172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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Kapitel 11

Die Straße, die zum ragyapa-Dorf führte, hörte etwa siebzig Meter vor der Ansiedlung auf und endete an einer großen Lichtung, auf der eine Reihe flacher Felsen als Abladeplattformen dienten. Als Sergeant Feng auf die Lichtung einbog, kam ihnen mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit ein kleiner Tieflader entgegen. Shan erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Frau am Fenster. Sie weinte.

Auf dem Pfad zum Dorf war ein Eselkarren unterwegs, auf dem ein langes, dickes Bündel lag, das in Segeltuch gewickelt war.

Zu Shans Überraschung sprang Yeshe als erster aus dem Auto. Er nahm einen Jutesack mit alten Äpfeln von der Rückbank und machte sich mit trauriger Entschlossenheit auf den Weg. Als Shan ausstieg, warf Feng einen Blick auf das lange Bündel auf dem Karren, verriegelte dann sofort die Türen und kurbelte die Fenster hoch. Als letzte Verteidigung zündete er sich eine Zigarette an und begann, den Innenraum des Wagens mit Rauch zu füllen.

Die ragyapas waren Shan völlig fremd. Mit Han-Chinesen hatten sie nichts zu tun, weder den toten noch den lebendigen. Genaugenommen hatten sie mit keinem Außenstehenden etwas zu tun, sondern blieben unter sich. Sogar andere Tibeter trauten sich nur selten in ihre Nähe, außer um die Leiche eines Angehörigen und als Bezahlung etwas Geld oder einen Korb mit Waren zurückzulassen. In einem ragyapa-Dorf in der Nähe von Lhasa hatten zwei Soldaten versucht, die Leute bei der Arbeit zu filmen, und dafür mit ihrem Leben bezahlt. Bei Shigatse waren japanische Touristen mit Beinknochen geschlagen worden, als sie sich zu nahe heranwagten.

Shan holte Yeshe schnell wieder ein und blieb einen Schritt hinter ihm. »Sie sehen so aus, als hätten Sie einen Plan«, stellte er fest.

»Richtig. Der Plan sieht vor, so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden«, erwiderte Yeshe leise.

Auf dem Boden neben der ersten Hütte saß ein ungewaschener Junge mit langen, struppigen Haaren und schichtete Steine auf. Er schaute hoch, bemerkte die Besucher und stieß einen Schrei aus, der nicht wie eine Warnung klang, sondern eher wie ein plötzlicher Schmerzenslaut, als hätte man ihn getreten. Daraufhin kam eine Frau aus dem Innern der Hütte. In einer Hand hielt sie einen verbeulten Teekessel, und mit der anderen balancierte sie ein Baby auf ihrer Hüfte. Sie sah Shan an, allerdings nicht sein Gesicht, sondern seinen Körper, den sie so langsam in Augenschein nahm, als würde sie ihn abmessen.

Hinter der Hütte befand sich der zentrale Platz der Ansiedlung, um den herum man mehrere Behausungen errichtet hatte. Einige waren primitive Hütten aus Zweigen, Brettern und sogar Pappe. Andere jedoch waren kleine, aber solide Steingebäude, wie Shan überrascht feststellte. Vor einem der Häuser arbeiteten mehrere Männer und schärften soeben eine Reihe von Äxten und Messern.

Die Männer erinnerten irgendwie an Affen. Sie waren nicht groß, hatten dicke Arme und kleine Augen. Einer von ihnen stand auf, machte einen Schritt auf Shan zu und schwang drohend eine kleine Axt. Sein Blick war auf beunruhigende Weise leer, als hätte er ihn sich bei den Toten ausgeborgt. Als er den Sack in Yeshes Hand bemerkte, wich die Strenge aus seiner Miene. Zwei andere Männer traten auf Yeshe zu und streckten mit feierlicher Geste die Arme aus. Als Yeshe ihnen den Sack gab, nickten sie ihm mitfühlend zu, nur um im nächsten Moment verwirrt dreinzuschauen. Einer der Männer sah in den Sack und holte lachend einen Apfel daraus hervor. Seine Gefährten fielen in das Gelächter ein, und er warf den Apfel in den Kreis der Männer. Das war nicht die Art von kleinem Jutepaket, das den ragyapas normalerweise überbracht wurde, begriff Shan plötzlich, keines der winzigen Bündel des Todes, die sogar den Ausbeinern verhaßt sein mußten.

Yeshes Handlung entschärfte die Situation. Weitere Äpfel flogen durch die Luft, und die Männer holten Taschenmesser hervor und begannen, Stücke der Früchte untereinander zu verteilen. Die längeren Klingen blieben den geheiligten Aufgaben vorbehalten. Shan besah sich die Werkzeuge. Er entdeckte kleine Messer, deren Klingen in Haken endeten. Lange Messer zum Häuten. Grobe Äxte, wie man sie vielleicht schon vor zwei Jahrhunderten geschmiedet hatte. Die Hälfte der Klingen war problemlos dazu geeignet, einem Mann den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Kinder tauchten auf und waren ganz erpicht auf die Früchte.

Von Shan hielten sie sich fern, aber um Yeshe scharten sie sich mit großen, glücklichen Augen.

»Wir kommen von der Buchhandlung in der Stadt«, verkündete Shan.

Die Kinder reagierten nicht darauf, aber die Männer waren sofort ganz Ohr. Leise tauschten sie einige Worte aus, und dann lief einer von ihnen den Hügel hinter dem Dorf hinauf.

Die Kinder rückten Yeshe immer näher, und auf einmal schien er ganz interessiert an ihnen zu sein. Er kniete nieder, um einem der Kinder den Schuh zuzubinden, und inspizierte dabei sorgfältig die Kleidung des Jungen. Dann stürzte sich die ganze Horde auf Yeshe und warf ihn zu Boden. Einige der älteren Jungen zogen Spielzeugmesser aus Holz und vollführten unter hysterischem Gelächter sägende Bewegungen an seinen Gelenken.

Shan sah dem Getümmel nur kurz zu und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Läufer. Schon bald wurde klar, daß der Mann einen Felsen ansteuerte, der aus der niedrigen Kammlinie oberhalb der Ansiedlung hervorragte. Shan folgte dem Mann und hielt dann inne, als ihm die Vögel auffielen. Mehr als ein Dutzend von ihnen, zumeist Geier, kreisten hoch oben am Himmel. Andere, sowohl große als auch kleine Raubvögel, saßen entlang des Wegs auf den Ästen der verkrüppelten Bäume. Sie wirkten seltsam zahm, als würde das Dorf ebensosehr ihnen wie den ragyapas gehören. Ihre Blicke folgten dem Läufer mit trägem Interesse.

Es hieß Himmelsbegräbnis. Die schnellste Beseitigung der körperlichen Überreste der menschlichen Existenz. In einigen Teilen Tibets wurden die Leichen den Flüssen übergeben, weshalb es verpönt war, Fisch zu essen. Shan hatte gehört, daß in den Regionen, die nach wie vor eng mit Indien verbunden waren, rituelle Opferungen praktiziert wurden. Doch für die meisten gläubigen Buddhisten in Tibet gab es nur eine einzige Möglichkeit, das Fleisch loszuwerden, das nach dem Ende einer Inkarnation übrigblieb. Die Tibeter konnten nicht ohne die ragyapas leben. Aber mit ihnen leben konnten sie auch nicht.

Als der Läufer sein Ziel erreichte, erschien oben auf dem Kamm ein weiterer Mann, der einen langen Stiel in der Hand hielt, an dessen Ende sich eine breite Klinge befand. Er war mittleren Alters und trug eine Wintermütze des Militärs, deren wattierte Ohrenklappen zu beiden Seiten seines Kopfes wie kleine Schwingen abstanden. Shan setzte sich auf einen Felsblock und wartete. Mißtrauisch behielt er die Vögel im Auge.

Der Mann musterte Shan argwöhnisch und kam langsam näher. »Keine Touristen«, schimpfte er mit hoher Stimme. »Sie sollten besser gehen.«

»Das Mädchen in der Buchhandlung stammt aus diesem Dorf«, erwiderte Shan übergangslos.

Der Mann starrte ihn mit grimmiger Miene an, senkte dann die Klinge und zog einen Lappen hervor, um feuchte, rosafarbene Fetzen davon abzuwischen. Dabei behielt er Shan im Auge, nicht die Klinge. »Sie ist meine Tochter«, räumte er ein. »Es ist mir nicht peinlich.«

»Es besteht keine Veranlassung, sich zu schämen. Aber es war eine ziemliche Überraschung für mich, daß einer Ihrer Leute in der Stadt arbeitet.« Er wußte, daß er die Arbeitspapiere gar nicht erst zu erwähnen brauchte. Die Erkenntnis, daß Shan die Lüge entdeckt hatte, stellte vermutlich den einzigen Grund dafür dar, daß der Mann mit ihm sprach.

Der herausfordernde Blick des Mannes wich einer unbeugsamen Entschlossenheit. »Meine Tochter ist eine gute Arbeiterin. Sie verdient eine Chance.«

»Ich bin nicht wegen Ihrer Tochter hier, sondern wegen der Beziehung Ihrer Familie zu dem alten Zauberer.«

»Wir brauchen keine Zauberer.«

»Khorda hat für Ihre Tochter Bannsprüche angefertigt. Ich glaube, Ihre Tochter bringt sie hierher mit.«

Der Mann preßte sich eine Faust an die Schläfe, als verspürte er plötzliche Schmerzen. »Es ist nicht illegal, um Zaubersprüche zu bitten. Heutzutage nicht mehr.«

»Und doch versuchen Sie, es zu verbergen, indem Sie Ihre Tochter als Botin benutzen.«

Der ragyapa dachte sorgfältig darüber nach. »Ich unterstütze sie. Eines Tages wird sie ein eigenes Geschäft besitzen.«

»Ein Geschäft kann sehr teuer sein.«

»Noch fünf Jahre. Ich habe es genau ausgerechnet. Die ragyapas haben die sichersten Berufe von ganz Tibet.« Es klang wie ein alter Witz.

»Ist Tamdin hiergewesen? Benötigen Sie deshalb die Zaubersprüche?« fragte Shan. Oder wohnt Tamdin hier, sollte er vielleicht fragen. Könnte es denn wirklich so einfach sein? Die verbitterten, abgeschobenen ragyapas mußten den Rest der Welt hassen, vor allem dessen hohe Beamten. Und wer wäre qualifizierter gewesen, Ankläger Jao abzuschlachten? Oder Xong De vom Ministerium für Geologie das Herz herauszuschneiden?

Der Mann seufzte. »Die Zauber sind nicht für uns hier bestimmt.«

»Wofür dann? Und für wen? Soll das heißen, Sie verkaufen sie an jemand anderen?«

»Über diese Dinge spricht man nicht.« Der Mann wischte noch einmal über die Klinge, als wolle er Shan warnen.

»Verkaufen Sie die Zauber?« wiederholte Shan. »Wollen Sie Ihrer Tochter auf diese Weise das Geschäft bezahlen?«

Der Mann schaute zu den kreisenden Vögeln empor. Ein ragyapa-Dorf wäre der perfekte Ort für einen Mord, erkannte Shan. Als würde man den eigenen Offizier auf dem Schlachtfeld erschießen, weil man ihn haßte. Eine zusätzliche Leiche würde gar nicht auffallen.

Der Mann antwortete nicht. Er blickte hinunter ins Dorf und sah, daß die anderen Männer ihn anstarrten. Wütend herrschte er sie an, worauf sie begannen, ihre Arbeit an den Werkzeugen fortzusetzen. Yeshe raufte seltsamerweise immer noch mit den Kindern.

Shan wandte sich wieder dem Mann zu. Der ragyapa war nicht nur älter als die meisten anderen, er war offenbar auch der Dorfvorsteher. »Ich möchte lediglich wissen, wer es ist. Irgend jemand muß zu verlegen oder zu ängstlich sein, um selbst nach den Sprüchen zu fragen. Ist es jemand aus der Regierung?« Der Mann drehte sich von Shan weg. »Jemand anders könnte auf die gleiche Idee kommen wie ich«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Dieser Jemand würde vielleicht ganz andere Methoden anwenden, um Sie zu überzeugen.«

»Sie meinen die Öffentliche Sicherheit«, flüsterte der Mann. Die Kriecher wurden sich bestimmt weitaus stärker als Shan für die Arbeitspapiere seiner Tochter interessieren. Sein Gesicht schien bei diesen Worten in sich zusammenzufallen. Er starrte zu Boden.

Shan nannte dem Mann seinen Namen.

Der Dorfvorsteher sah überrascht auf, denn er war solche Gesten nicht gewohnt. »Ich heiße Merak«, erwiderte er vorsichtig.

»Sie sind bestimmt sehr stolz auf Ihre Tochter.«

Merak hielt inne und betrachtete Shan nachdenklich. »Als ich ein Junge war«, sagte er, »konnte ich nie verstehen, weshalb die anderen mich nicht in ihrer Nähe haben wollten. Ich habe mich zum Stadtrand geschlichen und mich dort versteckt, nur um den anderen beim Spielen zuzusehen. Wissen Sie, wer mein bester Freund war? Ein junger Geier. Ich habe ihn darauf dressiert, zu mir zu kommen, wenn ich ihn rief. Er war das einzige Lebewesen, das mir vertraut hat, das mich so akzeptiert hat, wie ich war. Als ich eines Tages nach ihm rief, hat ein Adler sich auf ihn gestürzt. Er hat meinen Freund getötet. Hat ihn einfach so aus der Luft gepflückt, weil er auf mich geachtet hat und nicht auf den Himmel.«

»Man findet nur selten jemanden, der Vertrauen hat.«

»Wir sind auch Geier. Zumindest hält uns der Rest der Welt dafür. Mein Vater hat immer darüber gelacht. Er hat gesagt: >Das ist der große Vorteil, den wir gegenüber allen anderen haben. Wir wissen genau, wer wir sind.<«

»Jemand hat Sie darum gebeten, ihm einen Zauberspruch zu besorgen. Jemand, der glaubt, er habe Tamdin beleidigt.«

Merak wies mit ausholender Geste auf die Gebäude unterhalb. »Weshalb sollten wir dafür Verwendung haben?«

»Die ragyapas glauben nicht an Dämonen?«

»Die ragyapas glauben an Geier.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Zuerst erzählen Sie mir etwas.« »Was denn?«

»Sie stammen aus dem Rest der Welt«, sagte Merak und nickte in Richtung des Tals. »Sagen Sie mir, daß Sie nicht an Dämonen glauben.«

Ein Stück weiter oben am Hang erhob sich lautes Flügelschlagen. Shan schaute hin und bereute es sofort. Zwei Geier veranstalteten ein Tauziehen um eine menschliche Hand.

Shan blickte kurz auf seine eigenen Hände und fuhr sich mit den Fingern über die Schwielen. »Ich habe schon zuviel erlebt, um Ihnen auf diese Frage antworten zu können.«

Merak nickte verständnisvoll und begleitete Shan dann schweigend zurück zum Dorf.

»Die amerikanische Mine«, sagte Shan zu Feng. Es gab noch einen ragyapa, fiel ihm ein, der in den hohen Gebirgsregionen herumkletterte, in denen Tamdin beheimatet war.

Yeshe streckte Shan von der Rückbank eine Kindersocke entgegen, als sei dies eine besondere Trophäe. »Haben Sie es denn nicht bemerkt?« fragte er mit bedeutungsvollem Grinsen.

»Was denn?«

»Die verschwundenen Armeebestände, die ich im Auftrag von Direktor Zhong registriert habe. Die Mützen, die Schuhe, die Hemden. Und alle haben grüne Socken getragen.«

»Ich verstehe nicht«, bekannte Shan.

»Die vermißten Vorräte. Sie sind hier. Die ragyapas haben sie.«

»Nein«, sagte Shan, als sie von der Hauptstraße auf die Zufahrt zum Lager Jadefrühling einbogen. »Zur Mine der Amerikaner.«

»Ja«, erwiderte Sergeant Feng. »Nur ein kurzer Zwischenstop. Es dauert nicht lange.«

Er hielt neben dem Speisesaal an, stieg aus und öffnete Shan zu dessen Überraschung die Tür. »Es dauert nicht lange«, wiederholte er.

Shan folgte ihm verwirrt, aber dann fiel es ihm wieder ein. »Sie haben mit Leutnant Chang gesprochen.«

Feng grunzte nichtssagend.

»Ist er versetzt worden? Er verbringt momentan nicht allzuviel Zeit bei der 404ten.«

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Mit zweihundert Mann Grenztruppen, die dort ihr Lager aufgeschlagen haben? Weshalb sollte er?«

»Was wollte er denn?«

»Einfach nur reden. Er hat mir von einer Abkürzung auf dem Weg zur amerikanischen Mine erzählt.«

Im Speisesaal saßen zahlreiche Soldaten in kleinen Gruppen zusammen und tranken Tee. Feng ließ den Blick durch den Raum schweifen und führte Shan dann zu drei Männern, die im hinteren Teil des Saals Mah-Jongg spielten.

»Meng Lau«, rief er. Zwei der Männer zuckten zusammen und sprangen auf. Der dritte, der Feng und Shan den Rücken zuwandte, lachte und legte einen Spielstein. Als Feng dem Mann eine Hand auf die Schulter legte, machten die anderen sich aus dem Staub.

Der Mann stieß einen erschrockenen Fluch aus und drehte sich um. Er war jung, fast noch ein Kind, mit fettigem Haar und trübem, glanzlosem Blick. Er hatte einen umgedrehten Kopfhörer aufgesetzt, dessen Bügel unter seinem Kinn zusammenliefen.

»Meng Lau«, wiederholte Feng.

Das spöttische Grinsen des Mannes verschwand. Langsam nahm er den Kopfhörer ab. Shan knöpfte seine Hemdtasche auf und zeigte ihm das Papier, das Direktor Hu mitgebracht hatte. »Haben Sie das hier unterzeichnet?«

Meng warf Feng einen kurzen Blick zu und nickte langsam.

Mit seinem linken Auge stimmte etwas nicht. Es bewegte sich unbestimmt hin und her, als sei es womöglich künstlich.

»Hat Direktor Hu darum gebeten?«

»Der Ankläger war hier und wollte das so«, erwiderte Meng nervös und stand vom Tisch auf.

»Der Ankläger?«

Meng nickte. »Sein Name ist Li.«

»Demnach haben Sie ein Exemplar für Li und eines für Hu unterzeichnet?«

»Ich habe zwei Blätter unterschrieben.«

Also stimmte es, erkannte Shan. Li Aidang stellte eine eigene Akte zusammen. Doch weshalb sollte er sich die Mühe machen, Shan ein Duplikat der Aussage zuzuspielen? Um sicherzugehen, daß Shan so schnell wie möglich zu einem Ergebnis kam? Um Shan in die Irre zu führen? Oder vielleicht, um ihn zu warnen, daß Li ihm stets einen Schritt voraus sein würde?

»Stand in beiden Aussagen das gleiche?«

Der Soldat sah zunächst unsicher zu Feng, bevor er antwortete. »Natürlich.«

»Aber wer hat die Worte zu Papier gebracht?« fragte Shan.

»Das sind meine Worte.« Meng wich einen Schritt zurück.

»Haben Sie in jener Nacht einen Mönch gesehen?«

»So steht es in der Aussage.«

Die Worte schienen Feng einen Moment lang die Sprache zu verschlagen. Dann wurde er wütend. »Du kleiner Hosenscheißer!« brüllte er. »Antworte gefälligst klar und deutlich!«

»Waren Sie in jener Nacht im Dienst, Gefreiter Meng?« fragte Shan. »Ihr Name stand nicht auf dem Dienstplan.«

Der Soldat fing an, an seinem Kopfhörer herumzunesteln. »Manchmal tauschen wir die Dienste.«

Fengs Hand zuckte vor und verpaßte dem Soldaten eine Ohrfeige. »Der Inspektor hat dir eine Frage gestellt.«

Shan sah Feng überrascht an. Der Inspektor.

Meng musterte den Sergeanten ausdruckslos, als sei er es gewohnt, geschlagen zu werden.

»Haben Sie in jener Nacht einen Mönch gesehen?« fragte Shan erneut.

»Ich bin als Zeuge für die Verhandlung geladen, und daher glaube ich, daß ich mit niemandem sprechen darf.«

Im ersten Moment legte Fengs Gesicht sich abermals in zornige Falten, die jedoch unmittelbar darauf wieder verschwanden. Der Soldat hatte sie allerdings schon bemerkt und war noch ein Stück zurückgewichen. »Es ist politisch«, murmelte er und rannte weg. Feng starrte ihm hinterher und sah dabei nicht länger wütend, sondern verletzt aus.

Der Sergeant machte keinen Hehl aus seiner Mißstimmung, fuhr die Gänge bis in hohe Drehzahlbereiche aus und bremste kaum an den Kreuzungen, bis sie die Nordklaue erreichten und den langen Aufstieg zur Mine der Amerikaner begannen.

»Hier«, murmelte er schließlich und zog eine Zellophantüte aus der Tasche. »Kürbiskerne.« Er reichte die Tüte an Shan weiter. »Richtig gute, nicht dieser fade Mist, den man auf dem Markt bekommt. Gesalzen. Hol ich mir immer von der Verpflegungsstelle.«

Bedächtig und schweigend kauten sie ihre Kerne, wie zwei alte Männer auf einer Parkbank in Peking. Wenig später beugte Feng sich vor und achtete besonders auf den Straßenrand.

»Chang hat gesagt, man würde eine ganze Stunde sparen«, erklärte Feng, als er auf einen ausgetretenen Weg einbog, der kaum mehr als ein Ziegenpfad zu sein schien. »Auf diese Weise können wir rechtzeitig zum Abendessen zurück sein.«

Nach fünf Minuten näherte der Pfad sich dem Kamm eines Bergrückens. Rechts, kaum einen Meter vom Wagen entfernt, ging es beinahe senkrecht in die Tiefe. Mehr als hundert Meter unter ihnen war ein großes Geröllfeld auszumachen.

»Wie soll dieser Weg denn zu den Amerikanern führen?« fragte Yeshe nervös. »Wir müssen doch noch den Abgrund überqueren.«

»Mach ein Nickerchen«, brummte Feng. »Spar deine Kräfte für all die Arbeit, die bei der 404ten auf dich wartet.«

»Was soll das denn heißen?« fragte Yeshe beunruhigt.

»Ich habe mit der Sekretärin des Direktors gesprochen, ganz wie du mich gebeten hast. Sie hat gesagt, momentan würde niemand am Computer arbeiten. Der Direktor hat angeordnet, man solle einfach alles ansammeln, weil in zwei Wochen jemand kommt.«

»Das könnte auch jemand anders sein«, protestierte Yeshe.

Feng schüttelte den Kopf. »Sie hat einen der Offiziere in der Verwaltung gefragt, und der hat gesagt, der tibetische Bengel des Direktors würde zurückkommen.«

Von hinten war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Shan drehte sich um und sah, daß Yeshe vornübergebeugt dasaß und die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Bekümmert wandte Shan sich ab. Er hatte es Yeshe bereits gesagt. Es war an der Zeit für ihn, sich zu entscheiden, wer er war.

Plötzlich hob Shan die Hand. »Da...«, sagte er, als Sergeant Feng das Tempo verringerte, und wies auf frische Reifenspuren, die vom Pfad abbogen und hinter der Kammlinie verschwanden.

»Also sind wir nicht die einzigen, die diese Abkürzung benutzen«, sagte Feng wie zur Rechtfertigung.

Viele andere auch, dachte Shan - zum Beispiel Amerikaner auf der Suche nach alten Schreinen.

Shan öffnete die Tür und ging vorsichtig um den Wagen herum, wobei er besonders auf die jähe Abbruchkante achtete.

Er hob einen Heidekrautstengel auf, der inmitten der Spur lag, und reichte ihn Feng. »Riechen Sie mal. Der wurde vor noch nicht einmal einer Stunde zerbrochen.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, daß ich dieser frischen Fährte folgen werde. Der Weg vor Ihnen führt um diese Felsformation herum und dann zum Kamm. Ich treffe Sie auf der anderen Seite.«

Feng runzelte die Stirn, fuhr aber langsam wieder an.

Während Shan den Hang hinaufstieg, versuchte er, die Lage der verschiedenen Orte einzuordnen. Die Schädelhöhle lag knapp anderthalb Kilometer von hier entfernt. War das hier der Hintereingang der Amerikaner? Waren Fowler und Kincaid so dumm gewesen, zu dem Schrein zurückzukehren? Als er sich dem Grat näherte, hörte er ein eigentümliches Geräusch. Wie Glocken, dachte er. Nein, Trommeln. Ein paar Meter weiter erkannte er, daß es sich um Rockmusik handelte. Als er den Kamm erreichte, ging er sofort in die Hocke und wich ein Stück zurück. Da stand zwar ein Geländefahrzeug, aber es gehörte nicht den Amerikanern. Der Wagen war leuchtend rot.

Nachdem Shan sich von dem Schreck erholt hatte, streckte er vorsichtig den Kopf zwischen den Felsen hervor. Es war der große Land Rover, den Hu gefahren hatte, aber die Gestalt auf dem Fahrersitz, die im Takt der Musik auf das Lenkrad trommelte, war zu groß, als daß es sich um Hu hätte handeln können.

Es ergab keinen Sinn, an dieser Stelle anzuhalten. Man konnte keine weitere Menschenseele sehen, niemanden, auf den der Wagen vielleicht gewartet hätte. Es gab nicht einmal sonderlich viel Landschaft zu betrachten, weil die vorstehenden Felsen den Blick entlang des Abhangs größtenteils verwehrten.

Shans Neugier führte dazu, daß er, ohne sich dessen bewußt zu sein, langsam aufstand. Hinter dem Wagen hatten sich frische Erdhaufen aufgetürmt, und vor dem Fahrzeug befand sich ein riesiger, anderthalb Meter hoher Felsblock, der gefährlich nahe am oberen Rand einer Böschung lag, die steil zum Weg hin abfiel. Plötzlich richtete der Mann hinter dem Steuer sich auf und schaute angestrengt zum Pfad hinunter. Der Wagen mit Feng und Yeshe kam in Sicht. Die Gestalt in dem Land Rover hob die Faust wie bei einer Siegesgeste und gab Vollgas.

»Nein!« schrie Shan und rannte auf den Wagen zu. Die Räder drehten durch und schleuderten noch mehr Erde empor. Der Felsblock bewegte sich.

Shan rannte durch die Staubwolke hindurch und hämmerte heftig gegen das Fenster auf der Fahrerseite. Der Mann drehte sich um und starrte ihn völlig verblüfft an. Es war Leutnant Chang.

Shan konnte sehen, wie er nach dem Schalthebel griff. Im ersten Moment schien der Wagen ein Stück zurückzurollen, als Chang dort herumhantierte. Dann machte das Fahrzeug einen Satz nach vorn. Mit einem mächtigen Ruck kippten sowohl der Felsblock als auch der Land Rover über die Kante nach unten.

Shan sah wie in Zeitlupe, daß Feng anhielt und dann mit Yeshe genau in der Sekunde aus dem Wagen sprang, als der Felsblock an ihnen vorbeisauste und im Abgrund verschwand. Der Land Rover fiel seitlich auf den Abhang und rollte die steile Böschung hinunter. Glas zerbarst, Metall knirschte, und die Räder drehten sich noch immer. Mitten in der Umdrehung erreichte der Wagen den Weg und landete in einer Staubwolke auf der Fahrerseite. Die vordere Hälfte des Fahrzeugs ragte hinaus in den Abgrund.

Shan erreichte den Pfad völlig außer Atem genau in dem Augenblick, als ein Arm sich durch das zerbrochene Beifahrerfenster streckte. Chang erschien in der Öffnung und fing an, sich hinauszuziehen. Seine Stirn war mit Blut beschmiert. Die Musik spielte noch immer.

Leutnant Chang hielt in der Bewegung inne und rief nach Feng, der in drei Metern Entfernung stand. In diesem Moment ächzte das Metall, und irgend etwas gab nach. Chang schrie auf. Der Wagen rutschte ein paar Zentimeter weiter über die Kante und blieb dann wieder liegen.

Auf Changs Gesicht zeichnete sich Angst ab. »Sergeant!« brüllte er. »Holen Sie mich..«

Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Der Land Rover kippte ganz plötzlich zur Seite und verschwand außer Sicht. Sie konnten noch immer die Musik hören, während er fiel.

Schweigend fuhren sie den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, bis sie wieder die Hauptstraße erreichten. Sergeant Feng war völlig durcheinander. Seine Hände am Lenkrad zitterten. Auch wenn er sich noch so sehr dagegen sträubte, Shan wußte, daß Sergeant Feng der Wahrheit letztendlich nicht ausweichen konnte. Chang hatte versucht, auch ihn zu ermorden.

Als sie schließlich den Bergkamm oberhalb der Bor-Mine soeben hinter sich gelassen hatten, bedeutete Shan dem Sergeanten, er möge anhalten. Da war ein Schrein, den er bei ihrem ersten Besuch gar nicht bemerkt hatte, auf einem Vorsprung, hundert Meter über dem Talgrund. Rund um einen Steinhaufen flatterten Gebetsfahnen. Manche waren lediglich bunte Stoffetzen. Andere waren riesige Banner, auf die man Gebete gemalt hatte und die von den Tibetern Pferdefahnen genannt wurden.

»Ich möchte mehr über diesen Schrein wissen«, sagte er zu Yeshe und Feng, als sie den Wagen abstellten. »Sucht nach einem Weg dort hinauf. Versucht herauszufinden, wer den Schrein errichtet hat und woher die Leute gekommen sind.«

Yeshe legte den Kopf in den Nacken und schaute neugierig zum Schrein empor. Dann ging er los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Feng bedachte Shan mit einem mürrischen Blick.

Dann aber zuckte er die Achseln, überprüfte die Munition in seiner Pistole und lief Yeshe hinterher.

Das Büro der Mine war beinahe leer, als Shan eintrat. Die Frau, die den Tee serviert hatte, saß schlafend auf einem Hocker und hatte sich an die Wand gelehnt. Zwei Männer in schmutziger Arbeitskleidung standen über den großen Tisch gebeugt. Einer nickte Shan grüßend zu, als dieser sich näherte. Es war Luntok, der ragyapa-Ingenieur. Die rote Tür am Ende des Raums war auch diesmal wieder geschlossen. Man hörte dahinter Stimmen und das leise Summen elektronischer Geräte.

Die beiden Männer nahmen Abmessungen auf einer der bunten Karten vor, die Shan zuvor schon gesehen hatte. In der Mitte befand sich ein blaues Rechteck, darunter mehrere Reihen kleinerer blaugrüner Rechtecke. Plötzlich erkannte Shan die Abbildungen.

»Das sind die Teiche, nicht wahr? Ich habe noch nie eine solche Karte gesehen«, staunte er. »Fertigen Sie die hier selbst an?«

Luntok blickte auf. »Das ist besser als eine Karte. Es ist ein Foto. Von oben, von einem Satelliten.«

Shan starrte ihn verblüfft an. Satellitenfotos lagen nicht jenseits seiner Vorstellungskraft; er hatte hier lediglich nicht damit gerechnet. Tibet existierte fürwahr in vielen verschiedenen Jahrhunderten zugleich.

»Wir müssen über die Schneeschmelze Bescheid wissen«, erklärte Luntok. »Über den Pegelstand und Verlauf der Flüsse, über Lawinen oberhalb von uns, über den Zustand der Straßen, wenn die Lieferungen verschickt werden. Ohne diese Bilder würden wir jede Woche Beobachtungsteams in die Berge schicken müssen.«

Luntok wies auf die Teiche der Mine, die Gebäude des Lagers und ganz am linken Rand auf eine Ansammlung geometrischer Formen, die den Außenbezirk der Stadt Lhadrung darstellten.

Mit dem Finger umriß er den großen Damm am oberen Ende des Drachenschlunds, legte die Karte dann beiseite und wies auf ein zweites, früheres Foto. »So hat das vor zwei Wochen ausgesehen, kurz bevor die Arbeiten daran abgeschlossen wurden.« Ungefähr in der Mitte des Damms sah Shan ein paar Farbflecke, bei denen es sich um Arbeitsmaschinen handeln mußte.

»Aber wie kommt man an solche Bilder?«

»Es gibt einen amerikanischen und einen französischen Satelliten. Wir haben Abonnements. Die Oberfläche der Erde ist in einzelne Sektionen unterteilt. Aus einem Katalog können wir das Bild einer bestimmten Sektion per Angabe der Nummer anfordern. Dieses Bild wird dann an unseren Computer übertragen«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf die rote Tür.

»Aber die Armee...«

»Es gibt eine Lizenz«, erklärte Luntok geduldig. »Das ist alles ganz legal.«

Ein westliches Unternehmen erhielt die Lizenz, eine Technik zu nutzen, mit der sich nicht nur Schneeansammlungen, sondern genauso einfach Truppenbewegungen, Luftmanöver und Armeeliegenschaften beobachten ließen. Die Amerikaner hatten ein echtes Wunder vollbracht, in Tibet eine solche Genehmigung zu bekommen.

Shan fand die Straße, die zu der Mine führte. Sie erschien als winzige graue Linie, die zwischen den Schatten der Berggipfel zu sehen war. Er entdeckte die nördliche Straße, die bis zum Kloster Saskya verlief, und schließlich auch die Baustelle der 404ten. Die neue Brücke war ein schmaler Strich, der das gewundene graue Band des Drachenschlunds überquerte.

Shan nahm neben Luntok Platz. »Ich bin im ragyapa-Dorf gewesen«, verkündete er. Der Mann neben Luntok erstarrte und warf dem Ingenieur einen Blick zu, während dieser nicht reagierte und weiterhin die Karten in Augenschein nahm. Der Mann griff sich seine Mütze und verließ das Gebäude.

»Ich habe mit Merak gesprochen«, sagte Shan. »Kennen Sie Merak?«

»Es ist eine kleine Gemeinschaft«, stellte Luntok lakonisch fest.

»Es muß schwierig sein.«

»Es gibt inzwischen Quoten für uns. Ich durfte die Universität besuchen. Ich habe eine gute Anstellung.«

»Ich meine für die anderen. Sie sehen die Leute hier und in der Stadt und wissen gleichzeitig, daß die meisten von ihnen den Absprung niemals schaffen werden.«

Luntoks Augen verengten sich, aber er wandte sie nicht von der Fotokarte ab. »Die ragyapas sind stolz auf ihre Arbeit. Es ist eine heilige Pflicht, die einzige religiöse Praktik, die ohne Einschränkung auch weiterhin ausgeübt werden darf.«

»Sie scheinen gut versorgt zu werden. Glückliche Kinder. Viel warme Kleidung.«

Als wäre Shans Bemerkung das Stichwort, auf das er gewartet hatte, nahm auch Luntok seine Mütze und stand auf. »Es bringt angeblich Unglück, einen ragyapa zu schlecht zu bezahlen«, sagte er mit einem argwöhnischen Blick, drehte sich um und ging.

Shan zweifelte nicht daran, daß die ragyapas in der Lage gewesen wären, den Mord an Jao durchzuführen. Waren die Armeevorräte eine Belohnung gewesen? Falls ja, hatte jemand anders sie für die Ermordung Jaos bezahlt. Jemand, der auf Militärbestände zugreifen konnte. Shan ging zurück in den ersten Raum und sah sich dort um. Die Frau schnarchte inzwischen. Sonst war niemand dort. Shan ging zu der roten Tür und öffnete sie.

Ingesamt vier Computerterminals beherrschten das Zimmer.

Auf einem großen Konferenztisch standen als Überreste eines Mittagessens ein paar Schalen, an deren Rändern noch Nudeln klebten. Zwei Chinesen in westlicher Kleidung saßen da, blätterten in Hochglanzkatalogen und tranken Tee. Einer von ihnen hatte sich eine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Aus einer teuren Stereoanlage erklang westliche Rockmusik. An einem Schreibtisch in der Ecke des Raums saß Tyler Kincaid und reinigte seine Kamera.

»Genosse Shan«, sagte eine vertraute Stimme aus dem hinteren Teil des Zimmers. Li Aidang erhob sich von einem Sofa. »Wenn ich doch nur Bescheid gewußt hätte, dann hätte ich Ihnen selbstverständlich angeboten, gemeinsam mit mir herzufahren.« Er wies auf den Tisch. »Wir treffen uns hier zweimal im Monat zum Mittagessen. Die Aufsichtskommission.«

Shan ging langsam im Zimmer umher. Auf einem der Lautsprecher lag eine leere Kassettenhülle. The Grateful Dead, stand darauf. Vielleicht hatte Chang diese Kassette gehört, als er und sein Wagen in den Abgrund stürzten, dachte Shan ohne Reue. Aus einem kleinen Kühlschrank holte Li eine Coca-Cola hervor und streckte sie Shan entgegen.

An einer der Wände waren Fotokarten angebracht. An einer anderen hatte man mit Stecknadeln Fotografien befestigt: weitere Studien tibetischer Gesichter, die mit der gleichen Feinfühligkeit aufgenommen worden waren, wie Shan sie in Kincaids Büro gesehen hatte. Li gab ihm die Limonade.

»Mir war gar nicht bewußt, daß das Büro des Anklägers sich für Mineralabbau interessiert«, sagte Shan und stellte die Dose auf den Tisch, ohne sie zu öffnen.

»Wir sind das Justizministerium. Die Mine ist die einzige ausländische Investition im ganzen Bezirk. Die Volksregierung muß sicherstellen, daß alles erfolgreich verläuft. Es gibt so vieles zu bedenken. Die Organisation der Arbeit, Exportgenehmigungen, Devisenbescheinigungen, Arbeitserlaubnisse, Umweltschutzbestimmungen. In all diesen Angelegenheiten muß das Ministerium konsultiert werden.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, daß Bor ein solch wichtiges Produkt darstellt.«

Der stellvertretende Ankläger lächelte großmütig. »Wir möchten, daß unsere amerikanischen Freunde auch weiterhin zufrieden sind. Ein Drittel der Lizenzgebühren verbleibt im Bezirk. Nach drei Jahren der Produktion werden wir in der Lage sein, eine neue Schule zu bauen. Nach fünf Jahren vielleicht eine neue Klinik.«

Shan ging zu einem der Computermonitore, die näher bei Kincaid standen. Endlose Zahlenkolonnen liefen über den Bildschirm.

»Unseren Freund, den Genossen Hu, kennen Sie ja bereits«, sagte Li und wies auf den ersten der beiden Männer am Tisch. Hu salutierte genauso spöttisch in seine Richtung, wie zuvor, als er Shan in Tans Büro zurückgelassen hatte. Mit der Kappe auf dem Kopf hatte Shan ihn nicht erkannt. Er nahm den Direktor der Minen genauer in Augenschein. War Hu überrascht, ihn zu sehen?

»Genosse Inspektor«, grüßte Hu ihn kurz angebunden, musterte Shan einen Moment lang mit seinen kleinen Käferaugen und widmete sich dann wieder dem Katalog. Darin waren Bilder von lächelnden blonden Paaren zu sehen, die im Schnee standen und leuchtendbunte Pullover trugen.

»Geben Sie immer noch Fahrstunden, Genosse Direktor?« fragte Shan und versuchte so zu tun, als würde der Computer ihn ablenken.

Hu lachte.

Li deutete auf den zweiten Mann, eine gepflegte, athletische Gestalt, die langsam aufstand, um Shan besser abschätzen zu können. »Der Major gehört zum Grenzkommando.« Li sah Shan bedeutungsvoll an. »Er verfügt über Mittel und Wege, um unser Projekt zu unterstützen.« Der Major, sonst nichts. Er wirkte so geschniegelt, als wäre er direkt den Seiten des Katalogs entstiegen, dachte Shan zuerst. Aber dann wandte er Shan das Gesicht zu. Über seine linke Wange verlief ein Streifen Narbengewebe; es konnte nur von einer Schußverletzung herrühren. Seine Lippen verzogen sich zu einem als Gruß gedachten Lächeln, aber seine Augen blieben leblos. Es war die altbekannte Überheblichkeit. Der Major, beschloß Shan, gehörte zum Büro für Öffentliche Sicherheit.

»Eine faszinierende Anlage«, sagte Shan geistesabwesend und schlenderte weiter im Raum umher. »Voller Überraschungen.« Er blieb vor den Fotos stehen.

»Ein Triumph des Sozialismus«, stellte der Major fest. Seine Stimme hatte einen jungenhaften Klang, der von seinem Gesichtsausdruck Lügen gestraft wurde.

Tyler Kincaid nickte Shan ruhig zu, sagte jedoch nichts. Sein halber Unterarm war in ein großes Stück Gaze gewickelt, das man mit Heftpflaster über einer relativ frischen Verletzung befestigt hatte. Durch die Gaze hindurch konnte man einen dunklen Fleck erkennen, der von getrocknetem Blut stammte.

»Genosse Shan ermittelt in einem Mordfall«, erklärte Li dem Major. »Früher hat er Antikorruptionskampagnen in Peking geleitet. Er hat zum Beispiel die berüchtigte Hainan-Affäre aufgedeckt.« Durch diesen Fall hatte Shan für einige Monate regelrechte Berühmtheit erlangt. Er fand heraus, daß Provinzbeamten der Insel Hainan Schiffsladungen voller japanischer Automobile kauften - und das für eine Insel, deren Straßennetz nur etwa hundertfünfzig Kilometer umfaßte -, um diese dann auf dem Schwarzmarkt ins Festland zu verschieben. Doch das lag fünfzehn Jahre zurück. Mit wem hatte der stellvertretende Ankläger gesprochen? Mit Direktor Zhong? Mit Peking?

Shan musterte den Major, der Lis Ausführungen keine Beachtung schenkte. Sein Blick hatte nicht bedrohlich gewirkt und seine Stimme nicht fragend, obwohl Shan hier unaufgefordert eingedrungen war. Er wußte bereits, um wen es sich bei Shan handelte.

»Und hier befindet sich auch Ihre Telefonanlage?« fragte Shan den Amerikaner.

Kincaid stand auf und rang sich ein Lächeln ab. »Da drüben«, sagte er und wies auf einen kleinen Tisch an der Wand, auf dem sich eine Konsole befand, über der wiederum ein Lautsprecher hing. »Möchten Sie sich aus New York eine Pizza bestellen?«

Li und der Major lachten angestrengt.

»Und die Karten?«

»Karten? Wir verfügen über eine komplette Handbibliothek mit Atlanten und technischen Zeitschriften.«

»Ich meine die Satellitenbilder.«

»Erstaunlich, nicht wahr?« schaltete Li sich ein. »Als wir sie zum erstenmal gesehen haben, kam es uns wie ein Wunder vor. Die Welt sieht so anders aus.« Er ging zu Shan und beugte sich vor. »Wir müssen über unsere Akten sprechen, Genosse«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Es sind nur noch wenige Tage bis zum Prozeß, und es besteht kein Anlaß zu übertriebener Zurückhaltung.«

Noch während Shan über das Angebot des stellvertretenden Anklägers nachdachte, ging die Tür auf, und Luntok erschien. Er nickte Kincaid zu und verschwand schnell wieder. Die Tür ließ er hinter sich offenstehen. Kincaid streckte sich und forderte Shan mit einer einladenden Geste auf, ihm zu folgen. »Der Nachmittagskletterkurs. Wollen Sie sich nicht auch mal mit uns abseilen?«

»Sie klettern trotz Ihrer Verletzung?«

»Das hier?« fragte der Amerikaner leutselig und hob den Arm. »Das ist nicht weiter schlimm. Ich bin bloß an einem gezackten Stück Quarz hängengeblieben. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Wissen Sie, man muß sich immer wieder aufrappeln.«

Li lachte erneut und ging zurück zum Sofa. Hu blätterte weiter in seinen Katalogen. Der Major zündete sich eine Zigarette an und schob Shan mit einem durchdringenden Blick zur Tür hinaus.

Draußen saß Rebecca Fowler auf der Motorhaube ihres Wagens und schaute ins Tal hinunter.

Shan dachte nicht, daß sie ihn bemerkt hatte, bis sie plötzlich das Wort ergriff. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie das für Sie sein muß«, sagte sie.

Ihr Mitleid war ihm unangenehm. »Falls man mich nicht nach Tibet geschickt hätte, hätte ich auch nie die Tibeter kennengelernt.«

Sie wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihm um und griff in die große Tasche ihrer Nylonweste. »Hier«, sagte sie und holte zwei Taschenbücher hervor. »Bloß zwei englische Romane. Ich dachte, Sie würden vielleicht...«

Shan nahm die Bücher und neigte zum Dank leicht den Kopf. »Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe schon lange keinen englischen Text mehr gelesen.« Die Bücher hätten in der Tat einen echten Schatz bedeutet. Allerdings würde man sie konfiszieren, sobald man ihn wieder zur 404ten schickte. Er brachte es nicht übers Herz, Miss Fowler davon zu erzählen.

Er lehnte sich gegen den Wagen und schaute zu den umliegenden Bergen empor. Die schneebedeckten Gipfel glühten in der Sonne des späten Nachmittags. »Die Soldaten sind weg«, stellte er fest.

Fowler folgte seinem Blick zu den Teichen. »Ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Die Männer wurden zu irgendeinem Notfall abberufen.« »Einem Notfall?«

»Der Major hatte etwas damit zu tun.«

Shan ging vorn um den Wagen herum und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Jemand saß auf einem der Wälle und starrte auf die Berge. Shan kniff die Augen zusammen und erkannte, daß es sich um Yeshe handelte. Sergeant Feng saß auf der Motorhaube ihres Wagens. Als Shan zu dem Bereich hinter den Gebäuden schaute, erstarrte er in der Bewegung. Hinter dem ersten Haus stand ein vertrautes Fahrzeug. Ein roter Land Rover. Noch ein roter Land Rover. »Wessen Wagen ist das?«

Fowler blickte auf. »Der rote? Muß wohl der von Direktor Hu sein.«

Er widerstand dem Impuls, zu dem Auto zu laufen und es zu durchsuchen. Die Mitglieder der Kommission konnten jeden Moment hier draußen auftauchen.

»Gehören diese Land Rover alle zum Ministerium für Geologie?«

»Kein Ahnung. Ich glaube, nicht. Ich habe gesehen, daß der Major einen davon fährt.«

Shan nickte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet. »Was wissen Sie über diesen Major?«

»Ein ziemlich einflußreicher Hurensohn, mehr nicht. Er macht mir angst.«

»Wieso gehört er der Kommission an?«

»Weil wir hier so nah an der Grenze sind. Es war eine Bedingung für unsere Satellitenlizenz.«

Der Mann kam Shan irgendwie bekannt vor. Dann fiel es ihm ein, und sein Magen zog sich zusammen. Jigmes Beschreibung des Mannes, der gekommen war, um Sungpo zu holen. Ein Mann mit einem Einschnitt im Gesicht, einer tiefen Narbe. Sein Name, hatte Jigme gesagt, sei Mah Joa gewesen.

»Was ist, wenn es nicht Hu war, der Ihre Betriebserlaubnis außer Kraft setzen wollte?«

»Er hat die Anweisung unterschrieben.«

»Als Direktor der Minen mußte er das auch, aber er hat vielleicht auf fremde Veranlassung gehandelt. Oder um jemandem einen politischen Gefallen zu tun.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Fowler mit plötzlichem Interesse.

»Ich weiß nicht, was ich damit meine.« Er schüttelte mutlos den Kopf. »Ich soll eigentlich Antworten finden, aber ich stoße bloß auf immer mehr Fragen.« Er schaute hinaus auf die Teiche.

Auf den Wällen waren in gemächlichem Tempo Arbeiter mit Schaufeln und Rohrleitungen unterwegs. Yeshe befand sich auf dem Rückweg, und auch Feng kam jetzt zu ihm herüber.

»Hat jemand... haben Sie eine Zeremonie abgehalten? Für Ihre Arbeiter.«

Sie sah ihn erschrocken an. »Das hätte ich fast vergessen... es war ja Ihre Idee, nicht wahr?« Die Nervosität war ihr deutlich anzumerken.

»Ich hätte nicht gedacht, daß es so schnell gehen würde.«

Die Amerikanerin sprang vom Wagen und bedeutete ihm, ihr entlang der Gebäude zu folgen.

»Wer war der Priester, der hergekommen ist?«

»Er hat seinen Namen nicht genannt«, erwiderte Fowler beinahe flüsternd. »Ich glaube, wir sollten absichtlich nicht erfahren, wie er heißt. Ein alter Priester. Sehr merkwürdig.«

»Wie alt?«

»Nicht alt an Jahren. Mittleres Alter. Aber alt an Erfahrung. Irgendwie zeitlos. Spindeldürr. Ein Asket, schätze ich.«

»Und weshalb kam er Ihnen merkwürdig vor?«

»Er wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Seine Augen. Ich weiß nicht. Manchmal schien es, als würde er niemanden sehen. Oder als würde er Dinge sehen, die wir anderen nicht sehen konnten. Und seine Hände.«

»Seine Hände?«

»Er hatte keine Daumen.«

An der Seite des letzten Gebäudes, zum Tal hin, befand sich ein zusammengesetzter Zauberspruch, dessen Größe etwa eine Armeslänge im Quadrat betrug. Er bestand aus komplexen Piktogrammen und Schriftzeichen. Zu beiden Seiten stand je ein Pfosten, an dem Gebetsfahnen hingen.

Yeshe erschien hinter Shan und murmelte etwas vor sich hin. Es klang wie ein Gebet. »Starke Magie«, keuchte er. Er hielt wie zum Schutz seinen Rosenkranz hoch und wich ein Stück zurück.

»Was ist das?« fragte Shan. Er erinnerte sich noch von seinem ersten Besuch her an dieses Gebäude. Ein paar Tibeter waren herausgekommen und hatten auf irgend etwas gewartet.

»Es ist sehr alt und sehr geheim«, flüsterte Yeshe.

»Nein«, wandte Fowler ein. »Es ist nicht alt. Sehen Sie sich doch mal das Papier an. Es ist auf der Rückseite bedruckt.«

»Ich meine, die Zeichen sind alt. Ich kann sie nicht alle lesen. Und selbst dann wäre es mir nicht erlaubt, sie zu rezitieren. Worte der Macht.« Yeshe schien wirklich erschrocken zu sein. »Gefährliche Worte. Ich weiß nicht, wer... die meisten der Lamas, die die Macht besessen haben, solche Worte zu schreiben, sind längst tot. In Lhadrung weiß ich von keinem einzigen.«

»Falls er eine weite Reise hinter sich hatte, muß er aber ziemlich schnell gewesen sein«, sagte sie und sah Shan an.

»Die Alten«, flüsterte Yeshe, auf den der Zauber offenbar nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. »Diejenigen, die über solche Kräfte verfügten. Sie würden sagen, sie hätten das Pfeilritual zum Flug benutzt. Sie konnten zwischen den Dimensionen wechseln.«

Nein, war Shan versucht zu sagen, der Zauber hatte keinen langen Weg hinter sich. Doch eine Reise durch die Dimensionen war vorstellbar.

Fowler grinste verunsichert. »Das sind doch nur Worte.«

Yeshe schüttelte den Kopf. »Es sind nicht nur Worte. Man kann solche Worte nicht schreiben, solange man nicht über die entsprechende Macht verfügt. Nein, Macht ist nicht das richtige Wort. Weitblick. Zugriff auf gewisse Kräfte. Nach der Lehre der alten Schulen würde ich oder jemand anders, der nicht dazu befugt ist, bei dem Versuch, so etwas zu schreiben..« Yeshe zögerte.

»Ja?« fragte Fowler.

»Ich würde in tausend Stücke gerissen.«

Shan trat vor und nahm das Papier genauer in Augenschein.

»Aber was bewirkt es?« fragte Fowler.

»Es geht um den Tod und um Tamdin.«

Sie erschauderte.

»Nein«, berichtigte Yeshe sich. »Das ist nicht ganz richtig. Es ist schwierig zu erklären. Es ist wie ein Wegweiser für Tamdin. Es rühmt seine Taten. Seine Taten sind der Tod. Allerdings ein guter Tod.«

»Ein guter Tod?«

»Ein schützender Tod. Ein transportierender Tod. Es bietet ihm die Hilfe aller Seelen hier an, um einen Pfad zur Erleuchtung zu finden.«

»Ich denke, es geht um den Tod?«

»Tod und Erleuchtung. Manchmal benutzen die alten Priester das gleiche Wort dafür. Es gibt viele verschiedene Arten des Todes. Und viele verschiedene Arten der Erleuchtung.« Yeshe drehte sich kurz zu Shan um, als sei ihm auf einmal klargeworden, was Shan zu ihm gesagt hatte.

»Alle Seelen hier?« fragte Fowler. »Wir?«

»Vor allem wir«, sagte Shan ruhig und ging näher an den Zauberspruch heran.

»Niemand hat mich gefragt, ob ich meine Seele zur Verfügung stellen möchte«, sagte Rebecca Fowler und wollte damit einen Scherz machen. Aber sie lächelte nicht.

Shan fuhr mit den Fingern über das Flickwerk. Es bestand aus dreißig oder vierzig kleinen Papierstücken, die von menschlichem Haar zusammengehalten wurden. Er brauchte nicht auf die Rückseite zu schauen, um festzustellen, daß manche der Blätter aus den Kontrollbüchern der Wachen der 404ten stammten. Er hatte selbst gesehen, wie dieser Zauberspruch angefertigt wurde.

»Und das ist alles, was dieser Priester gemacht hat?« fragte Shan.

»Nein, da war noch etwas. Er hat diesen Schrein auf dem Berg errichten lassen.« Sie wies auf den Schrein, der Shan zuvor bereits aufgefallen war. »Ich soll dort heute nacht hingehen.«

»Warum Sie? Wieso heute nacht?«

Fowler antwortete nicht, sondern führte sie in das Haus, das sich als ein Wohngebäude der Arbeiter erwies. Der erste Raum schien als Erholungszone gedacht zu sein, aber er war leer. In den Regalen stapelten sich Puzzlespiele, Bücher und Schachbretter. Die Stühle und Tische waren beiseite geschoben worden und standen vor den Regalen. In einer leeren Konservendose verbrannte Weihrauch. Ein kleiner Tisch stand genau in der Mitte des Raums. Auf ihm lag ein Bündel, umgeben von flackernden Butterlampen.

»Luntok hat es bei einem der Teiche gefunden«, sagte Fowler. »Ein Geier hatte es dort fallengelassen. Zuerst dachten wir, es würde von einem Menschen stammen.«

»Luntok?«

»Er kommt aus einem dieser alten Dörfer, wo man... Sie wissen schon, Himmelsbegräbnisse. Er fürchtet sich nicht vor solchen Dingen.«

»Kennt er Direktor Hu?« fragte Shan. »Oder den Major? Spricht er mit den beiden?«

»Keine Ahnung«, erwiderte die Amerikanerin verwirrt. »Ich glaube, nicht. Er ist wie die meisten anderen Arbeiter, denke ich. Regierungsbeamte jagen ihnen Angst ein.«

Shan wollte nachhaken und sie fragen, wie es kam, daß Luntok für sie arbeitete, aber sie schien plötzlich nicht mehr imstande zu sein, ihn zu hören. Sorgenvoll starrte sie das Bündel an. »Die Arbeiter sagen, wir müssen es heute nacht zurückgeben.« Ihre Stimme zitterte. »Sie sagen, es sei die Aufgabe des Dorfvorstehers. Und daß ich hier diesen Posten innehabe.«

Shan trat vor und schlug das Bündel auf. Es war eine abgetrennte Hand, eine riesige verkrümmte Hand mit langen, grotesk proportionierten Fingern, die in Krallen endeten, welche von einer dünnen Silberschicht überzogen waren.

Es war die Hand eines Dämons.