172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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Kapitel 9

Der Nachthimmel wurde in Tibet geboren. Nirgendwo sonst waren die Sterne so zahlreich, die Dunkelheit so schwarz und der Himmel so nah. Die Leute schauten nach oben und fingen an zu weinen, ohne den Grund dafür zu kennen. Manchmal stahlen Häftlinge sich aus ihren Hütten, um schweigend auf dem Boden zu liegen und das Firmament zu beobachten. Im Jahr zuvor hatte man im Lager der 404ten eines Morgens einen alten Priester in dieser Position vorgefunden. Er war erfroren, und seine toten Augen starrten in den Himmel. Neben sich hatte er zwei Worte in den Schnee geschrieben. Fangt mich.

Shan lehnte den Kopf gegen die Seitenscheibe, während der Wagen auf der langen Reise nach Norden aus dem Tal emporstieg und sich immer mehr dem Himmel näherte. In manchen gompas gab es einen Test für die Novizen. Geh nachts nach draußen und begib dich an den Ort eines Himmelsbegräbnisses. Lege dich neben die von Vögeln abgenagten Knochen und betrachte den Himmel. Einige kehrten nicht zurück.

»Alle reden von diesem Häftling Lokesh«, ertönte Yeshes Stimme aus der Dunkelheit hinter Shan. »Sie haben etwas für ihn getan.«

»Etwas getan?« fuhr Sergeant Feng barsch dazwischen. »Er hat uns an der Nase herumgeführt.«

»Es war bloß ein harmloser alter Mann. Ein tzedrung«, sagte Shan und benutzte den tibetischen Ausdruck für einen Beamten der Mönche. »Unter der Regierung des Dalai Lama war er Steuereintreiber gewesen. Seine Freilassung war schon längst überfällig.«

Feng schnaubte verächtlich. »Genau. Wir lassen am besten die Häftlinge darüber entscheiden, wann wir das Tor öffnen sollten.«

»Aber wie konnten Sie...?« Yeshe beugte sich vor. Nachdem er genug Mut gefaßt hatte, um die Frage zu stellen, wollte er nicht so einfach aufgeben.

»Ich hatte ein Dekret gesehen, das zehn Jahre zuvor vom Staatsrat erlassen worden war. Zu Ehren des Geburtstags unseres Vorsitzenden Mao wurde für alle Angehörigen der früheren tibetischen Regierung eine Amnestie verfügt. Direktor Zhong hatte diesen Erlaß wohl übersehen.«

»Also haben Sie den Direktor über seine Pflichten belehrt?« fragte Yeshe ungläubig.

»Ich habe ihn daran erinnert.«

»Verdammt«, fluchte Sergeant Feng. »Ihn daran erinnert! Er hat ihm praktisch in aller Öffentlichkeit die Hose heruntergezogen.« Er verlangsamte den Wagen und beugte sich zu Yeshe nach hinten. »Was Häftling Shan nicht erwähnt, ist die Tatsache, daß er niemanden an irgendwas erinnern konnte. Das hätte ein Disziplinarvergehen bedeutet. Also hat er statt dessen den Politoffizier um Material gebeten, weil man zu Ehren von Maos Gedenktag ein Banner anfertigen wollte.«

»Ein Banner?«

»Ein großes verdammtes Banner, damit alle es sehen würden. Das zeuge von patriotischer Gesinnung, hat Leutnant Chang geprahlt. Die Familien waren gekommen. Die Leute aus der Stadt waren gekommen. Die Wachen haben eine Parade abgehalten. Und dann wird auf dem Dach ihrer Hütte das Banner aufgestellt. Zu Ehren von Mao, stand darauf, in dessen Gedenken der Staatsrat alle früheren Beamten begnadigt hat. Sogar Monat und Jahr des Erlasses wurden genannt, damit auch niemand durcheinanderkommen würde. In der folgenden Woche hat der Politoffizier ziemlich viel Zeit mit Shan verbracht.«

»Aber dieser alte Mann wurde freigelassen?«

»Oberst Tan hat eine Petition erhalten. Das war nicht nur ein Rechtsbruch, sondern auch der Mißbrauch eines Geschenks von Mao. Man drohte mit Demonstrationen. Also hat der Oberst vor aller Welt eingeräumt, daß Direktor Zhong einen Fehler begangen hatte.«

Sie fuhren weiter, Kilometer um Kilometer, und verschmolzen mit den Sternen. Inzwischen hatten sie eine so große Höhe erreicht, daß die Straße jegliche Verbindung zu dem Planeten verloren zu haben schien. Nur einige schwarze Flecke am unteren Rand des Himmels zeugten davon, daß sie sich nach wie vor im Gebirge befanden.

»Warum haben Sie Angst vor Direktor Wen gehabt?« hörte Shan sich Yeshe fragen, ohne vorher auch nur an diese Frage gedacht zu haben.

»Ich wollte mich nicht fürchten«, kam nach langem Zögern die Antwort aus dem Dunkel. »Aber er ist der Abt. Für ganz Lhadrung.«

Der gewissenhafte Direktor Wen war ein Abt? Dann begriff Shan. »Ein Priester hätte Angst vor Wen.« Wens Siegel entschied darüber, wer Priester war und wer nicht. Sein Siegel konnte gompas zerstören.

»Ich bin kein Priester.«

»Sie waren ein Priester.« Shan erinnerte sich an Yeshes unheimliches Mantra in der Schädelhöhle.

»Ich weiß nicht.« Yeshes Stimme klang zögernd und schmerzlich berührt. »Das war lediglich ein Abschnitt meines Lebens und ist schon lange vorbei.«

Für Sie gibt es kein lange vorbei, hätte Shan beinahe gesagt. Wagen Sie nicht noch einmal, von lange vorbei zu sprechen, nicht bevor Sie wie wir anderen Ihre ganz persönlichen Alpträume erduldet haben, nicht bevor Ihre Erinnerungen derart morsch sind, daß sie wie dünne Zweige zerbrechen, wenn die Politoffiziere Sie anschreien, ein Geständnis abzulegen. »Dann haben Sie die Universität von Chengdu besucht«, sagte Shan statt dessen. »Aber Sie wurden zur Umerziehung zurückgeschickt. Warum?«

»Das war ein Mißverständnis.«

»Sie meinen ein Justizirrtum?«

Yeshe gab ein Geräusch von sich, das vielleicht ein Lachen war. »Jemand hat in einem der Unterrichtsräume ein Bild von Mao gegen ein Foto des Dalai Lama ausgetauscht. Als niemand sich zu der Tat bekennen wollte, wurden alle sechs tibetischen Studenten nach Hause geschickt.«

»Soll das heißen, Sie waren es nicht?«

»Ich war an dem Tag nicht einmal im Gebäude«, erwiderte Yeshe unglücklich. »Ich habe geschwänzt, um Eintrittskarten für einen amerikanischen Film zu bekommen.«

»Hattest du Erfolg?« fragte Feng einen Moment später. »Bei den Karten.«

»Nein«, seufzte Yeshe. »Sie waren ausverkauft.«

Die Stille des Himmels überwältigte Shan jedesmal aufs neue. Im Licht der Scheinwerfer tauchte ein Geist auf und schien sie schwebend zu beobachten. Feng keuchte erschrocken auf. Erst als die Gestalt seitlich im Abgrund verschwand, sah Shan die Schwingen. Eine Eule.

»Mein alter Herr war Zimmermann.« Die Worte hingen plötzlich in der Luft wie ein unkontrollierter Gedanke. Es dauerte einen Moment, bis Shan begriffen hatte, daß sie von Feng stammten. »Man hat ihm seine Werkstatt weggenommen, seine Werkzeuge, einfach alles. Weil sie ihm gehört haben. Klasse der Grundbesitzer. Zehn Jahre lang hat er Bewässerungsgräben ausgehoben. Aber nachts hat er Sachen hergestellt.« In Fengs Stimme schwang etwas Neues mit. Auch er hatte sie gespürt. Die Finsternis.

»Aus Pappe. Aus getrocknetem Gras. Eßstäbchen.

Wunderschöne Sachen. Schachteln. Sogar kleine Schränke.«

»Ja«, sagte Shan unsicher, nicht weil er einen solchen Zimmermann, sondern weil er viele solcher Helden gekannt hatte.

»Ich habe ihn nach dem Grund gefragt. Ich war bloß ein dummer Junge. Doch er hat mich nur weise angesehen. Wißt ihr, was er geantwortet hat?«

Eine Sternschnuppe schoß quer über den Himmel. Keiner sprach ein Wort.

»Was er geantwortet hat«, fuhr Feng schließlich fort. »Er hat gesagt, du darfst nie auf der Stelle verharren, sondern mußt immer in Bewegung bleiben.«

Shan schaute noch etwas länger zu den Sternen empor. »Er war sehr weise«, sagte er. »Ich hätte Ihren Vater gern gekannt.«

Er hörte, wie Feng überrascht Luft holte. Dann gab der Sergeant das leise gurgelnde Geräusch von sich, das bei ihm ein Lachen darstellte.

Eine weitere Sternschnuppe blitzte aif. »Manche der alten Yaks sagen, jede Sternschnuppe bedeute, daß eine Seele die Buddhaschaft erlangt«, sagte Shan bedächtig.

»Die alten Yaks?« fragte Yeshe.

Es war Shan gar nicht aufgefallen, daß er laut gesprochen hatte. »Die erste Generation der Häftlinge. Die ältesten Überlebenden.« Er lächelte in der Dunkelheit. »Während meines ersten Winters bei der 404ten mußten wir einen Paß im Hochgebirge vom Schnee freiräumen. Es war bitterkalt. Der Wind machte merkwürdige Sachen mit dem Schnee. In einer Ecke fanden sich zehn Meter hohe Verwehungen, in der nächsten lag der Erdboden frei. Die Felsen waren von Eis und Schnee überzogen und sahen aus wie riesige Traumgeschöpfe. Eines Tages, nachdem es Neuschnee gegeben hatte, schaufelten wir gerade wieder die Straße frei, da lag vor uns auf einmal ein großer Felsblock, der vorher noch nicht dagewesen war. Jemand sagte, eine Lawine müsse ihn mitgerissen haben.

Wir schaufelten den Schnee beiseite. Der Wind wehte die Stelle wieder zu. Wir schaufelten von neuem. Später schrie hinter uns plötzlich einer der Wachposten auf. Der Felsblock habe ihn angestarrt.« Shan lächelte erneut. Er hatte ganz vergessen, wie lieb ihm diese Erinnerung war. »Es war ein alter Yakbulle, der sich vom Schnee hatte bedecken lassen, um der Kälte des Sturms zu entgehen. Er stand einfach da, als wäre er ein Teil des Bergs, und betrachtete den Irrsinn der Welt um ihn herum. Auf dem Rückweg sagte einer der Häftlinge, er habe an die alten Mönche in der 404ten denken müssen. Zeitlos, unverwüstlich, wie ein Berg mit Beinen, ruhig und friedlich, auch wenn es noch so schlimm um sie zu stehen schien. Die Bezeichnung ist hängengeblieben.«

Später erhob sich ein seltsames Geräusch, das Stimmengewirr eines Stadions voller Leute. Auf einem Podest in der Mitte saßen an einem Tisch mit Mikrofonen drei strenge Gestalten Hinter ihnen, jenseits des Podests, stand eine alte Frau mit Mop und Eimer. Shans Kopf ruckte hoch. Es war ein Traum. Nein, wurde ihm schwermütig klar, es war eine Erinnerung. Er starrte zu den Sternen empor, aber fünf Minuten später war er wieder in dem Stadion. Auf der Empore stand nun ein verängstigter junger Mann, dessen Blick von Medikamenten getrübt war. Hinter ihm befand sich eine weltgewandte Frau und verlas mit gellender Stimme in seinem Namen eine Erklärung, eine Entschuldigung an das Volk.

Shan zwang sich, die Augen zu öffnen, und erschauderte bei dem Gedanken an den letzten Mordprozeß, dem er beigewohnt hatte. Er zählte die Sterne. Er zwickte sich. Aber die Müdigkeit ließ ihn in das Stadion zurückkehren. Inzwischen herrschte Stille, und der Angeklagte kniete vor einem Offizier der Öffentlichen Sicherheit, In letzter Sekunde, als der Offizier dem Mann eine Kugel durch den Kopf jagte, wurde das Gesicht des Verurteilten zu dem von Sungpo. Die alte Frau stieg die Stufen empor und fing an, das Blut und Gewebe aufzuwischen.

Shan stöhnte auf und war sofort hellwach. Sein Herz raste wie wild. Er döste nicht wieder ein.

Irgendwann sehr viel später ergriff Sergeant Feng noch einmal das Wort. »Dieser Soldat, Meng. Er war zum Wachdienst vor der Höhle eingeteilt. Aber nicht in jener Nacht.«

»Sie haben gefragt?«

»Du hast doch gesagt, du müßtest es wissen. Vermutlich hat er den Dienst mit einem anderen getauscht. Das passiert andauernd, ohne daß die Einträge im Dienstplan entsprechend geändert werden.«

»Könnten wir mit ihm sprechen? Wenn wir wieder im Lager sind.«

»Keine Ahnung«, erwiderte Feng. Es war ihm unangenehm. »Ich bin der 404ten zugewiesen. Diese Offiziere im Lager Jadefrühling - ich weiß nicht. Die sind hart wie Tigerzähne«, murmelte er und beugte sich vor, als müßte er sich auf die Straße konzentrieren.

»Sergeant«, meldete Yeshe sich von der Rückbank. »Genosse Shan sagt, daß der Direktor mir etwas vormacht. Daß er beabsichtigt, mich wieder einzusperren, damit ich weiter an seinen Computern arbeite.«

Fengs einzige Reaktion war ein gezwungenes Glucksen.

»Stimmt das?«

»Wieso fragst du mich? Der Direktor und ich, wir leben nicht in der gleichen Welt. Woher soll ich das wissen?«

»Eben gerade haben Sie aber so gelacht, als würden Sie das glauben.«

»Ich glaube, daß Zhong ein gottverdammter Hurensohn ist. Das Volk bezahlt ihn dafür, ein Hurensohn zu sein. Er erörtert seine Pläne nicht mit den Sergeanten.«

»Aber Sie könnten es herausfinden. Fragen Sie die Belegschaft. Jeder spricht mit dem momo gyakpa.«

Feng trat auf die Bremse. »Was, zum Teufel, hast du da gerade gesagt?« herrschte er Yeshe auf einmal mürrisch an.

»Es tut mir leid. Nichts. Bloß, ob Sie fragen könnten. Vielleicht könnte ich im Gegenzug etwas für Sie tun.«

»Momo gyakpa? Fettkloß?« Er schien eher verbittert als wütend zu sein. »Ich habe diese Bezeichnung schon öfter gehört«, sagte er nach schmerzlichem Schweigen, inzwischen sehr viel ruhiger. »Hinter meinem Rücken. Fünfunddreißig Jahre in der Volksbefreiungsarmee, und das ist der Dank. Momo gyakpa.«

»Es tut mir leid«, murmelte Yeshe.

Aber Feng beachtete ihn nicht mehr. Er kurbelte die Scheibe herunter und griff in die Tüte mit Klößen, die ihnen als Frühstück und Mittagessen dienen sollten. »Momo.« Er nahm einen Kloß und zerquetschte ihn, als handle es sich um etwas, das er zu töten versuchte. Er warf ihn aus dem Fenster, dann noch einen und noch einen und immer so weiter, bei jeder langgezogenen Silbe. »Momo! Scheiße! Gyakpa!« schrie er mit qualvoll erstickter Stimme. Nach dem letzten momo starrte er reglos nach vorn. »Es gab Zeiten, da nannte man mich die Axt, weil ich alles und jeden mit bloßen Händen bezwingen konnte. Paßt auf, die Axt kommt, flüsterte man sich zu. Oberst Tan kann sich auch noch daran erinnern. Lauft, heute nacht ist die Axt unterwegs.«

Sobald es so hell war, daß man lesen konnte, griff Shan in den Leinenbeutel, den Madame Ko im Lager für ihn hinterlassen hatte. Drei Mappen, die Akten der Fälle, die zu der Exekution von drei der ehemals Fünf von Lhadrung geführt hatten. Lin Ziang, der Direktor für Religiöse Angelegenheiten, ermordet von dem kulturellen Unruhestifter Dilgo Gongsha. Xong De, Direktor der Minen vom Ministerium für Geologie im Bezirk Lhadrung, ermordet vom Feind des Volkes Rabjam Norbu. Jin San, Leiter des Landwirtschaftskollektivs, ermordet von Dza Namkhai, dem Anführer der berüchtigten Fünf von Lhadrung.

Er las fast eine Stunde in den Unterlagen. Im hinteren Teil jeder Akte hatte man Seiten herausgerissen. Zeugenaussagen.

Die Gipfel schienen in der Morgenröte zu schweben und eher Teil des Himmels als der dämmrigen Erde zu sein. Sind auf diesem Planeten nur diejenigen Leute religiös, die in der Nähe der Berge leben? hatte Trinle ihn einst gefragt. »Ich weiß es nicht«, hatte Shan erwidert, »aber ich weiß, daß die Tibeter ohne ihre Berge keine Tibeter wären.«

Sie fuhren in ein langgestrecktes Tal hinunter. Unter ihnen konnte man im trüben Morgenlicht nach ungefähr anderthalb Kilometern gewundener Wegstrecke einen steinernen Gebäudekomplex erkennen, der von längst verlassenen Weidegründen umgeben war. Shan neigte den Kopf, als ihm klar wurde, worum es sich handelte. Obwohl er seit drei Jahren in Gesellschaft tibetischer Mönche lebte, hatte er bislang noch nie ein echtes tibetisches Kloster gesehen. So wenige waren übriggeblieben.

Doch in Gedanken waren schon zahllose Klöster vor ihm errichtet worden. An den schlimmsten Wintertagen, wenn die Lastwagen das Lager nicht verließen und die Gefangenen sich Rücken an Rücken unter ihren dünnen Decken zusammenkauerten, um keine Körperwärme zu verschwenden, führten die alten Yaks die anderen mit Worten durch die Klöster ihrer Jugend. Während die Gefangenen so heftig zitterten, daß dabei manchmal sogar Zähne zerbrachen, begannen Choje und Trinle oder einer der anderen die Reise und beschrieben, wie das Licht der Dämmerung auf den fernen Steinmauern des gompa spielte, wenn der Reisende sich näherte, oder wie, lange bevor das Gebäude in Sicht kam, bereits der Klang einer bestimmten Glocke in dem Pilger widerhallte. Der Jasminduft entlang des Wegs, der Flug eines Schneehuhns, das Rascheln der Moschustiere, die ohne jede Angst im Schatten des gompa umherstreiften nichts davon wurde vergessen, auch nicht der freudige Ausruf des wachsamen rapjung, des Mönchlehrlings, der als erster den Besucher erspähte und die Tore öffnete.

Da die gompas der Sträflinge schon vor langer Zeit zerstört worden waren und nur noch wenige Fotos existierten, blieben als letzte Spuren allein die Erinnerungen einer Handvoll Überlebender. Doch indem die Geschichte erzählt wurde - und der Besuch eines einzigen Klosters konnte leicht mehrere Tage der Schilderung dauern -, baute man das gompa in den Herzen und Seelen einer neuen Generation wieder auf. Die alten Yaks vermittelten dabei nicht nur die optischen Eindrücke, sondern schwelgten auch in den Geräuschen und Gerüchen ihres früheren Zuhauses. Darüber hinaus erweckten sie den Rhythmus des menschlichen Daseins zu neuem Leben, bis hin zu den blicklosen Augen des blinden Lama, der die Glocke läutete, oder den Novizen, die mit Bündeln aus Pferdehaar den Steinboden schrubbten, weil dieser nach den Butteropfern zu rutschig geworden war. In einem Kloster, das früher in den südlichen Bergen gestanden hatte, gab es eine riesige Gebetsmühle, deren Quietschen die Zuhörer an einen Schwarm hungriger Elstern denken ließ, erinnerte Shan sich, und in der Küche des Klosters mischte man die Blüten eines bestimmten Heidekrauts mit Gerste zu einem duftenden tsampa.

Sergeant Feng verringerte das Tempo. »Vermutlich gibt es hier heißen Tee«, sagte er und nickte in Richtung der Gebäude. »Vielleicht kann man uns dort den Weg nach Saskya etwas genauer beschreiben. Ich kenne diese Straße nicht und...«

»Nein«, unterbrach Yeshe ihn ungewöhnlich grob. »Wir haben nicht genug Zeit. Fahren Sie weiter, ich kenne Saskya. Noch etwa dreißig Kilometer die Straße entlang, vor den hohen Klippen am Ende des Tals.«

Feng grunzte nichtssagend und fuhr weiter.

Knapp eine Stunde später bogen sie auf Yeshes Anweisung auf einen unbefestigten Weg ein, der in einen Wald aus Zedern und Rhododendren führte. Nach einigen Minuten kam ein langer Wall aus Steinen in Sicht, der quer zur Straße verlief und im Dickicht verschwand. Shan hob die Hand, damit Feng anhielt. Dann stieg er aus, lief zu dem Wall und blieb davor stehen. Da war etwas, das er wiedererkannte, obwohl er noch nie zuvor hier gewesen war. Irgendwo in der Nähe ertönte leise eine tsingha, die kleine Handzimbel, die bei buddhistischen Riten verwendet wurde.

Shan verspürte einen Anflug von Aufregung. Er hatte diesen oder einen ganz ähnlichen Ort doch schon einmal besucht, und zwar in den Wintergeschichten der alten Yaks. Langsam gaben seine Beine nach, und einen Moment lang kniete er und legte die Hände auf die Steine. Dann fing er an, den Staub von den Blöcken abzuwischen. Er nahm erst einen, dann noch einen und noch einen. Sie waren von Menschenhand behauen worden, und auf jedem fand sich eine tibetische Inschrift, die man entweder mit einem Pinsel aufgetragen oder unbeholfen in die Oberfläche gemeißelt hatte. Er befand sich inmitten einer mani-Mauer aus mit Gebeten versehenen Steinen, einem jener Wälle, die im Verlauf vieler Jahrhunderte von frommen Besuchern und Pilgern errichtet worden waren. Jeder der Steine war einzeln und von weit her zum Ruhme Buddhas mitgebracht worden. Ein mani-Stein, so hieß es, führte das Gebet fort, wenn der Pilger wieder gegangen war. Shan schaute sie an, wie sie sich, so weit er blicken konnte, in den Wald erstreckten, die vermodernden, moosbedeckten Gebete vieler Generationen.

Trinle hatte einst heftige Prügel bezogen, weil er aus der Arbeitskolonne ausgeschert war, um einen solchen Stein aufzuheben, der oberhalb von ihnen herrenlos auf dem Hang lag. »Weshalb hast du die Schlagstöcke riskiert?« hatte Shan ihn gefragt, während Trinle das Moos abkratzte, um das Gebet freizulegen.

»Weil dies vielleicht das Gebet ist, das die Welt verändert«, hatte Trinle fröhlich erwidert.

Shan wischte vorsichtig sechs der Gebetssteine sauber, legte drei davon in einer Reihe aus, darauf dann die nächsten zwei und den letzten als oberste und dritte Schicht. Der Anfang eines neuen Walls.

Er ignorierte Fengs finsteren Blick und ging vor dem langsam fahrenden Wagen den Weg entlang. Der Klang der tsingha schwebte wieder durch die Luft, und eine hohe Mauer kam in Sicht. Die Risse, die Fugen und die scheckige Bemalung der Wand zeugten von schweren Prüfungen und Überlebenskämpfen. Die Mauer war öfter beschädigt, wiederaufgebaut und geflickt worden, als Shan ermessen konnte. Die unebene Oberfläche, die teils aus Stuck und Mörtel, teils aus blankem Fels bestand, war mit einem halben Dutzend weißer und gelbbrauner Flecken übermalt worden.

Zu beiden Seiten der Wand türmten sich Ruinen auf, zerklüftete Steinhaufen, die von Kletterpflanzen überwuchert waren, sowie geborstene und verkohlte Balken, auf denen Flechten und Moose wuchsen. Er erkannte, daß die Wand früher einmal den Innenhof eines weitaus größeren gompa begrenzt hatte. Das Tor stand offen und hing schief in den Angeln. Es waren mehrere Novizen zu sehen, die den Hof fegten. Ihre Besen bestanden aus langen Stöcken, an die man Binsen gebunden hatte.

Shan musterte die Szenerie mit ungeahnter Freude. Die Gebäude waren ihm aus den mündlichen Überlieferungen der 404ten vertraut, aber nichts hatte ihn auf die umfassende, kraftvolle Präsenz eines bewohnten gompa vorbereitet.

In der Mitte des Hofs stand ein riesiger Bronzekessel, der so verbeult und abgenutzt war, daß das darauf befindliche Antlitz Buddhas wie das Gesicht eines narbigen Kriegers aussah. Zwei Mönche waren eifrig damit beschäftigt, das Gefäß zu polieren.

Es handelte sich um eines der größten Räucherfässer, die Shan je gesehen hatte. Schwelender Wacholder stieg in dünnen Schwaden daraus hervor.

Einige niedrige Gebäude verliefen entlang der Wand zu beiden Seiten des Tors ungefähr halb um den Hof herum. Dies waren die Unterkünfte der Mönche. Ihre Dächer hatte man aus sich teilweise überdeckenden, flachen Felsplatten gefertigt, und die Wände bestanden aus wiederverwerteten Steinen und Holzstücken. Das alles sah verdächtig nach einer amtlich unerlaubten Konstruktion aus. Was hatte Direktor Wen ihnen erzählt? Jao hatte den Aufbauantrag von Sungpos gompa abgelehnt und es dadurch von den offiziellen Materialquellen abgeschnitten.

Die anderen Gebäude wirkten genauso zusammengestückelt, aber irgendwie majestätischer. Links, am Ende einer kleinen Treppe und hinter einer Veranda aus dicken Balken befand sich die dukhang, die Versammlungshalle, in der die Mönche unterwiesen wurden. Rechts stand ein ähnliches Bauwerk, auf dessen überdachtem Vorbau eine mannshohe Gebetsmühle senkrecht emporragte. Ein Mönch drehte sie langsam, und jede Umdrehung vervollständigte das Gebet, das auf ihre Seitenfläche geschrieben war. Hinter der Mühle versperrte eine hellrot gestrichene Flügeltür den Zugang zur lhakang, der Halle der Hauptgottheit. Auf die Außenwand hatte man oberhalb der Halle ein kreisförmiges Mandala gemalt, das den heiligen Pfad repräsentierte, das Rad von Dharma. Links und rechts davon war je ein Reh abgebildet, um an Buddhas erste Predigt in Indien zu erinnern.

Zwischen den beiden Gebäuden stand auf einer quadratischen Grundplatte ein großer Chorten, ein kuppelförmiger Schrein aus Mörtel, auf dem mehrere Platten abnehmender Größe lagen. Über den Platten befand sich ein walzenförmiger Aufsatz mit einer konischen Spitze. Zum Loshar, dem Tag des Neujahrsfestes, hatte Trinle einst einen winzigen Chorten aus Holzresten zusammengebaut und es gerade noch geschafft, Shan die spirituelle Symbolik zu erklären, bevor Leutnant Chang sich den Schrein griff und zertrat. Ein Chorten besaß dreizehn Ebenen, die den dreizehn traditionellen Stufen auf dem Weg zur Buddhaschaft entsprachen. Die Spitze des Chorten wurde von einer Sonne und einer Mondsichel gekrönt, die aus Eisen gefertigt waren. Die Sonne stand für Weisheit, der Mond für Mitleid.

Auf den runden, walzenförmigen Teil waren als Symbol für den stets wachsamen Buddha zwei große Augen aufgemalt.

Shan betrat den Hof, während hinter ihm der Wagen anhielt. Die Novizen hielten inne und verneigten sich tief, als sie ihre drei Besucher sahen. Shan folgte dem Blick eines der Mönche zur Tür der Versammlungshalle. Ein Lama mittleren Alters erschien.

»Bitte verzeihen Sie die Störung«, sagte Shan leise, als der Lama näher kam. »Dürfte ich mit jemandem über den Einsiedler Sungpo sprechen?«

Dem Lama schien diese Frage keine Antwort wert zu sein. »Was ist der Zweck Ihres Besuchs?«

»Ich möchte den Lehrer Sungpos finden.«

Das Gesicht des Mannes straffte sich. »Und was wirft man seinem Guru vor?«

Yeshe trat neben Shan. »Das ist nicht der kenpo«, flüsterte er, ohne den Kopf zu bewegen. »Er ist der chotrimpa.«

Shan blickte auf und versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Der kenpo, der Abt, hatte beschlossen, nicht mit Shan zu reden. Er hatte den Lama geschickt, der für die Klosterdisziplin zuständig war.

Shan wandte sich wieder an den Lama. »Sungpo ist bei uns. Seine Zunge ist es nicht. Ich erbitte respektvoll eine Audienz bei seinem Guru.«

Der Lama musterte die neugierigen jungen Mönche, die sich neben dem Wagen versammelten. Eine tadelnde Handbewegung ließ sie auseinanderlaufen. Im selben Moment ertönte aus dem Innern der Halle der tiefe Klang einer Glocke, woraufhin der Hof sich leerte.

»Werden Sie an unserer Unterweisung in sunyata teilnehmen?« fragte er Shan und Yeshe. Er schien ein wenig zu lächeln, aber seine Worte klangen spöttisch. Sunyata war eines der fünf Pflichtfächer jedes Mönches; es war das Studium der Leere, der Nichtexistenz. Shan schaute dem Lama hinterher, der in dem nächsten Durchgang verschwand. Der Mann hatte auf jede von Shans Fragen mit einer Gegenfrage reagiert und sich dann abgewandt, ohne auf eine Antwort zu warten.

Shan ließ den Blick über den inzwischen menschenleeren Hof schweifen. Ohne sich zu Feng oder Yeshe umzudrehen, stieg er die Stufen in die lhakang empor. Drinnen folgte er einem schmalen Gang, der eine weitere Treppe hinaufführte und in einer großen leeren Kammer endete, die von Butterlampen erhellt wurde. Shan entzündete ein Weihrauchstäbchen und nahm im Lotussitz vor dem Altar Platz. Die lebensgroße Bronzestatue von Maitreya Buddha, der als der zukünftige Buddha bekannt war, dominierte den Raum. Vor der Statue standen die sieben traditionellen Opferschalen, drei mit Wasser, eine mit Blumen, eine mit Weihrauch, eine mit Butter und eine mit duftenden Kräutern.

Schweigend verharrte er einige Minuten, nahm dann einen Besen, der an der Rückwand der Halle lehnte, und fing an zu fegen.

Ein silberhaariger Priester erschien und entzündete ein Butteropfer, das wie eine kleine Turmspitze geformt war. »Das ist nicht notwendig«, sagte er und nickte in Richtung des Besens. »Dies ist nicht Ihr Kloster.«

Shan lehnte sich auf den Besen. »Als ich jung war«, sagte er, »hörte ich von einem Tempel hoch in den Bergen an der Küste, wo angeblich die Weisheit der ganzen Welt zu finden war. Eines Tages gelangte ich zu dem Schluß, ich müsse diesen Tempel besuchen.«

Er fegte kurz weiter und hielt dann wieder inne. »Auf halber Strecke nach oben bin ich irgendwie vom Weg abgekommen. Ich traf einen Mann, der eine große Holzlast auf dem Rücken trug. Ich sagte, ich würde nach dem Tempel der Heiligen suchen, um dort zu mir selbst zu finden. Er erzählte mir, daß ich den Tempel gar nicht brauchte und daß er mir alles beibringen würde, was ich wissen müsse. Und jetzt paß auf, sagte er. Dann stellte er seine Last auf dem Boden ab und richtete sich gerade auf.

Aber was mache ich, wenn ich nach Hause gehe, fragte ich. Ganz einfach, sagte er. Wenn du nach Hause gehst, machst du das hier - und er lud sich die Last wieder auf die Schultern.«

Der alte Priester lächelte, nahm sich ebenfalls einen Besen und leistete Shan beim Fegen Gesellschaft.

Als Shan wieder nach draußen kam, ging er zum Tor hinaus und folgte einem Pfad, der entlang der Außenmauer verlief. Nach der Hälfte der Strecke stieß er auf einen Weg, der auf die oberhalb des gompa gelegenen Hänge führte. Das Gras auf beiden Seiten der Strecke war kürzlich von den Rädern eines schweren Fahrzeugs niedergewalzt worden.

Zehn Minuten später erreichte er eine Lichtung, auf der das Fahrzeug abgestellt worden war, weil das felsige Terrain kein weiteres derartiges Vordringen zuließ. Er kletterte höher hinauf. Der Pfad begann sich zu winden, führte um windgeformte Felsen herum und schmiegte sich an den Rand einer steilen Klippe. Dann überbrückte er auf zwei zusammengezurrten Baumstämmen einen tiefen Abgrund. Schließlich endete der Weg an einer großen Wiese. Ein Teppich aus winzigen gelben und blauen Blumen führte zu einem kleinen Steingebäude, das direkt an der Felswand errichtet worden war. Ein Rabe krächzte. Shan drehte sich um und sah, wie der schwarze Vogel, der für Weisheit und Glück stand, kaum dreißig Meter von ihm entfernt in den Abgrund glitt. Unter dem Vogel lag die ganze Welt. Vom gegenüberliegenden Hang stürzte ein Wasserfall in den Nadelwald; dahinter schimmerte wie ein Juwel ein kleiner See. Nach Süden erstreckte das Tal sich kilometerweit ohne jegliches Anzeichen menschlicher Besiedlung. Über dem Paß, den sie in der Morgendämmerung überquert hatten, schwebte eine einzelne Wolke.

Das Geräusch von Schritten störte die Idylle. Feng und Yeshe würden gleich hier sein. Shan ging zu dem Gebäude.

Auf die Tür, die schon bei der leisesten Berührung nach innen schwang, hatte man ein kleines Ideogramm gemalt, das von der Sonne, einer Mondsichel und einer Flamme gekrönt wurde. Der erste Raum wirkte wie eine zwar karge, aber dennoch liebevoll eingerichtete Kammer. In einer Blechdose unter dem Fenster standen frische Blumen. Die zweite Kammer hatte keine Fenster. Als Shans Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er ein Strohlager, einen Schemel, Schreibgeräte und mehrere Kerzen. Er zündete eine davon an und stellte fest, daß er sich nicht in einem Zimmer, sondern in einer Höhle befand.

Von draußen hörte er ein Geräusch. Er löschte das Licht und kehrte ins Freie zurück. Die Wiese war leer. Über ihm erklang ein überraschtes Murmeln. Er blickte hoch und sah einen kleinen, untersetzten Mann, der mit einem Mund voller Nägel auf dem Dach lag. Der Kopf des Mannes ruckte zur Seite, und dann betrachtete er Shan mit dem dumpfen, neugierigen Blick eines Eichhörnchens. Plötzlich spuckte er die Nägel aus, packte die Dachkante, zog sich nach vorn und landete zu Shans Füßen.

Er stand nicht auf, sondern streckte einen Finger aus und tippte gegen Shans Bein, als wolle er sich von der Echtheit des Fremden überzeugen.

»Sind Sie gekommen, um mich zu verhaften?« fragte er und erhob sich. Er klang seltsam hoffnungsvoll.

Sein flaches, hellhäutiges Gesicht war nicht tibetischer Abstammung.

»Ich bin wegen Sungpo gekommen.«

»Ich weiß. Ich habe darum gebetet.« Der Mann streckte die Arme aus, als würde man ihm gleich Handschellen anlegen.

»Ist das hier Sungpos Klause?«

»Ich bin Jigme«, sagte der Mann, als sollte Shan ihn kennen. »Ißt er?«

Shan musterte die merkwürdige Kreatur. Der Mann wirkte irgendwie zurückgeblieben. Die Hände und Ohren waren zu groß für den Körper, und seine Lider hingen schlaff herab wie die eines traurigen, müden Bären. »Nein. Er ißt nicht.«

»Das habe ich auch nicht vermutet. Manchmal muß ich seinen Tee gegen Brühe austauschen. Hat er es trocken?«

»Er hat Stroh und ein Dach über dem Kopf.«

Der Mann namens Jigme nickte billigend. »Manchmal fällt es ihm schwer, sich daran zu erinnern.«

»Woran?«

»Daß er noch immer nur ein Mensch ist.«

Yeshe und Feng tauchten neben Shan auf. Jigme murmelte eine Begrüßung. »Ich bin bereit«, sagte er mit eigenartig fröhlicher Stimme. »Ich muß nur noch abschließen. Und etwas Reis für die Mäuse zurücklassen. Wir lassen den Mäusen immer etwas zu essen da. Master Sungpo liebt die Mäuse. Er kann vielleicht nicht mit dem Mund lachen, aber er lacht mit den Augen, wenn die Mäuse ihm aus der Hand fressen. Es kommt direkt aus dem Herzen. Haben Sie ihn lachen gesehen?«

Als niemand darauf antwortete, zuckte Jigme die Achseln und wollte in die Hütte gehen.

»Wir sind nicht hergekommen, um Sie abzuholen«, sagte Shan. »Ich habe bloß ein paar Fragen.«

Jigme blieb stehen. »Sie müssen mich mitnehmen«, sagte er und riß beunruhigt die Augen auf. »Ich hab's getan«, fügte er dann in verzweifeltem Tonfall hinzu.

»Was?«

»Was auch immer er gemacht hat, ich habe es auch getan. So sind wir eben.« Er ließ sich zu Boden sinken und umschlang seine Knie mit den Armen.

»Wie oft verläßt Sungpo die Hütte?«

»Jeden Tag. Er geht zum Rand der Klippe und setzt sich dort jeden Morgen für zwei oder drei Stunden hin.« Jigme fing an, sich vor und zurück zu wiegen.

»Ich meine, geht er von hier weg? So daß Sie ihn nicht mehr sehen können?«

Jigme wirkte verwirrt. »Sungpo ist schon seit fast einem Jahr in Klausur. Er kann nicht von hier weggehen.« Er blickte auf, als ihm der Fehler bewußt wurde. »Nicht aus eigenem Willen«, fügte er hinzu. Er schien jetzt fast zu weinen. »Es ist schon in Ordnung«, sagte er entschuldigend. »Großvater sagt, wir fangen von vorn an, wenn er wiederkommt.«

»Aber Sie sind nicht ständig bei ihm. Sie schlafen. Er könnte weggehen und wieder zurückkommen, bevor Sie aufwachen.«

»O nein. Ich weiß es immer. Es ist meine Aufgabe, es zu wissen und auf ihn aufzupassen. Einsiedler können sich konzentrieren wie...« Die Suche nach einem geeigneten Vergleich schien ihm beinahe Schmerzen zu bereiten. »... wie ein Stück Kohle in einem Holzfeuer. Sie können in den Abgrund stürzen. Das ist schon passiert. Er gehört zu mir. Ich gehöre zu ihm.« Er schaute auf seine Hände. »Es ist eine gute Welt.« Aber Shan wußte, daß er nicht von der Welt im allgemeinen sprach.

Er sprach lediglich von einem winzigen Plateau in einem entlegenen Verwaltungsbezirk in einer vergessenen Ecke von Tibet.

»Es gibt einen Mann, mit dem er vielleicht sprechen wird«, gab Shan zu verstehen.

»Großvater. Je Rinpoche.« Jigmes Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

»Ist Rinpoche hier?«

»Im gompa.«

»Der Tag, als man Sungpo abgeholt hat. Erzählen Sie mir davon.«

Jigme fing wieder an, sich zu wiegen. »Es waren sechs oder sieben. Waffen. Sie haben Waffen mitgebracht. Ich habe schon einiges über Waffen gehört.«

»Welche Farbe hatten ihre Uniformen?«

»Grau.«

»Alle?«

»Alle, außer bei dem jüngsten Mann. Er hatte einen Einschnitt im Gesicht. Sein Name war Mah Joa. Alle haben ihn Mah Joa genannt. Er hat einen Pullover und eine dunkle Brille getragen. Er hat nach dem Abt geschickt. Er wollte nichts unternehmen, bevor der Abt hier ankam.«

»Es heißt, man habe eine Brieftasche gefunden.«

»Unmöglich.«

»Man hat also keine gefunden?«

»Nein. Ich meine, doch, sie haben eine gefunden. Ich war dabei. In dieser Höhle. Mah Joa hat den Abt hergebracht. Sie hatten Taschenlampen. Er hat einen Stein umgedreht, und da lag sie. Aber es war unmöglich, daß sie da liegen konnte.«

»Wie lange hat man danach gesucht?«

»Die Soldaten haben überall gesucht. Sie haben meine Körbe umgedreht und meine Blumentöpfe zerbrochen.«

»Aber wie lange, nachdem dieser Mann namens Mah in Ihrer Höhle gewesen war?«

»Er hat den Abt in die Höhle mitgenommen. Jemand hat sofort ganz aufgeregt gerufen. Dann ist Mah Joa hergekommen und hat Sungpo Ketten angelegt.«

»Zeigen Sie mir den Stein.«

Der flache Stein lag fünfzehn Meter im Innern der Höhle und war groß genug, um als Sitzgelegenheit dienen zu können. Shan bat Yeshe, Jigme mit nach draußen zu nehmen. Er zeichnete den Grundriß der Höhle in seinen Notizblock und beugte sich dann mit einer Kerze über den Stein. Mit den Fingern fuhr er an der Kante entlang und hielt plötzlich inne. Auf der Seite, die zum Eingang wies, war eine klebrige Stelle, ein kleiner rechteckiger Fleck, der an seiner Haut zog. Er bat Feng um drei weitere Kerzen. Drei Meter weiter hinten fand er dann, wonach er suchte. Man hatte es vom Stein aus dorthin geworfen, nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte. Ein Stück schwarzes Isolierband. Der Stein war insgeheim markiert worden, um sicherzustellen, daß die Männer, die wegen der Verhaftung herkamen, ihn auch problemlos finden würden.

»Hat es vor dem Tag, an dem Genosse Mah hier aufgetaucht ist, noch andere Besucher gegeben?« fragte Shan.

»Nein, nicht daß ich wüßte. Außer Rinpoche.«

»Rinpoche. Wo im gompa kann ich ihn finden?«

Jigme schaute an ihm vorbei zum Rand der Klippe. Dort war wieder ein Rabe zu sehen, diesmal mit einem seltsamen weißen Fleck auf dem Hinterkopf. Jigme fing an, die Arme zu schwenken. »Besucher!« rief er dem Vogel zu. »Beeil dich!«

Dann legte er eine Hand an die Stirn, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, und beobachtete den Vogel. »Er kommt«, verkündete er. »Der Rabe sagt, er kommt.«

Je Rinpoche kam nicht. Er wartete. Shan fand ihn nach etwa hundert Metern auf einem Felsvorsprung. Er wirkte überaus gebrechlich. Sein Kopf war fast völlig haarlos und seine Haut rauh, als wäre sie mit Sand überzogen. Doch seine glänzenden, rastlosen Augen funkelten vor Lebendigkeit. Man bekam beinahe den Eindruck, jemand hätte zwei Edelsteine in einen korrodierten Felsen eingesetzt.

Shan legte die Handflächen aneinander und neigte grüßend seinen Kopf. »Rinpoche. Dürfte ich... «

»Es gibt so vieles zu bedenken«, unterbrach der Greis ihn. Seine Stimme war überraschend kräftig. »Diesen Berg. Die Hunde. Die Art und Weise, wie der Nebel die Hänge hinabgleitet, und zwar jeden Morgen anders.« Er drehte sich zu Shan. Sein Gewand bewegte sich dabei kaum. »Manchmal fühle ich mich auch so. Wie Nebel, der den Berg hinabgleitet.« Er sah wieder ins Tal und wickelte sich fester in sein Gewand, als sei ihm kalt. »Jigme bringt zuweilen eine Melone mit. Wir essen sie, und Jigme schaut zu.«

Shan seufzte und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Er würde nie die Gelegenheit erhalten, mit Sungpo zu sprechen. Je, sein Lama, war als möglicher Vermittler Shans einzige Hoffnung gewesen. »Wenn wir auf den Gipfel des Berges steigen, weißt du, was wir dann tun?« fragte der Lama. »Das gleiche, was ich schon als Novize gemacht habe. Wir falten kleine Papierpferde und lassen sie vom Wind davontragen.« Er hielt inne, als würde Shan eine zusätzliche Erklärung benötigen. »Wenn sie den Erdboden berühren, werden sie zu richtigen Pferden, um Reisenden durch das Gebirge zu helfen.«

Neben Je bewegte sich etwas. Nur eine Armeslänge von ihm entfernt war der Rabe gelandet.

»Sie beten, meine Freunde und Lehrer«, fuhr Je fort. »Sie alle, und die ersten Bomben fallen. Es ist Zeit genug, um zu fliehen, aber sie wollen nicht. Ich muß die jungen Mönche in die Hügel mitnehmen. Diejenigen, die zurückbleiben, sterben. Sie beten einfach nur ihre Rosenkränze und sterben in den Explosionen. Als ich mit den Jungen aufbreche, trifft mich etwas im Gesicht. Es ist eine Hand, die noch immer die Gebetskette umklammert hält.«

Es mußte 1959 oder spätestens 1960 gewesen sein, überlegte Shan, daß die Volksbefreiungsarmee die Klöster aus der Luft bombardiert hatte.

»War es richtig?« fragte Je. »Diese Versuchung besteht immer. Danach zu fragen, ob es richtig war. Natürlich ist es die falsche Frage.«

Plötzlich wurde Shan klar, daß der alte Mann genau wußte, aus welchem Grund er hergekommen war.

»Rinpoche«, sagte er langsam, »ich würde von Sungpo nicht verlangen, daß er sein Gelübde bricht. Ich bitte ihn lediglich darum, daß er mir bei der Suche nach der Wahrheit behilflich ist. Es gibt dort irgendwo einen Mörder. Er wird wieder töten.«

»Der einzige, der den Mörder finden kann, ist der Ermordete«, sagte Je. »Laß den Geist Rache nehmen. Wegen Sungpo mache ich mir keine Sorgen. Aber wegen Jigme. Jigme ist verloren.«

Shan erkannte, daß er dem alten Mann die Leitung des Gesprächs überlassen mußte. Er kämpfte gegen die Versuchung an, Jes Gewand zu packen, damit der Greis nicht gen Himmel auffahren konnte. »Jigme gehört nicht zu den Schülern des gompa.«

»Nein. Er hat das Studium aufgegeben, um mit Sungpo zu gehen, und gehört nirgendwohin. Er ist eine gompa-Waise, und dadurch ist er wie ein kleiner Vogel, der sein ganzes Leben im Sturm verbringen muß.«

Schaudernd begriff Shan die Wahrheit. Während der Besetzung Tibets und dann noch einmal während der Kulturrevolution hatte man die Mönche und Nonnen gezwungen, ihr Zölibatsgelübde zu verletzen, manchmal miteinander, manchmal mit Soldaten. In einigen Regionen wurden die daraus entstandenen Kinder in besonderen Schulen zusammengefaßt. Andernorts bildeten sie Banden. Unter den Gefangenen der 404ten befanden sich mehrere Mischlingswaisen, die ihren Priestern aus den gompas ins Gefängnis gefolgt waren.

»Dann helfen Sie mir um Jigmes willen, Sungpo zu befreien.«

Der alte Mann hatte die Augen geschlossen. »Nachdem das gompa zerstört war«, murmelte er, »konnte ich den aufgehenden Mond viel besser sehen.«

Der Wagen hatte bereits wieder den langen Aufstieg zum Paß begonnen, als Shan nach dem Namen des gompa fragte, das am Eingang des Tals lag und an dem sie in der Dämmerung vorbeigefahren waren. Yeshe antwortete nicht.

Feng nahm cfen Fuß vom Gas und sah auf der Karte nach. »Khartok«, sagte er ungeduldig. »Es heißt Khartok.«

Shan nahm eine der Akten, die Tan ihm zur Verfügung gestellt hatte, warf einen kurzen Blick hinein und hob eine Hand. »Anhalten. Sofort.«

»Wir haben keine Zeit«, protestierte Feng.

»Möchten Sie lieber morgen vor Tagesanbruch losfahren und hierher zurückkehren?«

»Es ist spät. Im Kloster wird man sich bald auf die letzte Zusammenkunft des Tages vorbereiten und die Lampen entzünden«, drängte Yeshe. »Vielleicht können wir dort anrufen und es mit einer telefonischen Befragung versuchen.«

Feng wandte den Kopf und sah Shan in die Augen. Dann wendete er wortlos den Wagen und fuhr zurück ins Tal.

Yeshe stöhnte auf und hielt sich die Hand vor Augen, als könnte er den Anblick nicht ertragen.

Das waren keine Weidegründe, die Shan vor den Gebäuden zu sehen geglaubt hatte, sondern Ruinen, ein Feld voller Steine, das fast einen Kilometer vor dem Kloster begann. Die Steine lagen in keiner erkennbaren Ordnung auf dem Boden. Manche waren zu Haufen aufgetürmt, andere weitverstreut, als hätte jemand sie von den hoch aufragenden Bergen geworfen. Dennoch war jeder einzelne Stein einst von einem Steinmetz bearbeitet worden.

In der Nähe des gompa hatte man in den Grundmauern mehrerer Gebäude Gärten errichtet. Ein Dutzend hockender Gestalten in roten Gewändern schaute auf und blickte dem unerwarteten Fahrzeug entgegen. Als der Wagen anhielt, erkannte Shan, daß sich hinter den Grundmauern eine neue Baustelle befand. Die Hauptmauer wurde wiederaufgebaut und erweitert. Am Rand des Waldes war stapelweise frisches Bauholz aufgeschichtet, daneben mehrere Paletten voller Zementsäcke.

Yeshe hatte sich auf der Rückbank ausgestreckt und den Unterarm auf sein Gesicht gelegt.

»Sie kennen sich mit gompas aus und wissen über die Gepflogenheiten Bescheid«, sagte Shan ungeduldig. »Ich brauche Sie.«

Feng öffnete die hintere Tür. »Hier wird nicht geschlafen, Genosse.« Er zog an Yeshes Arm. »Verdammt, du zitterst ja wie eine in die Ecke getriebene Katze.«

Shan betrat den Innenhof. Hier standen die gleichen Gebäude, die er auch in Saskya gesehen hatte, allerdings frisch gestrichen und sehr viel größer. Nicht nur einer, sondern fünf Chorten standen über das Gelände verteilt und wurden von Sonnen und Monden gekrönt, die man erst kürzlich aus Kupfer hergestellt hatte. Eine bessere Investition, erinnerte Shan sich. Direktor Wen vom Büro für Religiöse Angelegenheiten hatte gesagt, der Bauantrag von Saskya sei abgelehnt worden, weil das gompa am unteren Ende des Tals eine bessere Investition bedeute.

Ein Mönch mittleren Alters erschien auf der Treppe der Versammlungshalle. Die Ärmel seines Gewands waren mit einem goldenen Streifen bestickt. Er breitete grüßend die Arme aus und kam eilig die Treppe hinunter. Shan achtete darauf, wie die anderen Mönche auf den Neuankömmling reagierten. Manche nickten ehrerbietig, andere wandten schnell wieder den Blick ab. Der Mann war ein ranghoher Lama, vermutlich der Abt. Doch weshalb schien er nicht überrascht, Shan hier zu sehen? Der Lama unterbrach einen jungen Schüler, der damit beschäftigt war, den Kies zu harken, und schickte ihn in die Halle. Dann wies er auf einen Kräutergarten im Schutz der Mauer. Schweigend folgte Shan ihm dorthin. Zwischen den Beeten standen einige Reihen Holzbänke, als würden die Novizen hier ihre Unterweisung erfahren. Am Ende des Gartens kniete ein alter Mönch und zupfte Unkraut.

»Wir werden die Pläne bald erfüllt haben«, verkündete der Lama, nachdem Shan auf der vordersten Bank Platz genommen hatte.

»Pläne?« Der junge Mönch brachte ein Tablett mit Tee, goß ihnen ein und zog sich mit einer hastigen Verneigung wieder zurück.

»Für die Wiederherstellung der Unterrichtsgebäude. Richten Sie Wen Li aus, daß die Pläne fast erfüllt sind.« Das Verhalten des Lama wirkte irgendwie merkwürdig. Shan suchte nach einem geeigneten Begriff, um es zu beschreiben. Gesellig, beschloß er. Fast schon weltgewandt.

»Nein. Wir sind wegen Dilgo Gongsha hier.«

Der Lama ließ sich nicht beirren. »Ja, die Pläne sind praktisch erfüllt«, sagte er, als hätten die Themen miteinander zu tun. »Wissen Sie, der Bei Da-Verband hilft uns. Wir helfen uns gegenseitig mit unseren Wiederaufbauprojekten.«

»Der Bei Da-Verband?«

Der Lama hielt inne und schaute Shan an, als sähe er ihn zum erstenmal. »Aber wer sind Sie denn?«

»Ein Ermittlungsteam. Wir gehören zu Oberst Tans Dienststelle. Ich überprüfe die Angaben im Fall Dilgo Gongsha. Er war Angehöriger dieses Klosters, nicht wahr?«

Der Lama musterte ihn gründlich und blickte dann zu Feng und Yeshe, die sich im Schatten der Mauern herumdrückten. Als die beiden an einer kleinen Gruppe Mönche vorbeikamen, stieß einer der Männer einen überraschten Laut aus, wie zur Begrüßung. Ein anderer rief etwas. Shan konnte den Tonfall im ersten Moment nicht richtig deuten. Wut. Yeshe wich hinter Feng zurück.

»Als wir Dilgo das letzte Mal gesehen haben«, sagte eine sanfte Stimme hinter Shan, »vollzog er gerade den Übergang in jene besondere Hölle, die den gewaltsam geraubten Seelen vorbehalten ist.« Shans Gastgeber stand auf und legte grüßend die Handflächen aneinander. Es war der alte Mönch, der Unkraut gezupft hatte. Sein Gewand war von der Gartenarbeit beschmutzt und seine Fingernägel schwarz vor Erde. »Wir haben die Bardo-Riten abgehalten. Inzwischen ist er als kleines Kind wiedergeboren. Er wird heranwachsen und seine Mitmenschen erneut mit seiner Anwesenheit beglücken.« Seine Augen funkelten, als bereite der Gedanke an Dilgo ihm Vergnügen.

»Abt«, sagte der Lama und neigte den Kopf. »Verzeiht mir. Ich dachte, Ihr wärt in Eurer Meditationszelle.«

Abt? Shan warf dem ersten Lama einen verwirrten Blick zu.

»Dies ist unser chandzoe«, bemerkte der Abt, dem Shans fragendes Gesicht auffiel. »Willkommen in Khartok.«

»Chandzoe?« Shan hatte diesen Begriff noch nie gehört.

»Unser Leiter für weltliche Angelegenheiten«, erklärte der Abt.

»Weltliche Angelegenheiten?«

»Der Geschäftsführer«, warf der erste Lama ein, reichte dem Abt eine Tasse Tee und bedeutete ihm mit einer Geste, Platz zu nehmen.

»Warum möchten Sie über unseren Dilgo sprechen?« Der Abt stellte diese Frage so, wie man es vielleicht von einem Kind erwarten würde, mit großen, unschuldigen Augen.

»Er wurde für schuldig befunden, einen Mann ermordet zu haben, indem er ihm Kiesel in den Hals stopfte. Der Mann war zufällig der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten.«

Der chandzoe runzelte die Stirn. Der Abt schaute in seine Teetasse.

»Früher war das die traditionelle Methode, um Angehörige des Königshauses zu töten«, sagte Shan. »Sogar in einer Schlacht durfte man sie nur gefangennehmen und später ersticken.«

»Verzeihen Sie«, sagte der chandzoe. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.« Er schien nicht unbedingt verwirrt, sondern vielmehr enttäuscht über Shan zu sein.

»Nur darauf, daß dies für einen leitenden Regierungsbeamten eine sehr traditionelle Art der Ermordung gewesen ist.«

»Und wie man im Prozeß festgestellt hat, ist Khartok ein überaus traditionelles gompa«, sagte der chandzoe mit einem Anflug von Ungeduld. »Sie können Dilgo nicht zweimal hinrichten.« Unter den Mönchen im Hof kam Unruhe auf und erregte Shans Aufmerksamkeit. Er folgte ihren Blicken zu Feng und Yeshe, die am Rand des Gartens im Schatten standen.

»Falls ich jemanden ermorden wollte, würde ich mit Sicherheit darauf achten, daß meine Methode keine Rückschlüsse auf mich oder meine Überzeugungen zuläßt.«

Der chandzoe stand plötzlich auf. »Yeshe?« rief er. »Yeshe Retang?«

Im ersten Moment zuckte Yeshe zusammen, aber dann sah er die Begeisterung auf dem Gesicht des chandzoe und kam einen Schritt näher. »Ja, Rinpoche. Ich fühle mich geehrt, daß Sie sich an mich erinnern.«

Der chandzoe breitete wieder die Arme aus, wie am Anfang, als Shan ihn zum erstenmal auf der Treppe gesehen hatte, und forderte Yeshe mit einer Handbewegung auf, aus dem Schatten zu treten. Yeshe blieb steif stehen und warf Shan einen verunsicherten Blick zu.

Der chandzoe schaute von Shan zu Yeshe. Er war offensichtlich verwirrt.

»Meine Haftzeit ist seit kurzem vorbei, Rinpoche. Jetzt habe ich diesen Auftrag erhalten. Vorübergehend.«

Yeshe starrte Shan flehentlich an, was der chandzoe mit großem Interesse zu verfolgen schien. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit nun auf Shan und wartete, daß dieser das Wort ergreifen würde. Der befehlshabende Chinese.

»Er hat sich beispielhaft um Besserung bemüht«, hörte Shan sich selbst sagen. »Er zeigt immer wieder eine außergewöhnliche...«, er suchte nach einem Wort, »... Hingabe.«

Der chandzoe nickte befriedigt.

»Ich kann vielleicht eine Anstellung in Sichuan bekommen«, sagte Yeshe nervös.

»Warum kommst du nicht hierher zurück?«

»Meine Akte. Ich kann keine Lizenz erhalten.«

»Deine Umerziehung ist abgeschlossen. Ich könnte mit Direktor Wen sprechen.« Er klang, als sei er Yeshe irgendwie verpflichtet.

Yeshe riß überrascht die Augen auf. »Aber die Quote.«

Der chandzoe zuckte die Achseln. »Falls das ein Problem sein sollte, so gibt es keine Quote für die Anzahl der Arbeiter, die den Wiederaufbau durchführen.« Er zog Yeshes Hände auseinander und umschloß eine davon zum Gruß. »Bitte, komm mit und schau dir die neuen Gebäude an«, sagte er und zog Yeshe in Richtung der Versammlungshalle. Langsam und mit winzigen Schritten, die den Eindruck erweckten, er würde gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen, ging Yeshe auf die Halle zu. Unterdessen sah Shan einen weiteren Mönch auf den Stufen, der Yeshe anschaute. Seine Hände bildeten ein mudra, das auf Yeshe gerichtet zu sein schien.

Verwirrt drehte Yeshe sich zu Shan um. Shan nickte, und die beiden Männer gingen über den Hof davon.

Der Abt schaute dem chandzoe mit regloser Miene hinterher, seufzte dann und wandte sich Shan zu. »Sie setzen voraus, daß Mörder lügen«, sagte er, als hätte er die Unterbrechung gar nicht bemerkt. »Dilgo würde niemals lügen. Das wäre eine Verletzung seiner Gelübde gewesen.«

»Also hat er den Mord tatsächlich verübt?« fragte Shan.

Der Abt antwortete nicht.

»Ein Mord hätte eine weitaus ernstere Verletzung seiner Gelübde dargestellt«, hob Shan hervor.

Der Abt trank seinen Tee aus und tupfte sich den Mund mit dem Ärmel seines Gewands ab. »Beides ist durch die 235 Regeln untersagt«, erklärte er und bezog sich dabei auf die Verhaltensmaßregeln, die für ordinierte Priester galten.

»Ich bin verwirrt«, sagte Shan. »Diejenigen, die ihre Gelübde verletzen, werden als niedere Lebensformen wiedergeboren. Wie Sie bereits gesagt haben, ist er nach Ihrer Überzeugung aber als Mensch zurückgekehrt.«

»Ich bin ebenfalls verwirrt. Was genau wollen Sie von uns?«

»Eine einfache Antwort. Glauben Sie, daß Dilgo den Direktor für Religiöse Angelegenheiten ermordet hat?«

»Die Regierung hat Gebrauch von ihrer Autorität gemacht. Dilgo hat keine Einwände erhoben. Der Fall wurde abgeschlossen.«

Weshalb überraschte ihn die Erkenntnis, dachte Shan, daß das Oberhaupt eines aufstrebenden gompa zugleich auch ein Politiker war? »Hat er es getan?«

»Jeder verfolgt einen anderen Weg zur Buddhaschaft.«

»Hat er es getan?«

Der Abt seufzte und blickte zu einer vorüberziehenden Wolke empor. »Eher würde der Berg Kailas unter dem Gewicht eines einzigen Vogels im Erdboden versinken, als daß Dilgo eine solche Tat verübt hätte.«

Shan nickte ernst. »Es hat sich noch ein solcher Vogel in die Lüfte erhoben.«

Der Abt sah ihm in die Augen. Er wirkte bekümmert.

»Denken Sie je darüber nach, woraus die Sünde besteht?« fragte Shan.

»Ich verstehe nicht.«

»Für die Regierung ist es einfach, denn auf diese Weise hält sie sich an der Macht. Die Gefahr ist ein Teil der Macht, so wie der Schatten zum Licht gehört. Manchmal, wenn keine Bedrohung existiert, muß eine erfunden werden. Und für Sie ist es genauso einfach, eine Rechtfertigung für das zu finden, was Dilgo widerfahren ist. Sie sind vermutlich zu dem Schluß gelangt, daß es ebenso in der Natur der Dinge liegt wie die Flutwelle von Soldaten, die 1959 über die Klöster hereingebrochen ist. Es war sein Schicksal, können Sie sagen, und außerdem wird Dilgo in ein besseres Leben geboren. Aber für alle anderen ist es nicht so einfach.«

Der Abt sah ihm nicht länger in die Augen.

»Haben Sie Dilgo ausgestoßen?«

»Nein.«

»Er wurde des Mordes überführt, aber Sie haben ihn nicht verstoßen. Statt dessen haben Sie für ihn die Bardo-Riten abgehalten.«

Der Abt schaute in seine Hände.

Shan zog den Notizblock zu Rate. »Man hat am Tatort einen Rosenkranz gefunden, einen ziemlich außergewöhnlichen Rosenkranz. Die Perlen waren wie winzige Kiefernzapfen geschnitzt und bestanden aus rosafarbener Koralle mit Anzeigerperlen aus Lapislazuli. Sehr alt. Muß aus Indien gestammt haben. Laut der Akte handelte es sich um ein Einzelstück, wie es nicht noch einmal vorkommt.«

»Das war sein Rosenkranz«, bestätigte der Abt. Seine Stimme wurde sehr leise. »Es war der ausschlaggebende Beweis gegen ihn.«

»Hat er erklärt, wie die Gebetskette dorthin gelangt war?«

»Er konnte es nicht erklären.«

»Hat er den Rosenkranz verloren?«

»Nein. Er hat ihn nicht einmal vermißt. Genaugenommen hat er gesagt, der Rosenkranz habe sich bei der Verhaftung, als man ihn schlafend von seinem Lager riß, noch in seinem Besitz befunden. Vielleicht war es ein Wunder, und die Kette ist irgendwie dorthin und wieder zurück transportiert worden. Dilgo hat gesagt, es sei womöglich eine Botschaft.«

»Warum hat er nicht protestiert?« fragte Shan. »Wieso hat er nichts zu seiner Verteidigung unternommen? Wenn Sie wußten, daß er unschuldig war, weshalb haben Sie ihn dann nicht verteidigt?«

»Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan.«

»Alles?« Langsam zog Shan die Akte aus der Leinentasche, die er bei sich trug, und ließ sie zwischen ihnen auf die Bank fallen. Er hatte die Aussage gelesen, die für den Abt vorbereitet worden war. Der Abt hatte die Gewalttat verurteilt und sich im Namen des gompa und der Kirche entschuldigt.

Der Abt starrte die Akte an und blickte dann auf, ohne zu blinzeln. »Alles.«

Es war nicht richtig von ihm, bei irgendeinem der Leute Schuldgefühle zu erwarten, erkannte Shan. Alle Beteiligten des Dramas um Dilgo, vom Abt bis zu Ankläger Jao, ja sogar bis zu dem Beschuldigten, hatten ihre Rollen einwandfrei gespielt.

Der Abt stand auf und wollte wieder zu seinem Unkraut zurückkehren.

»Dann verraten Sie mir bitte folgendes«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Haben Sie gehört, daß sich am Tatort ein buddhistischer Dämon befunden haben soll?«

Der Abt drehte sich stirnrunzelnd um. »Die alten Überlieferungen halten sich hartnäckig.«

»Demnach ist Ihnen tatsächlich ein solches Gerücht zu Ohren gekommen?«

»Immer wenn ein hoher Beamter stirbt, werden manche behaupten, irgendein Dämon oder Geist hätte Rache geübt.«

»Und auch über die betreffende Nacht hat es einen derartigen Bericht gegeben?«

»In jener Nacht war Vollmond. Ein Hirte hat behauptet, er habe auf einem Hügel oberhalb der Straße den pferdeköpfigen Dämon bei einer Art Tanz beobachtet. Den Dämon namens Tamdin. Unter den Kieseln, an denen der Direktor für Religiöse Angelegenheiten erstickt ist, hat sich auch eine Gebetsperle von einem Rosenkranz befunden. Sie hatte die Form eines Schädels, so wie Tamdin sie trägt.« Shan hatte selbst einen solchen Rosenkranz in der Hand gehalten. Den Rosenkranz eines Dämons.

»Die Einheimischen haben an der besagten Stelle einen Schrein errichtet, um ihren Beschützer zu ehren.«

Ein Tanz auf einem Hügel neben der Straße. Im Vollmond. Als wollte Tamdin gesehen werden, überlegte Shan.

»Auch nach den anderen Morden wurden Schreine gebaut. Es heißt, nach dem Mord an dem Direktor der Minen wäre Tamdin von einem Lastwagenfahrer gesehen worden. Wie ich schon sagte, es gibt immer solche Gerüchte, wenn ein Beamter stirbt. Tamdin ist bei den Leuten überaus beliebt, denn er gilt als wild und gnadenlos, wenn es um die Verteidigung der Kirche geht. Er ist ein sehr alter Dämon, einer von denen, die Landgötter genannt werden, und stammt aus der Zeit der alten tibetischen Schamanen noch vor den Tagen des Buddhismus. Auf ihrem Weg zu Buddha haben die Leute Tamdin mitgenommen.«

Von der anderen Seite des Hofs unterbrach sie plötzlich der Lärm zahlreicher Tiere. Man hatte ein Tor geöffnet, und eine große Hundemeute kam hereingelaufen. Die Priester fütterten die Hunde, mehr Hunde, als Shan jemals auf einem Fleck versammelt gesehen hatte. Er zählte mindestens dreißig Tiere, und es kamen immer noch neue durch das Tor herein.

Sergeant Feng fluchte und ließ sich neben Shan auf die Bank nieder, ohne die Hunde aus den Augen zu lassen. Drei große schwarze Mastiffs, wie sie von Hirten zum Schutz vor Wölfen benutzt wurden, beäugten die Männer mißtrauisch, als spürten sie, daß Feng und Shan Eindringlinge waren. Fengs Hand legte sich auf seine Pistole.

»Ai yi!« rief einer der Mönche, als er Fengs Reaktion bemerkte. Eilig stellte er sich vor die Hunde. »Die Tiere stehen unter unserem Schutz«, sagte er flehentlich. »Sie sind ein Teil von Khartok gompa. Sie kommen aus ganz Tibet her, um bei uns zu sein.«

»Verdammte Köter«, knurrte Feng. »Wo ich herkomme, landen die im Kochtopf.«

Der Mönch konnte sein Entsetzen nicht verbergen. »Sie sind ein Teil von uns. Diejenigen, die sich erinnern. Deshalb kommen sie her.«

»Erinnern?« fragte Shan.

»Priester, die gescheitert sind«, erklärte der Mönch. »Die Hunde sind Reinkarnationen von Priestern, die gegen ihre Gelübde verstoßen haben.«

Bei diesen Worten erschienen Yeshe und der chandzoe auf der Treppe. Von der anderen Seite des Hofs rief jemand ärgerlich etwas zu ihnen herüber. Der chandzoe legte Yeshe eine Hand auf die Schulter, als wolle er ihn beruhigen, während der Mönch, der noch immer auf den Stufen stand, sogleich wieder sein mudra auf Yeshe richtete.

Da endlich erkannte Shan das mudra. Es sollte Vergebung erweisen. Schaudernd überfiel ihn eine plötzliche Einsicht, und er musterte Yeshe, als sähe er ihn zum erstenmal. Er war so blind gewesen. Er hatte Yeshe alle möglichen Fragen gestellt, doch die wichtigste Frage hatte er ausgelassen.

Zwei Stunden später befanden sie sich an der höchsten Stelle des Passes, so daß sogar die Sterne am fernen Horizont unter ihnen lagen. Shan döste vor sich hin und wollte, daß das Gefühl, durch den Raum zu schweben, erst dann wieder aufhörte, wenn er eine Welt erreichte, in der Regierungen nicht logen, in der die Gefängnisse für Verbrecher bestimmt waren und in der niemand mit Kieseln ermordet wurde.

Von der Rückbank hörte er ein gleichmäßiges Klicken. Yeshe hatte eine Gebetskette.

Eine Stunde darauf bogen sie auf die Kreuzung am oberen Ende des Tals von Lhadrung ein. Shan legte Feng eine Hand auf den Arm. »Nach links.«

»Du hast wohl die Orientierung verloren, Genosse«, brummte Feng. »Zum Lager geht es nach rechts. Nur noch eine Stunde, und wir liegen im Bett.«

»Nach links, zur Baustelle der 404ten.«

»Das ist doch kilometerweit ab vom Schuß«, protestierte Feng.

»Da müssen wir hin.«

Feng hielt den Wagen hinter der Kreuzung an. »Bis wir dort ankommen, ist es beinahe Mitternacht. Da ist um diese Zeit nichts los.«

»Das erhöht die Chance.«

»Die Chance?«

»Den Geist zu treffen.«

Feng erschauderte. »Den Geist?«

»Ich will ihn fragen, wer ihn ermordet hat.«

Feng schaltete die Innenbeleuchtung ein und starrte Shan an, als würde er nach einem Anzeichen dafür suchen, daß diese Äußerung als Scherz gemeint war.

Shan erwiderte den Blick völlig regungslos. »Haben Sie Angst vor Geistern, Sergeant?«

»Verdammt richtig«, erwiderte Feng ein wenig zu laut. Er legte den Gang ein und drehte um.

Einen knappen Kilometer vor der Brücke wies Shan den Sergeanten an, das Licht auszuschalten. Als sie neben der Brücke langsam zum Stillstand kamen, war auf der Baustelle der 404ten nicht das geringste zu entdecken. Feng stieg aus und zog sofort seine Pistole. Shan sagte nichts, sondern machte sich zu Fuß in Richtung des Bergs auf den Weg. Nach dreißig Schritten drehte er sich um und sah, daß Feng den Wagen umkreiste, als wäre er zu dessen Bewachung eingeteilt.

Am Ende von Tans Brücke blieb Shan stehen und schaute zum Himmel empor. Die Sterne flößten ihm nach wie vor Ehrfurcht ein. Er fürchtete, er würde sie berühren können, wenn er die Hand ausstreckte. Seine Knie zitterten.

Er folgte dem Straßenbett bis zu dem kleinen Steinhaufen, der die Fundstelle von Jaos Leiche markierte, und setzte sich auf einen Felsen. Es war beinahe windstill. Genau jetzt würde der jungpo umgehen. Genau jetzt würden die Schutzdämonen zuschlagen. Seine Hand legte sich auf die Tasche mit dem Zauber, der ihn vor Tamdin beschützen sollte. Wie hatten die Worte aus Khordas Schädelmantra gelautet? Om padme te krid hum pbat.

Hinter ihm bewegte sich ein Kiesel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als neben ihm ein Schatten auftauchte. Es war Yeshe.

»Es ist in einer Nacht wie dieser passiert«, stellte Shan fest und versuchte sich zu beruhigen. »Ankläger Jao wurde zu der Brücke gefahren. Jemand war hier. Jemand, den er kannte.«

»Das habe ich nie verstanden. Wieso hier?« fragte Yeshe. »Es ist so weit weg von allem.«

»Genau das ist der Grund. Die Straße führt nirgendwohin. Keine Gefahr, von zufälligen Passanten entdeckt zu werden. Einfach wieder zu verlassen.« Aber das war nicht alles. Der Berg hatte sein Geheimnis noch immer nicht preisgegeben.

»Also sind Jao und der andere zu Fuß hergekommen«, sagte Yeshe. »Um die Sterne zu betrachten?«

»Um zu reden. Unter vier Augen. Jemand ist unten zurückgeblieben.«

»Der Fahrer.«

»Ich bin hier mit Jao«, sagte Shan und versetzte sich in die Lage des Mörders, der Jao auf den Berg gelockt hatte. »Ich habe ihn hergebracht, um ihm angeblich ein Geheimnis anzuvertrauen. Aber etwas hat ihn plötzlich aufhorchen lassen. Ein loser Fels. Das Klirren von Metall. Er hat den Angreifer in letzter Sekunde bemerkt und fährt herum, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, lange genug, daß Jao eine Verzierung von dem Kostüm abreißen kann.« Shan stand mit einem Stein in der Hand auf, um die Szene nachzuspielen. »Dann greife ich mir einen Stein und schlage von hinten zu.« Er warf den Stein kraftvoll zu Boden. »Ich lege Jao sorgfältig zurecht, nachdem ich seine Taschen von allem geleert habe, das ihn identifizieren könnte.

Jetzt benutzt Tamdin seine Klinge.«

»Demnach gibt es zwei Mörder.«

»Ich bin inzwischen dieser Ansicht. Jao ist nicht mit jemandem hergekommen, der ein Dämonenkostüm getragen hat. Er kam in Begleitung eines Freundes, der den Dämon hier im Hinterhalt lauern ließ.« Shan trat einen Schritt zurück und wechselte wieder die Rolle. »Ich will nicht dabei zusehen.« Shan ging auf den Rand der Klippe zu. »Ich will nicht mit Blut besudelt werden. Ich gehe hier zur Kante und werfe weg, was ich ihm aus den Taschen genommen habe.« Er nahm einen Stein, trat an den Rand des Abgrunds, streckte den Arm aus und ließ den Stein fallen.

»Sie haben mir erzählt, warum man Sie von der Universität zurückgeschickt hat«, sagte Shan kurz darauf und schaute weiterhin ins Leere. »Aber Sie haben nie erzählt, warum Sie überhaupt erst auf die Universität gegangen sind.« Ermittlungen, fromme Betrachtungen, Karrieren, Beziehungen - irgendwie war sich das alles ziemlich ähnlich, überlegte er. Es ging schief, weil niemand daran dachte, die richtige Frage zu stellen.

Shan spürte, daß Yeshe auf ihn zukam, und trat ganz nach vorn an die Kante, bis seine Zehen hinaus in die Finsternis ragten.

»Es war eine Ehre, an die Universität gebeten zu werden«, sagte Yeshe mit hohler Stimme.

Ein winziger Stoß, eine leichte Bö, mehr würde nicht nötig sein. Yeshe könnte einfach nur stolpern und gegen Shan fallen, und er würde hinabstürzen. In einer Nicht wie dieser schlug man vielleicht nie auf dem Erdboden auf. Da würde nur Finsternis sein und dann eine noch tiefere Schwärze.

»Aber warum sollte man Yeshe Retang eine solche Gunst erweisen? Einem unbekannten Mönch aus einem entlegenen gompa!«

Yeshe trat neben ihn, als wolle er das gleiche Risiko wie Shan eingehen.

»Man hat in Khartok erst nach Ihrer Abreise mit dem Wiederaufbau begonnen«, hob Shan hervor. »Der chandzoe hat Sie wie einen Helden willkommen geheißen. Als würde er Ihnen etwas schuldig sein. Als hätte Khartok nach Ihrem Weggang Begünstigungen erhalten.«

»Ich habe meiner Mutter versprochen, Mönch zu werden«, sagte Yeshe zu den Sternen. »Ich war der älteste Sohn. So war die Tradition in den tibetischen Familien, bis Peking kam. Dem ältesten Sohn würde die Ehre zuteil werden, in einem Kloster zu dienen. Doch ich war kein guter Mönch. Der Abt sagte, ich dürfe nicht so stolz sein. Er wies mir eine Aufgabe in den Dörfern zu, damit ich das Leid des Volkes sehen würde. Zweimal in der Woche brachte ich mit einem Wagen kranke Kinder ins gompa.«

Hinter ihnen am Abhang ertönte der Schrei eines Ziegenmelkers.

»Er lag einfach da, neben der Straße. Ich dachte, ich könnte ihn retten. Ich dachte, ich könnte ihm vielleicht auf den Rücken klopfen, damit er die Kiesel aus dem Hals bekommt und wieder atmen kann. Ich habe es versucht. Aber er war bereits tot.«

»Soll das heißen, Sie haben die Leiche des Direktors für Religiöse Angelegenheiten gefunden?«

»Ich habe nie begriffen, warum er ganz allein dort oben war«, flüsterte Yeshe.

»Und Dilgo aus Ihrem gompa wurde deswegen hingerichtet.« Shan erinnerte sich daran, daß in den Akten einige Seiten fehlten. Zeugenaussagen.

»Als ich ihn umdrehte, lag er da. Ich habe ihn sofort erkannt.«

»Den Rosenkranz, der Dilgo gehört hat?«

Yeshe antwortete nicht.

»Demnach haben Sie als Zeuge gegen ihn ausgesagt.«

»Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe einen toten Chinesen gefunden. Unter dem Mann lag Dilgos Rosenkranz.«

Die Parabel war absolut perfekt. Ein gesellschaftsfeindlicher Kultanhänger wird durch die Aussage eines Mitglieds der neuen Gesellschaft überführt, das zudem noch demselben Kloster angehört. Ein Beweis dafür, wie bösartig die alte Ordnung war und wie tugendhaft die neue sein konnte. »Und zur Belohnung hat man Sie auf die Universität geschickt.«

»Wie konnte ich ablehnen? Wie oft wird einem Mönch denn schon die Universität angeboten? Sie sagten, es sei keine Belohnung. Sie sagten, mein Verhalten habe lediglich gezeigt, daß ich auf eine Universität gehöre, daß ich eine Führungspersönlichkeit sei, die schon längst dort hätte sein müssen.«

»Wer hat Ihnen dazu verhelfen?«

»Ankläger Jao, das Büro für Religiöse Angelegenheiten, die Öffentliche Sicherheit. Sie alle haben das Papier unterzeichnet.«

Das sagte nichts darüber aus, wer Jao ermordet hatte oder wer vielleicht erneut versuchte, Yeshe zu manipulieren. Die Bewilligung derartiger Belohnungen ging absolut konform mit den üblichen Praktiken des chinesischen Justizapparats. Vielleicht hatte jemand Yeshe benutzt, weil er wußte, daß der Mönch regelmäßig diese Strecke fuhr. Vielleicht war Yeshes Verwicklung in den Fall auch völlig zufällig erfolgt. Es kam einzig und allein darauf an, daß Yeshe sich als anfällig entpuppt hatte, und gegenwärtig versuchte jemand, ihn auf die gleiche Weise zu beeinflussen. Nicht Zhong. Direktor Zhong war lediglich ein Handlanger, der dabei mithalf, Yeshes Arbeit für ein weiteres Jahr sicherzustellen.

»Ich habe es vorher gesagt«, merkte Yeshe an, als sei ihm ein nachträglicher Einfall gekommen.

»Vorher?«

»Man hat mir die Universität erst lange nach meiner Aussage angeboten.«

»Ich weiß.«

»Es hieß, man würde das tun, weil ich mich als guter Bürger erwiesen hätte.« Er flüsterte wieder. »Leider weiß ich nicht mehr, was das bedeutet - ein guter Bürger zu sein«, fügte er unglücklich hinzu.

Während sie die Sterne beobachteten, schien durch ihr Schweigen der Schmerz zu entweichen.

»Nach unserem Besuch im Büro für Religiöse Angelegenheiten«, sagte Yeshe, »nachdem Miss Taring gesagt hatte, daß immer noch Artefakte gefunden werden und in den Museen landen, habe ich mich etwas gefragt. Was wäre, wenn jemand noch so einen Rosenkranz wie den von Dilgo gefunden hätte? Was wäre, wenn ich gelogen hätte, ohne es zu wissen?«

Shan legte Yeshe eine Hand auf den Arm und zog ihn sanft vom Rand der Klippe zurück. »Dann müssen Sie es herausfinden.«

»Weshalb?«

»Für Dilgo.«

Sie setzten sich auf einen Felsblock und ließen sich erneut von der Stille gefangennehmen.

»Glauben Sie, daß es wahr ist, was man sich erzählt?« fragte Yeshe.

»Was denn?«

»Daß Jaos Geist hierbleibt und nach Rache trachtet.«

»Ich weiß es nicht.« Shan sah hinaus in die Nacht. »Falls meine Seele freikäme«, sagte er langsam, »würde ich niemals zurückblicken.«

Sie wechselten kein weiteres Wort. Shan hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort saßen. Es konnten zehn Minuten gewesen sein, vielleicht aber auch eine halbe Stunde. Eine Sternschnuppe schoß strahlend über den Himmel. Dann ertönte genauso plötzlich ein lautes Geräusch, ein verzerrtes, gespenstisches Stöhnen und Schreien, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Es kam von irgendwo unter ihnen und schien sich durch die Haut über seiner Wirbelsäule zu bohren. Es war kein menschliches Geräusch.

Auf einmal krachten drei Pistolenschüsse. Dann herrschte absolute Stille.