sprachlos und überwältigt von der unglaublichen Pracht in den Ausstellungsvitrinen glitt ihr Blick durch den Raum. Ein unbeschreiblich kunstvolles Ornat, die Festkleidung der Ritter vom Goldenen Vlies, fesselte vor allem ihre Aufmerksamkeit. Der mit weißer Seide gefütterte Mantel aus dunkelrotem Samt war das Schönste, was sie je an burgundischer Hofkleidung gesehen hatte. Er war mit unglaublich prunkvollen Gold- und Silberbordüren gesäumt. Darin waren die Embleme des Ordens eingearbeitet: Feuerstein, Feuereisen und Widderfell. Am Saum des einzigartigen Kunstwerkes stand in goldenen Lettern geschrieben: »JE LAY EMPRINS – Ich hab’s gewagt.« Verwirrt von der Atmosphäre dieses Raumes, von den edlen Gewändern, goldenen Ketten, funkelnden Edelsteinen, dem Heroldstab und der in ihren Ausmaßen und Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblichen Wappenkette für den Herold des Ordens suchten ihre Augen einen Ruhepunkt. Sie fühlte sie erdrückt von der Vielzahl der kostbaren Exponate. Dann sah sie, wonach sie suchte: vier Bilder, vier relativ kleine, unscheinbare Porträts. Ohne näher zu treten, wusste sie einen der Männer mit den sehr markanten Nasen sofort einzuordnen: Herzog Philipp der Gute von Burgund! Gebannt starrte sie auf das Bild.
Marie-Claire war plötzlich erschöpft. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ließ nach. Ihre Gedanken entschwanden und einten sich unter dem Eindruck all dieser sie in diesem Raum umgebenden Pracht zu einem märchenhaften, von imaginären Stimmen erfüllten Traum, in den sie eintauchte an jenem Tag, von dem sie in den alten Archiven gelesen hatte. Es handelte sich um jenen Tag vor sechs Jahrhunderten, den 10. Januar des Jahres 1430. Der Herold von Flandern trat nach Beendigung eines Ritterturniers vor und verkündete den anwesenden Edelleuten: »Mein Gebieter, der durchlauchtigste und großmächtigste Fürst und Herr, Herzog von Burgund, Graf von Flandern, Artois und Pfalzgraf von Namur, erlaubt sich, aus Anlass seiner Vermählung mit Prinzessin Isabella von Portugal einen Orden zu stiften, genannt das Goldene Vlies – eine ritterliche Bruderschaft und ein Freundschaftsbund von Edelleuten, geeint zu Ehren des Allmächtigen und der Verteidigung des christlichen Glaubens.«
Als wolle sie sich aus dem tranceähnlichem Zustand herauskatapultieren, schüttelte Marie-Claire den Kopf. Verstohlen schaute sie sich um. Ihre Freundin Christiane war nirgends zu sehen. Wieder wanderte ihr Blick zu den kleinen Gemälden, den Porträts der berühmten Burgunder. Sie stand nur einen Schritt entfernt, nunmehr Auge in Auge jenem Mann gegenüber, dem ihr größtes Interesse galt: Charles le Téméraire – in die Geschichte des Abendlandes eingegangen als Karl der Kühne, vierter Herzog von Burgund aus dem Hause der burgundischen Valois! Dieser Mann war vielleicht der Schlüssel zu all jenen Geheimnissen, die sie im Auftrag ihres Arbeitgebers, des Auktionshauses Christie’s, zu ergründen suchte. Er war der erste urkundlich nachgewiesene Eigentümer des in Deutschland geraubten Kleinen Sancy, des in Florenz entwendeten Großen Sancy – und des Florentiners. Dieser legendäre burgundische Herzog, so ging er ihr nun durch den Kopf, ist der erste Besitzer im Abendland all jener Diamanten gewesen, die du jetzt suchst. Und er war ein Ritter vom Goldenen Vlies.
»Kannst du mal aufhören, diese langnasigen Burgunder so anzustarren?«, rissen die Worte ihrer Freundin sie aus ihrer sprachlosen Begeisterung. Sie wandte sich um. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Das viele Gold, all die unschätzbar wertvollen Edelsteine, die atemberaubend schönen Gewänder und die Porträts der burgundischen Herzöge hatten sie in eine andere Welt versetzt. Christiane stand vor einer Vitrine. In der für sie so typischen Trotzhaltung, einen Arm in die Hüfte gestemmt, den Kopf leicht nach hinten geworfen und mit funkelnden Augen, grinste sie Marie-Claire an.
»Schau mal!« Mit einer leichten Kopfbewegung wies sie auf die Vitrine. Marie-Claire de Vries wusste zunächst nicht, um was es ging. Langsam kam sie näher und starrte auf den Glaskasten. Ihre Augen weiteten sich. Ungläubig sah sie Christiane an. Ihre Freundin grinste triumphierend.
»Hier fehlt ja ein Exponat!«
Marie-Claire hauchte die Worte kaum hörbar vor sich hin. Sie starrte dorthin, wo laut Ausstellungskatalog ein Kreuz stehen sollte, ja müsste. Ein etwa vierzig Zentimeter großes, laut Bildern und Beschreibung mit Perlen, Saphiren und Rubinen besetztes goldenes Kreuz. Das Schwurkreuz der Ritter vom Goldenen Vlies. Jenes Kreuz, auf das die Ritter des Ordens seit der Ordensgründung ihren Eid ablegten. Aber das Kreuz war nicht da!
Stattdessen stand auf einem kleinen Schild mehrsprachig zu lesen, dieses Exponat sei wegen Restaurationsarbeiten für kurze Zeit leider nicht verfügbar.
»Schade«, murmelte sie zu ihrer Freundin gewandt. Sie war maßlos enttäuscht. »Hast du eine Ahnung, wann es aus der Werkstatt zurückkommt?«
Verwundert stellte Marie-Claire de Vries fest, wie ihre Freundin sie plötzlich seltsam ernst ansah. Dann grinste sie schelmisch und sprach auffallend leise.
»Das Schwurkreuz wird nicht restauriert! Es ist gestern Abend in einer ziemlich spektakulären Aktion von einem Sicherheitsdienst hier abgeholt worden. Ich habe das eigentlich nur mitbekommen, weil du mich gestern am Telefon auf die Ritter vom Goldenen Vlies angesprochen hast. Deshalb haben bei mir alle Glocken geklingelt, als sich mein Chef heute Morgen darüber echauffierte, dass eins der prächtigsten Kunstwerke der Wiener Schatzkammer auf so seltsame Art und Weise aus dem Museum geholt wurde. Ich habe dann natürlich ein wenig nachgefragt, was da abläuft und wo dieses Ding denn hingebracht wurde.«
Gebannt lauschte Marie-Claire ihrer Freundin. Plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl, dieses Kribbeln im Bauch, das sie vor einigen Tagen zum ersten Mal verspürt hatte, als sie sich durch die Unterlagen über den Florentiner und über den Orden vom Goldenen Vlies gearbeitet hatte. Irgendetwas Mystisches, Geheimnisvolles und Außergewöhnliches hing an diesem Auftrag, den sie von ihrer Zentrale bekommen hatte.
»Und?«, fragte sie. »Wo ist das Kreuz jetzt? Wer ist so einflussreich, dass er dieses unvorstellbar wertvolle Kreuz hier aus der Wiener Schatzkammer rausholen darf?«
Christiane Schachert lächelte geheimnisvoll. Sie genoss es zu sehen, wie ihre Freundin Marie-Claire vor Neugierde fast platzte.
»Hm«, zögerte sie die Antwort absichtlich hinaus, »das kostet dich mindestens einen Wochenendaufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel – inklusive Massagen, natürlich! Diese Sache hier ist heiß, sehr heiß …«
»Du bist gemein!«, zischte Marie-Claire de Vries und funkelte vermeintlich böse mit ihren blauen Augen. »Also gut, wenn die Information wirklich so toll ist, reiche ich bei Christie’s in London einen Antrag auf ein Informationshonorar ein, mit dem du dein Wellness-Hotel bezahlen kannst. Aber nur, wenn es eine Topinformation ist. Und jetzt sag schon!«
»Weißt du, was morgen für ein Tag ist?«, flüsterte Chrissie. Marie-Claire de Vries wollte gerade ungehalten auf diese Geheimnistuerei reagieren, als ihre Freundin weiter flüsterte und sich dabei geheimnisvoll im Raum umschaute. »Morgen ist Andreastag – der 30. November!«
Marie-Claire schaute verdutzt. Sie verstand nicht.
»Der Geburtstag des heiligen Apostels Andreas!«
Die Historikerin starrte ihre Freundin geradezu vorwurfsvoll an, als sei sie entsetzt, dass diese den Zusammenhang nicht sofort erkannte. Triumphierend meinte sie: »Ach, meine Liebe! Ihr Experten von den Auktionshäusern habt wirklich ein sehr eingeschränktes Allgemeinwissen! Wirklich sehr traurig! Der Apostel Andreas ist der Patron des Hauses Burgundi«
Marie-Claire war sprachlos.
»Also gut, du unwissende Christie’s-Expertin!«, spielte Christiane sich auf. »Morgen ist der Geburtstag des heiligen Andreas. Und jedes Jahr zum Geburtstag des heiligen Andreas treffen sich die Ritter vom Goldenen Vlies. Das war über sechs Jahrhunderte so – und es ist noch immer so! Zudem habe ich gehört, dass da am Vortag, also heute, schon irgendwelche Dinge ablaufen, aber darüber weiß ich nichts.«
»Wo?«, unterbrach Marie-Claire ihre Freundin schroff. Sie konnte kaum reden.
»Hier in Wien!«
»Warum?«
»Weil sie manchmal zu diesem Anlass ein neues Mitglied in ihre edlen Reihen aufnehmen – sie schlagen jemanden zum Ritter! Zum Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies!«
»Wo?«, fragte Marie-Claire erneut.
»Weiß ich nicht. Noch nicht.«
»Warum wurde das Schwurkreuz aus der Schatzkammer geholt?«
Die beiden Frauen starrten sich gebannt an. Marie-Claire de Vries registrierte, wie einige der Besucher sie verwundert beobachteten. Einer der Museumswächter schaute irritiert herüber, sah dann jedoch den Ausweis an Christianes Blazer, der sie als Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Museums auswies.
»Nun sag schon, was du sonst noch weißt«, flüsterte Marie-Claire ungeduldig. Sie war jetzt sehr aufgeregt. Sie spürte, dass dieser Zufall sie unerwartet schnell bei ihrer Recherche voranbringen würde.
Christiane zupfte sie leicht am Ärmel und zog sie in eine ruhige Ecke des Raum.
»Meine Liebe, sei mir nicht böse, aber ich habe das unrühmliche Gefühl, dass du dich für höchst seltsame Dinge interessierst. Mir ist zwar noch immer nicht ganz klar, was dieser Orden nun wirklich mit deiner Recherche zum Florentiner zu tun hat, aber eins kann ich dir sagen: Wenn du dich mit dem Ritterorden vom Goldenen Vlies beschäftigst, stößt du ins Zentrum der abendländischen Hocharistokratie – und das nicht nur hier in Österreich!«
»Was meinst du damit?«, fragte Marie-Claire.
»Ganz einfach. Der jetzige Souverän, also quasi der oberste Ritter dieses ebenso mysteriösen wie auch legendären Ritterordens, ist der Sohn von Erzherzog Otto von Österreich, somit also Enkel des letzten österreichischen Kaisers, Karl I.!«
»Du sprichst von Karl Habsburg?«
»Richtig!«
»Deswegen hast du mich vorhin bei dem Gemälde von Karl VI. so genervt? Damals war ein Karl der Souverän – und heute ist es wieder ein Karl? Und beide sind sie Habsburger …«
»Du hast es erraten!« Christiane Schachert atmete tief durch. »Meine Liebe, bitte versprich mir, dass du mich da völlig raushältst, ja? Was ich dir sage, sind mehr oder minder Dienstgeheimnisse. Ich riskiere riesigen Ärger, wenn ich solche Dinge erzähle. Die ganze Sache mit der Entfernung des Schwurkreuzes wird hier innerhalb des Kunsthistorischen Museums als Top Secret behandelt. Da kommen morgen sehr einflussreiche Leute zusammen. So viel Blaublütiges auf einen Schlag siehst du nur selten! Es kommen Könige, meine liebe Marie-Claire, wahrhaftige, amtierende Könige aus Europa – und sie alle sind Ritter vom Goldenen Vlies.«
Marie-Claire de Vries war sprachlos. Was ihre Freundin da erzählte, hörte sich an wie aus einem Mittelalter-Roman, aus einem Cinemascope-Historienschinken: geheimnisvolle Ritter, Hochadel, Könige, Schwurkreuze! Doch all das geschah in der Gegenwart, hier in Wien! Und sie war mitten drin. Was diese geheimnisvollen Geschehnisse letztendlich mit dem Florentiner-Diamanten zu tun hatte, wusste sie nicht. Noch nicht.
»Diese ganze Sache hört sich ziemlich verrückt an. Mittelalterlicher Aristokraten-Mummenschanz im 21. Jahrhundert! Fehlen eigentlich nur noch martialisch dreinschauende Männer in schwarzen, wallenden Umhängen, von diffusem Kerzenlicht erhellte Gewölbe und von Weihrauch getränkte Priester, die geheimnisvolle Liturgien vor sich hin murmeln, während die schwarzen Ritter ihren neuen Ordensbruder mit dem Schwurkreuz in der einen und einem Schwert in der anderen Hand in ihre Geheimloge aufnehmen! Ich kann es nicht glauben! Hast du eine Ahnung, wo sich diese ehrenwerte Gesellschaft der Ritter vom Goldenen Vlies trifft?«
»Nicht wirklich!«
»Was heißt das?«
»Nun ja, mein Chef hat irgendetwas von einer barocken Kirche in der Nähe des Stephansdoms gesagt. Tut mir Leid, Marie-Claire, mehr weiß ich nicht. Aber eigentlich gibt es in der Nähe des Doms keine barocke Kirche. Jedenfalls keine, die ich kenne. Aber eins musst du mir jetzt noch verraten: Was hat dieser Ritterorden heute noch mit dem Florentiner zu tun?«
»Wenn ich das wüsste, Chrissie, wäre ich wahrscheinlich einen großen Schritt weiter. Aber ich weiß es nicht! Wirklich nicht. Ich weiß nur, dass sich all das ein bisschen viel nach einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht anhört. Ich glaube nicht, dass sich mein Sicherheitschef, Francis Roundell, damit zufrieden gibt. Der will Fakten – Fakten über den Florentiner.«