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Das Eingangstor des Lagers Jadefrühling war angegriffen worden. Einige Bretter waren geborsten, und der Draht hing lose herab. Auf einer Breite von jeweils zwanzig Metern neben dem Tor war das Heidekraut niedergetrampelt. Im Licht, das aus der Wachhütte fiel, sah Shan, daß Kleidungsfetzen im Stacheldraht hingen. Ein finster und wütend dreinblickender Arbeitstrupp tauschte die Angeln an einem der beiden großen Torflügel aus. Shan starrte ungläubig nach vorn. Er konnte vor lauter Erschöpfung kaum mehr aus den Augen blicken, denn hinter ihm lagen sechzehn schreckliche Stunden Fahrt, in deren Verlauf er sich mit Sergeant Feng am Steuer abgewechselt hatte. Während seiner Fahrpausen war es ihm nicht gelungen, länger als ein paar Minuten am Stück zu schlafen. Der letzte Eindruck von Balti, wie er im dunklen Zelt saß und sich vor und zurück wiegte, hatte ihn immer wieder aufschrecken lassen.
Shan wankte verwirrt aus dem Wagen und hielt unwillkürlich nach Blutflecken am Boden Ausschau.
Sobald er sich der Wachhütte näherte, schaltete jemand ein Flutlicht ein, das ihm vorübergehend die Sicht nahm.
Als er wieder etwas erkennen konnte, stand ein Offizier neben ihm. »Wir haben Sie vermißt«, sagte der Mann mit frostigem Sarkasmus. »Man hat uns einen Besuch abgestattet. Ich bin sicher, Sie hätten einen tollen Ehrengast abgegeben.«
»Man?«
Der Offizier erteilte dem Arbeitstrupp ein paar barsche Befehle und fuhr dann fort. »Die Kultanhänger. Es gab einen Aufruhr, jedenfalls beinahe. Kurz nach Anbruch der Dämmerung hat ein Holzlaster einen alten Mann hier abgesetzt, der das Gewand eines Priesters trug. Er hat sich einfach wortlos hingehockt. Wir haben ihn an seiner Gebetskette herumfummeln lassen. Dann kam ein Bauer auf einem Fahrrad vorbei und hielt an. Spätestens da hätten wir die beiden von der Straße jagen sollen. Aber Oberst Tan hat gesagt, er wolle keinen Ärger und keine Zwischenfalle. Ein Besuch aus Peking stehe kurz bevor, und irgendwelche Amerikaner kämen auch bald hier vorbei. Wir sollten uns ruhig verhalten.« Der Offizier öffnete die Fahrertür und bedachte Feng mit einem wütenden Blick, als trüge der Sergeant irgendeine Mitschuld an dem Vorfall.
Er gab das Signal, das Tor zu öffnen, und wandte sich wieder an Shan. »Eine Stunde später waren es schon sechs. Dann zehn. Mittags ungefähr vierzig. Der Mann in dem Gewand war für die Leute wohl irgendwas Besonderes, schätze ich.« Shan nahm die Stoffetzen genauer in Augenschein. Es handelte sich nicht um die Überreste von Kleidungsstücken, weil jemand in den Draht geworfen worden war, sondern um Gebetsfahnen, die man am Zaun festgeknotet hatte.
»Also bin ich nach draußen gegangen, um zu vermitteln und über das sozialistische Gebot der Koexistenz zu diskutieren. Ihr müßt Platz machen, habe ich gesagt. Bald kommt eine Armeekolonne mit schwerem Gerät hier an. Jemand könnte verletzt werden. Aber die Leute haben gesagt, sie wollten, daß Ihr Mann Sungpo freigelassen wird. Angeblich sei er gar kein Verbrecher.« Der Augen des Offiziers funkelten wütend. »Das war ein großes Geheimnis. Eigentlich dürfte niemand wissen, daß Ihr Mönch hier eingesperrt ist. Mir ist keiner hier bekannt, der geredet hätte«, sagte er mit anklagendem Unterton.
»Nachdem ich wieder gegangen war, ist die Menge vorgerückt, hat eine Litanei angestimmt und begonnen, den Zaun hin- und herzuschaukeln. Die Pfosten haben sich gelockert. Also habe ich ein Überfallkommando geschickt, allerdings ohne Schußwaffen. Doch die Tibeter haben sich umgedreht und die Hände zu einer Art menschlicher Kette aneinandergefesselt. Mit Socken, Schnürsenkeln, was auch immer. Sie haben uns ignoriert, uns einfach den Rücken zugewandt und vor sich hingebetet. Was sollten wir machen? Bald kommen Touristen hierher. Falls irgendein Rundauge auftaucht und uns dabei fotografiert, wie wir diese Kerle verprügeln, darf ich den Rekruten nachts beim Leeren der Latrine helfen.«
»Der alte Mann«, sagte Shan. »Ist er aus dem Norden gekommen?«
»Ja, richtig. Uralt und klapprig, als würde er jeden Moment zu Staub zerfallen.«
Shan war plötzlich ganz aufgeregt. »Wo ist er jetzt?«
»Wir haben ihn vor einer Stunde schließlich reingelassen. Es war die einzige Möglichkeit, die Leute loszuwerden. Wann, zum Teufel, werden Sie... «
Shan wartete nicht ab, bis der Offizier die wütende Frage beendet hatte. Er lief durch das Tor zum Arrestlokal.
Das einzige Licht dort drinnen brannte am Ende des Ganges. Jigme saß an der Zellentür und behielt Sungpo im Auge, genau wie Shan ihn vor drei Tagen verlassen hatte. Neben ihm saß Je Rinpoche.
Der alte Mann achtete nicht auf Shan. Er sah Sungpo an, der in der Mitte der Zelle saß. Sie redeten nicht, aber ihre Blicke schienen auf denselben unsichtbaren Punkt in der Ferne gerichtet zu sein.
Als Shan die Zellentür öffnete, hielt Yeshe ihn am Arm zurück. »Sie dürfen nicht einschreiten. Wir müssen warten, bis sie von selbst zurückkommen.«
»Nein«, widersprach Shan. »Es ist zu spät, um nicht einzuschreiten.« Er betrat die Zelle und berührte Sungpo an der Schulter. Dabei schien eine Art Elektrizität seine Finger zu durchzucken, aber ohne den entsprechenden Schock. Er redete sich ein, es müsse sich um Einbildung gehandelt haben. Sungpo bewegte den Kopf hin und her, als würde er einen tiefen Schlaf abschütteln. Dann blickte er auf und begrüßte Shan mit einem kaum merklichen Blinzeln.
Je Rinpoche atmete tief aus, und sein Kopf sackte ihm langsam auf die Brust. Yeshe starrte Shan mit ungewohntem Zorn an.
»Versteht denn niemand, was hier gerade vor sich geht?« fragte Shan mit mühsam unterdrückter Erregung. Er erhielt keine Antwort.
Nachdenklich erwiderte er Yeshes Blick. »Ich muß mit Dr. Sung sprechen. Gehen Sie, und rufen Sie sie an. Sagen Sie ihr, daß ich mich mit ihr treffen muß.«
»Dieser alte Lama meditiert«, warnte Yeshe. »Sie dürfen ihn nicht unterbrechen.«
»Sagen Sie ihr, daß ich mit ihr über eine Gruppe namens Bei Da-Verband reden will.«
Yeshe brachte stirnrunzelnd seine Mißbilligung zur Kenntnis, machte dann kehrt und verließ das Gebäude.
Shan kniete sich zwischen die beiden Mönche. »Verstehen Sie, was hier vor sich geht?« fragte er erneut, diesmal etwas lauter, weil ihm keine Möglichkeit einfiel, die Aufmerksamkeit des Lama auf weniger grobe Weise zu erregen.
»Ein Mann wurde ermordet«, sagte Je Rinpoche plötzlich und hob den Kopf. »Die Regierung hat ihn für eine wichtige Persönlichkeit gehalten.«
Shan sah zu Sungpo. Die Augen des Mannes blinzelten.
»Man wird einen Ausgleich herbeiführen wollen«, stellte der alte Lama sachlich fest.
»Einen Ausgleich?«
»Man wird dafür eines unserer Leben verlangen.«
»Ist es das, was Sie wollen?«
»Wollen?« fragte Je.
»Was ist mit der Gerechtigkeit?«
»Gerechtigkeit?«
Shan hatte das chinesische Wort yi gewählt, dessen Ideogramm einen großen Menschen darstellte, der mit vorgehaltenem Schwert einen kleineren Menschen beschützte. Das Symbol wurde von den Tibetern so gut wie nie benutzt.
»Glauben wir an Pekings Gerechtigkeit?« fragte Je in dem gleichen gelassenen Tonfall, in dem er in Saskya von der Zerstörung des alten Klosters erzählt hatte. Die Frage war an Sungpo gerichtet.
Auf einmal ergriff Sungpo das Wort. Er sah dabei Je an, und zwar ausschließlich Je. »Wir glauben an die Harmonie«, erwiderte er mit kaum hörbarer Stimme. »Wir glauben an den Frieden.«
Je wandte sich an Shan. »Wir glauben an die Harmonie«, wiederholte er. »Wir glauben an den Frieden.«
»Ich wurde zur Umerziehung in eine Kommune geschickt«, sagte Shan zu Je. »Während der dunklen Jahre.« Jedermann hatte seinen eigenen Namen für die qualvolle Periode, die von Mao als Kulturrevolution bezeichnet worden war. »In der ersten Woche standen wir in einem Reisfeld. Im Schlamm. In mehreren Reihen. Sie nannten uns Sämlinge. Sprechen war nicht gestattet. Die Politoffizierin sagte, auf den Feldern müsse Frieden herrschen. Falls jemand redete, lachte oder weinte, wurde er geschlagen. Wir haben lange Zeit keinen Laut von uns gegeben. Aber wie Frieden hat sich das nie angefühlt.«
Je lächelte nur.
Sungpo schien wieder zurück in seine Meditation zu gleiten.
»Ich habe Fragen«, sagte Shan eindringlich zu Je. »Fragen Sie ihn nach der Verhaftung. Was haben die Männer gesagt? Wann hat er Ankläger Jao zum letztenmal gesehen?«
Je beugte sich vor und sprach flüsternd mit Sungpo.
»Er war weg«, erklärte Je und bezog sich damit auf Sungpos Meditation. »Weit weg. Er wußte nichts, bis er zurückkehrte. Da stellte er fest, daß er in einem Wagen saß und man ihm Handschellen angelegt hatte. Es gab insgesamt zwei Autos, voll mit Männern in Uniform.«
»Weshalb hat man Ankläger Jaos Brieftasche dort gefunden?«
Je hielt Rücksprache mit Sungpo. »Das ist sehr merkwürdig«, erklärte er mit verwundertem Blick. »Sungpo hatte die Brieftasche nicht in seinem Besitz. Er wußte nicht, daß man sie dort gefunden hatte. Vielleicht ist etwas dorthin gekommen und hat die Brieftasche versteckt.«
»Etwas? Oder doch eher jemand?«
Als der alte Mann seufzte, stieg aus seiner Kehle ein rasselndes, pfeifendes Geräusch empor. »Manchmal schlägt der Blitz ein und hinterläßt Dinge. Die Brieftasche sollte sich dort befinden. Es scheint nicht wichtig, wie sie dorthin gelangt ist.«
»Ein Blitz hat bewirkt, daß eine Brieftasche sich in Sungpos Höhle materialisiert hat?« fragte Shan langsam. Sein Mut sank.
»Blitze. Geister. Ihre Taten sind unergründlich. Vielleicht ist das ihre Art, ihn zu rufen.«
»Und falls man den wirklichen Täter nicht findet und der Geist des Ermordeten nicht zur Ruhe kommt, wird die 404te ihren Streik fortsetzen. Man wird die Häftlinge des Massenverrats für schuldig befinden.«
»Vielleicht ist auch das der vorherbestimmte Pfad der Männer zur nächsten Inkarnation.«
Shan schloß die Augen und atmete tief durch. »Hat Sungpo den Ankläger Jao gekannt?«
Je sprach kurz mit Sungpo. »Er kennt den Namen aus irgendeinem Gerichtsprozeß.«
»Hat er Jao ermordet?«
Je sah ihn müde an. »Er trägt keine Last auf seiner Seele. Nur noch die Breite eines Haares trennt ihn von den Toren der Buddhaschaft.«
»Das ist keine zulässige Verteidigung.«
Je seufzte. »Ein Mord wäre eine Verletzung seiner Gelübde. Er ist ein wahrhaft Gläubiger. Er hätte mir sofort davon erzählt. Er hätte sein Gewand abgelegt. Sein Zyklus wäre unterbrochen worden.«
»Aber trotzdem sagt er nicht, daß er es nicht getan hat.«
»Das wäre eine eigennützige Handlung. Uns wurde beigebracht, solche Handlungen zu meiden.«
»Demnach beteuert er deshalb nicht seine Unschuld, weil er nicht schuldig ist.«
»Genau.« Je lächelte. Shans Logik schien ihm sehr zu gefallen.
»Der Leiter des Büros für Religiöse Angelegenheiten hat kürzlich das Kloster besucht. Hat Sungpo den Mann gesehen?«
»Sungpo ist ein Einsiedler. Sobald er in Meditation versunken ist, würde er einen solchen Besucher nicht einmal dann bemerken, wenn dieser neben ihm stehen und ihm einen Tritt versetzen würde.«
Shan wandte sich an Jigme. »Gibt es noch einen anderen Weg zu Ihrer Hütte als den, auf dem wir gekommen sind?«
»Es gibt ein paar alte Wildpfade. Oder man klettert die Felsen hoch.«
Sungpo war inzwischen fast gänzlich entschwunden. Er schien keinen der Anwesenden mehr hören zu können, nicht einmal den alten Je. »Das Wissen, daß er für das Verbrechen eines anderen sterben wird, ist das nicht auch eine Art der Lüge?« fragte Shan den alten Lama und mußte gegen die Verzweiflung in seiner Stimme ankämpfen.
»Nein. Ein falsches Schuldbekenntnis, das wäre eine Lüge.«
»Bislang haben wir die Öffentliche Sicherheit aus der Sache heraushalten können. Aber sie werden versuchen, noch vor dem Prozeß ein Geständnis zu bekommen, und diese Leute versagen nur selten.« Er hatte in Peking einst eine entsprechende Direktive zu Gesicht bekommen. »Die Eröffnung eines Verfahrens, ohne daß ein Geständnis vorliegt, gilt als schlechte Arbeit der Justizorgane und als Mißachtung der sozialistischen Ordnung. Falls Sungpo nicht selbst daran mitwirkt, wird man in seinem Namen ein Geständnis verlesen.«
»Aber das wäre widersinnig«, stellte Je mit nach wie vor gelassener Stimme fest.
Shan beneidete ihn um seine Naivität. »Der Prozeß wird zur Unterweisung des Volkes durchgeführt.«
»Ah. Du meinst wie bei einer Parabel.«
»Ja«, erwiderte Shan mit hohler Stimme. Ein Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf. Die alte Frau mit Mop und Eimer, wie sie hinter Sungpo die Treppe heraufkam. »Außer, daß eine solche Verhandlung eindeutigere Wirkung zeitigt als eine Parabel.«
Yeshe saß auf den Stufen vor ihrer Unterkunft, als Shan ein paar Decken für Je holen wollte. Der alte Lama bestand darauf, im Zellenblock zu bleiben. »Ich werde darum bitten, wieder an meine Arbeit bei der 404ten zurückkehren zu dürfen. Falls ich noch ein weiteres Jahr bei Zhong bleiben muß, dann werde ich das eben ertragen«, verkündete Yeshe und folgte Shan durch die Tür. »Ich möchte an dieser Sache nicht länger beteiligt sein. Das alles ist zu verwirrend. Was ist, wenn Jigme mit seiner Behauptung recht hat, Sungpo könne mit Leichtigkeit ein Gesicht abwerfen?«
»Soll das heißen, wir sollten akzeptieren, daß er sich opfert?«
»Es geht ja nicht nur um Sungpo. Sie haben es doch selbst gesagt. Es wird nicht ausreichen, Sungpos Unschuld zu beweisen. Wir werden eine Alternative anbieten müssen.
Womöglich verhaftet man dann vier oder fünf andere Mönche. Vielleicht sogar zehn oder zwanzig und nennt es eine Verschwörung der purbas. Alle würden im gleichen Maße für schuldig befunden. Und vielleicht würde man sich nicht mit den purbas begnügen. Es gibt so viele Leute, die Widerstand leisten.«
»Ihrer Meinung nach muß also entweder Sungpo oder der Widerstand geopfert werden.«
»Der Widerstand im Bezirk Lhadrung, ja.«
»Und Sie sprechen sich jetzt für den Widerstand aus?«
»Sie haben mein gompa gesehen. Ich könnte keinpurba sein, ohne meine Gelübde zu brechen. Ich würde für alle Zeit ausgestoßen werden. Es gäbe keine Hoffnung auf Rückkehr.«
»Hegen Sie denn diese Hoffnung?« fragte Shan.
»Nein«, erwiderte Yeshe mit bewegter Stimme. »Ich weiß es nicht. Vor zwei Wochen hätte ich es noch verneint. Jetzt weiß ich lediglich, wie schmerzhaft eine Rückkehr sein könnte.«
Shan erinnerte sich an die Hunde in Yeshes Kloster. Die Seelen von gescheiterten Priestern, hieß es.
Draußen ertönte lautes Geschrei, gefolgt vom hämmernden Geräusch einiger Stiefel, die über den Exerzierplatz liefen. Die Kriecher zerrten Jigme vom Gefängnis weg, wogegen er sich nach Kräften sträubte. Shan drehte sich zu Yeshe um. »Ich brauche Ihre Hilfe. Mehr als jemals zuvor.«
Als Shan die Gruppe erreichte, hatte man Jigme in etwa hundert Metern Entfernung von Sungpos Zelle abgesetzt.
»Nur ein Besucher darf bei dem Gefangenen bleiben«, brüllte einer der Kriecher und ging weg.
»Von hier aus können Sie nicht allzuviel für ihn tun«, stellte Shan fest und setzte sich neben Jigme.
»Falls er essen würde, könnte ich ihm die Mahlzeiten zubereiten.« »Es gibt vielleicht noch andere Möglichkeiten«, sagte Shan. »Je nachdem, wem Sie helfen wollen.«
»Sungpo.«
»Sungpo dem Heiligen? Oder Sungpo dem Sterblichen?«
Jigme dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Manchmal ist das gar nicht so einfach zu sagen. Ich würde meinen, es ist ein und dasselbe.«
»Sie und ich, wir haben beide chinesisches Blut in den Adern. Es heißt, wir seien alle damit gestraft, ständig Kompromisse schließen zu müssen. Vielleicht würde es Jahre dauern, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Aber in ein paar Tagen spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«
Sie saßen schweigend da. Jigme fing an, mit dem Finger beiläufig ein Muster in den Staub zu malen.
»Ich möchte, daß Sie folgendes tun«, sagte Shan. »Gehen Sie in die Berge, zu den Drachenklauen. Wir können Ihnen Wasser und Vorräte mitgeben, und im Wagen sind auch ein paar Decken. Sergeant Feng kann Sie hinfahren und wird dann jeden Tag bei Ihnen vorbeischauen. Aber sobald Sie einmal draußen sind, weiß ich nicht, ob die Wachen Sie wieder durch das Tor lassen werden.«
Jigme dachte lange nach. »Es heißt, da oben sei ein Dämon unterwegs.«
Shan nickte mitfühlend. »Ich möchte, daß Sie herausfinden, wo dieser Dämon wohnt.«
Jigme zuckte nicht zusammen, aber sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Er wird Ihnen nichts tun.«
»Aus welchem Grund sollte er mich verschonen?« fragte Jigme jammervoll.
»Weil Sie zu den wenigen gehören, die reinen Herzens sind.«
Dr. Sung blieb nicht stehen, als Shan eintraf. »Verschwinden Sie«, sagte sie. »Sie verbreiten Gefahr, wo immer Sie auftauchen.« Er folgte ihr, während sie den Korridor der Klinik entlangeilte.
»Was ist der Bei Da-Verband?« fragte er und mußte beinahe laufen, um mit ihr Schritt halten zu können.
»Bei Da ist die Universität. Ein Verband ist ein Verband«, erwiderte sie lakonisch.
»Gehören Sie auch diesem Verband an?«
»Ich bin eine Ärztin im Dienst der Volksregierung. Die einzige Ärztin hier, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte. Ich habe viel Arbeit zu erledigen.«
»Wer war es, Doktor?«
Sie blieb stehen und sah ihn verwundert an.
»Wer hat Sie eingeschüchtert?«
Sie wurde rot. Zuerst dachte Shan, es geschähe aus Wut, aber dann kam er zu dem Schluß, daß es genausogut Scham sein konnte. »Es heißt, es handle sich um einen Klub für Absolventen der Pekinger Universität«, sagte sie. »Natürlich gibt es in ganz Lhadrung nur eine Handvoll dieser Absolventen. Man hat mich bei einer Gelegenheit zu einem Treffen eingeladen, zu einem Abendessen in einem alten Kloster außerhalb der Stadt. Ich dachte, man würde mich vielleicht fragen, ob ich dem Klub beitreten wollte.«
»Aber man hat Sie nicht gefragt.«
»Abgesehen von Peking, habe ich mit diesen Leuten nur wenig gemeinsam.«
»Um wen handelt es sich?« Ein Pfleger wischte den Boden, ein Tibeter. Er schob den Putzeimer in ihre Richtung. Shan forderte die Ärztin durch einen Wink auf, ihm außer Hörweite zu folgen.
»Die aufstrebenden Karrieremacher. Die junge Elite. Sie wissen schon. Heimlich importierte Bluejeans. Sonnenbrillen, die mehr kosten als das Monatseinkommen einer normalen Familie.«
»Mögen Sie Bluejeans und Sonnenbrillen nicht?«
Die Frage schien Dr. Sung zu überraschen. Sie schaute den Korridor hinunter, bevor sie antwortete. »Ich weiß nicht. Aber ich kann mich noch erinnern, daß solche Statussymbole früher durchaus eine Rolle für mich gespielt haben.«
»Was ist mit Ankläger Jao? Hat er dazugehört?« fragte Shan.
»Nein, Jao war zwar Absolvent, aber zu alt, schätze ich. Li ist Mitglied. Wen vom Büro für Religiöse Angelegenheiten. Der Direktor der Minen. Ein paar Soldaten.«
»Soldaten? Ein Major der Öffentlichen Sicherheit?«
Die Erwähnung des Büros schien Sung zu beunruhigen. Sie dachte kurz nach. »Keine Ahnung. Da war einer. Er war aalglatt und arrogant. Auf einer Wange hatte er die Narbe einer Schußverletzung.«
»War einer von denen je bei Ihnen in Behandlung?«
»Die sind gesund wie Yaks, einer wie der andere.«
»Nicht mal wegen eines Hundebisses?«
»Eines Hundebisses?«
»Schon gut.« Shan hatte nicht vergessen, daß sich unter den geheimen Zaubern, die von der ragyapa gekauft worden waren, auch Bannsprüche gegen Hundebisse befunden hatten. Er konnte es nicht logisch begründen, aber auf irgendeine Weise ließ diese Tatsache ihn nicht mehr los. Jemand wollte einerseits Vergebung von Tamdin erlangen und sich andererseits vor Hundebissen schützen.
»Hat Jao Ihnen gegenüber je erwähnt, er würde von hier weggehen? Oder versetzt werden?«
»Er hat ein paar Andeutungen darüber gemacht, wie schön es doch wäre, wieder zurück im eigentlichen China zu sein.« »Sind das seine Worte oder Ihre?«
Sie wurde wieder rot. »Er hat von Rückkehr gesprochen. Er sagte, wenn er nach Hause käme, würde er sich einen Farbfernseher kaufen. In Peking kann man inzwischen angeblich die Sender aus Hongkong empfangen. Ich schätze, letzten Endes hat er es geschafft«, fügte sie hinzu.
»Was hat er geschafft?«
»Nach Peking zurückzukehren. Miss Lihua hat ein Fax aus Hongkong geschickt und darum gebeten, daß seine Leiche und Vermögenswerte zurückgesandt werden.«
Shan starrte sie ungläubig an. »Unmöglich. Nicht, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.«
Sung funkelte ihn mit einem triumphierenden Lächeln an. »Heute morgen ist ein Lastwagen der Öffentlichen Sicherheit hergekommen und hat ihn abgeholt. Die Männer hatten einen Sarg dabei. Von Gonggar aus ist die Leiche dann an Bord eines Militärflugzeugs ausgeflogen worden.«
»Die Behinderung gerichtlicher Ermittlungen ist ein schwerwiegendes Vergehen.«
»Nicht, wenn die Öffentliche Sicherheit es wünscht. Ich habe um eine schriftliche Bestätigung gebeten.«
»Ist Ihnen das nicht merkwürdig vorgekommen? Haben Sie denn nicht daran gedacht, daß diese Untersuchung auf direkte Anweisung von Oberst Tan erfolgt?«
Sung blickte erschrocken auf. »Ankläger Li hat mir den Befehl ausgehändigt«, erklärte sie beunruhigt.
»Ankläger? Es gibt keinen neuen Ankläger. Noch nicht.«
»Was sollte ich denn machen? Das Büro des Parteivorsitzenden um Bestätigung bitten?«
»Wer hat die Anweisung unterschrieben?«
»Ein Major der Öffentlichen Sicherheit.«
Shan rang verzweifelt die Hände. »Hat dieser Major denn keinen Namen? Fragt ihn denn niemals jemand danach?«
»Genosse, im Umgang mit der Öffentlichen Sicherheit sollte man eines ganz bestimmt nicht tun: den Leuten Fragen stellen.«
Shan machte einen Schritt auf die Tür zu und drehte sich dann um. »Ich muß telefonieren«, sagte er. »Ein Ferngespräch.«
Sie stellte keine Fragen, sondern führte ihn in ein leeres Büro im hinteren Teil des Gebäudes. Als sie ging, erschien eine Gestalt an der Tür. Yeshes Verzweiflung war ihm noch immer anzumerken, aber seine Augen funkelten entschlossen.
»Als man mich von der Universität zurückgeschickt hat«, sagte er, während er den Raum betrat, »da wußte ich, wer das Foto des Dalai Lama aufgehängt hatte. Es war nicht einmal ein Tibeter, sondern ein chinesischer Freund von mir. Es war als Scherz gemeint. Ein Streich.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Man hat mich ins Arbeitslager gesteckt, weil man dachte, ich wäre dazu fähig gewesen. Aber das war ich nicht. Ich hätte nie genug Mut dazu aufgebracht.«
Shan legte Yeshe die Hand auf die Schulter. »Es ist ein Fehler, Mut für etwas zu halten, das man anderen gegenüber beweisen muß. Wahrer Mut ist einzig und allein etwas, das man sich selbst eingesteht.«
»Man muß wissen, wer man ist, bevor man überhaupt die Möglichkeit hat, diese Art von Mut zu erkennen«, sagte Yeshe und blickte zu Boden.
»Ich glaube, Sie wissen es.«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Ich glaube, der Mann, der dem Major die Stirn geboten und Baltis Leben gerettet hat, wußte, wer er war.«
»Jetzt, da wir wieder hier sind, fühlt es sich an, als hätte ich nur eine Rolle gespielt. Ich weiß nicht, ob das wirklich ich gewesen bin.«
»Für wen haben Sie diese Rolle gespielt?«
»Keine Ahnung.« Yeshe hob den Kopf und sah Shan in die Augen. »Vielleicht für Sie«, sagte er leise.
Shan wandte den Blick ab. Seltsamerweise mußte er bei diesen Worten an seinen Sohn denken, den Sohn, der so weit von ihm entfernt war, daß er nicht einmal ein Bild vor Shans innerem Auge darstellte, sondern lediglich ein Konzept. Den Sohn, der vermutlich davon ausging, daß Shan tot war. Den Sohn, der ihn stets als einen Versager verachten würde, gleich ob tot oder lebendig.
»Nein«, sagte er und wandte sich wieder Yeshe zu. Nicht ich, wollte er sagen. Ich bin nicht stark genug, um noch eine Last zu tragen. »Sie haben das getan, weil Sie die Wahrheit herausfinden wollen. Sie haben das getan, weil Sie wieder ein Tibeter sein möchten.«
Yeshe blinzelte nicht. Er ließ nicht erkennen, ob er Shan überhaupt gehört hatte.
Shan schrieb die Nummern aus Jaos geheimer Akte ab. »Falls das Telefonnummern sind, muß ich wissen, zu welchen Anschlüssen sie gehören«, sagte er.
Yeshe seufzte und musterte das Blatt. »Das könnten wir auch bei der 404ten erledigen. Oder im Lager Jadefrühling.«
»Nein, könnten wir nicht«, erwiderte Shan schroff. Die Öffentliche Sicherheit würde die Leitungen aus dem vergessenen Büro irgendeiner vergessenen Klinik vermutlich nicht abhören. »Soweit die Vermittlung weiß, sind Sie bloß ein Büroangestellter des Krankenhauses, der versucht, die Identität eines unbekannten Toten herauszufinden. Versuchen Sie es mit Lhasa. Dann mit Shigatse, Peking, Shanghai, Guangzhou oder New York. Aber finden Sie es heraus.« Er zog die amerikanische Geschäftskarte aus der Tasche, die man bei Jaos Leiche gefunden hatte. »Und dann kümmern Sie sich hierum.«
Als Yeshe den Hörer abnahm, ging Shan aus dem Zimmer und trat an ein Fenster im Gang. Draußen konnte er Sergeant Feng sehen, der im Wagen saß und schlief. Er drehte sich um. Der tibetische Pfleger war wieder in seiner Nähe, stand an einer offenen Tür und musterte Shan, während er den Boden wischte. Am anderen Ende des Gangs erschien ein weiterer Pfleger und schob einen Rollstuhl vor sich her. Der erste Mann hielt inne, und als Shan zu ihm herübersah, wies er angestrengt auf die offene Tür. Shan ging zögernd in seine Richtung. Hinter sich hörte er ein metallisches Rasseln. Der zweite Pfleger näherte sich schnellen Schritts.
»Sehen Sie nur, da drinnen«, sagte der erste Pfleger.
Es war ein unbeleuchteter Wandschrank. Im Halbdunkel sah Shan einen Besen und Putzmittel. Plötzlich legte sich von hinten ein Arm um seine Brust, und jemand drückte ihm einen Stoffetzen aufs Gesicht, der nach einer starken Chemikalie stank. Etwas Hartes traf ihn in die Kniekehlen. Der Rollstuhl. Das letzte, woran er sich erinnerte, war das Klingeln kleiner Glocken.
Er erwachte auf dem Boden einer Höhle und hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Chloroform. Die Höhle war vollgestopft mit kleinen Buddhastatuen aus Gold und Bronze, und in den Regalen stapelten sich Hunderte von Manuskripten. Im trüben Licht der Butterlampen sah er zwei Gestalten mit kahlgeschorenen Köpfen. Eine von ihnen bückte sich und begann damit, Shans Gesicht mit einem feuchten Tuch abzuwischen. Es war einer der Pfleger. An seinem Handgelenk hing ein Rosenkranz, an den winzige Glöckchen gebunden waren. Ein Streichholz flammte auf, und dann wurde es heller in der Höhle. Der erste Mann stand auf, und der andere wich zur Seite und gab den Blick auf eine Kerosinlampe frei.
Es war ein leises Grollen zu hören, wie ferner Donner. Im heller werdenden Licht erkannte Shan eine Tür mit einem Holzrahmen. Das hier war keine Höhle, sondern ein Raum, den man direkt aus dem Felsen herausgemeißelt hatte, und der Donner war das Geräusch des Straßenverkehrs über ihren Köpfen.
»Warum machst du dir so viele Gedanken über das Tamdin- Kostüm?« fragte auf einmal der Mann mit der Lampe. Es war der illegale Mönch vom Marktplatz, der purba mit dem Narbengesicht. »Du hast Direktor Wen vom Büro für Religiöse Angelegenheiten nach den Kostümen in den Museen gefragt.«
»Weil der Mörder wie Tamdin aussehen wollte«, sagte Shan und rieb sich die schmerzende Schläfe. »Vielleicht war er der Meinung, er würde Tamdins Willen vollstrecken.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Und du glaubst, jemand hat so ein Kostüm?«
»Das weiß ich sogar mit Sicherheit.«
»Oder hat eventuell jemand nur ein paar Artefakte plaziert, um dich zu dieser Überzeugung zu bewegen?«
Shan dachte darüber nach. »Nein, er wurde gesehen. Jemand in so einem Kostüm wurde von Ankläger Jaos Fahrer gesehen. Der Mann hat nicht gelogen. Diese Beobachtung wurde übrigens nicht nur beim Mord an Jao gemacht, sondern auch bei einigen der anderen Morde, vielleicht sogar bei allen.«
Der purba hielt Shan die Lampe neben das Gesicht. »Willst du damit sagen, es hat die ganze Zeit nur einen einzigen Mörder gegeben?«
»Ich glaube, es sind zwei, aber sie haben zusammengearbeitet.«
»Aber wenn man nachweist, daß einer von denen ein religiöses Kostüm getragen hat, wird das doch nur zu der Ansicht führen, die Täter wären Buddhisten gewesen.«
»Es sei denn, wir beweisen das Gegenteil.«
Der purba gab ein ungläubiges Grunzen von sich. »Die Kriecher könnten jede Minute das Feuer auf die 404te eröffnen, und du verschwendest deine Zeit mit Dämonen.« »Wenn du eine bessere Idee hast, wie man sie retten könnte, dann sag es mir bitte.«
»Wenn das so weitergeht, wird Lhadrung verloren sein. Man wird den Bezirk in eine militarisierte Zone verwandeln.«
Shans Mund wurde trocken. »Was werdet ihr tun?«
»Vielleicht werden wir ihnen den fünften geben«, erwiderte der purba.
»Den fünften?«
»Den letzten der Fünf von Lhadrung. Damit sie ihn wieder einsperren können. Vielleicht kommen sie dann zu der Einsicht, daß die Verschwörung beendet ist. Es wird niemand mehr da sein, dem man die Schuld geben könnte.«
Das war eine ehr tibetische Lösung. Shan entdeckte etwas Neues im Blick des purba. Traurigkeit. »Der letzte der Fünf bittet einfach so darum, ins Gefängnis zu gehen«, sagte Shan.
»Ich habe darüber nachgedacht. Er könnte zum Berg gehen und die Bardo-Riten abhalten, um den jungpo zu vertreiben. Die 404te könnte den Streik beenden und wieder mit der Arbeit beginnen.«
»Die Öffentliche Sicherheit wäre außer sich«, stimmte Shan ihm zu. »Wer auch immer die Riten abhält, man würde ihn zum Dienst in der 404ten verurteilen.«
»Genau.« Der purba zuckte die Achseln. »Es gibt auch noch andere Lösungen. Die Leute sind wütend.«
Die Worte jagten Shan Angst ein. »Choje von der 404ten hat einmal gesagt, daß diejenigen, die zu sehr versuchen, etwas rundum Gutes zu tun, sich um so mehr in Gefahr befinden, etwas rundum Schlechtes zu bewirken.«
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.«
»Es bedeutet, daß im Namen der Rechtschaffenheit viel Böses getan werden kann, denn für viele ist Rechtschaffenheit ein relativer Begriff.«
Der purba sah in die Flamme der Lampe. »Ich glaube nicht, daß Rechtschaffenheit ein relativer Begriff ist.«
»Nein, ich nehme auch nicht an, daß du dieser Meinung bist.«
Der Mann seufzte. »Ich habe nicht gesagt, wir würden Gewalt anwenden. Ich habe nur gesagt, die Leute seien wütend.« Er nahm einen der kleinen Bronzebuddhas und legte beide Hände darum. »In der Nacht, als der Ankläger starb, ist ein Bote in das Restaurant gekommen, in dem er gegessen hat«, erklärte er. »Ein junger Mann. Gutgekleidet. Ein Chinese. Er hat einen Hut getragen. Und er hatte einen Zettel für Jao. Einer der Kellner hat dem Ankläger Bescheid gegeben, worauf dieser sofort aufgestanden ist und mit dem Mann gesprochen hat. Der Mann hat Jao etwas gegeben. Eine Blume. Eine alte rote Blume, die ganz vertrocknet war. Jao wurde ganz aufgeregt. Er nahm den Zettel und die Blume und gab dem Mann Geld. Daraufhin ist der Mann gegangen. Der Ankläger hat mit seinem Fahrer gesprochen und ist dann wieder zu der Amerikanerin an den Tisch zurückgekehrt.«
»Woher weißt du das alles?«
»Du hast gesagt, du müßtest wissen, was Ankläger Jao an jenem Abend gemacht hat. Einige Hilfskellner in dem Restaurant haben sich daran erinnert.«
Shan dachte an das tibetische Personal des Restaurants zurück, das sich aus lauter Angst vor ihm niedergekauert hatte. »Ich muß herausbekommen, wer diese Botschaft geschickt hat.«
»Das wissen wir nicht. Aber da war etwas mit den Augen des Überbringers. Eines davon war irgendwie komisch. Einer der Kellner hat den Mann wieder erkannt; er war Zeuge im Mordprozeß gegen den Mönch Dilgo.«
»Dilgo, der zu den Fünf von Lhadrung gehört hat?«
Der narbengesichtige Mann nickte.
»Würde er ihn noch einmal erkennen?«
»Sicher. Aber wir könnten dir auch einfach seinen Namen verraten.«
Shans Kopf zuckte hoch. »Ihr kennt seinen Namen?«
»Ich wußte es in dem Moment, als ich die Beschreibung hörte. Ich war auch bei dem Prozeß. Es war ein Mann namens Meng Lau. Ein Soldat.«
»Derselbe Mann, der jetzt behauptet, er hätte Sungpo gesehen.« Shan erhob sich aufgeregt, als wolle er gehen. Der purba wich zur Seite und gab den Blick auf eine weitere Gestalt frei, die im Schatten gestanden hatte und nun vortrat, um Shan den Weg zu versperren. »Noch nicht, bitte«, sagte die Gestalt. Es war eine Frau. Eine Nonne.
»Sie verstehen nicht. Falls ich nicht innerhalb kürzester Zeit... «
Die Nonne lächelte nur, nahm ihn bei der Hand und führte ihn einen kurzen Gang entlang in eine zweite Kammer. Es mußte sich einst um ein gompa gehandelt haben, erkannte Shan, um den unterirdischen Schrein eines alten, vergessenen gompa. Es ergab Sinn. Früher war jede tibetische Stadt rund um ein zentrales gompa errichtet worden. Der zweite Raum war hell erleuchtet. Vier Lampen hingen von den Deckenbalken herab.
Ein kleiner Mann saß über einen roh behauenen Tisch gebeugt und schrieb in ein großes Buch. Er schaute auf, nahm seine zerbrechliche Brille ab und blinzelte einige Male. »Mein Freund!« rief er entzückt und sprang von seinem Hocker auf, um Shan in die Arme zu schließen.
»Lokesh? Bist du das?« Shans Herz vollführte einen Freudensprung, während er den Mann auf Armeslänge von sich hielt und genau musterte.
»Mein Geist hat sich emporgeschwungen, als man mir erzählte, du würdest vielleicht kommen«, sagte der alte Mann und lächelte glücklich.
Shan hatte Lokesh nur in Gefängniskleidung gekannt. Er starrte ihn an und wurde völlig von seinen Gefühlen überwältigt. Es war, als würde er plötzlich einen verloren geglaubten Onkel wiederfinden. »Du hast ein wenig zugenommen.«
Der alte Mann lachte und umarmte Shan ein weiteres Mal. »Tsampa«, sagte er. »Soviel tsampa, wie ich will.« Shan entdeckte einen vertrauten Blechnapf auf dem Tisch, der zur Hälfte mit gerösteter Gerste gefüllt war. Es war eine der Schalen, wie sie bei der 404ten benutzt wurden. Alte Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht ablegen.
»Aber deine Frau. Ich dachte, du wärst mit ihr nach Shigatse gegangen.«
Der alte Mann lächelte. »Das bin ich auch. Aber stell dir vor, zwei Tage, nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, hat meiner Frau die letzte Stunde geschlagen.«
Shan starrte ihn ungläubig an. »Ich bin...« Ja, was bin ich eigentlich? dachte er. Untröstlich? Wütend? Wie gelähmt, weil niemand mehr etwas daran ändern kann? »Es tut mir leid«, sagte er.
Lokesh zuckte die Achseln. »Ein Priester hat zu mir gesagt, wenn eine Seele reif und bereit ist, fällt sie einfach wie ein Apfel vom Baum. Es war mir vergönnt, am letzten Tag meiner Frau bei ihr zu sein. Und das verdanke ich dir.« Er legte noch einmal die Arme um Shan, trat dann einen Schritt zurück und nahm ein kleines verziertes Medaillon ab, das um seinen Hals hing. Es war ein altes gau, das Behältnis für Lokeshs Schutzzauber. Er streifte es Shan über.
»Das kann ich nicht annehmen.«
Lokesh hob einen Finger an die Lippen. »Natürlich kannst du das.« Er schaute zu der Nonne. »Wir haben keine Zeit für Diskussionen.«
Die Nonne blickte zurück ins Halbdunkel, wo sich der narbengesichtige purba befunden hatte. Als sie sich zu Shan umwandte, schimmerten ihre Augen feucht. »Sie müssen uns helfen. Sie müssen ihn aufhalten.«
Shan war verwirrt. »Er hat gesagt, er würde keine Gewalt anwenden.«
Die Nonne biß sich auf die Lippe. »Nur gegen sich selbst.«
»Sich selbst?«
»Er will zum Berg gehen, die verbotenen Riten abhalten und sich dann den Kriechern ausliefern.« Ihre Hand umklammerte seinen Arm, während Shan zurück in den Schatten des unterirdischen Labyrinths starrte und endlich verstand. Der narbengesichtige purba, war der fünfte und letzte der Fünf von Lhadrung und gleichzeitig der nächste, den man eines Mordes beschuldigen würde, sofern die Verschwörung weiterhin andauerte.
Sanft löste Lokesh den Griff der Nonne und zog Shan zum Tisch. »Die 404te steckt erneut in Schwierigkeiten. Wir brauchen noch einmal deine Weisheit, Xiao Shan.«
Shan folgte Lokeshs Blick zu dem Buch, das auf dem Tisch lag. Es hatte die Ausmaße eines großen Wörterbuchs und war in Holz und Leinen gebunden. Die Eintragungen in dem Manuskript stammten von verschiedener Hand und waren sogar teilweise in verschiedenen Sprachen abgefaßt. Zumeist handelte es sich um Tibetisch, vereinzelt aber auch um Mandarin, Englisch und Französisch.
Die Nonne blickte mit großen, traurigen Augen auf. »Es gibt hiervon elf Exemplare in Tibet«, sagte sie leise. »Einige weitere in Nepal und Indien und sogar eines in Peking.« Sie trat zur Seite und bedeutete Shan, am Tisch Platz zu nehmen. »Man nennt es das Lotusbuch.«
»Hier, mein Freund«, sagte Lokesh aufgeregt und schlug die ersten Seiten des Buches auf. »Es war so wundervoll, jene Tage miterleben zu dürfen. Ich habe diese Seiten bestimmt fünfzigmal gelesen, und ich weine immer noch manchmal vor Freude über die Erinnerungen, die darin bewahrt werden.«
Die Seiten glichen sich nicht alle. Manche waren Listen, andere sahen wie Einträge in einer Enzyklopädie aus. Die allererste Zeile des Buches enthielt ein Datum. 1949, das Jahr bevor die Kommunisten damit anfingen, Tibet zu befreien.
»Es ist ein Verzeichnis dessen, was hiergewesen ist, bevor die Zerstörungen begonnen haben«, sagte Shan voller Ehrfurcht. Es war nicht nur eine Liste der Klöster und anderer heiliger Stätten, es enthielt auch Angaben über die Anzahl und die Namen der Mönche und Nonnen und sogar die Abmessungen der Gebäude. Für viele der Orte hatte man die Beschreibungen der Überlebenden aus erster Hand festgehalten, die das jeweilige Leben dort schilderten. Lokesh hatte geschrieben, als Shan den Raum betrat.
»Ja, die erste Hälfte«, sagte die Nonne und schlug dann eine Seite auf, die durch ein seidenes Lesezeichen markiert wurde. Hier begann eine andere Aufzählung.
Es war eine Liste von Leuten, eine Aneinanderreihung einzelner Namen. Shans Kehle schnürte sich zusammen, während er las. »Das sind alles chinesische Namen.«
»Ja«, flüsterte Lokesh, der plötzlich viel sachlicher klang. »Chinesen.« Dann sackten seine Arme herunter, und er verstummte, als habe er plötzlich sämtliche Kraft verloren.
Die Nonne beugte sich über das Buch und blätterte weiter nach hinten, wo die bislang neuesten Eintragungen vorgenommen worden waren. Nacheinander wies sie auf mehrere Namen, während Shan ihr voller Entsetzen ungläubig zusah. Lin Ziang war darunter, der ermordete Direktor für Religiöse Angelegenheiten, ebenso Xong De, der verstorbene Direktor der Minen, und Jin San, der frühere Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer. Allesamt Opfer der Fünf von Lhadrung.
Vierzig Minuten später brachte man ihn im Rollstuhl zurück.
Sie hatten ihm die Augen verbunden, schoben ihn erst knirschend durch Gänge, die aus dem Fels gehauen waren, und dann auf die glatten Flure der Klinik, wobei sie so oft abbogen, daß er den Weg unmöglich hätte zurückverfolgen können. Plötzlich hörte er wieder die Glöckchen, und dann wurde ihm der Schal abgenommen, der als Augenbinde gedient hatte. Er stand wieder im vorderen Korridor. Sonst war niemand zu sehen.
Yeshe war noch immer am Telefon und führte eine heftige Diskussion. Als er Shan sah, legte er auf. »Ich habe alles mögliche ausprobiert. Nichts scheint zu passen.« Er gab Shan den Zettel zurück. »Ich habe noch ein paar andere Möglichkeiten danebengeschrieben. Seitenzahlen, Koordinaten, Prüfziffern, Artikelnummern. Dann bin ich auf die Idee gekommen, wegen seiner Reisepläne nachzuhaken. Es gibt in Lhasa ein spezielles Reisebüro für Regierungsbeamte. Ich habe dort angerufen, um mir die Angaben über seine Reise bestätigen zu lassen.«
»Und?«
»Er wollte nach Dalian, das stimmt, mit einem Tag Aufenthalt in Peking auf der Hinreise. Aber darüber hinaus hatte man für Peking keinerlei Vorkehrungen getroffen. So war zum Beispiel kein Wagen des Justizministeriums angefordert worden, um ihn abzuholen.«
Shan nickte langsam und anerkennend.
»Da Sie noch nicht wieder hier waren, habe ich mich dann ein paar anderen Dingen gewidmet. Zuerst habe ich diese Frau im Büro für Religiöse Angelegenheiten angerufen, Miss Taring. Sie hat gesagt, sie würde das Bestandsverzeichnis der Artefakte persönlich überprüfen, und ich solle später noch mal anrufen. Das habe ich dann auch gemacht, und da hat sie mir mitgeteilt, daß eine bestimmte Liste fehlt.«
»Eine Liste aus dem Verzeichnis?«
Yeshe nickte bedeutungsvoll. »Von einer Bestandsaufnahme im Kloster Saskya vor vierzehn Monaten. Die Transportdokumente besagen, daß man alles nach Lhasa ins Museum geschickt hat. Aber in Miss Tarings Unterlagen fand sich keinerlei Hinweis darauf, was im einzelnen entdeckt wurde. Da hat es wohl eine Panne im System gegeben.«
»Na, ich weiß nicht recht.«
Yeshe schien darüber nachzugrübeln, was er von Shans Reaktion zu halten hatte, und fuhr dann fort. »Und ich habe in diesem Shanghaier Büro angerufen.«
»Die amerikanische Firma?«
»Genau. Ankläger Jao war den Leuten dort kein Begriff, aber als ich Lhadrung erwähnte, hat man sich an eine Anfrage der hiesigen Klinik erinnert. Man sagte mir, es habe einen entsprechenden Schriftverkehr gegeben.«
»Und?«
»Auf einmal Rauschen und Knacken, und dann war die Leitung tot.« Yeshe hielt inne und zog ein Blatt Papier unter seinem Block hervor. »Also bin ich ins Büro der Krankenhausverwaltung gegangen und habe gesagt, ich müsse die Akten der letzten paar Monate überprüfen. Ich habe das hier gefunden; es ist sechs Wochen alt.« Er reichte Shan das Blatt.
Es war ein Brief von Dr. Sung an das Büro in Shanghai. Sie fragte an, ob die Firma ihr ein tragbares Röntgengerät zur Ansicht überlassen würde. Sie wollte den Apparat nach dreißig Tagen zurückgeben, falls er sich als nicht geeignet für die hiesigen Anforderungen erweisen sollte.
Shan faltete den Brief zusammen und legte ihn in seinen Notizblock. Dann machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Nach wenigen Schritten fing er an zu laufen.
Madame Ko führte sie in ein Restaurant neben dem Gebäude der Bezirksverwaltung. »Sie warten am besten«, sagte sie und wies auf einen freien Tisch im hinteren Bereich des Raums. Die Tür neben dem Tisch wurde von einem Kellner bewacht, der mit verschränkten Armen ein Tablett vor der Brust hielt.
Sergeant Feng bestellte Nudeln, und Yeshe entschied sich für Kohlsuppe. Shan nippte ungeduldig an seinem Tee, stand nach zehn Minuten auf und ging zur Tür hinaus. Madame Ko stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn zurück. »Keine Störungen«, tadelte sie ihn und sah dann, wie entschlossen er war. »Lassen Sie mich einen Versuch unternehmen«, seufzte sie und verschwand vorsichtig hinter der Tür. Kurz darauf kam ein halbes Dutzend Armeeoffiziere aus Tans Büro, und Madame Ko bat ihn hinein.
Der Raum stank nach Zigaretten, Zwiebeln und gebratenem Fleisch. Tan saß allein an einem runden Tisch und rauchte, während das Personal das Geschirr abräumte. »Na, wunderbar«, sagte er und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Weißt du, wie ich den Vormittag verbracht habe? Die Öffentliche Sicherheit hat mir eine Standpauke gehalten. Man wird vielleicht beschließen, eine Zerrüttung der zivilen Ordnung zu melden. Man wirft mir vor, ich hätte mich widerrechtlich in die Ermittlungen eingeschaltet. Man hat festgestellt, daß sich im Lager Jadefrühling während der letzten fünfzehn Jahre zwei Sicherheitsverstöße ereignet haben, und zwar alle beide in dieser Woche. Man behauptet, einer meiner Zellenblöcke habe sich in ein verdammtes gompa verwandelt. Man hat sogar angedeutet, es bestehe ein Spionageverdacht. Was weißt du darüber?« Er zog wieder an der Zigarette, atmete langsam aus und musterte Shan durch die Rauchwolke hindurch. »Sie haben außerdem gesagt, ihre Einheiten bei der 404ten würden morgen mit den durchgreifenden Maßnahmen beginnen.«
Shan versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken er war. »Ankläger Jao wurde von jemandem ermordet, den er kannte«, verkündete er. »Einem Kollegen.
Einem Freund.«
Tan zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der ersten an und ließ Shan dabei nicht aus den Augen. »Du hast endlich einen Beweis?«
»An jenem Abend ist ein Bote mit einem Zettel gekommen.« Shan erläuterte, was im Restaurant geschehen war, ohne die Identität des Boten zu enthüllen. Tan würde niemals dem Wort eines purba glauben, wenn die Aussage eines Soldaten dagegenstand.
»Das beweist gar nichts.«
»Warum hat der Bote den Zettel nicht Jaos Fahrer gegeben? Jeder kannte Balti. Jeder richtet eventuelle Nachrichten den Fahrern aus. Das ist so üblich. Balti hat draußen im Wagen gewartet. Sie wollten direkt danach zum Flughafen fahren.«
»Vielleicht hat dieser Bote Balti nicht gekannt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Dann werden wir Sungpo natürlich sofort auf freien Fuß setzen«, erwiderte Tan mit beißendem Spott.
»Und selbst falls er Balti tatsächlich nicht gekannt hätte, würden die Kellner ihn zum Wagen geschickt haben. Einer der Kellner hat sich ihm auch in den Weg gestellt, weil er glaubte, in Jaos Interesse zu handeln. Doch Jao hatte bereits mit etwas gerechnet oder sich in diesem Moment daran erinnert. Es ging um eine Angelegenheit, die seine sofortige Aufmerksamkeit erforderte. Also hat er mit dem Boten gesprochen. Außer Hörweite des Kellners. Außer Hörweite seines Tisches, an dem die Amerikanerin saß. Außer Hörweite v)n Balti. Und dann ist ihm etwas derart Dringliches mitgeteilt worden, daß er trotz seiner alles andere als spontanen Wesensart sofort seine Pläne geändert hat.«
»Er kannte Sungpo. Vielleicht hat Sungpo die Nachricht geschickt«, sagte Tan.
»Sungpo war in seiner Höhle.«
»Nein. Sungpo war auf der Südklaue, um dort einen Mord zu begehen.«
»Es gibt Zeugen dafür, daß Sungpo seine Höhle nie verlassen hat.«
»Zeugen?«
»Dieser Mann namens Jigme. Der Mönch Je. Beide haben entsprechende Aussagen gemacht.«
»Eine gompa-Waise und ein seniler alter Mann.«
»Mal angenommen, es war Sungpo, der diese Botschaft geschickt hat«, sagte Shan. »Ankläger Jao würde doch niemals allein und ohne Schutz an einen abgelegenen Ort fahren, um sich mit einem Mann zu treffen, den er einst hinter Gitter gebracht hat. Kein Mönch hätte Jao jemals zu einem solchen Verhalten bewegen können. Immerhin wollte der Ankläger auf keinen Fall sein Flugzeug verpassen.«
»Also hat jemand Sungpo geholfen. Jemand hat gelogen.«
»Richtig. Jemand, der Jaos Vertrauen besaß, hat ihn mit Informationen gelockt, die für die Reise des Anklägers wichtig waren und ihm bei seinen geheimen Ermittlungen behilflich sein würden. Informationen, die er in Peking verwenden konnte. Wir müssen mehr darüber herausfinden.«
»Er hatte in Peking nichts Besonderes vor. Du hast Miss Lihuas Fax doch gesehen. Er war bloß auf der Durchreise nach Dahan.« Tan schaute auf die Asche seiner Zigarette, die sich auf der Tischdecke zu einem kleinen Häuflein ansammelte.
»Warum sollte er dann einen Tag Aufenthalt dort einplanen?«
»Das habe ich doch schon gesagt. Um vielleicht einzukaufen oder wegen der Familie.«
»Oder wegen etwas im Zusammenhang mit einer Bambusbrücke.«
»Bambusbrücke?« »Das stand auf einem Zettel in seiner Jacke.«
»Welcher Jacke?«
»Ich habe sein Jackett gefunden.«
Tan wirkte plötzlich ganz aufgeregt. »Du hast den khampa gefunden, nicht wahr? Dem stellvertretenden Ankläger hast du zwar das Gegenteil erzählt, aber in Wahrheit hast du ihn gefunden.«
»Ich bin nach Kham gefahren, und ich habe das Jackett des Anklägers gefunden. Mehr konnten wir nicht erreichen. Balti hatte nichts damit zu tun.«
Tan lächelte billigend. »Ganz schön reife Leistung, mitten in der Wildnis eine einsame Jacke aufzustöbern.« Er drückte seine Zigarette aus und blickte dann ernster wieder auf. »Wir haben Erkundigungen über deinen Leutnant Chang eingezogen.«
»Hat jemand seine Leiche geborgen?«
»Das ist nicht mein Problem.«
Noch ein Himmelsbegräbnis, dachte Shan. »Aber er war Angehöriger der Armee. Einer Ihrer Leute.«
»Er hat nicht zur Armee gehört. Nicht wirklich.«
»Aber er war bei der 404ten.«
Tan hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu veranlassen. »Er hat fünfzehn Jahre lang dem Büro für Öffentliche Sicherheit angehört. Erst vor einem Jahr wurde er zur Armee versetzt.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Shan. Niemand verließ die Elitetruppe der Kriecher, um der Armee beizutreten.
Tan zuckte die Achseln. »Es sei denn, er ist nicht freiwillig gegangen.«
»Und Sie haben nichts davon gewußt?«
»Die Versetzung wurde der Armee erst zwei Tage vor seinem Eintreffen gemeldet.«
»Es könnte noch etwas anderes dahinterstecken«, gab Shan zu bedenken. »Vielleicht hat er auch weiterhin für einen Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit gearbeitet.«
»Ohne mein Wissen?«
Shan sah ihn nur an.
Tan preßte die Lippen zusammen und dachte eine Weile darüber nach. »Diese Schweinehunde«, stieß er wütend hervor.
»Wo hat Leutnant Chang vorher Dienst getan?«
»Südlich von hier, in der Grenzregion. Unter Major Yang.«
Also hatte er doch einen Namen, dachte Shan. »Was wissen Sie über diesen Major Yang?«
Tan zuckte die Achseln. »Hart wie ein Fels. Berüchtigt für seine Erfolge bei der Schmugglerjagd. Macht keine Gefangenen. Wird eines Tages General sein.«
»Weshalb, Oberst, sollte ein solch hochgeschätzter Offizier sich die Mühe machen, die Verhaftung Sungpos persönlich vorzunehmen?«
Tans Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ist das sicher?«
Shan nickte.
»Ein Mann wie er geht, wohin er will«, sagte Tan und wirkte dabei nicht überzeugt. »Er ist mir keine Rechenschaft schuldig, sondern gehört zur Öffentlichen Sicherheit. Falls er dem Justizministerium behilflich sein möchte, kann ich ihn nicht davon abhalten.«
»Falls ich als leitender Ermittler für die Öffentliche Sicherheit tätig wäre, würde ich wohl kaum in einem leuchtendroten Wagen quer durch den Bezirk fahren oder mit einem alles andere als unauffälligen Helikopter einen kleinen Ausflug aufs Land machen.«
»Vielleicht bist du nur verbittert. Wenn ich mich recht erinnere, wurde deine Hafteinweisung vom Hauptquartier des Büros unterzeichnet. Qin hat es angeordnet, aber das Büro hat es durchgeführt.«
»Vielleicht«, räumte Shan ein. »Aber dennoch hat Leutnant Chang versucht, uns zu ermorden. Und Chang hat vermutlich für den Major gearbeitet.«
Tan schüttelte zweifelnd den Kopf. »Chang ist tot, und du hast nach wie vor eine Aufgabe zu erledigen.« Er stand auf, als wolle er gehen.
»Haben Sie je von dem Lotusbuch gehört?« fragte Shan. Tan blieb an der Tür stehen. »Das ist ein Buch der Buddhisten.«
»Den Luxus religiöser Studien kann ich mir leider nicht erlauben«, erwiderte Tan ungeduldig.
»Es handelt sich eher um ein Verzeichnis«, sagte Shan. »Die Aufzeichnungen haben vor ungefähr zwanzig Jahren begonnen. Ein Namensverzeichnis. Mit Orten und...«, er suchte nach einem passenden Begriff, »... Ereignissen.«
»Ereignissen?«
»In einem Abschnitt werden fast ausschließlich Han-Chinesen aufgeführt. Zu jedem Namen gibt es eine Beschreibung. Von seiner oder ihrer Rolle bei der Zerstörung eines Klosters, Von der Teilnahme an Exekutionen. Oder an der Plünderung von Schreinen. Vergewaltigungen. Morde. Folter. Die Schilderungen sind sehr anschaulich. Das Buch wird weitergereicht, um neue Einträge ergänzt und aktualisiert. Es gilt inzwischen als eine Art Auszeichnung, zu der Liste der Autoren zu gehören.«
Tan war erstarrt. »Unmöglich!« rief er wütend. »Das wäre ein Akt gegen den Staat. Verrat.«
»Ankläger Jao stand auch in dem Buch. Unter seiner Leitung wurden die fünf größten gompas im Bezirk Lhadrung zerstört. Dreihundertzwanzig Mönche sind verschwunden. Weitere zweihundert wurden in Gefängnisse abtransportiert.«
Tan ließ sich auf einen Stuhl gleiten. Er war auf einmal wieder ganz bei der Sache. »Aber das wäre der Beweis. Der Beweis, daß die Radikalen es auf Jao abgesehen hatten.«
»Lin Ziang vom Büro für Religiöse Angelegenheiten wurde ebenfalls erwähnt«, fuhr Shan fort. »Auf seinen Befehl wurden fünfundzwanzig Klöster und Chorten in Westtibet zerstört. Er hat Antiquitäten im Wert von geschätzten zehn Millionen Dollar nach Peking schaffen lassen, wo sie eingeschmolzen wurden, um das Gold abzuschöpfen. Von ihm stammte die Idee, Nonnen in die Kasernen zu schaffen, damit die Soldaten sich mit ihnen vergnügen konnten. Xong De vom Ministerium für Geologie stand auch drin. Als er jünger war, hat er ein Gefängnis geleitet. Er hatte eine Vorliebe für Daumen.«
»Ich will das Buch!« brüllte Tan. »Und ich will diejenigen, die es geschrieben haben.«
»Es existiert nicht nur in einem Band. Es wird weitergegeben. Man erstellt per Hand Kopien. Es befindet sich überall im Land. Und sogar im Ausland.«
»Ich will diejenigen, die es geschrieben haben«, wiederholte Tan etwas ruhiger. »Was drinsteht, ist unerheblich. Das ist bloß Geschichte. Aber die Tatsache, daß jemand es aufschreibt...«
»Ich dachte eigentlich«, unterbrach Shan ihn, »daß bereits diese eine Untersuchung mehr ist, als wir bewältigen können.«
Tan zog eine Zigarette aus der Schachtel und klopfte mit ihr nervös auf den Tisch, als müsse er Shan notgedrungen recht geben.
»Im sechzehnten Jahrhundert wurden von den heidnischen Armeen im Kampf gegen den Buddhismus zahlreiche Greueltaten begangen«, fuhr Shan fort. »Ich kenne Häftlinge in der 404ten, die auch heute noch in allen Einzelheiten davon berichten können, als wäre es erst gestern geschehen. Auf diese Weise wird denen Ehre erwiesen, die leiden mußten. Und die Schande der Täter gerät ebenfalls nicht in Vergessenheit.«
Tans Wut verflüchtigte sich. Er hatte nicht genug Kraft, um mehr als einen Kampf zur gleichen Zeit auszufechten, vermutete Shan.
»Hier ist dein Beweis, daß die Morde miteinander in Verbindung gestanden haben«, stellte der Oberst fest.
»Ich habe daran keinerlei Zweifel.«
»Aber es stützt doch nur meine Ansicht über die zersetzende Kraft der gesellschaftsfeindlichen Bestrebungen der Minderheiten.«
»Nein. Die purbas wollten, daß ich von dem Buch erfuhr, um sich selbst zu schützen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Die purbas wollen ebenfalls, daß wir die Morde aufklären. Sie haben erkannt, daß die Öffentliche Sicherheit sie vernichten würde, falls man dort von dem Buch erführe und auf den Gedanken käme, es mit den Morden in Verbindung zu bringen. Einer der Fünf von Lhadrung ist noch übrig. Fehlt nur noch ein Mord, den man ihm in die Schuhe schieben kann. Und falls noch eine hochgestellte Persönlichkeit ermordet wird, rücken die Kriecher dauerhaft hier ein. Kriegsrecht. Lhadrung würde um dreißig Jahre zurückgeworfen.«
»Eine hochgestellte Persönlichkeit?«
»Es stand noch ein weiterer Name in dem Buch«, sagte Shan. »Aufgeführt wegen der Auslöschung von achtzig gompas. Hat außerdem zehn Chorten zerstört, um eine Raketenbasis zu errichten. Verantwortlich für das Verschwinden einer Wagenladung khampa-Rebellen, die ins lao gai transportiert werden sollten. Im April 1963.
Es handelt sich um die einzige andere Person aus dem Lotusbuch, die sich derzeit in Lhadrung befindet und noch am Leben ist. Ein Mann, der beaufsichtigt hat, wie weitere fünfzehn gompas niedergebrannt wurden. Zweihundert Mönche sind in den brennenden Gebäuden umgekommen«, zählte Shan mit eisiger Stimme auf. Er riß das Blatt, auf dem er diesen Eintrag festgehalten hatte, aus seinem Notizblock und legte es vor Tan auf den Tisch. »Es ist Ihr Name.«