172572.fb2 Der fremde Tibeter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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Kapitel 12

Kham war eine unermeßlich weite und wilde Landschaft, die nicht nur auf dem Dach der Welt lag, sondern scheinbar auch an deren äußerstem Ende. Es war ein Land, das sich mit aller Macht dagegen zu sträuben schien, gezähmt oder bezwungen zu werden, ein Land, wie Shan es noch nie erlebt hatte. Ein stetiger Wind fuhr über das einsame Hochplateau und verwandelte den Himmel in ein ständig wechselndes Mosaik aus schweren Wolken und leuchtenden blauen Flecken. Als Sergeant Feng wieder einmal anhielt, um seine Karte zu konsultieren, hörte Shan flüchtige, unidentifizierbare Geräusche, als würde der Wind Stimmen und Rufe mit sich tragen, seltsame, abgehackte Laute wie ferne Schmerzensschreie. Es gab Orte, so glaubten manche der alten Mönche, die als Filter für das Leid der Welt fungierten und die Qualen einfingen und festhielten, die kreuz und quer über die Erde trieben. Vielleicht war das hier solch ein Ort, dachte Shan, an dem die Schreie und das Weinen der Millionen sich von unten ansammelten und vom Wind in kleine Geräuschfetzen zerschlagen wurden, wie Kiesel in einem Fluß.

Er wartete, bis sie beinahe sechs Stunden Fahrt hinter sich hatten, bevor er aus einer klapprigen blechüberdachten Werkstatt in der Nähe der Bezirksgrenze bei Tan anrief.

»Wo bist du?« fragte Tan.

»Was wissen Sie über Leutnant Chang von der 404ten?«

»Verdammt, Shan, wohin bist du abgehauen? Es heißt, du seist vor Anbruch der Dämmerung losgefahren. Feng hat nicht angerufen.«

»Ich habe ihn darum gebeten.«

»Du hast ihn gebeten?«

Shan konnte förmlich vor sich sehen, wie Tans Mund sich wütend verzerrte.

»Ich will mit ihm sprechen«, forderte Tan eisig.

»Chang war ein Offizier der Wache. Ich würde gern wissen, was er davor gemacht hat.«

»Laß gefälligst meine Offiziere aus dem..«

»Er hat versucht, uns zu ermorden.«

Er hörte Tan tief durchatmen. »Erzähl es mir«, lautete die barsche Antwort.

Shan erklärte ihm, wie sie Changs Abkürzung eingeschlagen und wie er sie dort aus dem Hinterhalt überfallen hatte.

»Du irrst dich. Er ist ein Offizier der Armee. Sein Verantwortungsbereich liegt bei der 404ten und hat nichts mit Ankläger Jao zu tun. Es würde keinen Sinn ergeben.«

»Gut. Versuchen Sie, ihn bei der 404ten ausfindig zu machen. Vielleicht möchten Sie dann seiner Abkürzung bei der Nordklaue folgen. Es ist ein alter Pfad in nördlicher Richtung, etwa drei Kilometer oberhalb der Abzweigung aus dem Tal. Vom Rand der Klippe aus kann man das Wrack sehen. Wir haben bislang niemandem davon erzählt. Inzwischen werden dort Geier aufgetaucht sein, was Ihnen das Auffinden der Stelle erleichtern dürfte.«

»Und du hast so lange gewartet, um mir davon zu berichten?«

»Anfangs war ich mir nicht sicher. Wie Sie schon sagten, er gehörte zur Armee.«

»Nicht sicher?«

»Ob Sie selbst das Ganze arrangiert hatten.« Tan schwieg. »Es wäre vielleicht ganz verlockend gewesen«, erläuterte Shan, »falls Sie beschlossen hätten, doch keine eigene Akte anzulegen.«

»Was hat deine Meinung geändert?« fragte Tan sachlich, als erschiene ihm Shans Argumentation plausibel.

»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, daß Sie Sergeant Feng umbringen würden.«

Vom anderen Ende hörte Shan ein gedämpftes Gespräch. Tan erteilte Madame Ko einige knappe Anweisungen. Als er sich wieder an Shan wandte, hatte er eine Information anzubieten. »Chang hatte gestern dienstfrei. Er war auf eigene Faust unterwegs.«

»Er ist von ganz allein auf die Idee gekommen, uns umzubringen? Als kleiner Zeitvertreib an seinem freien Tag?«

Tan seufzte. »Wo bist du?«

»Alle anderen Spuren sind kalt. Ich werde Jaos Fahrer finden. Ich glaube, er ist am Leben.«

»Wenn du den Bezirk verläßt, giltst du als entflohener Strafgefangener.«

Shan erzählte ihm von den Unterlagen, die sie in der Garage gefunden hatten, und weshalb das bedeutete, daß er Balti aus findig machen mußte. »Falls ich vorher um Erlaubnis gebeten hätte, wären entsprechende Vorbereitungen getroffen worden. Etwas davon wäre vielleicht den Hirten im Osten zu Ohren gekommen, und jede noch so kleine Chance, Balti zu finden, wäre dahin gewesen.«

»Du hast auch dem Justizministerium nichts erzählt?«

»Kein Wort. Ich handle auf eigene Verantwortung.«

»Also weiß Li nichts davon.«

»Es kam mir der Gedanke, daß es für uns womöglich recht vorteilhaft wäre, mit Jaos Fahrer zu sprechen, ohne dazu die Unterstützung des stellvertretenden Anklägers in Anspruch zu nehmen.«

Während der nachfolgenden Stille, die von Tans Unschlüssigkeit zeugte, beschloß Shan, dem Oberst von der Hand zu erzählen. Es war ein öffentliches Telefon und wurde daher höchstwahrscheinlich nicht abgehört. Die Hand des Dämons, die Rebecca Fowlers Arbeiter so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatte, war hervorragend gearbeitet. Ein flüchtiger Betrachter hätte mühelos zu der Überzeugung gelangen können, daß es sich dabei um nichts weniger als um die verwelkten Überreste einer Kreatur aus Fleisch und Blut handelte. Doch Shan hatte der Amerikanerin gezeigt, daß die Sehnen der Hand in Wirklichkeit aus Leder bestanden, das kunstvoll über Kupferbändern vernäht worden war. Die rosafarbene Handfläche war aus verblichener roter Seide gefertigt. Als Shan die Hand anhob, baumelten die Finger schlaff in alle Richtungen.

»Du sagst, du hast ein Teil von dem Tamdin-Kostüm gefunden«, stellte Tan angespannt fest.

»Von dem Kostüm, das laut Direktor Wen nirgendwo fehlt.« Shan hatte seinem Block bereits eine entsprechende Notiz hinzugefügt. Überprüfe die Bestandsverzeichnisse des Büros für Religiöse Angelegenheiten.

»Vielleicht hat eines in irgendeinem Versteck gelegen.«

»Das glaube ich nicht. Diese Kostüme waren dermaßen selten und wertvoll, daß sie bestimmt alle erfaßt worden sind.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, daß jemand lügt.«

Es herrschte kurz Schweigen. »Einverstanden. Bring den Fahrer lebend zurück. Falls du in achtundvierzig Stunden noch nicht wieder hier bist, hetze ich dir die Öffentliche Sicherheit auf den Hals«, knurrte der Oberst und legte auf.

Patrouillen. Falls es nicht gut lief, konnte Tan noch immer aufgeben. Li würde Sungpo anklagen, der Fall würde abgeschlossen werden, und die 404te würde ihre Strafe erhalten. Tan konnte die eigene Untersuchung einfach dadurch beenden, indem er Shan zum Flüchtling erklärte. Alles, was eine Streife der Öffentlichen Sicherheit zurückbringen mußte, war die Tätowierung auf Shans Arm.

Falls Shan überdies volle zwei Tage benötigte, würden ihm nur vier weitere Tage bis zu Sungpos Verhandlung bleiben. Zwei Tage. Balti vom Dronma-Klan hatte eine ganze Woche Zeit gehabt, um sich in Kham zu verstecken. Doch zum Glück bestand Shans Aufgabe nicht aus dem unmöglichen Unterfangen, einen einzelnen Mann inmitten der knapp vierhunderttausend Quadratkilometer des schwierigsten Terrains nördlich der Antarktis aufzuspüren. Er mußte lediglich Baltis Klan finden, und das war immerhin nur äußerst unwahrscheinlich, aber nicht völlig undenkbar. Für einen khampa würde der sicherste Ort stets im Schoß seiner Familie liegen.

Als sie weiterfuhren, wandte Shan sich an Yeshe. »Ich bin Ihnen dankbar. Wegen der ragyapas.«

»Es war nicht allzu schwierig, nachdem ich erstmal all diese Armeesocken entdeckt hatte.«

»Nein, ich meine etwas anderes. Danke, daß Sie dem Direktor nichts erzählt haben. Sie hätten damit Pluspunkte sammeln können, und es hätte sich gut in Ihrer Akte gemacht. Vielleicht hätte es Ihnen sogar zu Ihren Reisepapieren verholfen.«

Yeshe schaute hinaus auf das scheinbar endlose Plateau, das an ihnen vorüberzog. »Man hätte das Dorf gestürmt. All diese Kinder.« Er zuckte die Achseln. »Und vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht haben sie die Vorräte völlig legal erhalten. Vielleicht«, sagte er und drehte sich zu Shan, »haben sie die Sachen als Bezahlung für die Zaubersprüche bekommen.«

Shan nickte langsam. »Jemand vom Militär, der Angst davor hat, Tamdin zu beleidigen?« fragte er sich laut und reichte Yeshe dann den Umschlag mit den Fotos aus der Schädelhöhle, den Rebecca Fowler ihm gegeben hatte. »Sehen Sie sich die mal an.«

Yeshe öffnete den Umschlag. »Wonach soll ich suchen?«

»Zunächst mal nach einem Muster. Ich kann den alten tibetischen Text nicht lesen. Sind das bloß die Namen?«

Yeshe runzelte die Stirn. »Das ist einfach. Die Schädel sind nach dem Datum sortiert, und zwar nach dem traditionellen tibetischen Kalender«, sagte er und bezog sich damit auf das System aus Sechzigjahreszyklen, das vor tausend Jahren begonnen hatte. »Das Schild vor jedem der Schädel gibt über das Jahr und den Namen Auskunft. Der erste...«, Yeshe hielt das Foto dichter an die Scheibe, um das Sonnenlicht auszunutzen, »... der erste stammt aus dem Jahr des Erdpferdes im Zehnten Zyklus.«

»Wie lange ist das her?«

»Der Zehnte Zyklus hat Mitte des sechzehnten Jahrhunderts begonnen. Das Jahr des Erdpferdes ist das zweiundfünfzigste Jahr eines Zyklus.« Yeshe hielt inne und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Shan mußte an die bereits ausgeräumten, leeren Regale denken. Der Schrein ging sehr viel weiter als bis zum sechzehnten Jahrhundert zurück.

Yeshe nahm die nächsten paar Fotos. »Die Folge setzt sich fort. Zehnter Zyklus, Jahr des Eisenaffen, Jahr der Holzmaus, weitere zehn oder zwanzig Schädel und dann der Elfte Zyklus.«

»Dann können Sie vielleicht herausfinden, was mit dem Schädel geschehen ist, der für Jaos Kopf weichen mußte.«

»Weshalb sollte man ihn nicht einfach weggeworfen haben?«

»Vermutlich war es so. Ich möchte mich lediglich vergewissern.«

Feng verringerte die Geschwindigkeit, um zwei Jungen und deren Schafherde passieren zu lassen. Die Hirten hielten ihre Schützlinge nicht mit Hilfe von Hunden, sondern mittels Steinschleudern zusammen. Während Shan ihnen zusah, erschien vor seinem inneren Auge immer wieder die Hand. Die Beschädigungen waren gravierender, als daß sie allein durch die Abtrennung oder auch durch den Sturz entstanden sein konnten, nachdem der Geier die Hand fallengelassen hatte. Die zierlichen Scharniere, aus denen die Knöchel bestanden, waren zerschmettert worden. Auch die Fingerspitzen hatte man zertrümmert und dadurch die feinen Filigranarbeiten vernichtet. Jemand hatte die Hand mit voller Absicht zerstört, zum Beispiel im Verlauf eines Kampfes mit Tamdin. Oder bei einem Wutanfall, um vielleicht den weiteren Gebrauch des Kostüms zu verhindern. Hatte Balti gegen dieses Ding gekämpft und die Hand beschädigt? Hatte Jao die Schäden verursacht, als er an dem Berghang um sein Leben rang?

Feng sprach die vereinzelten Hirten an, die hin und wieder am Straßenrand entlanggingen, und fragte sie nach dem Klan, der in Baltis offizieller Akte aufgeführt war, dem Dronma-Klan. Jeder der Männer reagierte voller Argwohn und behielt die Waffe am Gürtel des Sergeanten im Auge. Die meisten zogen sofort ihre Ausweise hervor, sobald der Wagen das Tempo verlangsamte, und fuchtelten mit den Händen vor dem Gesicht herum, um anzuzeigen, daß sie kein Mandarin sprachen.

»Er ist da!« rief Yeshe aufgeregt, als sie nach der fünften dieser Begegnungen wieder aufbrachen.

Shan fuhr herum. »Der Schädel?«

Yeshe nickte heftig und hielt eines der Fotos hoch. »Die Schädel rund um das einzelne leere Regalbrett stammen aus dem späten Vierzehnten Zyklus. Auf einer Seite das Jahr des Eisenaffen und dann auf der anderen Seite das Jahr des Holzochsen, das neunundfünfzigste Jahr, was inzwischen etwa hundertvierzig Jahre her ist. Der letzte Schädel auf dem Regal und in dieser Reihenfolge ist achtzig Jahre alt und stammt aus dem Jahr des Erdschafes im Fünfzehnten Zyklus. Abgesehen vom allerletzten Schädel, ganz unten. Der stammt aus dem Vierzehnten Zyklus, dem Jahr des Wasserschweins.«

Yeshe schaute mit zufrieden funkelndem Blick auf. »Das Wasserschwein ist das siebenundfünfzigste Jahr und liegt zwischen Eisenaffe und Holzochse!« Er zeigte Shan die Fotos und wies auf die tibetischen Schriftzeichen, mit denen die Jahresangabe bezeichnet wurde. Der fehlende Schädel war samt der dazugehörigen Tafel und den Lampen ehrfurchtsvoll auf dem letzten Regalbrett aufgestellt worden.

Die Aufregung legte sich schnell. Shan und Yeshe tauschten einen besorgten Blick aus. Diese Umbettung des Schädels war nicht die Tat eines Plünderers oder tollwütigen Mörders. Es entsprach eher dem, was ein Mönch, ein wahrhaft Gläubiger, tun würde.

Feng bremste den Wagen ab. Vor ihnen ging ein alter Mann auf der Straße. Er reagierte auf Shans Frage, indem er eine zerrissene Karte der Region aus der Tasche zog. Die Karte war gesetzwidrig, denn auf ihr waren die alten Grenzen Tibets vermerkt. Eilig beugte Shan sich vor, um Feng die Sicht auf die Karte zu versperren.

»Bo Zhai«, sagte der alte Mann und wies auf ein Gebiet, das etwa achtzig Kilometer östlich von ihnen lag. »Bo Zhai.« Shan bedankte sich bei ihm mit einer Schachtel Rosinen aus den Vorräten, die Feng hastig zusammengepackt hatte. Der Mann wirkte überrascht. Schweigend starrte er die Schachtel an und beschrieb dann mit seiner Hand eine stolze, herausfordernde Geste über der östlichen Hälfte der Karte, die ein riesiges Gebiet umfaßte. »Kham«, verkündete er und bog dann von der Straße auf einen Ziegenpfad ab.

Der größte Teil des Territoriums, auf das er gedeutet hatte, war von Peking aufgeteilt und den Nachbarprovinzen zugeschlagen worden. Daher kam es, daß die Provinzen Gansu, Qinghai, Sichuan und Yunnan über einen beträchtlichen tibetischen Bevölkerungsanteil verfügten. Sichuan zum Beispiel umfaßte die tibetischen Präfekturen von Aba und Garze sowie den Bezirk Muli. Dahinter stand die Absicht, die nomadische Lebensart der Hirten von Kham zu untergraben, denn eine Aufenthaltsgenehmigung galt stets nur in einem einzigen Distrikt, und Reisepapiere wurden solchen Leuten nur höchst selten bewilligt. Es war außerdem eine Bestrafung für die entschieden antisozialistische Gesinnung der Region. Die Kham-Guerillas hatten länger und härter gegen die Volksbefreiungsarmee gekämpft als irgendeine andere Minderheit in China. Sogar in der 404ten hatte Shan Geschichten über Widerstandskämpfer gehört, die noch immer die östlichen Berge durchstreiften, Straßen sabotierten und kleine Patrouillen angriffen, um dann wieder im unzugänglichen Gebirge zu verschwinden.

Als sie das Büro des Landwirtschaftskollektivs von Bo Zhai erreichten, war es bereits mitten am Nachmittag. Die Ansammlung ärmlicher Gebäude war aus Schlackeblöcken und Wellblech errichtet worden und lag inmitten von Gerstenfeldern. Die Leiterin, die eindeutig nicht an unangemeldete Besucher gewöhnt war, musterte die drei Männer unsicher. »Während der Erntezeit bieten wir für das Landwirtschaftsministerium Besichtigungsfahrten an«, schlug sie vor.

»Wir ermitteln in einem Kriminalfall«, erklärte Shan geduldig und streckte ihr einen Zettel entgegen, auf den der Name von Baltis Klan geschrieben war.

»Wir sind nur unwissende Hirten«, sagte sie ein wenig zu unterwürfig. »Einmal hat ein Unruhestifter aus Lhasa sich in den Hügeln versteckt. Da haben wir die örtliche Miliz verständigt.« Hinter ihr hing ein verblichenes Poster an der Wand, auf dem junge Proletarier stolz die Fäuste emporreckten. Vernichtet die Vier Alten, stand am unteren Rand geschrieben. Das war eine Kampagne während der Kulturrevolution gewesen, und als die Vier Alten hatte man alte Denkmuster, alte Kultur, alte Gewohnheiten und alte Bräuche bezeichnet. Die Roten Garden hatten die Häuser der Minderheiten gestürmt, die traditionellen Kleidungsstücke zerstört, die als Familienerbe oft schon seit Generationen weitergegeben worden waren, die Einrichtungsgegenstände verbrannt und sogar den Frauen die Zöpfe abgeschnitten.

»Wir haben keine Zeit«, sagte Yeshe.

Die Frau sah ihn starr an.

»Sie haben natürlich recht«, stimmte Shan ihr zu. »In unserem Fall müßte man eigentlich zuerst das Büro für Öffentliche Sicherheit verständigen und den Leuten dort mitteilen, daß wir hier warten. Das Oberkommando des Büros würde sich daraufhin mit dem Landwirtschaftsministerium in Verbindung setzen und dafür sorgen, daß eine Kompanie Soldaten des Büros zu unserer Unterstützung abgestellt werden kann. Dürfte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen?«

Der herausfordernde Gesichtsausdruck der Frau verschwand sofort. »Es ist bestimmt nicht nötig, die Mittel des Volkes über Gebühr zu beanspruchen«, sagte sie seufzend. Sie nahm den Zettel, den Shan ihr entgegenstreckte, und holte ein abgewetztes Hauptbuch hervor. »Gehört nicht zu unserer Produktionseinheit«, teilte sie ihnen ein paar Minuten später mit. »Kein Dronma-Klan.«

»Wie viele dieser Einheiten gibt es denn?«

»In unserer Präfektur sind es siebzehn. Außerdem könnten Sie die Provinzen Sichuan, Gansu und Qinghai überprüfen. Und dann sind da noch die zweifelhaften Elemente aus dem Hochgebirge. Die haben sich nie registrieren lassen.«

»Nein«, sagte Yeshe. »Falls seine Familie nicht registriert gewesen wäre, hätte er niemals die Freigabe für seine Anstellung erhalten.«

»Und seine Arbeitspapiere stammen daher höchstwahrscheinlich auch nicht aus einer anderen Provinz«, fügte Shan hinzu.

»Stimmt.« Yeshes Gesicht hellte sich auf. »Verfügt denn nicht irgend jemand über eine Hauptliste, nur für diese Präfektur?«

»Dezentralisierung für maximale Produktion.« Die Frau sprach nun mit einer vertrauten, antiseptischen Stimme, der Stimme für die Fremden, deren Tonfall darauf abgestimmt war, nur noch das zu rezitieren, was auf den Bannern zu lesen stand oder aus den Lautsprechern drang.

»Ich habe außerdem gehört, daß wir uns keine Sorgen mehr wegen schwarzer oder weißer Katzen machen, sondern uns lieber darauf konzentrieren sollten, Mäuse zu fangen«, sagte Shan.

»Wir wären gar nicht dazu befugt, eine solche Liste zu führen«, erwiderte die Frau nervös. »Das Büro des Ministeriums liegt in Markam. Wenn es eine Hauptliste gibt, dann dort.«

»Wie lange fährt man bis dorthin?«

»Sechzehn Stunden. Vorausgesetzt, es gibt weder einen Erdrutsch noch ein Hochwasser oder irgendwelche Manöver des Militärs.« Die Frau runzelte die Stirn und ging zu einem staubbedeckten Regal an der Rückwand des Büros. »Ich habe hier lediglich die Namen derjenigen Angehörigen aller Produktionseinheiten, die aufgrund guter Leistungen ausgezeichnet worden sind. Zumindest während der letzten fünf Jahre.« Sie überreichte Yeshe einen Stapel verstaubter spiralgebundener Bücher.

»Das ist doch wie die Suche nach einem einzelnen Reiskorn in...«, setzte Yeshe an.

»Nein, vielleicht nicht«, unterbrach sie ihn und schien sich zum erstenmal für die Aufgabe zu erwärmen. »Die meisten der alten Klans wurden in ungefähr sechs Kollektiven zusammengefaßt. Man hielt sie für das größte politische Risiko und wollte sie besser im Auge behalten können. Suchen Sie einfach nach dem Namen des Klans.«

»Und falls wir das betreffende Kollektiv feststellen können?«

»Dann geht die Suche erst richtig los. Es ist Frühling, und die Herden sind in Bewegung.«

Nach einer halben Stunde hatten sie drei Kollektive mit Angehörigen des Dronma-Klans herausgefunden. Eines lag mehr als dreihundert Kilometer von ihnen entfernt. Beim zweiten, fast hundertsechzig Kilometer weit weg, ging jemand nach dem zwanzigsten Klingeln ans Telefon. Der Mann kannte den Namen. »Alter Klan, nicht viele übrig. Bleibt dicht bei den Herden. Sind Tierfänger.« Der Mann sprach mit einem städtischen Shanghaier Akzent, der irgendwie fehl am Platz wirkte. »Nur ein halbes Dutzend Erwachsener, drei davon über sechzig Jahre alt. Einer der anderen hat bei einem Reitunfall ein Bein verloren.«

Beim dritten Kollektiv, keine fünfundzwanzig Kilometer entfernt, teilte man ihnen am Telefon mit, es gäbe dort mehr Angehörige des Dronma-Klans als Schafe auf den Hügeln.

Shan nahm seine Landkarte und markierte die Lage der drei Kollektive. Die Zeit reichte nur für einen Versuch.

Er ging nach draußen, als könnte der Wind ihm eine Antwort zuwehen. Eine alte Frau ritt auf einem Pony vorbei und hielt ein Schwein im Arm, als wäre es ein kleines Kind. Plötzlich hielt Shan inne und rannte dann wieder hinein. »Wir fahren hierhin«, verkündete er und wies auf das zweite Kollektiv.

»Aber Sie haben es doch gehört«, protestierte Yeshe. »Das ist nur ein halbes Dutzend Leute.«

»Die Schuhe«, sagte Shan. »Ich konnte bislang nicht begreifen, wieso Balti zwei linke Schuhe unter seinem Bett hatte.«

Als sie sich drei Stunden später den baufälligen Gebäuden des Kollektivs näherten, stieg Sergeant Feng plötzlich mit aller Kraft auf die Bremse und wies nach vorn. In der Nähe der Häuser stand ein Helikopter mit dem Abzeichen des Grenzkommandos und wurde von einem Soldaten mit einem automatischen Gewehr bewacht.

»Glückwunsch«, murmelte Feng. »Du hast richtig vermutet.«

Yeshe wollte etwas sagen, doch statt dessen atmete er plötzlich tief ein. Shan folgte seinem Blick. Dort vor ihnen stand Li Aidang mitten auf dem Platz, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und gab sich ganz wie ein militärischer Befehlshaber. Hinter ihm, auf dem Pilotensitz des Hubschraubers, entdeckte Shan ein bekanntes Gesicht, das eine Sonnenbrille trug. Der Major. Auf einmal wurde Shan klar, daß Li trotz all seiner Großspurigkeit vielleicht auch nur eine Schachfigur war wie so viele andere.

Der stellvertretende Ankläger begrüßte Shan mit einem herablassenden Lächeln. »Falls er noch lebt, habe ich ihn bis morgen mittag in einer Verhörzelle«, versprach er selbstgefällig. Ohne auf die entsprechende Frage zu warten, fuhr er fort. »Es war wirklich ganz einfach. Mir ist eingefallen, daß man den Chauffeur eines wichtigen Beamten auf jeden Fall einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen hatte. Die Computer der Öffentlichen Sicherheit haben uns dann alles über sein Vorleben verraten.«

Shan hatte einst an einer Sitzung teilgenommen, in der über die Milliardensummen beraten wurde, die Peking für Zentralrechner ausgab. Die Programme der Öffentlichen Sicherheit hatten dabei Priorität genossen. Das 300-Millionen- Projekt hatten sie es genannt. Shan hatte zunächst geglaubt, damit sei der Etat des Projekts gemeint gewesen, doch in Wahrheit bezog sich diese Bezeichnung auf die Anzahl der Bürger, die gleichzeitig vom Büro überwacht wurden. Damals hatte er sich eingeredet, dies zeuge von einer willkommenen Effizienz. Bis er seinen eigenen Namen auf der Liste entdeckte.

»Demnach ist er hier?«

»Dies ist das Kollektiv seiner Familie, wenngleich ihn seit ein oder zwei Jahren niemand mehr gesehen hat.«

»Und seine Familienangehörigen?« »Die sind draußen auf dem Hochplateau«, sagte Li und deutete nach Norden. »Jagen Yaks und Schafe.«

»Dann kann man ihn doch hierherbringen«, schlug Shan vor. »Schicken Sie jemanden aus dem Kollektiv, der ihn kennt.«

»Unmöglich«, gab Li barsch zurück. »Wir müssen ihn in Gewahrsam nehmen. Er wird verhaftet und nach Lhadrung gebracht.«

»Es gibt keine Beweise gegen ihn, nur vage Vermutungen.«

»Keine Beweise? Sie haben seine Unterkunft doch gesehen. Es gibt eindeutige Verbindungen zu gesellschaftsfeindlichen Elementen.«

»Ein kleiner Buddha und eine Gebetskette aus Plastik?«

»Er ist geflohen. Sie haben vergessen, daß er geflohen ist.«

»Warum sind Sie so sicher, daß er hier ist? Ich dachte, Sie wären der Überzeugung, er sei mit der Limousine nach Sichuan verschwunden. In Kham nützt ihm ein solcher Wagen herzlich wenig.«

»Seltsame Frage.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Shan.

»Sie sind doch auch hier und suchen nach ihm.«

Shan starrte den Helikopter an. »Falls Sie versuchen, ihn festzunehmen, wird Balti sich in den Bergen verkriechen.«

»Sie vergessen, daß ich Balti kenne. Er wird auf ein vertrautes Gesicht sicherlich ganz anders reagieren.«

Shan sah den stellvertretenden Ankläger nachdenklich an. Er wußte, daß Balti eine Verhaftung durch Li und den Major vielleicht nicht überleben würde. Die khampas ergaben sich nur selten ohne Widerstand. Und falls Balti starb, würde Shan sich das niemals verzeihen können, denn irgendwie wußte er, daß Li es nur deshalb auf den Fahrer abgesehen hatte, weil Shan sich für den Mann interessierte. Doch wer hatte dem Ankläger davon erzählt?

Fröstelnd drehte er sich um und sah, daß Yeshe neben dem Hubschrauber stand und mit dem Major sprach. Der Major gestikulierte heftig, beinahe drohend, und hielt Yeshe ein Stück Papier unter die Nase, während dieser so aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Dann richtete der Major einen ausgestreckten Finger auf Yeshes Brust. Yeshe zuckte zurück, als habe irgend etwas ihn getroffen. Der Major zerriß das Blatt, stieß eine letzte Verwünschung aus und stieg zurück in die Maschine. Li, der den Vorgang mittlerweile ebenfalls verfolgte, seufzte enttäuscht.

»Bis Sie wieder zurückgekehrt sind, wird Baltis Befragung abgeschlossen sein«, sagte Li frostig. »Wir werden ein ausführliches Protokoll anfertigen und Ihnen zur Kenntnisnahme überlassen.« Er lief zu dem Helikopter und stieg ein.

Schweigend schauten sie zu, wie der Hubschrauber über den Bergen verschwand. »Und Sie sind dafür verantwortlich«, sagte Yeshe anklagend.

»Ich war nicht derjenige, der diese Leute verständigt hat«, erwiderte Shan verbittert.

»Ich auch nicht«, sagte Yeshe ganz ruhig und blickte noch immer zum Horizont. »Die alte Frau bei Baltis Wohnung erwartet von mir, daß ich ihm helfe.«

Shan war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Er wollte gerade nachfragen, als Yeshe sich mit schmerzerfüllter Miene zu ihm umwandte. »Er hat mir eine Stellung angeboten«, sagte Yeshe mit hohler Stimme. »Gerade eben. Der Major hatte die Arbeitspapiere bereits auf meinen Namen ausgestellt, für einen echten Posten im Sekretariat des Büros für Öffentliche Sicherheit in Lhasa, vielleicht sogar in Sichuan. Es war alles schon unterschrieben.«

»Sie haben abgelehnt?«

Yeshe blickte zu Boden. Die Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen. »Ich habe gesagt, ich sei zur Zeit ziemlich beschäftigt.«

»Das kann doch nicht wahr sein!« keuchte Feng.

»Er hat gesagt, entweder jetzt oder nie. Er wollte, daß ich ihm Ihre Unterlagen über den Fall beschaffe. Ich habe gesagt, das sei leider nicht möglich.« Er sah Shan an, als warte er auf eine Äußerung, aber Shan wußte nicht, wie er reagieren sollte. Mit Zustimmung? Mitleid? Angst?

»Während der letzten paar Tage habe ich manchmal gedacht, daß es vielleicht doch stimmt, was Sie gesagt haben«, fuhr Yeshe fort. »Daß unschuldige Menschen sterben werden, falls wir nichts unternehmen.«

In Sergeant Fengs Blick lag etwas völlig Ungewohntes, als er Yeshe plötzlich ansah. Einen Moment lang glaubte Shan, es sei ein gewisser Stolz. »Ich kenne diesen Jungen Balti«, sagte Feng plötzlich. »Er hat niemandem je etwas zuleide getan.«

Shan bemerkte, daß beide Männer ihn erwartungsvoll anblickten. »Dann müssen wir ihn eben früher finden als die anderen«, sagte er und öffnete die Klappe zum Laderaum des Wagens, um einen Haufen alter Kleidungsstücke zu durchwühlen. Er fand ein zerlumptes Hemd und hielt es Feng abschätzend vor die Schultern.

Die langgestreckten, zunehmend höheren Gebirgskämme bildeten eine achtzig Kilometer lange Treppe, die auf das Hochplateau hinaufführte. Bis sie den Aufstieg endlich bewältigt und eines der Nomadenlager ausfindig gemacht hatten, war es Abend. Sie hatten die drei Zelte schon aus einigen Kilometern Entfernung gesehen, als sie auf das Plateau fuhren, aber die flachen, grauen Formen waren ihnen wie Felsblöcke vorgekommen, bis sie die lange Reihe Ziegen entdeckten, die dicht daneben an ein Halteseil gebunden war. Die Hörner der Tiere waren ebenfalls am Seil fixiert, damit sie beim Melken stillhalten würden. Die gedrungenen Zelte aus Yakfell waren mit Pflöcken und Lederriemen am Boden verankert, was nur noch mehr zu dem Eindruck beitrug, es handle sich um zerfurchte Felsen, an denen seit Jahrhunderten der Wind nagte.

Sie ließen den Wagen in fünfzig Metern Entfernung vom Lager stehen und gingen zu Fuß weiter auf die Zelte zu. Sergeant Fengs Uniform und Waffengürtel wurden von dem langen Hemd verdeckt.

Es war keine Menschenseele zu sehen. Hinter den Zelten flatterten Gebetsfahnen. Butterfässer standen herum. Dicht neben den Unterkünften hatte man getrockneten Dung aufgeschichtet. Auf der anderen Seite des Lagers stand eine kleine Herde Yaks und weidete das Frühlingsgras ab. Daneben graste eine Ziege, die nicht angebunden war und ein schmales Band am Ohr trug. Sie war freigekauft worden. Am Eingang des größten Zeltes hing über einem Rahmen aus Weidenruten, in den man mit Garn geometrische Muster geflochten hatte, der Schädel eines Schafes. Shan hatte gesehen, daß die khampas der 404ten die gleichen Muster aus den Fäden ihrer Decken flochten. Es war eine Geisterfalle.

Bei den angeleinten Ziegen bellte ein Hund, ein angepflockter Welpe, der auf einmal vorsprang und ein Butterfaß umwarf. Aus einem Schaffellbündel neben dem ersten Zelt ertönte das Geschrei eines Babys, und im selben Moment stürzten die Bewohner des Zeltes nach draußen. Zuerst erschienen zwei Männer, von denen einer eine Schaffellweste trug und der andere eine schwere chuba, den dicken Übermantel aus Schaffell, den viele tibetische Nomaden bevorzugten. Hinter ihnen konnte Shan mehrere Frauen entdecken, die zusammengestückelte Überkleider trugen, deren einst leuchtende Farben inzwischen durch Ruß und zähen Schmutz gedämpft wurden. Ein Kind, ein Junge von höchstens drei Jahren, kam ebenfalls heraus. Sein Kinn und sein Mund waren mit Joghurt verschmiert.

Der Mann mit der Weste, dessen ledriges Gesicht voller kleiner Falten war, nickte den Neuankömmlingen mürrisch zu, verschwand dann wieder im Zelt und kehrte mit einem fleckigen Umschlag voller Papiere zurück. Er streckte ihn Shan entgegen.

»Wir sind nicht hier, um die Geburten zu überprüfen«, sagte Shan peinlich berührt.

»Sie möchten Wolle kaufen? Es ist zu spät. Wolle gab es letzten Monat.« Der Mann hatte nur noch die Hälfte seiner Zähne. Mit einer Hand umklammerte er ein silbernes gau, das um seinen Hals hing.

»Wir sind auch nicht wegen der Wolle hier.«

Aus seiner Jackentasche holte Shan eine Süßigkeit hervor, die in Zellophan gewickelt war, und bot sie dem Kind an. Der Junge kam vorsichtig näher, schnappte sich die Süßigkeit und rannte an seinen Platz zwischen den beiden Männern zurück. Der Mann mit der chuba nahm dem Jungen das Geschenk ab, roch daran, hielt es sich an die Zunge und gab es dem Kind dann wieder. Der Kleine quietschte verzückt auf und lief ins Zelt. Der Mann nickte, als wolle er sich bedanken, aber das Mißtrauen auf seinem Gesicht ließ nicht nach. Er trat beiseite und bedeutete ihnen, ins Zelt mitzukommen.

Im Innern war es überraschend warm. Auf einer Seite war mit einem Vorhang aus Yakfell, dem gleichen Material, aus dem auch das eigentliche Zelt bestand, ein kleiner Ankleideraum abgeteilt worden. Ein alter Teppich, der früher einmal rot und gelb gewesen war, inzwischen aber nur noch schmutzigbraune Schattierungen aufwies, diente den Bewohnern als Boden, Schlafstätte und Sitzgelegenheit. In der Mitte stand ein eisernes Dreibein, an dem ein großer Kessel über der glimmenden Asche eines Holzfeuers hing. Auf einem kleinen hölzernen Tisch, der mit einigen Haken und Scharnieren versehen war, so daß man ihn bei einer Verlegung des Lagers auseinandernehmen konnte, standen zwei Räuchervasen und eine kleine Glocke. Der Altar der Leute.

Auf der anderen Seite des Altars kauerten wachsam wie Rehe zehn khampas, als würde der kleine Tisch ihnen Schutz bieten.

Die sechs Frauen und vier Männer, die anscheinend vier verschiedenen Generationen angehörten, trugen dicke, schmutzige Wollhemden, Schürzen mit verblichenem rotbraunen Streifenmuster sowie schwere chubas, die offenbar schon viele Stürme überstanden hatten. Ein Kind von etwa sechs Jahren, um dessen Körper ein Stück Yakfilz geschlungen war, das von einer Schnur zusammengehalten wurde, löste sich aus der Gruppe; eine der Frauen packte es sofort und zog es an sich, wobei sie Shan einen verzweifelten Blick zuwarf. Der einzige Schmuck, den die Frauen trugen, waren Halsketten aus kleinen Silbermünzen, zwischen die man vereinzelt rote und blaue Perlen eingefügt hatte. Alle Gesichter, die männlichen ebenso wie die weiblichen, waren rund, mit hohen Wangenknochen und intelligenten, verängstigten Augen. Die Haut der Leute war vom Rauch geschwärzt, und ihre Hände waren voller Schwielen. An einer Zeltstange im Hintergrund lehnte eine gebrechliche grauhaarige Frau.

Es herrschte Totenstille, und alle Anwesenden starrten den Besuchern quer durch die verräucherte Kammer entgegen. Der Mann mit der Weste, der mittlerweile das Baby in dessen Schaffellkokon auf den Arm genommen hatte, trat ein und stieß nur eine einzige Silbe aus. Die khampas wichen langsam auseinander. Während die Männer sich rund um das Dreibein niederließen, gingen die Frauen zu drei großen Holzklötzen hinüber, auf denen Kochutensilien lagen. Der Mann, offenbar ein Klanführer, bedeutete seinen Gästen mit einer Geste, auf dem Teppich Platz zu nehmen.

Die Frauen brachen Stücke aus einem großen Block schwarzen Tees und ließen sie in den Kessel fallen. Die Männer waren sich nicht sicher, was sie sagen sollten, und mußten andererseits den traditionellen Pflichten der Gastfreundschaft nachkommen, also sprachen sie von ihren Herden. Ein Mutterschaf hatte Drillinge zur Welt gebracht. Der Mohn auf den Südhängen sei diesmal besonders üppig gewachsen, sagte einer, was bedeutete, daß die Kälber in diesem Jahr besonders stark sein würden. Ein anderer fragte, ob die Besucher vielleicht Salz mitgebracht hätten.

»Ich bin auf der Suche nach dem Dronma-Klan«, sagte Shan und nahm eine Schale gebutterten Tee entgegen. Auf dem Tisch bemerkte er eine gerahmte Fotografie, die mit dem Bild nach unten lag, als habe man sie hastig umgekippt. Als er sich vorbeugte, fiel ihm auf, daß der Vorhang am Ende des Zeltes sich bewegte.

»Es gibt viele Klans in den Bergen«, sagte der alte Mann. Er rief nach mehr Tee, als wolle er Shan ablenken.

Shan nahm das Foto. Eine der Frauen sagte mit drängendem Unterton etwas im Dialekt der khampa, und die jüngeren Männer schienen erschrocken innezuhalten. Das Bild ragte ein Stück aus dem Rahmen heraus. Es war der Vorsitzende Mao. Darunter befand sich ein weiteres Foto, denn unter Mao waren die Perlen einer Gebetskette und ein rotes Gewand sichtbar. Es war in Tibet allgemein üblich, an auffälliger Stelle ein Bild des Dalai Lama anzubringen, damit das Heim gesegnet wurde, und es dann schnell hinter Mao zu verbergen, wenn offizieller Besuch eintraf. Noch vor einigen Jahren hätte allein der Besitz eines Fotos des Dalai Lama mit Sicherheit zu einer Haftstrafe geführt. Während die Frau auch Feng geräuschvoll mit Tee versorgte, schob Shan das Mao-Bild ganz nach unten, um das geheime Foto vollständig zu verbergen. Dann stellte er den Rahmen auf den Tisch, so daß das Bild von ihnen weg wies.

Er ließ sich auf dem Teppich nieder und nahm dabei mit übergeschlagenen Beinen den Lotussitz ein, der von den Einheimischen bevorzugt wurde. Während der Kampagne zur Vernichtung der Vier Alten hatte man den Tibetern verboten, so zu sitzen. »Dieser besagte Klan hat einen Sohn namens Balti«, fuhr Shan fort. »Er hat in Lhadrung gearbeitet.«

»Hierzulande bleiben die Familien unter sich«, sagte der Hirte. »Wir wissen nicht viel über die anderen Klans.« Die khampas starrten gereizt zu Boden und schauten ins Feuer. Shan wußte, weshalb sie nervös waren. Kein Chinese ließ sich hier blicken, der nicht entweder Wolle kaufen oder die Anzahl der Geburten kontrollieren wollte. Shan trank seine Schale leer, stand auf und ließ den Blick über die khampas schweifen. Niemand sah ihn an. Er ging zu dem Vorhang und zog ihn beiseite.

Dahinter saßen zwei junge Frauen. Sie waren schwanger.

»Das sind keine Kontrolleure«, sagte eines der Mädchen und schob sich kühn an ihm vorbei. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt. »Nicht in Begleitung eines Priesters«, fügte sie hinzu und schenkte Yeshe ein trotziges Lächeln. Dann nahm sie sich eine Schale Tee. »Ich kenne den Dronma-Klan.«

Eine der älteren Frauen herrschte sie an, sie solle den Mund halten.

Das Mädchen ignorierte sie. »Spielt sowieso keine Rolle. Niemand könnte sagen, wo sie genau sind. Außerdem sind sie zu wenige, um ein großes Lager aufzuschlagen. Man könnte lediglich versuchen, die Hirtenzelte in den Hochtälern abzuklappern.«

»Wo?«

»Sprich ein Gebet für mein Baby«, sagte sie zu Yeshe und klopfte sich auf den Bauch. »Mein letztes Baby ist gestorben. Sprich ein Gebet.«

Yeshe warf Shan einen unangenehm berührten Blick zu. »Ich bin dazu nicht berechtigt.«

»Du hast die Augen eines Priesters. Ich möchte wetten, du stammst aus einem gompa.«

»Das ist schon lange her.«

»Dann kannst du auch ein Gebet sprechen. Mein Name ist Pemu.« Sie schaute sich trotzig im Zelt um. »Ich soll Pemee sagen, weil das chinesischer klingt. Wegen der Kampagne gegen die Vier Alten. Aber ich bin Pemu.« Als wolle sie die Behauptung unterstreichen, zog sie eine Haarnadel aus ihrem Schöpf und entrollte einen langen Zopf, in den Perlen aus Türkis eingeflochten waren. »Ich brauche ein Gebet. Bitte.«

Yeshe sah Shan flehentlich an und ging dann nach draußen, als wolle er fliehen. Das Mädchen folgte ihm. Eine der Frauen schlug die Zeltklappe auf, um zu beobachten, was geschah. Das Mädchen rief Yeshe hinterher, ohne etwas damit zu erreichen. Dann lief sie ihm nach und fiel vor ihm auf die Knie. Als er versuchte, einen Schritt um sie herum zu machen, nahm sie seine Hand und legte sie sich auf den Kopf. Das schien ihn zu paralysieren. Schließlich holte er zögernd die Gebetskette aus der Tasche und fing an, zu dem Mädchen zu sprechen.

Die angespannte Stimmung in dem Zelt verflog. Der Klan begann mit der Zubereitung des Abendessens. Eine der Frauen mischte tsampa und Tee, um daraus pak herzustellen, eine Hauptspeise der khampa. Ein Kessel mit Hammeleintopf wurde aufs Feuer gestellt. Eine andere Frau zog geschwärzte Brotlaibe aus der Asche. »Das Brot der drei Schläge«, erklärte sie und reichte Shan ein Stück davon. »Eins, zwei, drei«, zählte sie und klopfte mit dem Brotlaib gegen einen Stein. Beim dritten Schlag fiel die äußere Schicht aus Asche und Kohle ab und enthüllte eine goldfarbene Kruste. Shan wurde die erste Scheibe angeboten. Er brach sie in der Mitte durch, neigte den Kopf und legte eines der Stücke mit einer feierlichen Geste auf den behelfsmäßigen Altar.

Der Hirte mit der Weste musterte Shan verblüfft. »Die Dronma«, sagte er dann, »folgen den Schafen. Die Yaks kommen im Frühling aus dem Hochland herunter, wo sie überwintert haben. Die Schafe gehen nach oben. Haltet nach kleinen Zelten Ausschau. Achtet auf Gebetsfahnen.« Er zeichnete eine Skizze in Shans Block und markierte sieben mögliche Aufenthaltsorte.

Während der Hirte damit beschäftigt war, fiel Shan ein neues Geräusch aus einem der Nachbarzelte auf. Es war eines der Rituale, die er bei der 404ten gelernt hatte. Obwohl die Straßen bereits schlammig waren, betete jemand inständig um Regen.

Feng brachte Decken aus dem Wagen, und die drei Männer übernachteten bei den Kindern. Als im Morgengrauen die Ziegen meckernd danach verlangten, gemolken zu werden, brachen die drei Gefährten wieder auf. Shan legte eine der Decken zusammen und ließ sie als Geschenk am Eingang des Lagers zurück.

Im Wagen lag Pemu schlafend auf der Rückbank.

»Ich werde euch begleiten«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Meine Mutter hat zum Dronma-Klan gehört. Ich werde meine Cousins besuchen.« Sie rückte zur Seite, um Platz für Shan zu machen, und bot ihm ein Stück Brot an.

Die Entfernungen waren nicht allzu groß. Pemu war nicht auf diesen Wagen angewiesen, um ihre Cousins zu besuchen.

Vielleicht war es eine Probe, überlegte Shan, eine Herausforderung. Eine Streife der Öffentlichen Sicherheit hätte unter keinen Umständen einen Passagier mitgenommen.

Bis zum Vormittag hatten sie drei der Täler überprüft und die Hänge mit Ferngläsern abgesucht, aber ohne Erfolg. Der Himmel verdunkelte sich. Die Hirten hatten um Regen gebetet. Auf einmal wurde ihm der Grund dafür klar.

»Deine Leute haben gestern einen Helikopter gesehen, nicht wahr?« fragte er das Mädchen, das angestrengt aus dem Fenster starrte.

»Der Helikopter ist immer schlecht«, antwortete sie, als gäbe es nur eine einzige dieser Maschinen. »Als ich klein war, ist er einmal zu uns gekommen.«

Shan sah sie fragend an.

Pemu biß sich auf die Lippe. »Es war ein sehr schlimmer Tag. Zuerst haben wir gedacht, die Chinesen hätten ein neues Gerät erfunden, um Donner zu machen. Doch es war kein Donner. Neben dem Lager sind sie gelandet. Ich war erst vier Jahre alt.« Sie schaute wieder nach draußen. »Es war ein sehr schlimmer Tag«, wiederholte sie und starrte blicklos in die Ferne.

Als sie einen Felsvorsprung entlang des Wegs erreichten, rutschte Pemu auf ihrem Sitz nach vorn. Nachdem der Pfad in eine kleine, zerklüftete Felsschlucht abgebogen war, bat sie darum, aussteigen zu dürfen. »Um die Steine wegzuräumen«, sagte sie. »Ich werde vorausgehen.«

Doch Shan sah keine Steine. Fengs Hand legte sich instinktiv auf die Pistole, und plötzlich begriff Shan, daß Pemu mitgekommen war, um als Schild zu dienen und sie zu beschützen. Kurz darauf schien auch Feng es zu verstehen. Er nahm die Hand von dem Holster und konzentrierte sich darauf, mit dem Wagen so dicht wie möglich hinter dem Mädchen zu bleiben. Langsam krochen sie voran. Nervöses Schweigen machte sich breit.

Shan glaubte, ein Stück voraus ein metallenes Schimmern bemerkt zu haben. Das Mädchen fing an, laut zu singen. Das Schimmern verschwand. Vielleicht war es eine Waffe gewesen. Vielleicht aber auch ein Stück Kristall, das einen Sonnenstrahl reflektierte.

Als sie die Schlucht verließen, kehrte Pemu zum Wagen zurück. Sie wirkte sehr erschöpft und rieb sich den Bauch. Dann fing sie wieder an zu singen, diesmal für ihr Baby.

»Mein Onkel ist in Indien«, sagte sie plötzlich. »In Dharamsala beim Dalai Lama. Er schreibt mir Briefe. Er sagt, der Dalai Lama fordere uns auf, dem Pfad der Friedfertigkeit zu folgen.«

Sie hätten das kleine schwarze Zelt im fünften Tal beinahe übersehen. Es lag im Schatten eines Vorsprungs versteckt, und Pemu benötigte fast eine Stunde, um Shan und Yeshe die steilen Serpentinen hinaufzugeleiten, die zu dem Lager führten. Neben dem Zelt hatte man an einem Pfosten drei Schafe angeleint. Ihre Ohren waren mit roten Bändern versehen. Ein riesiger langhaariger Hund, ein Hirten-Mastiff, saß quer vor dem Eingang des Zelts. Aufmerksam verfolgte er jede Bewegung der Fremdlinge mit den Augen und fletschte die Zähne, als sie das schwelende Lagerfeuer erreichten.

»Aro! Aro!« rief Pemu und trat vorsichtig einen Schritt näher an die Feuerstelle heran.

»Wer ist da?« fragte eine rauhe Stimme aus dem Innern des Zeltes. Direkt über dem Hund erschien ein kleines dunkelhäutiges Gesicht. »Schon gut, Pok«, sagte der Mann zu dem Tier. »Die sehen nicht besonders furchterregend aus.« Er lachte und verschwand für einen Moment.

Dann kam er auf einer Krücke nach draußen. Sein linkes Bein war unterhalb des Knies amputiert. »Pemu?« sagte er und nahm das Mädchen genau in Augenschein. »Bist du das, Cousine?« Er schien ganz gerührt zu sein.

Das Mädchen nahm einen Laib Brot aus dem Beutel, den sie um ihre Taille trug, und reichte ihn dem Mann. »Das ist Harkog«, sagte sie und stellte ihn Shan vor. »Harkog und Pok sind für dieses Gebiet hier verantwortlich. Wir sind uns nicht sicher, wer von beiden der Anführer ist.«

Harkogs Mund öffnete sich zu einem schiefen Grinsen und enthüllte lediglich drei Zähne. »Zucker?« fragte er Shan plötzlich. »Hast du Zucker?«

Shan kramte in der Tasche herum, die Yeshe aus dem Wagen mitgebracht hatte, und fand einen überreifen Apfel, der schon ganz braun war. Der Mann nahm das Obst stirnrunzelnd entgegen. Dann hellte sein Gesicht sich auf. »Touristen? Auf dem Berg ist ein Platz mit großer Macht. Ich kann euch hinbringen, auf einem geheimen Pfad. Geht dorthin, sprecht Gebete. Wenn ihr nach Hause kommt, werdet ihr Babies machen. Funktioniert immer. Fragt Pemu«, fügte er mit heiserem Lachen hinzu.

»Wir sind auf der Suche nach Ihrem Bruder. Wir wollen ihm helfen.«

Der unbeschwerte Gesichtsausdruck des Mannes verschwand. »Ich habe keinen Bruder. Mein Bruder ist von dieser Welt gegangen. Es ist zu spät, um Balti zu helfen.«

Shans Mut sank. »Balti ist gestorben?«

»Kein Balti mehr«, sagte Harkog und klopfte sich mit der Faust vor die Stirn, als verspürte er großen Kummer.

Pemu schlug die Zeltklappe auf. Im Innern saß eine entfernt menschliche Gestalt, die leere Hülle eines Mannes mit ausgemergeltem Gesicht und den schwarzgeränderten Augenhöhlen eines Totenschädels. »Nur sein Körper ist hier«, sagte Harkog. »Es ist nicht viel von ihm übrig, seit ein paar Tagen schon. Er bleibt wach. Tag und Nacht, mit nichts als den Mantras.« Er musterte den Rosenkranz, der an Yeshes Gürtel hing. »Heiliger Mann?« fragte er mit neuem Interesse.

Yeshe erwiderte nichts, trat aber näher an das Zelt heran. »Balti Dronma. Wir müssen mit Ihnen sprechen.«

Der Bruder erhob keine Einwände, als Shan und Yeshe das Zelt betraten und sich hinsetzten.

Pemu folgte ihnen. »Er ist ja mehr tot als lebendig«, flüsterte sie entsetzt.

»Wir haben Fragen«, sagte Shan ruhig. »Über jene Nacht.«

»Nein«, protestierte Harkog. »Er war bei mir. In all diesen Nächten.«

»Welche Nächte?« fragte Shan.

»In allen Nächten, die gemeint sein könnten.«

»Nein«, erwiderte Shan geduldig. »Die letzte Nacht in Lhadrung hat er mit Ankläger Jao verbracht. Als Jao ermordet wurde.«

»Ich weiß nichts von einem Mord«, murmelte Harkog.

»Der Ankläger. Jao. Er wurde ermordet.«

Harkog schien ihn nicht zu hören. Er starrte seinen Bruder an. »Er ist gerannt. Er ist gerannt und gerannt. Wie ein Schakal ist er gerannt. Tagelang ist er gerannt. Dann eines Morgens sehe ich ein Tier unter einem Felsen. Riecht wie eine sterbende Ziege, hat der Hund gesagt. Ich habe meinen Arm ausgestreckt und Balti hervorgezogen.«

»Wir sind aus Lhadrung hergekommen, weil wir wissen müssen, was er in jener Nacht gesehen hat.«

»Sprich ein Mantra«, sagte Harkog plötzlich zu Yeshe. »Schütze ihn vor den Dämonen, während er schläft. Ruf seine Seele zurück, damit er sich ausruhen kann. Danach wird er vielleicht sprechen.«

Yeshe entgegnete nichts, schob sich aber unbeholfen auf den Platz neben Balti.

Zufrieden verließ Harkog das Zelt.

»So wie du mein Baby gesegnet hast«, sagte Pemu zu Yeshe.

Und wieder warf er Shan einen flehentlichen Blick zu. »Es tut mir leid«, sagte er zweimal, erst zu Shan, dann zu der Frau. »Ich bin nicht in der Lage, das zu tun.«

»Ich weiß noch, was die Frau bei der Garage gesagt hat«, erinnerte Shan ihn. »Die Kräfte sind nicht geschwunden, sie haben nur ihren Mittelpunkt verloren.«

Pemu drückte sich den Rücken seiner Hand an die Stirn.

Yeshe stöhnte leise auf. »Warum?«

»Weil er stirbt.«

»Und ich soll ein Wunder vollbringen?«

»Die Medizin, die dieser Mann braucht, kann ihm kein Arzt geben«, sagte Shan.

Pemu hielt weiterhin Yeshes Hand. Er blickte sie mit einem neuen Ausdruck der Klarheit an. Vielleicht, dachte Shan, war das Wunder bereits unterwegs.

Shan setzte sich mit dem Hirten draußen hin und sah Pemu dabei zu, wie sie das Feuer anfachte und Tee zubereitete. Ein Donnerschlag ließ die Luft um sie herum erzittern, und ein Regenvorhang kam das Tal hinauf auf sie zu. Während Harkog eine schützende Plane über der Feuerstelle errichtete, erklang aus dem Innern des Zeltes der Beginn einer Litanei.

Shan lauschte dem eintönigen Brummen von Yeshes Stimme eine Stunde lang und ging dann los, um Feng und ihre Vorräte aus dem Wagen zu holen. Als sie vom Fahrzeug aufbrachen, hielt der Sergeant auf einmal inne und rannte zurück. »Ich muß den Wagen verstecken«, sagte er über die Schulter gewandt. Er sagte nicht, vor wem.

Als sie oben eintrafen, hatte der Regen aufgehört. Yeshe befand sich noch genau da, wo Shan ihn zurückgelassen hatte. Er saß vor Baltis Lager und wiederholte immer wieder das Schutzmantra, und er würde nicht damit aufhören, bis die Tat vollbracht war. Niemand, nicht einmal Yeshe wußte, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein würde.

Als die Sonne unterging, sammelten sie Feuerholz und kochten einen Eintopf. Als der Himmel wieder aufklarte, aßen sie schweigend, und während der ganzen Zeit drang aus dem Zelt Yeshes eintönige Stimme an ihre Ohren. Shan saß bei Pemu und beobachtete, wie der Vollmond über den östlichen Himmel wanderte. In einiger Entfernung schrie ein einsamer Ziegenmelker. Nebelschwaden krochen die Hänge hinab. Feng legte sich mit einer Decke nieder und schnarchte binnen weniger Minuten. Yeshes Stimme brummte weiter vor sich hin. Pemu fand ein Schaffell, wickelte sich darin ein und starrte ins Feuer. Am Rand des flackernden Lichtkreises saßen Harkog und Pok der Hund und schauten in die Dunkelheit. Yeshes Litanei dauerte nun schon fast sechs Stunden.

Shan fühlte sich von allem losgelöst. Von dem Bösen, das in Lhadrung lauerte. Von dem Gulag, in das er zurückkehren würde. Sogar der allgegenwärtige Arm von Minister Qin und Peking schienen in diesem Moment Teil einer anderen Welt zu sein.

Aus seiner Tasche holte Shan das Reispapier und den Tintenstift, die er auf dem Markt gekauft hatte. Es war schon so lange her. So viele Festtage waren ungenutzt verstrichen. Er rieb den Stift und rührte mit ein paar Tropfen Wasser in einem gekrümmten Stück Rinde die Tinte an. Dann übte er und zog mit dem Pinsel kleine Striche in die Luft, überlegte sich vorher genau, was er schreiben wollte, bis er schließlich das Blatt vor sich hinlegte und mit der Arbeit begann. Er bediente sich der eleganten alten Ideogramme, die er als Junge gelernt hatte.

Lieber Vater, begann er, bitte verzeih mir, daß ich schon seit so vielen Jahren nicht mehr geschrieben habe. Seit meinem letzten Brief bin ich zu einer langen Reise aufgebrochen. Meine Seele schrie nach Nahrung. Dann traf ich einen weisen Mann, der diesen Hunger stillte. Die Pinselstriche mußten kühn und flüssig erfolgen, oder sein gelehrter Vater wäre enttäuscht. Wenn ein Wort richtig geschrieben ist, pflegte sein Vater zu sagen, dann sollte es wie Wind über einem Bambusfeld aussehen. Anfangs war ich traurig und ängstlich. Doch inzwischen ist die Trauer verflogen. Und Angst habe ich nur noch vor mir selbst. Früher, ganz allein in seiner Wohnung in Peking, hatte er oft Briefe geschrieben. Er las die Ideogramme ein weiteres Mal durch, war aber noch nicht zufrieden. Ich sitze auf einem namenlosen Berg, werde vom Nebel eingehüllt und denke an Dich, fügte er hinzu und unterschrieb so, wie sein Vater ihn genannt hätte. Xiao Shan.

Aus dem zweiten Blatt faltete er einen Umschlag für seinen Brief, zog ein glimmendes Stück Holz aus dem Feuer und trat hinaus in die Dunkelheit. Im Mondschein ging er bis zu einem kleinen Vorsprung, der sich über dem Tal erhob, schichtete zwischen zwei Steinen etwas getrocknetes Gras auf und legte den Brief darauf. Er schaute zu den Sternen empor, verneigte sich vor dem Brief und entzündete das Gras mit der Glut aus dem Lagerfeuer. Als die Asche zum Himmel aufstieg, blickte er ihr ehrfurchtsvoll nach und hoffte, er würde sehen, wie sie vor dem Mond vorbeizog.

Er verweilte eine Zeitlang an diesem Ort, rundherum von Sternen eingehüllt. Ingwergeruch stieg ihm in die Nase, und er lauschte in der Erinnerung seinem Vater. Inzwischen wußte er, daß die freudigen Erlebnisse in seinem Gedächtnis bewahrt geblieben waren.

Auf halbem Weg zurück zum Lager erschrak er sich auf einmal fürchterlich, als eine schwarze Gestalt vor ihm auf dem Pfad erschien. Es war Pok. Der riesige Hund saß da und versperrte ihm den Weg.

»Man sagt, es wäre ein Reitunfall gewesen, aber das stimmt nicht«, erklang eine Stimme aus den Schatten neben dem Pfad. Harkog. Er klang auf merkwürdige Weise entschlossen. »Es war eine Landmine. Ich bin vor der Armee weggelaufen. Plötzlich wurde ich durch die Gegend gewirbelt. Die Explosion habe ich gar nicht gehört. Noch während ich in der Luft war, flog mein Bein an mir vorbei. Doch die Soldaten haben aufgegeben. Diese Schweine haben tatsächlich aufgegeben.« Er humpelte aus dem Schatten und schaute zu den Sternen empor, genau wie Shan es getan hatte.

»Haben die Soldaten sich nicht auf das Minenfeld getraut?«

»Drei von ihnen sind vorsichtig herangeschlichen, um mir den Rest zu geben. Ich habe ihnen erst einen Fluch und dann mein Bein entgegengeschleudert. Sie sind gerannt wie verängstigte Welpen.«

»Das mit Ihrem Bein tut mir leid.«

»Mein Fehler. Ich hätte nicht weglaufen sollen.« Langsam und schweigend gingen sie zurück. Pok trottete voran.

»Wir könnten Sie alle beide mitnehmen, falls Sie möchten«, bot Shan an.

»Nein«, erwiderte der Mann bedächtig und wohlüberlegt. »Nehmen Sie einfach nur seine chinesische Kleidung mit und auch alles andere aus Lhadrung. Er muß wieder eine Schaffellweste tragen. Das alles ist ihm nur deshalb passiert, weil er versucht hat, jemand zu sein, der er nicht ist. Einmal bin ich per Anhalter auf einem Lastwagen mitgefahren. Nach Lhadrung. Gute Schuhe. Aber dieser Jao war ein schlimmes Vorbild.«

»Sie haben Jao gekannt?«

»Ich bin einmal mit Balti in dem schwarzen Wagen mitgefahren. Dieser Jao roch nach Tod.«

»Soll das heißen, Sie wußten, daß Jao sterben würde?«

»Nein. Ich meine, um ihn herum sind Leute gestorben. Er hatte Macht, wie ein Zauberer. Er kannte machtvolle Worte, die zu Papier gebracht werden konnten, um Leute zu töten.«

Sie waren inzwischen nahe genug, um den Schein des Lagerfeuers sehen zu können, als Pok knurrte. An einem der Felsen lehnte ein Schatten und wartete. Harkog erteilte dem Hund einen knappen Befehl, und die beiden waren bereits wieder zum Lager unterwegs, bis auch Shan endlich Sergeant Feng erkannte.

»Ich weiß, was du gemacht hast«, sagte Feng. »Du hast eine Botschaft geschickt.«

Shan biß die Zähne zusammen. »Bloß ein kleiner Spaziergang.«

»Mein Vater hat versucht, es mir beizubringen, als ich noch klein war«, sagte Feng mit sehnsüchtiger Stimme. Shan erkannte, daß er Fengs Absicht mißverstanden hatte. »Ich sollte mit meinem Großvater sprechen. Doch ich habe es vergessen. Hier oben, so weit weg von allem, da denkt man über alles mögliche nach. Vielleicht...« Er rang mit sich. »Vielleicht könntest du mir noch mal zeigen, wie das geht.«

Trinle hatte einmal zu Shan gesagt, die Menschen würden über Tagseelen und Nachtseelen verfügen, und die wichtigste Aufgabe im Leben bestünde darin, die eigene Nachtseele mit der Tagseele bekannt zu machen. Shan erinnerte sich daran, wie Feng auf dem Weg zu Sungpos gompa von seinem Vater erzählt hatte. Der Sergeant war dabei, seine Nachtseele zu entdecken.

Sie gingen zurück zu dem Vorsprung, auf dem Shan seinen Brief abgeschickt hatte. Feng entzündete ein kleines Feuer und holte einen Bleistiftstummel sowie einige der leeren Kontrollblätter der 404ten hervor. »Ich weiß nicht, was ich schreiben soll.« Er klang sehr klein und schwach. »Wir durften uns nicht mehr an unsere Familienangehörigen erinnern, wenn sie als schlechte Elemente galten. Aber manchmal möchte ich mich erinnern. Das ist jetzt mehr als dreißig Jahre her.«

»An wen möchten Sie schreiben?«

»An meinen Großvater, wie mein Vater es sich gewünscht hat.«

»Was wissen Sie noch von ihm?«

»Nicht viel. Er war sehr stark und hat viel gelacht. Er hat mich immer auf dem Rücken getragen, oben auf einer Ladung Holz.«

»Dann schreiben Sie einfach nur darüber.«

Feng dachte lange nach und schrieb dann langsam etwas auf eines der Blätter. »Ich kann mich nicht so gut ausdrücken«, entschuldigte er sich und reichte das Blatt an Shan weiter.

Großvater, du bist stark, stand dort. Trag mich auf deinem Rücken.

»Ich glaube, Ihre Worte sind sehr gut«, sagte Shan und half ihm, aus den anderen Blättern einen Umschlag herzustellen. »Um die Botschaft abzuschicken, sollten Sie allein sein«, sagte er. »Ich werde in einiger Entfernung am Weg auf Sie warten.«

»Ich weiß nicht, wie man das abschickt. Ich dachte, man müßte vielleicht etwas Bestimmtes dabei sagen oder so.«

»Denken Sie an ihn, und tragen Sie ihn im Herzen, wie Sie das bereits tun, und dann wird der Brief ihn auch erreichen.«

Als sie zum Lager zurückkehrten, saßen Harkog, Yeshe und Balti am Feuer. Pemu fütterte Balti mit einem Löffel und redete dabei leise und tröstend auf ihn ein, wie man normalerweise mit einem Kind reden würde. Die Erschöpfung schien von Balti auf Yeshe übergewechselt zu sein, der mit ausgelaugter Miene verwirrt in die Flammen starrte.

»Wir sind in Ihrem Haus gewesen«, sagte Shan. »Die alte Frau, die mit der Ratte verheiratet ist, hat uns das Versteck gezeigt. Es war für einen Aktenkoffer gemacht.«

Balti ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte.

»Was hat sich darin befunden, das so gefährlich sein konnte?«

»Große Dinge. Wie eine Bombe, hat Jao gesagt.« Baltis Stimme war dünn und hoch.

»Haben Sie diese Sachen jemals zu Gesicht bekommen?«

»Natürlich. Es waren Akten, Umschläge, keine wirklichen Dinge. Papiere.«

Shan schloß frustriert die Augen, als ihm klar wurde, warum Jao seinem Fahrer hinsichtlich der Papiere so sehr vertraut hatte. »Sie können nicht lesen, nicht wahr?«

»Straßenschilder. Die Straßenschilder hat man mir beigebracht.«

»In jener Nacht«, sagte Shan. »Wohin wollten Sie fahren?«

»Zum Flughafen Gonggar. Dem Flughafen nach Lhasa. Mr. Jao vertraut mir. Ich bin ein sicherer Fahrer. Fünf Jahre ohne Unfall.«

»Aber Sie sind einen Umweg gefahren, bevor es zum Flughafen ging.«

»Richtig. Eigentlich wollten wir zum Flughafen fahren, aber nach dem Abendessen hat er etwas anderes gesagt. Er war ganz aufgeregt. Zur Brücke an der Südklaue sollten wir fahren, dieser neuen Brücke über den Drachenschlund, die Tans Ingenieure gebaut haben. Ein wichtiges Treffen. Aber es sollte nicht lange dauern. Wir werden den Flug nicht verpassen, hat er gesagt.«

»Mit wem hat er sich getroffen?«

»Balti war nur der Fahrer. Ein sehr guter Fahrer. Das ist alles.«

»Hat er seinen Aktenkoffer mitgenommen?«

Balti dachte kurz nach. »Nein. Der Koffer lag auf der Rückbank. Ich bin auch ausgestiegen, als er ausgestiegen ist. Es war kalt. Hinten habe ich eine Jacke gefunden. Ankläger Jao gibt mir manchmal Kleidung. Wir haben die gleiche Größe.«

»Was ist also passiert, nachdem Jao aus dem Wagen gestiegen war?

»Jemand hat aus dem Schatten seinen Namen gerufen. Er ist weggegangen. Also habe ich mich hingesetzt und geraucht. Auf der Motorhaube habe ich gesessen und geraucht. Fast eine halbe Schachtel. Es wurde ziemlich spät. Ich habe auf die Hupe gedrückt. Dann kam er auf einmal angerannt. Er war sehr wütend. Er würde mich in der Luft zerreißen. Das hatte ich wirklich nicht gewollt. Vielleicht war es wegen der Hupe. Er war sehr ärgerlich.«

Shan erkannte, daß Balti nicht mehr von dem Ankläger sprach.

»Sie haben ihn gesehen?«

»Natürlich habe ich ihn gesehen. Wie eine herandonnernde Herde Yaks habe ich ihn gesehen.«

»Wie nah?«

»Zuerst dachte ich, es wäre Genosse Jao. Nur ein Schatten. Dann kam der Mond hinter einer Wolke hervor. Er war golden. Wunderschön. Im ersten Moment war das alles, was ich denken konnte, wie in Trance. So schön und so groß wie zwei Männer. Dann habe ich bemerkt, daß er wütend war. Er hatte diese große Klinge in der Hand und schnaubte wie ein Stier. Mein Herz blieb stehen. Das hat er gemacht. Er hat mein Herz angehalten. Ich habe meinem Herz gesagt, es soll weiterschlagen, aber es wollte nicht. Dann bin ich runter in die Heide gelaufen. Ich bin gerannt. Ich habe mir in die Hose gemacht und geweint. Am Morgen habe ich die Straße nach Osten wiedergefunden. Lastwagenfahrer haben angehalten und mich ein Stück mitgenommen. Dazwischen bin ich gerannt, immer gerannt.«

»Tamdin«, sagte Shan. »Hat er Sie verfolgt?«

»Oh, Tamdin ist so wütend. Er will mich packen. Ich höre ihn nachts. Falls ich mit den Mantras aufhöre, erwischt er mich. Er wird mir den Kopf abbeißen, als wäre ich nur ein süßer Apfel für ihn.«

»Was war in dem Wagen?«

»Nichts. Das Reisegepäck und der Aktenkoffer.«

»Und wo ist der Wagen jetzt?«

»Wer weiß das schon? Ich bin kein Fahrer, nein, nicht mehr. Niemals mehr.«

»Der Wagen wurde nicht bei der Brücke gefunden.«

»Dieser Tamdin hat ihn vermutlich genommen und über die nächsten beiden Berggipfel hinweggeschleudert«, sagte Balti leise.

Als sie in der Morgendämmerung aufbrachen, saß Balti wieder im Zelt und warf furchtsame Blicke nach draußen, während er sich im Takt eines neuen Mantras vor und zurück wiegte. Tränen liefen ihm über die Wangen. Auf Shans Decke lag ein Bündel Kleidung.

»Verlegen Sie Ihr Lager«, sagte Shan leise zu Harkog, nachdem Pemu und Sergeant Feng sich den Abhang hinab auf den Weg gemacht hatten, »und zwar so, daß man es weder von der Straße noch aus der Luft erkennen kann.«

Harkog nickte grimmig, und Yeshe streckte ihm einen Zettel entgegen. »Hier, ein Bannspruch, den Sie an Ihrem Zelt befestigen können«, sagte er. »Lassen Sie Balti beten. Aber er muß meine Anordnung befolgen. Heute den ganzen Tag. Morgen einen halben Tag. Ab übermorgen nur noch eine Stunde täglich, und das einen ganzen Monat lang. Außerdem muß er in zwei Tagen herauskommen und die Hügel durchstreifen. Der Geist ist von ihm gewichen. Balti muß werden, was er ist.«

»Wir werden khampa sein«, erwiderte Harkog mit einem breiten Grinsen und zeigte seine drei Zähne.

Zurück im Wagen, untersuchte Shan die Kleidungsstücke. Sie waren schlammverschmiert. Billige Arbeitskleidung, kaum besser als diejenige, welche an die Häftlinge ausgegeben wurde. Doch die ausgetretenen Schuhe waren in ein Jackett eingewickelt, das zu einem Anzug gehörte. Es war zerrissen und verdreckt, jedoch von ganz anderer Qualität, denn es stammte aus der Fertigung einer Schneiderei. In einer der Taschen fanden sich ein Taschentuch sowie einige Visitenkarten, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Jao Xengding, stand darauf. Ankläger des Bezirks Lhadrung. Balti hatte Jaos Jackett getragen. Es war kalt in jener Nacht, hatte er gesagt. Er hatte Jaos Jackett angezogen und sich auf die Motorhaube des Wagens gesetzt.

In der anderen Tasche steckten mehrere gefaltete Stücke Papier in einer Büroklammer. Shan faltete die Zettel auseinander. Bei einigen davon handelte es sich um Quittungen, zu denen auch die oberste aus dem mongolischen Restaurant gehörte, auf deren Rand »Amerikanische Mine« geschrieben stand. Darunter befand sich ein kleiner Zettel, auf den jemand das Wort Bambusbrücke gekritzelt hatte. Auf einem gelben Blatt stand Sie brauchen das Röntgengerät nicht. Unter den Worten befand sich ein Symbol, das wie ein umgekehrtes Y aussah, dessen Grundstrich von zwei Balken durchkreuzt wurde. Vielleicht sollte es das Ideogramm für »Himmel« darstellen, vielleicht war es aber auch nur gedankenloses Gekritzel. Auf einem anderen Blatt waren mehrere Städte aufgeführt. Lhadrung, Lhasa, Peking und Hongkong, stand da, gefolgt von den Worten Bei Da-Verband. Wo hatte er das schon mal gehört? Dann fiel es ihm wieder ein. Der Lama in Khartok, der als Geschäftsführer fungierte, hatte gesagt, der Bei Da-Verband sei ihnen beim Wiederaufbau behilflich. Bei Da war die Pekinger Universität.

Eine vierte Notiz wirkte beinahe wie ein Einkaufszettel. Schal, Weihrauch und Gold, stand dort zu lesen. Einer dieser Zettel, begriff er, hatte Jao vermutlich in den Tod gelockt.

Shan war noch immer mit dem Versuch beschäftigt, den Sinn dieser Worte zu ergründen, als sie den schmalen Paß erreichten, der von dem Plateau hinabführte. Sie hatten Pemu in der Nähe der Herden ihrer Familie abgesetzt, nachdem das Mädchen sich ein letztes Mal Yeshes Hand auf den Kopf gelegt und ein kurzes Dankgebet gesprochen hatte. Plötzlich schlug vor ihnen ein Blitz ein und setzte neben der Straße einen Busch in Brand. Der Strauch ging lodernd in Flammen auf. Keiner sprach ein Wort. Sie warteten, bis der Busch zu Asche zerfallen war, und fuhren dann weiter.