172571.fb2 Der Fluch des Florentiners - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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6. Kapitel

Kaum hatte Flugkapitän Richard Kristoffs die Turbinen des Learjets bei der Ankunft in Wien abgeschaltet, sah er einen schwarzen BMW mit Blaulicht über das Rollfeld auf sein Ambulanzflugzeug zurasen. Sofort wusste er, dass ihn seine Intuition nicht getäuscht hatte. Er öffnete die Flugzeugtür am Rumpf.

Die Morgensonne blendete ihn. Der Wetterdienst hatte mitgeteilt, dass im Großraum Wien heute Fön mit viel Sonnenschein und Temperaturen bis zu zwanzig Grad erwartet würden.

Zwei Männer traten mit forschem Schritt auf ihn zu. Einer von ihnen hielt ihm einen Ausweis unter die Nase. Flüchtig blickte Richard Kristoffs darauf. Der Doppeladler und der Schriftzug »Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung« darauf überraschten ihn nicht. Er hatte irgendwie damit gerechnet.

»Flugkapitän Kristoffs?«

»Ja, richtig.«

»Wir sind vom österreichischen Innenministerium. Wir müssen Sie bitten, uns einige Frage zu beantworten. Ist Frau Dr. Blagus auch an Bord?«

»Ja, natürlich!«, antwortete er und drehte sich um. Die Notärztin, die mit ihm nach Marrakesch geflogen war, stand bereits hinter ihm am Ausstieg.

»Bitte steigen Sie beide zu uns in den Wagen.«

Fünfundvierzig Minuten später hielt der BMW vor dem ehemaligen Palais Modena, dem Haus Nummer 7 in der Herrengasse im ersten Bezirk von Wien. Die beiden Männer vom österreichischen Sicherheitsdienst hatten während der Fahrt vom Flughafen Schwechat in die Innenstadt kein Wort gesagt. Ulrike Blagus saß noch immer verunsichert im Fond des Wagens. Sie war sichtlich nervös. Flugkapitän Richard Kristoffs signalisierte, dass sie sich keine Sorgen machen solle. In einem Büro in der dritten Etage wurden sie von einem etwa fünfzigjährigen Mann mit lichtem Haar und einem schlecht sitzenden, dunkelblauen Anzug erwartet. Ein Namensschild an der Außentür wies den Zimmerinhaber als Dr. (Jus) René Poll aus, doch der Mann stellte sich nicht vor. Die Einrichtung des Büros war ausgesprochen kärglich. Außer dem Schreibtisch, drei Stühlen und einem Tresor befand sich nichts in dem Raum. Keinerlei persönliche Gegenstände zierten ihn. Nicht einmal ein Bild hing an den Wänden.

»Bitte, Frau Dr. Blagus, Herr Kristoffs, nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder etwas Gebäck anbieten?«, gab sich Dr. René Poll sehr freundlich. Er wartete die Antwort nicht ab, blätterte in einem Ordner auf seinem Tisch und sprach, ohne seine beiden Besucher anzuschauen.

»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie gestern einen Mann, einen Patienten namens Faisal Ben Ait Haddou, am Flughafen Rheintal in der Schweiz abgeholt und ihn von dort nach Marrakesch geflogen, stimmt das?«

»Ja, das ist richtig«, antwortete Richard Kristoffs. »Wir haben diesen Patienten nach Marrakesch geflogen und hätten uns ohnehin nach der Rückkehr bei der Polizei gemeldet«, kam der Pilot der nächsten Frage des Geheimdienstlers zuvor. Der Beamte tat erstaunt.

»Warum das?«

»Weil sowohl ich als verantwortlicher Pilot als auch Frau Dr. Blagus als Ambulanzärztin spätestens nach der Landung in Marrakesch ahnten, dass mit diesem Patienten etwas nicht in Ordnung war.«

Bevor er weiter sprechen konnte, unterbrach ihn der Beamte des Innenministeriums.

»Um es gleich vorwegzunehmen: Sie beide sind lediglich als Zeugen hier, nicht als Beschuldigte! Aber unser Gespräch unterliegt in jeglicher Hinsicht der Geheimhaltung. Bevor Sie mein Büro verlassen, werden Sie schriftlich und unter Strafandrohung verpflichtet werden, über das, was Sie in Verbindung mit Ihrem Flug erlebt und gehört haben, aber auch über alles, worüber wir jetzt sprechen werden, absolutes Stillschweigen zu wahren. Sie beide sind von Berufs wegen in sehr verantwortlichen Positionen. Daher kann ich Ihnen bereits jetzt sagen, dass es bei dieser Sache um hoch brisante Staatsangelegenheiten geht. Es besteht der dringende Verdacht, dass Ihr Patient ein Terrorist ist! Wir wissen nicht, wer er ist, aber wir wissen, dass sein Name, seine Personaldokumente wie auch die gesamten Ihnen vorgelegten Dokumente für den Ambulanzflug perfekte Fälschungen waren. Mehr, das muss ich zu meinem Bedauern sagen, wissen weder wir hier in Wien noch unsere Kollegen von den deutschen Nachrichtendiensten. Das sei also vorweg gesagt. Und nun, werte Frau Dr. Blagus und Herr Kristoffs, seien Sie bitte so nett und erzählen Sie mir so detailliert wie möglich, was Sie von jenem Moment, da Sie den Flughafen Rheintal verlassen und heute hier in Wien wieder gelandet sind, erlebt haben! Erzählen Sie bitte alles. Jedes Detail ist wichtig.«

Zwei Stunden dauerte die »vertrauliche Einvernahme«, wie das Gespräch mit dem Geheimdienstmann in den Dokumenten, die sie als Verschwiegenheitserklärungen hatten unterzeichnen müssen, deklariert wurde. Erst hatte Richard Kristoffs als Pilot dem Beamten die Abholprozedur am Flughafen Rheintal bis ins letzte Detail beschrieben, hatte erklärt, dass ihm diese Sache höchst merkwürdig vorgekommen war, er aber keinerlei rechtliche Grundlagen gehabt habe, den Flug und Transport des Patienten zu verweigern. Größte Aufmerksamkeit zeigte der Beamte dann, als Kristoffs beschrieb, wie am Flughafen von Marrakesch nicht, wie üblich und erwartet, ein Ambulanzfahrzeug, sondern zwei schwarze Limousinen direkt aufs Flugfeld gekommen waren und den Patienten ohne Trage und ohne jegliche ärztliche Begleitung abgeholt hatten. Die Begrüßung des Patienten durch zwei der Fahrzeuginsassen, so deutete Richard Kristoffs seine Beobachtungen, sei »geradezu freundschaftlich-vertraut« gewesen.

Dann schilderte die noch immer sehr nervöse Ambulanzärztin das Ganze aus medizinischer Sicht und machte deutlich, dass es sich ihrer Meinung nach nicht um eine Unfallverletzung, sondern um eine Schusswunde gehandelt habe. Eine, die fraglos schon einige Tage alt, gut geheilt und professionell versorgt worden war.

Nach endlos langen, sehr akribischen Fragen des Geheimdienstmannes schilderten Richard Kristoffs und Dr. Ulrike Blagus, wie erstaunt sie gewesen waren, dass der direkte Rückflug nach Wien von den marokkanischen Flughafenbehörden mit höchst fadenscheiniger Begründung immer und immer wieder hinausgezögert worden war, bis es schließlich so spät geworden war, dass angeblich das Nachtflugverbot am Flughafen von Marrakesch einen Start unmöglich machte.

Dann waren sie unter Bewachung zweier Polizisten in einem Hotel nahe dem Flughafen und außerhalb von Marrakesch mehr oder minder festgehalten worden. Das Telefon im Zimmer funktionierte nicht. Kristoffs hatte sein Handy abgeben müssen. Es war ein Skandal, aber sie hatten nichts dagegen unternehmen können. Die Zentrale der Flugambulanz in Wien, so hatte man ihnen erklärt, sei informiert worden, dass der Rückflug aus Witterungsgründen nicht möglich gewesen sei. Erst am heutigen Morgen hatten sie ihr Hotelgefängnis verlassen dürfen.

»Mir fällt da noch etwas ein«, meldete sich nach gut zwei Stunden die Ambulanzärztin zu Wort. »Dieser arabische Patient hatte eine jener Spezialkühltaschen bei sich, in denen Blutkonserven transportiert werden. Diese Tasche ist aber vom Ambulanzfahrer in Rheintal nicht mir als Ambulanzärztin übergeben worden, sondern dem Patienten. Das war sehr ungewöhnlich! Aus medizinischer Sicht gab es keine Veranlassung, Blutkonserven mitzuführen, denn die Wunde war längst gut verheilt. Und wenn, dann wird eine solche Tasche den Ärzten der Flugambulanz ausgehändigt. Der Patient hat diese Kühltasche während des Fluges derart auffällig beobachtet, dass ich nicht widerstehen konnte, einen Blick hineinzuwerfen, als er kurz eingeschlafen war.«

Der Geheimdienstmann schaute wie elektrisiert auf. »Und, waren es Blutkonserven?«

»Nun ja, es waren sehr wohl zwei undurchsichtige Aluminiumbeutel mit Flüssigkeiten. Sie sahen täuschend echt aus wie richtige Blutkonserven, aber als ich den einen Beutel in die Hand nahm, hatte ich das Gefühl, als befände sich außer einer Flüssigkeit auch noch ein harter Gegenstand in dem Beutel. Ungefähr so groß wie eine Walnuss. Aber dann dachte ich mir, dass es, wenn es etwas Verdächtiges wäre, es sicherlich beim Sicherheitscheck am Flughafen Rheintal aufgefallen wäre. Auch Kranke werden in der Sicherheitsschleuse durchleuchtet.«

Richard Kristoffs wurde langsam ungeduldig. Er war müde. Im Hotel in Marrakesch hatte er nicht wirklich schlafen können. Zu sehr war er mit seiner höchst ungewöhnlichen Situation beschäftigt gewesen – und damit, alle nur erdenklichen Details wahrzunehmen und zu notieren. Er hatte geahnt, dass er das später brauchen würde.

»Was immer da auch ablief und wer immer unser Patient auch war«, resümierte Richard Kristoffs, »das weiß ich nicht und das geht mich so gesehen auch nichts an. Was ich nicht verstehe, ist, wieso man uns nicht sofort nach Wien hat zurückfliegen lassen.«

Dr. René Poll vom österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung und als Leiter der Abteilung II zuständig für internationale Belange des Staatsschutzes stand auf und ging nachdenklich in dem Büro auf und ab. Auch er hatte keine wirklich plausible Erklärung für dieses Verhalten der Behörden in Marokko. Die ganze Angelegenheit war höchst seltsam. Sie tangierte nach dem jetzigen Stand der Dinge zwar nicht direkt österreichisches Sicherheitsinteresse. Vielmehr war es ein Amtshilfeersuchen der Kollegen vom deutschen Bundesnachrichtendienst im bayrischen Pullach gewesen, die ihn um Einvernahme des Piloten und der Ambulanzärztin gebeten hatten. Zusammen mit den wenigen Hintergrundinformationen, die ihm die deutschen Kollegen über den Überfall auf das Schloss in Bayern gegeben hatten, und dem spektakulären Kunstraub von Florenz, der auch seiner Behörde nachrichtlich zur Kenntnis gelangt war, ahnte er bei dem Ganzen, dass da vielleicht doch noch mehr auf ihn und seine Mitarbeiter zukommen würde. Eines hatte er nämlich bereits in Erfahrung gebracht: Angeblich steckte eine arabische Terrororganisation mit dem kryptischen Namen »Heilige Krieger der Tränen Allahs« hinter den seltsamen Aktivitäten. Doch von dieser Organisation hatten die europäischen Geheimdienste bislang noch nie etwas gehört.

Abrupt blieb er stehen und sagte zu Flugkapitän Richard Kristoffs gewandt: »Mag schon sein, dass das Verhalten der marokkanischen Behörden auf den ersten Blick wenig Sinn ergibt. Der ergibt sich allerdings dann, wenn irgendjemand verhindern wollte, dass wir zu früh von diesen Geschehnissen erfahren. Deshalb hat man Sie und Frau Dr. Blagus festgehalten! Da hat vermutlich jemand Zeit schinden wollen. Entweder, weil man jemandem die endgültige Flucht ermöglichen wollte, oder weil man wusste, dass noch ein anderer oder auch mehrere Männer erst aus Europa eintreffen mussten. Vielleicht war dieser Faisal Ben Ait Haddou nicht der Einzige, der aus Europa geflohen ist! Und vielleicht war er nicht der Einzige, der Blutkonserven mit sich führte, in denen etwas versteckt war, was das Röntgengerät durch einen Aluminiumbeutel hindurch nicht so ohne Weiteres entdeckt. Etwas sehr Hartes. Vielleicht etwas aus Kohlenstoff.«

Dr. Ulrike Blagus schaute den Geheimdienstmann verwundert an. »Kohlenstoff? Meinen Sie, in den Blutkonserven war eine Waffe, die aus Kohlenstoff hergestellt wurde?«

»Nein, werte Frau Dr. Blagus«, lächelte der Geheimdienstler, »keine Waffe! Etwas, das vor Millionen von Jahren tief unten in der Erde unter unvorstellbaren Temperaturen und wahnwitzigem Druck entstanden ist. Gepresster, durchsichtiger Kohlenstoff: Diamanten!«

*

Marie-Claire de Vries war völlig außer Atem. Sie fühlte sich elend. Ihr Puls raste. Schweiß rann ihr über die Stirn. Keuchend saß sie zusammengekauert mit dem Rücken gegen die Hauswand gelehnt und schaute ungläubig an dem nur wenige Meter entfernten Stephansdom hoch. Klar und schön zeichneten sich die romanischen Türme, das gotische Langhaus aus dem 15. Jahrhundert und die Erker des berühmtesten Wahrzeichens von Wien gegen den metallblauen Fönhimmel des Vormittags ab. Vom Hauptturm war nicht viel zu sehen. Ein riesiges Werbeplakat vor den Baugerüsten verhüllte den schlanken Turm. Die Erste Bank warb darauf in riesigen Lettern: »Der Steffi braucht Hilfe.«

Es war so ungewöhnlich warm für einen späten Novembertag, dass selbst die Pantomimedarsteller in ihren Mozartperücken auf dem Stephansplatz schwitzten. Die drei fünfzackigen, in das Pflaster eingelassenen weißen »Memory-Stars« für Wiens bekannteste Söhne der Musik – Strauß, Mozart und Haydn – schillerten im hellen Sonnenlicht.

»Ein sehr symbolträchtiges Umfeld haben sich die ehrenwerten Ritter vom Goldenen Vlies da ausgesucht«, murmelte Marie-Claire so laut vor sich hin, dass eine vorbeigehende Passantin sie verwundert anschaute. Ihr Blick wanderte noch einmal hoch zum Werbebanner der Bank am Kirchturm, von dort zu dem Messingschild an der Wand hinter ihr. Es war die Dompfarre St. Stephan. Nur wenige Meter links von ihr befand sich das dort residierende Bankhaus Carl Sprängler & Co., Österreichs ältestes Bankhaus. Ganz in der Nähe hatte sich die Bank Austria Creditanstalt einquartiert. Alles in erstbester Innenstadtlage, dachte Marie-Claire. Wirklich eine sehr symbolträchtige Konstellation! Die Banken scharen sich um den Dom, das Symbol klerikaler Macht, wie Vasallen um ihren wahren Herrscher! Als suche ihr Auge nach weiteren Beweisen, nach Indizien für das, was sie eigentlich seit wenigen Minuten wusste, starrte sie auf ein Plakat am Stephansdom. Für Touristen stand dort erklärt, dass es im Dom eine romanische Empore gab, auf der die Herrscher Messen gefeiert – aber auch Regierungsgeschäfte getätigt hatten. Ja, ganz offensichtlich einten sich hier an diesem Dom inmitten Wiens seit Jahrhunderten die Symbole staatlicher wie auch weltlicher Macht. Und dazu gehörte der Orden der Ritter vom Goldenen Vlies!

Aber das wusste sie erst seit einer Viertelstunde. Seit sie es entdeckt hatte, überschlugen sich ihre Gedanken. Sie wusste, wo sich heute Abend die Honoratioren des Ordens vom Goldenen Vlies treffen würden! Ja, sie wusste es!

Zwei Stunden war sie gestern in der Dunkelheit durch die Gassen der Innenstadt nahe des Doms geirrt, aber nirgendwo hatte sie eine Barockkirche ausfindig machen können. Mehr und mehr waren ihr Zweifel gekommen, ob sie sich nicht in etwas verrannte. Denn eine direkte Verbindung zwischen dem Orden vom Goldenen Vlies, dem Florentiner und den Raubüberfällen von Florenz und Deutschland existierte bislang eigentlich nur in ihrem Kopf. Es war Intuition, ihre Intuition – mehr nicht! Und mit jedem Schritt durch die Gassen der Wiener Innenstadt war sie sich sicherer, dass ihr Sicherheitschef Francis Roundell ihre Intuition schlichtweg als Spinnerei bezeichnen würde.

Enttäuscht und missmutig hatte sie gegen acht Uhr abends schon aufgeben wollen, als die Glocken des Stephansdoms zu läuten begonnen hatten. Die dumpfen Glockenschläge des von den Wienern liebevoll »Steffi« genannten Doms hatten sie zu einem letzten Blick hinauf zu dem festlich beleuchteten, im tiefdunklen Abendhimmel noch stolzer und noch beeindruckender wirkenden Turm veranlasst. Und plötzlich war ihr der zündende Gedanke gekommen. Ohne Frühstück und extrem aufgedreht war sie schon am frühen Morgen wieder hierher gekommen – und hatte triumphiert! Ja, die Tür zur Türmerstube war auf! Die kleine, hölzerne Tür gegenüber der Dompfarre, vor der sie jetzt saß, sie war geöffnet! Ein junger Bursche kauerte unausgeschlafen im winzigen Kassenraum.

»Dreihundertdreiundvierzig Stufen! Eine stolze Leistung am frühen Morgen!« Mehr hatte der Kassierer nicht gesagt, als sie die drei Euro Eintritt zahlte und dann losging – den beängstigend engen, eiskalten Wendeltreppengang hinauf zu dem fast in der Mitte des Hauptturms wie ein gotisches Schwalbennest thronenden Türmerstübchen. Von dort oben, so war ihr am Vorabend klar geworden, würde sie einen perfekten Panoramablick über das nähere Umfeld des Doms haben. Wenn es diese Kirche, diese barocke Kirche der Ritter vom Goldenen Vlies, wirklich irgendwo hier gab, dann müsste sie von dort oben zu sehen sein. Denn wo eine Kirche, so hatte sie kombiniert, da ist auch ein Kirchturm, eine Glocke – oder ein Kreuz!

Und sie hatte Recht behalten! Nach Minuten strapaziöser Treppensteigerei hatte sie die Aussichtsplattform des Türmerstübchens erreicht. Zweimal hatte sie umkehren wollen, weil ihr Puls ihr bis ins Trommelfell pochte. Den prächtigen, in die grün-weiß-schwarz-goldenen Dachschindeln des Kirchenschiffs eingearbeiteten Doppeladler des österreichischen Kaisertums hatte sie kaum beachtet. Bei Stufe zweihundertfünfzig hörte sie auf zu zählen. Der Sinn des ganzen Unterfangens erschien ihr mit jeder Stufe immer absurder. Zweifel marterten sie. Sie sollte sich mit dem Florentiner beschäftigen, hechelte jetzt aber wie eine Verrückte auf den »Steffi« – auf der Suche nach einer Kirche, von der sie nicht einmal wusste, ob es sie überhaupt gab, geschweige denn, was diese Kirche mit dem Florentiner zu tun hatte. Aber sie wollte nicht aufgeben, wollte Recht haben, sich und anderen beweisen, dass sie sich auf ihre Intuition verlassen konnte. So war sie das enge Treppenhaus weiter hinaufgewankt. Drei Stufen vor dem Stübchen mit den gotischen Erkerfenstern musste sie nochmals lange ausruhen.

Und dann sah sie ihn! Zum Greifen nahe, keine fünfzig Meter Luftlinie entfernt. So unglaublich nahe war er, dass sie nicht glauben konnte, dass man ihn in den Straßen unten nicht sehen konnten: ein Kirchturm! Ein kleiner, kaum mehr als zehn Meter hoher Kirchturm mit einem winzigen Kreuz oben drauf und mit einigen kleinen, romanisch wirkenden Fenstern. Ein schlanker Turm mit grünlich patiniertem Metalldach. Die Fassade war so hässlich-stillos mit schnödem Zement verputzt, dass Marie-Claire annahm, dass diese Kirche, die da unten liegen musste, im Zweiten Weltkrieg höchstwahrscheinlich zerstört oder arg in Mitleidenschaft gezogen und bis heute nicht originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Das war es! Sie war sich ganz sicher. Da unten hinten den Fassaden eines Tabak- und eines Modegeschäftes verbarg sich eine Kirche. Doch war es eine barocke Kirche?

Sie rannte so schnell sie konnte wieder nach unten. Zweimal stolperte sie in dem engen Treppenhaus, und mehrmals musste sie verschnaufen. Mit wehenden Haaren war sie schließlich an dem verdutzten Kassierer vorbeigerannt, raus auf den Stephansplatz, in die kleine Churhausgasse, dann wieder links in die Singerstraße. Dann starrte sie ungläubig auf die graue, unscheinbare Fassade eines mächtigen, dreigeschossigen Gebäudes mit schnörkellosen, klassizistischen Fensterbögen, das auf den ersten Blick eher wie ein altes Krankenhaus aussah. Sie sah ein mit der rot-weißen Staatsfahne dekoriertes Schild »Mozarthaus«, war völlig verwirrt, weil sie nicht wusste, warum und dass es in Wien ein Mozarthaus gab, suchte mit einem Blick nach oben den kleinen Kirchturm, den sie vom Stephansdom aus gesehen hatte. Doch von hier unten war nichts zu sehen. Im Eckteil des Hauses war eine Buchhandlung, in der ersten Etage ein Frisör untergebracht. Erst spät sah sie die Straße hinunter links die drei Kirchenfenster. Sie jubelte innerlich. Es waren barocke Kirchenfenster! Drei barocke Fenster mit jeweils fünf schwarzen, sehr ungewöhnlichen Kreuzen auf weißem Untergrund. Sie hatte diese Art Kreuze schon einmal gesehen, wusste aber nicht wo und wusste auch nicht, was sie bedeuteten – bis sie das unscheinbare, kaum lesbare bronzene Schild an der Fassade las: »Am 1. September des Jahres 1938 lösten die Nationalsozialisten die Ballei Österreich des Deutschen Ordens auf. Am 26. März 1947 wurde die Auflösung von der Republik Österreich als widerrechtlich erklärt.«

Marie-Claire de Vries lächelte unendlich glücklich und zufrieden vor sich hin: Du bist selten dämlich! Wieso bist du nicht gleich darauf gekommen? Dies hier ist die St.-Elisabeth-Kirche, die Kirche eines der berühmtesten Orden des Abendlandes, jenes der »Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens« in Jerusalem, kurz Deutscher Orden genannt. Im gesamten Mittelmeerraum, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und im baltischen Raum errichtete dieser aus einer Hospitalbruderschaft entstandene Ritterorden seit dem 12. Jahrhundert ein päpstlich anerkanntes, unglaublich mächtiges Gefüge aus weltlichen und kirchlichen »dienenden Brüdern«, dessen Zentrum eine der größten Festungsanlagen der Welt wurde: Marienburg – dessen Fahne jenes Kreuz trug, das sie nun in den barocken Kirchenfenstern über sich sah. Plötzlich waren ihr die Zusammenhänge klar: Der Deutsche Orden, einst als Deutscher Ritterorden bezeichnet, war berühmt-berüchtigt geworden als Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche. Und als Instrument des abendländischen Kampfes gegen die Heiden – die Moslems. In diesem Orden einten sich einst mächtige Kräfte, die zu den Kreuzzügen aufbrachen. Zur Befreiung Jerusalems und zur Verteidigung des christlichen Glaubens. Und das, so wusste sie mittlerweile, galt auch als eines der wichtigsten Ziele des Vlies-Ordens. Der Orden der Ritter vom Goldenen Vlies war kein Verdienstorden. Er war ein politischer Orden – und war ebenfalls eng verknüpft mit der katholischen Kirche.

Marie-Claire ging zurück zu dem unscheinbaren Eingang, in dem ein junger Mann Eintrittskarten für Konzerte im Mozarthaus verkaufte. Sie sah das alte, hölzerne Portal rechts im Durchgang, sah die zwei in die Holztür eingearbeiteten Kreuze des Deutschen Ordens und wusste, dass dies der Ort war, den sie suchte. Dann sah sie das Schild an der Tür: »Diese Kirche bleibt heute geschlossen.«

Beinahe hätte sie geweint vor Enttäuschung! Nachdem sie einen flüchtigen Blick in den von der Straße her kaum sichtbaren Innenhof des Gebäudetraktes geworden hatte, beschloss sie, erst einmal ihre Gedanken zu ordnen. Nun saß sie mit dem Rücken an die Wand der Pfarre St. Stephan gelehnt und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Wind zerzauste ihr langes, blondes Haar. Sie war nervös, müde und abgespannt. Sie spürte, wie sich die ersten Anzeichen von Migränekopfschmerzen über die Schläfen zur Stirn hin schlichen. Ihre Füße taten weh. Ihre Gedanken überschlugen sich. Deutscher Orden, Ritter vom Goldenen Vlies: Wie hing all das wirklich zusammen? War sie nicht schon längst viel zu weit von ihrem eigentlichen Auftrag – dem Florentiner – entfernt?

Plötzlich war sie hungrig. Mühsam erhob sie sich und ging in Richtung Café Haas hinter dem Dom. Sie mochte das Haas & Haas – das geschmackvoll-modern eingerichtete Restaurant unten im Kellergewölbe ebenso wie den idyllischen Gartenpavillon. Was viele Wiener ins »Haas« trieb, war die Tatsache, dass sich höchst selten Touristen in dieses versteckt und unscheinbar in eine Fassade hinter dem Stephansdom eingebettete Café verirrten.

Heute jedoch war das Café völlig überfüllt. Sie entschied sich, den Hinterhof aufzusuchen, wo im Sommer Tische und Stühle standen. Die fahle Mittagssonne erwärmte den lauschigen Patio ein wenig. Da der Herbst über Wochen herrlich sonnig gewesen war, standen die Bottiche mit den Oleanderbüschen noch immer draußen. Sie rückte einen Korbstuhl, der direkt an dem zugerankten Zaun stand, in die Sonne, setzte sich und schloss die Augen. Ein Motorengeräusch weckte kurz darauf ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick fiel durch die welken Blätter hindurch auf den unmittelbar neben dem Café liegenden Hinterhof. Unglaublich! Nur durch einen Maschendrahtzaum mit gold-gelb verfärbtem wildem Wein getrennt lag dort ein Hof mit einem mächtigen Gebäudetrakt, der ohne Frage zu der Deutschordenskirche gehören musste. Ja, dies war ohne Zweifel der rückwärtige Teil der alten Ordenskommende. Sie hatte hier schon sehr oft gesessen – und mit Sicherheit schon oft auf diesen Hinterhof geschaut. Ja, all das hatte sie schon sehr oft gesehen, aber was sich hinter den eher ärmlich ausschauenden Fassaden verbarg, hatte sie erst vor wenigen Minuten herausgefunden!

Nun kam das Fahrzeug, das sie eben gehört hatte, über den Hinterhof auf den Parkplatz gerollt. Neugierig lugte sie durch den wilden Wein hindurch. Es war ein dunkelblauer Jaguar. Die klassische Limousine fuhr fast lautlos auf den Zaun zu, hinter dem sie saß. Ihr Blick heftete sich auf die silberne Jaguarstatue auf der Motorhaube des Fahrzeugs, das jetzt nur noch knapp einen halben Meter von ihrem verborgenen Sitzplatz entfernt stehen blieb. Sie konnte den Fahrer nicht genau sehen, wollte aber wissen, wem diese prächtige Luxuslimousine gehörte. Vorsichtig stand sie auf, bückte sich, stierte durch den wilden Wein hindurch auf die Fahrertür, die sich nun öffnete. Ein Mann stieg aus. Sie erstarrte! Gänsehaut schoss ihr über den Rücken.

Das ist nicht wahr! Nein, das konnte nicht wahr sein. Das war unmöglich! Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie aus ihrem Versteck hinter dem Zaun heraus das Gesicht des Mannes genauer auszumachen. Doch, er war es! Kein Zweifel! Dieses markante Profil, das etwas längere, seidig-glänzende Haar, das ihm über die Stirn fiel – und diese Augen! Diese Augen, die selbst auf einem Foto unglaublich ausdrucksstark waren und grenzenloses Selbstbewusstsein ausdrückten. Er war groß, gut aussehend, mit breiten Schultern. Er trug einen perfekt sitzenden Anzug. Der da, und sie zitterte dabei am ganzen Körper, war Gregor Friedrich Albert von Freysing!

Der Jaguarfahrer ging zielstrebig auf einen Torbogen auf der rechten Seite des Hofes zu und verschwand darin. Das Echo seiner Schuhe hallte noch lange durch den Innenhof. Hastig sprang Marie-Claire de Vries hinter dem Zaun hervor und rannte ihm hinterher. In dem Torbogen presste sie sich an die Wand und schielte um die Ecke herum in den sich nun vor ihr öffnenden Innenhof. An der ihr gegenüberliegenden Gebäudeseite thronte ein wunderschöner Erkerwintergarten über ihr. Sie konnte Bücher erkennen. Freysing stand links im Hof vor einer grünen Holztür mit Sprossenfenstern, kramte einen Schlüssel aus seinem Aktenkoffer und verschwand in dem Gebäude.

Marie-Claire atmete mehrmals tief durch. Sie zitterte am ganzen Leib. All das war unglaublich! Dieser Innenhof war die Rückseite der Deutschordenskirche! Hier würden sich die Ritter vom Goldenen Vlies heute treffen. Und jetzt war dieser Mann hier aufgetaucht!

Langsam trat sie aus dem Durchgang heraus. Um wie eine Touristin zu wirken, schritt sie langsam über den Innenhof und schaute sich um. Die Hauswände waren partiell mit wildem Wein bewachsen. Die Gebäude wirkten heruntergekommen. Der Hof war sehr idyllisch und irgendwie friedlich. Nur die breite Glastür mit den Oleanderbüschen davor schien neu gestrichen zu sein. Sie ging darauf zu. Das Herz blieb ihr fast vor Schreck stehen, als die Tür sich öffnete. Ein kleinwüchsiger Mann in einem wallenden Priestergewand kam heraus, direkt auf sie zu. Er trug eine Brille und hatte einen sehr gütigen Blick.

»Grüß Gott! Kann ich Ihnen helfen?« Er hatte eine sehr nette Stimme: bestimmt, offen, ehrlich – aber nicht einladend.

»Ja, doch vielleicht …«, log sie. »Ich bin Fotografin und arbeite an einem Bildband über deutsche Ritterorden.«

»Dann sind Sie hier ja im Garten Eden, meine Liebe!«

Marie-Claire lächelte in sich hinein. Dieser Pater war ein Charmeur! Seine sanfte Stimme und sein gewinnendes Lächeln gefielen ihr. »Meine Liebe« hatte er gesagt! Sie war sich sicher, dass er genau wusste, was er da gesagt hatte. Ungezwungen plauderte der Priester weiter. Er schaute ihr dabei selbstbewusst in die Augen.

»Zugegeben, die Kollekten der letzten Jahre sind nicht mehr ganz so von grenzenloser Großherzigkeit und von Verständnis für die baulichen Nöte unseres netten Kirchleins St. Elisabeth geprägt. Und auch die Spenden halten sich angesichts der schlechten wirtschaftlichen Zeiten sehr in Grenzen. Aber diese wunderschöne Kirche und diese altehrwürdigen Gemäuer aus dem 14. Jahrhundert sind doch fraglos ein außergewöhnliches Kleinod.«

»Ich wäre ja gerne einmal in die Kirche gegangen, Vater«, unterbrach sie ihn, »aber die Tür ist verschlossen. Warum?«

Die Antwort des Paters war lapidar. »Ach, da findet heute Abend eine private Messe statt.«

»Und kann ich dann nicht zur Messe gehen?«, fragte sie und fügte schnippisch hinzu: »Ich gehe eigentlich jeden Abend in die Messe. Schade, wäre gerne heute Abend hier in die Deutschordenskirche gekommen. Was ist denn da so Wichtiges, dass ein Gotteshaus geschlossen bleibt?«

»Ja, liebes Kind«, lachte der Priester schelmisch, warf den Kopf dabei in den Nacken, fasste sie am Arm, zog sie sehr bestimmt zu sich heran und flüsterte geheimnisvoll: »Das ist so geheim, liebes Kind, dass selbst ich, als treuer Diener Gottes in diesem ehrenwerten Haus, nichts Genaues weiß! Ich werde heute Abend zum Lakaien der Hochherrschaftlichen degradiert. Da kommen nämlich honorige, sehr wichtige Leute aus aller Welt! Da darf niemand rein. Und Frauen schon gar nicht! Aber ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wer es ist. Wirklich nicht. Auch wenn die Versuchung groß ist!«

Sein Griff wurde ein wenig fester. Sie war verwirrt und musste lachen. Dieser Priester war ein Unikum, ein Schelm! Er hatte es faustdick hinter den Ohren.

»Honi soit qui mal y pense«, reagierte sie grinsend auf seine Avancen und war höchst erstaunt, als der Priester nicht nur deutlich machte, dass er das Motto des englischen Hosenbandordens kannte, sondern zudem perfekt Französisch sprach. Akzentfrei parlierte er: »Wie wahr, wie wahr, mein Kind! Ein Schelm ist, wer Böses dabei denkt!«

Marie-Claire war beeindruckt. Ihr gefiel dieser fröhliche, wortgewandte und zugleich tiefsinnige Priester.

»Kann ich nicht wenigstens einen kurzen Blick in die Kirche werfen? Ich komme dann sicherlich in den nächsten Tagen nochmals vorbei und hoffe, dass Sie mir als Führer zur Verfügung stehen können.«

Wieder funkelten die lebhaften Augen des Gottesmannes. Und wieder ließ er es sich nicht nehmen, zweideutig zu antworten: »Gotteshäuser, meine Liebe, sind auch Refugien für Engel. Blonde Engel wie Sie! Also gut, kommen Sie. Aber nur einen kurzen Blick.«

Schon beim Betreten der auffällig kleinen, mit Eichenbänken möblierten und recht dunkel wirkenden Deutschordenskirche sah Marie-Claire, dass dort Vorbereitungen für eine besondere Zeremonie getroffen wurden. Die Eichenbänke waren mit roten Tüchern bedeckt. Der Altar vor dem prachtvollen Mariengemälde war festlich geschmückt. An den Wänden hingen Dutzende von Wappentafeln europäischer Adelshäuser und Fürstenhöfe. Die Details der Tafeln ließen ihr wieder einmal Gänsehaut über den Rücken laufen. Diese Kirche strotzte nur so vor heraldischen Zeichen abendländischer Aristokratie!

Zunächst wusste Marie-Claire nicht so genau, wonach sie mit hastigem Blick suchte. Dann aber sah sie es genau. Über dem Eingang stand, versteckt in einer Empore, eine Orgel. Zwei kleine Erkerfenster entlang der Längswand ließen sie erahnen, dass dort oben ein Kreuzgang verlief. Wahrscheinlich führte er zur Sakristei oder zu dem Treppenaufgang, den sie flüchtig registriert hatte und an dem geschrieben stand »Sala Terrena – Mozart-Konzerte«.

»So, mein Kind, jetzt muss ich Sie bedauerlicherweise hinauskomplimentieren. Ich habe noch Wichtiges zu tun«, rissen die Worte des Priester sie aus ihrer Euphorie. Ja, sie war euphorisch. Denn dort oben in dem Kreuzgang lag vielleicht der Weg hin zu ihrem Traum! Aufgeregt verabschiedete sie sich und verließ die Kirche auf dem Weg, den sie gekommen war. Plötzlich sprühte sie vor Elan und Einfallsreichtum. Ihre Entscheidung war gefallen. Jetzt galt es nur noch, den Plan in die Tat umzusetzen.

Schnellen Schrittes eilte sie durch den Torbogen, ging zurück zu dem Zaun, der Café und Parkplatz trennte, nahm an der gleichen Stelle wieder Platz und wartete. Es dauerte eine Stunde. Dann kam er. Groß und von kräftiger Statur schritt er auf seinen Jaguar zu. Marie-Claire bewegte sich hinter dem Zaun. Nicht zufällig, sondern unübersehbar und deutlich hörbar. Sie schaute durch den Zaun hindurch, sah sein markantes Gesicht, die dunklen Augen.

Dann sah er sie, blickte verwundert durch den Blätterwald hindurch. Mehr als ihr rot-braunes Kleid und ihre langen, blonden Haare, schoss es ihr durch den Kopf, konnte er nicht von ihr sehen. Ihre Blicke trafen sich durch den Zaun hindurch. Sie sahen sich in die Augen, kaum mehr als einen Meter voneinander entfernt. Sie sah, dass er nicht wusste, wer sie war. Aber sie wusste, wer er war.

Den Blick auf den Boden geheftet, so, als suche sie etwas, kam sie langsam hinter dem Zaun hervor.

»Suchen Sie etwas, junge Frau?«

Sie jubelte innerlich. Bingo! Seine sanfte Stimme ließ die wenigen Worte in ihren Ohren wie Engelsposaunen klingen. Mein Gott, dachte sie, diese Stimme! Dieses Sanfte in der Stimme!

»Ja«, zitterte ihre Stimme wie Espenlaub, »ich habe hier vorhin beim Aussteigen aus dem Wagen eine Karte verloren. Ein Ticket für ein Mozart-Konzert in der Sala Terrena dort in der Kirche.« Sie bemühte sich, sehr traurig zu wirken. »Es ist sehr schwer, für diese Konzerte Karten zu bekommen.«

»Das ist aber höchst bedauerlich, wirklich schade«, reagierte er sehr galant und begann unverzüglich neben und unter seinem Auto den Boden abzusuchen. Auch sie schlich auf dem Parkplatz herum, bückte sich, lugte unter die Autos, suchte – und fand nichts. Er fand ebenfalls nichts. Nach einigen Minuten erwies er sich als das, was sie erwartet hatte – als Gentleman.

»Das ist ja eine richtige Tragödie! Die Sala Terrena ist nicht nur der älteste Konzertsaal Wiens. Die wunderschönen Fresken im Stil venezianischer Spätrenaissance haben selbst Mozart so begeistert, dass er in den wenigen Monaten, die er hier in diesem Haus im Jahre 1781 wohnte, mehrere Konzerte dort gab.«

Ja, dachte Marie-Claire, er ist, was ich vermutet habe. Ich habe es sofort gesehen. Er ist ein wortgewandter, gebildeter, unglaublich gut aussehender Mann mit Stil. Mit Klasse. Und er hat angebissen!

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, lächelte er sie an. »Da ich weiß, wie schwer es ist, für dieses Mozart-Ensemble Karten zu bekommen, ich aber aus geschäftlichen Gründen zu dem Hausherrn exzellente Kontakte habe, werde ich Ihnen eine neue Karte besorgen. Darf ich Ihnen das anbieten?«

»Oh, das ist ja wunderbar«, jubelte Marie-Claire. Ihre Freude war nicht gespielt, aber dennoch wartete sie noch auf eine weitere Frage. Und die kam prompt.

»Würden Sie es als aufdringlich betrachten, wenn ich Sie fragen würde, ob ich Ihnen bei diesem Konzert Gesellschaft leisten dürfte?« Er sagte es so ehrlich und unwiderstehlich, dass sie viel zu schnell antworte: »Nein, ganz und gar nicht. Sehr gern!«

Zehn Minuten später verließ Marie-Claire de Vries mit wild pochendem Herzen den Hinterhof der Deutschordenskirche St. Elisabeth. Sie war glücklich, hatte Kopfschmerzen, hätte Salto schlagen können und vor Freude hüpfen wollen. So wunderbar hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Heute Abend würde sie wieder hierherkommen. Und in einigen Tagen würde sie ins Konzert gehen. Hier, in den Sala Terrena – mit ihm! Mit Gregor Friedrich Albert von Freysing. Jenem Mann, der sich vor einigen Monaten in die Christie’s-Zentrale in London so auffällig für den Florentiner Diamanten interessiert hatte und der dabei vom Sicherheitsdienst fotografiert worden war. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt. Er sah so aus wie auf dem Foto – unglaublich gut!

Marie-Claire de Vries ging in die kleine Passage bei Haas & Haas. Ihre Gedanken waren längst beim heutigen Abend, und so bemerkte sie nicht, dass Gregor Friedrich Albert von Freysing an der Ausfahrt des Parkplatzes mit seinem Jaguar stehen blieb, durch das Fondfenster hindurch nachdenklich der attraktiven Frau mit den langen, blonden Haaren hinterherblickte. Leise murmelte er vor sich hin: »Seltsam! Da stimmt doch irgendetwas nicht!«

Der Schlagbaum öffnete sich. Der Jaguar rollte hinaus auf die Straße. Gregor Friedrich Albert von Freysing dachte angestrengt nach. Wie konnte diese Frau hier parken und dabei ihre Konzertkarte verlieren? Das war eigentlich unmöglich.

Dieser Parkplatz im Hinterhof des Deutschordens war durch einen Schlagbaum gesichert. Nur die Mitarbeiter mit einer elektronischen Chipkarte durften hier rein. Und einige ausgewählte Mitglieder des Ritterordens vom Goldenen Vlies, die fünf Offiziere. Und der Souverän …